Renegades - Geheimnisvoller Feind - Marissa Meyer - E-Book

Renegades - Geheimnisvoller Feind E-Book

Marissa Meyer

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Beschreibung

Nova gehört zu den Anarchisten, Adrian zu den Renegades. Sie wird gejagt, er ist ein Held. Dennoch haben sie sich ineinander verliebt. Aber jetzt rüsten Anarchisten und Renegades sich mit schrecklichen Waffen für den letzten Kampf. Beide Seiten haben dunkle Geheimnisse, die die Welt, wie Nova und Adrian sie kennen, zerstören könnten. Plötzlich stellt sich die Frage: Wer ist wirklich gut und wer ist wirklich böse? Und wird ihre Liebe die Antwort überstehen? Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt ...

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Seitenzahl: 658

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Das Buch

Sie sind eine Vereinigung von Menschen mit besonderen Kräften. Nach einem Jahrzehnt der Gewalt und Anarchie haben sie in Gatlon City für Recht und Ordnung gesorgt: die Renegades. Seither gelten sie als Helden, zu denen alle aufblicken. Alle außer den Anarchisten.

Nova hat sich inkognito bei den Renegades eingeschleust. Offiziell hat sie ihre besondere Gabe in den Dienst der Superhelden gestellt. Inoffiziell gehört sie noch immer zu den Anarchisten und wartet nur auf die Gelegenheit, die Renegades von innen heraus zu zerstören. Doch die Renegades haben aufgerüstet: Sie verfügen über eine Waffe, die jedem unwiederbringlich seine Superkräfte entziehen kann. Und sie zögern nicht, diese skrupellos gegen ihre Feinde einzusetzen. Als Adrian Novas Geheimnis immer näher kommt, schwebt sie in höchster Gefahr. Sie weiß, dass sie ihm nicht vertrauen darf, selbst wenn sie ihr Herz aneinander verloren haben. Denn was wird passieren, wenn Adrian erfährt, dass sie seine schlimmste Feindin ist?

Die Autorin

Marissa Meyer studierte Kreatives Schreiben und arbeitete als Lektorin in Seattle, bis sie ihren ersten Buchvertrag bekam. Mit den Luna-Chroniken gelang ihr auf Anhieb eine internationale Bestsellerserie, die in 27 Ländern verkauft wurde. Renegades – Geheimnisvoller Feind ist der zweite Band ihrer neuen New-York-Times-Bestsellertrilogie. Marissa Meyer lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in Tacoma, Washington.

Lieferbare Titel

Renegades – Gefährlicher Freund

ROMAN

Aus dem Amerikanischenvon Charlotte Lungstrass-Kapfer

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel

ARCHENEMIES

bei Feiwel and Friends Book,an imprint of Macmillan Publishing Group, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Marissa Meyer and Rampion Books

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkterstraße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,unter Verwendung einer Illustration von © Robert M. Ball

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22850-7V002

Für Garrett und Gabriel,die zukünftigen Superhelden.

MITWIRKENDE

DIE RENEGADES: SKETCHS TEAM

Sketch – Adrian Everhart

Kann seine Zeichnungen und Kunstwerke zum Leben erwecken.

Monarchin – Danna Bell

Verwandelt sich in einen Schwarm Monarchfalter.

Rote Assassine – Ruby Tucker

Wird sie verwundet, kristallisiert ihr Blut zu scharfkantigen Waffen. Ihr Markenzeichen ist der aus einem Blutstein geformte Wurfhaken.

Blendnebel – Oscar Silva

Kann nach Belieben Rauch und Nebel herbeirufen.

DIE RENEGADES: FROSTBEULES TEAM

Frostbeule – Genissa Clark

Formt die Wassermoleküle aus der Luft zu Waffen aus Eis.

Nachbeben – Mack Baxter

Kann den Boden bewegen wie ein Erdbeben.

Gargoyle – Trevor Dunn

Kann seinen gesamten Körper, aber auch einzelne Teile davon in Stein verwandeln.

Der Stachelrochen – Raymond Stern

Verfügt über einen giftigen Stachelschwanz.

DIE ANARCHISTEN

Nachtmahr – Nova Artino

Schläft niemals, kann durch Hautkontakt andere in Tiefschlaf versetzen.

Die Zündkapsel – Ingrid Thompson

Formt aus der Luft Sprengkörper, die sie nach Belieben zünden kann.

Phobion – echter Name unbekannt

Kann seinem Körper (und seiner Sense) die Gestalt all dessen verleihen, was sein Gegenüber fürchtet.

Der Puppenspieler – Winston Pratt

Verwandelt Menschen in geistlose Marionetten, die blind seinem Willen gehorchen.

Die Bienenkönigin – Honey Harper

Kontrolliert sämtliche Bienen, Hornissen und Wespen.

Zyanid – Leroy Flinn

Kann durch die Poren seiner Haut ätzende Gifte austreten lassen.

Dornenschlinge – echter Name unbekannt

Verfügt über mehrere, mit tödlichen Dornen besetzte Tentakel.

DER RAT DER RENEGADES

Captain Chrom – Hugh Everhart

Ist superstark und nahezu unverwundbar. Kann Waffen aus Chrom erschaffen.

Der Schreckliche Patron – Simon Westwood

Kann sich unsichtbar machen.

Tsunami – Kasumi Hasegawa

Kann Wasser erschaffen und kontrollieren.

Donnervogel – Tamaya Rae

Kann Donner und Blitze erschaffen, kann fliegen.

Schwarzlicht – Evander Wade

Kann Licht und Dunkelheit erschaffen und kontrollieren.

EINS

Adrian hockte geduckt hinter der Dachkante und spähte zum Hintereingang des Städtischen Krankenhauses von Gatlon hinunter. Es war noch früh am Morgen, kurz vor Sonnenaufgang. Erst wenige Strahlen verfärbten das dunkle Grau des Nachthimmels zu einem blassen Violett. Die Lichtverhältnisse machten es nicht leichter, zehn Stockwerke tiefer etwas zu erkennen, das größer war als die wenigen Lieferfahrzeuge, darunter ein großer Lastwagen.

»Habe das Fluchtfahrzeug gefunden«, meldete Nova, die mithilfe eines Fernglases die ruhigen Straßen absuchte.

»Wo?« Er beugte sich zu ihr rüber. »Woran siehst du das?«

»Der Van dort an der Ecke.« Sie blickte zwischen dem Fahrzeug und der Hintertür des Krankenhauses hin und her. »Unauffällig, getönte Scheiben, Motor läuft, obwohl er schon dort stand, als wir gekommen sind.«

Jetzt hatte Adrian den Van ebenfalls entdeckt. Aus dem Auspuff stiegen dicke, weiße Abgaswolken auf. »Sitzt jemand drin?«

»Ja, einer auf dem Fahrersitz. Es könnten noch mehr sein, die Rückbank kann ich nicht sehen.«

Adrian hob das Handgelenk vor den Mund und sprach in seinen Kommunikator: »Sketch an Blendnebel und Rote Assassine: Fluchtfahrzeug parkt vermutlich Ecke Neunundsiebzigste und Fletcher Way. Bezieht Position an südlicher und östlicher Fluchtroute. Warte immer noch auf interne Rückmeldung von der Monarchin.«

»Roger«, ertönte Oscars Stimme aus dem Armband. »Sind unterwegs.«

Ungeduldig klopfte Adrian mit den Fingerspitzen auf die Dachkante. Wenn dieser Hintereingang doch nur besser beleuchtet wäre. Es gab zwar sechs Straßenlaternen, aber nur drei davon brannten. Hätte man die anderen nicht längst reparieren müssen?

»Darf ich mal sehen?«, fragte er.

Prompt zog Nova ihr Fernglas aus seiner Reichweite. »Besorg dir doch selber eins.«

Eigentlich hätte diese Antwort ihn noch weiter reizen sollen, doch stattdessen musste er plötzlich grinsen. Wahrscheinlich war das nur fair, immerhin hatte sie am Morgen ungefähr zwanzig Minuten gebraucht, um Oscar all die Modifikationen zu erklären, die sie an diesem speziellen Fernglas vorgenommen hatte. Nun verfügte es über Autofocus, Bildstabilisierung, Bewegungssucher, Nachtsicht und eine Aufnahmefunktion. Außerdem wurden über einen Computerchip GPS-Daten und Wettervorhersagen direkt auf den Linsen eingeblendet. Und da das offenbar noch nicht eindrucksvoll genug war, hatte sie außerdem eine Gesichtserkennungssoftware aufgespielt, die mit der Wunderkind-Datenbank der Renegades verlinkt war.

Alles in allem hatte sie vermutlich Monate daran gearbeitet.

»Schön, dann mache ich mir eben ein eigenes«, seufzte er und zog einen Marker mit schmaler Spitze aus dem Ärmel seiner Renegade-Uniform. Mit wenigen Strichen zeichnete er ein Fernglas auf die Seitenwand eines Verteilerkastens. »Vielleicht statte ich meins mit Röntgenstrahlen aus.«

Nova verzog den Mund. »Warst du schon immer so ehrgeizzerfressen?«

Breit grinsend gab er zu: »War nur ein Witz. Dazu müsste ich zumindest ungefähr wissen, wie ein Röntgengerät funktioniert. Aber ich werde es auf jeden Fall mit diesem Bewegungssucher ausrüsten, den du erwähnt hast. Und mit einem ergonomisch geformten Griff. Und vielleicht mit einer Taschenlampe …« Er vervollständigte die Zeichnung und drückte die Kappe auf den Stift. Dann legte er die Fingerspitzen an das Metall und zog das Bild aus der Oberfläche des Verteilerkastens heraus, wobei es sich in einen dreidimensionalen, voll funktionsfähigen Gegenstand verwandelte.

Nachdem er wieder neben Nova Stellung bezogen hatte, stellte er sein brandneues Fernglas ein und starrte auf die Straße hinunter. Der Van hatte sich nicht vom Fleck bewegt.

»Da ist Danna«, stellte Nova fest.

Adrian sah zur Lieferantenparkbucht hinüber, doch die Kliniktür war nach wie vor geschlossen. »Wo …«

»Zweiter Stock.«

Nachdem er die Linsen neu justiert hatte, sah auch er die vielen Monarchfalter, die aus einem offenen Fenster flatterten. Im Dunkeln sahen sie so dicht an der Mauer eher aus wie eine Fledermauskolonie. Die Schmetterlinge flogen zum Parkhaus des Krankenhauses hinüber, sammelten sich dort und verschmolzen zu Dannas Körper.

Wenig später meldete sich das Kommunikatorband: »Sie kommen jetzt raus«, warnte Danna. »Insgesamt sechs.«

»Mit dem Fahrer dann sieben«, korrigierte Nova. Gleichzeitig setzte sich der Van unten in Bewegung, bog um die Ecke und hielt genau vor dem Lieferanteneingang. Nur Sekunden später wurden die Türen aufgestoßen, und sechs Gestalten stürmten aus dem Krankenhaus, jede mit einem großen, schwarzen Sack beladen.

»Zivilisten gefährdet?«, fragte Adrian.

»Alles frei«, antwortete Danna.

»Roger. Okay, Team, wir haben freie Bahn. Danna, du bleibst in …«

»Sketch!«, rief Nova so laut, dass er heftig zusammenzuckte. »Da ist ein Wunderkind dabei.«

Verwirrt sah er sie an. »Was?«

»Diese Frau, die mit dem Nasenring. Sie ist in der Datenbank registriert. Ihr Alias lautet … Dornenschlinge?«

So sehr er auch überlegte, der Name sagte ihm nichts. »Nie gehört.« Durch sein Fernglas beobachtete er, wie die Gestalten unten auf der Straße ihre Beute in den Van luden. Die Frau mit dem Nasenring stieg als Letzte ein. »Welche Kräfte hat sie?«

»Anscheinend hat sie … mit Dornen besetzte Extremitäten?« Nun war es Nova, die verwirrt dreinblickte.

Achselzuckend hob Adrian wieder den Kommunikator an den Mund. »Alarmstufe Rot, Team. Unter den Zielpersonen befindet sich ein Wunderkind. Jeder bleibt auf seinem Posten, aber geht mit erhöhter Vorsicht vor. Insomnia und ich werden …« Ein lauter Knall ließ Adrian herumfahren, und er sah, dass Nova nicht mehr neben ihm hockte. Hastig sprang er auf und spähte über die Dachkante. Anscheinend war sie die Ursache des Lärms, denn sie landete gerade auf der Feuerleiter im ersten Stock. »… den nördlichen Posten abdecken«, beendete er brummend den Satz.

Mit quietschenden Reifen raste der Van vom Krankenhaus weg. Wieder hob Adrian das Handgelenk und spürte den Adrenalinrausch, während er abwartete, in welche Richtung es gehen würde …

Der Van erreichte die erste Kreuzung und bog links ab.

»Blendnebel, du bist am Zug!«, rief er.

Adrian warf sein Fernglas weg und rannte hinter Nova her. Über ihm hatte sich Danna wieder in den Schwarm verwandelt und verfolgte den Van.

Nova war schon halb die Straße runter, als Adrian von der Feuerleiter sprang. Seine Stiefel dröhnten laut auf dem Pflaster. Durch seine langen Beine hatte er zwar einen gewissen Vorteil, trotzdem war er noch ein ganzes Stück hinter ihr, als Nova plötzlich den Arm ausstreckte und nach rechts deutete. »Geh du da lang!«, rief sie, bevor sie in der entgegengesetzten Richtung verschwand.

Ungefähr einen Block entfernt ertönte wieder das Quietschen von Reifen, allerdings diesmal begleitet von Bremsgeräuschen. Über dem Dach eines Bürohauses stieg eine dichte, weiße Rauchwolke auf.

Oscar meldete sich über das Armband: »Sie haben den Rückwärtsgang eingelegt, fahren jetzt auf der Bridgewater Richtung Norden.«

Als Adrian um die Ecke bog, sah er rote Rücklichter vor sich, die schnell näher kamen. Hastig fischte er das Kreidestück aus seinem Ärmel, das neben dem Marker deponiert war. Er hockte sich hin und zeichnete ein Nagelband auf den Asphalt. Als er damit fertig war, stieg ihm bereits der Geruch von verschmortem Gummi in die Nase. Falls der Fahrer ihn im Rückspiegel gesehen hatte, machte er keinerlei Anstalten, deshalb vom Gas zu gehen.

Adrian zog die Zeichnung hoch. Nun ragten zehn Zentimeter lange Stacheln aus dem Boden. Mit einem Hechtsprung brachte er sich in Sicherheit, nur wenige Sekunden bevor der Van an ihm vorbeiraste.

Laut knallend platzten die Reifen. Hinter den getönten Scheiben wurde geflucht, und Adrian hörte, wie die Insassen anfingen zu streiten, während die platten Reifen den Wagen langsam zum Anhalten zwangen.

Ein Schmetterlingsschwarm tanzte heran, dann ließ sich Danna auf das Dach des Vans fallen. »Gut mitgedacht, Sketch.«

Adrian war aufgestanden, hielt aber noch immer seine Kreide in einer Hand. Mit der anderen löste er die Handschellen von seinem Renegade-Uniformgürtel. »Ihr seid verhaftet!«, rief er. »Steigt mit erhobenen Händen aus dem Wagen, und schön langsam.«

Die Wagentür öffnete sich gerade so weit, dass eine Hand hindurchgeschoben werden konnte, die Finger brav gespreizt.

»Ganz langsam«, wiederholte Adrian.

Nach kurzem Zögern flog die Tür vollständig auf. Adrian sah die Waffe kurz aufblitzen, dann schlugen bereits die ersten Kugeln in der Hauswand hinter ihm ein. Mit einem Schrei warf er sich hinter ein Bushäuschen und legte schützend die Hände über den Kopf. Glas splitterte, Kugeln prallten pfeifend vom Asphalt ab.

Irgendjemand brüllte etwas, und das Feuer verebbte.

Synchron wurden die restlichen Türen des Vans aufgerissen – Fahrerseite, Beifahrerseite und die beiden Ladeklappen am Heck.

Die sieben Verbrecher sprangen heraus und rannten in unterschiedliche Richtungen davon.

Der Fahrer hatte sich eine Nebenstraße ausgesucht, wurde aber sofort von Danna abgefangen: Im einen Moment war sie ein Wirbelsturm aus goldenen Flügeln, im nächsten schon eine pflichtbewusste Superheldin, die dem Mann einen Arm um den Hals schlang und ihn zu Boden riss.

Die Frau vom Beifahrersitz rannte die Bridgewater in südlicher Richtung entlang und sprang über das Nagelband hinweg. Allerdings schaffte sie es gerade mal einen halben Block weit, bevor ein Pfeil aus schwarzem Rauch sie genau im Gesicht erwischte. Hustend fiel sie auf die Knie. Da sie noch immer um Luft rang, leistete sie keinen Widerstand, als Oscar hinter einem geparkten Auto hervorkam und ihr Handschellen anlegte.

Aus dem Heck des Vans stürzten drei der Diebe hervor, jeder mit einem vollgepackten Plastiksack. Keiner von ihnen sah den dünnen Draht, der sich plötzlich über die Straße spannte. Nacheinander stolperten sie darüber, sodass sie in einem wirren Haufen auf dem Asphalt landeten. Einer der Säcke platzte auf, und Dutzende weißer Tablettenfläschchen rollten in den Rinnstein. Ruby, die hinter einem Briefkasten in Deckung gegangen war, machte kurzen Prozess mit den dreien, fesselte sie und sammelte dann ihren roten Haken mit dem Draht ein.

Die letzten beiden Verbrecher kamen aus der Seitentür. Die Frau mit dem Nasenring – also Dornenschlinge, wenn man Novas Fernglas glauben konnte – hielt eine Maschinenpistole in der einen und einen schwarzen Müllsack in der anderen Hand. Hinter ihr tauchte ein Mann auf, der gleich zwei Säcke über der Schulter trug.

Adrian duckte sich noch immer hinter das Bushäuschen, als die beiden an ihm vorbei in eine schmale Gasse stürmten. Sofort sprang er auf, kam aber gerade mal zwei Schritte weit, als plötzlich etwas an ihm vorbeiflog. Aus dem Augenwinkel registrierte er ein rotes Funkeln.

Rubys scharfkantiger Blutstein bohrte sich in den Sack auf dem Rücken der Frau und schlitzte ihn ein Stück auf. Aber der Draht war nicht lang genug, die Diebin hatte sich knapp außer Reichweite gebracht. Der Edelstein glitt ab und landete klappernd auf dem Asphalt. Nur ein kleines Plastikfläschchen kullerte aus dem Riss.

Mit einem wütenden Knurren holte Ruby ihren Draht wieder ein und ließ ihn wie ein Lasso über ihrem Kopf kreisen, während sie langsam vorwärtsging, um erneut zu werfen.

Die Frau blieb abrupt stehen, wirbelte zu ihnen herum und legte auf sie an. Als sie anfing zu schießen, warf sich Adrian auf Ruby und stieß sie beiseite. Mit einem Schmerzensschrei landete sie, gemeinsam mit Adrian, hinter einem Müllcontainer.

Sobald die beiden in Deckung gegangen waren, verstummten die Schüsse. Laute, hastige Schritte entfernten sich.

»Alles okay?«, fragte Adrian, obwohl das eigentlich überflüssig war. Ruby hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Oberschenkel umklammert.

»Alles gut«, stieß sie angestrengt hervor. »Schnapp sie dir!«

Lautes Scheppern hallte durch die Gasse, das schrille Splittern von Glas und das Geräusch ächzenden Metalls. Adrian spähte vorsichtig um den Müllcontainer herum. Mitten auf der Straße lag eine kaputte Klimaanlage. Noch während er die umliegenden Dächer absuchte, wurde ein zweiter Klimaanlagenkasten auf die Diebe geschleudert. Er landete direkt vor den Füßen der fliehenden Frau, die erschrocken aufschrie und sofort wieder das Feuer eröffnete.

Nova duckte sich eilig. Die Kugeln flogen über das Dach und hinterließen jede Menge winzige Krater.

Ohne nachzudenken, trat Adrian hinter dem Müllcontainer hervor, sodass er für Ruby nicht mehr zu sehen war, und hob den Arm. Selbst unter dem anthrazitfarbenen Uniformärmel konnte er sehen, wie seine Haut anfing zu glühen und der schmale Zylinder, den er sich auf den Unterarm tätowiert hatte, aus seinem Fleisch hervorwuchs.

Er schoss.

Der Betäubungsstrahl traf Dornenschlinge genau zwischen den Schulterblättern und katapultierte sie über die Klimaanlage auf dem Boden hinweg. Die Maschinenpistole flog krachend gegen die nächste Hauswand.

Mit wild klopfendem Herzen suchte Adrian die Dächer ab. »Insomnia?«, rief er, wobei er nur hoffen konnte, dass seine Stimme nicht verriet, wie nah er einer Panik war. »Bist du …?«

Dornenschlinge stieß einen rauen Schrei aus und stemmte sich auf alle viere hoch. Ihr Komplize stand nur wenige Schritte entfernt, noch immer mit den beiden Säcken voller gestohlener Medikamente. Er schüttelte warnend den Kopf. »Reiß dich zusammen, Dornenschlinge. Lass uns einfach von hier verschwinden.«

Ohne ihn zu beachten, fuhr die Frau zu Adrian herum und fletschte wütend die Zähne.

Im nächsten Moment schoben sich plötzlich mehrere zusätzliche Arme aus ihrem Rücken, ungefähr an der Stelle, wo er sie mit seinem Strahl getroffen hatte. Sechs Stück insgesamt, jeder ungefähr drei Meter lang und mit vielen dicken Spitzen bewachsen. Sie erinnerten Adrian an Oktopus-Tentakel, allerdings hatte er noch nie einen Oktopus gesehen, der Dornen auf seinen Armen gehabt hätte.

Alarmiert trat Adrian einen Schritt zurück. Als Nova mit Dornen besetzte Extremitäten erwähnt hatte, war er eigentlich eher von ungewöhnlich spitzen Fingernägeln ausgegangen. Wer auch immer diese Datenbank pflegte, musste wirklich an seiner Detailgenauigkeit arbeiten.

Dornenschlinges Komplize fluchte laut. »Ich bin weg!«, schrie er dann und rannte weiter.

Auch jetzt beachtete Dornenschlinge ihn nicht, sondern packte mit einem ihrer Tentakel die nächste Feuerleiter und zog sich schnell und mühelos wie eine Spinne daran in die Höhe. Als sie auf der Etage unter dem Dach ankam, schob sie einen Arm über die Dachkante und glitt hinauf.

Nova schrie auf. Adrians Lunge verabschiedete sich entsetzt von der darin gestauten Atemluft, während er zusah, wie die Frau Nova vom Dach warf. Einen Moment lang hielt der Tentakel sie noch fest, dann stürzte Nova in die Tiefe.

Instinktiv katapultierte sich Adrian in die Höhe. Er entschied sich gar nicht bewusst dafür, die Sprungfedern unter seinen Füßen einzusetzen – immerhin sollten die anderen nichts von seinen Tattoos erfahren –, aber es blieb keine Zeit. Er fing Novas Körper ab, bevor er an die gegenüberliegende Hauswand schlug, und zusammen landeten sie krachend auf dem Müllcontainer.

Keuchend lehnte sich Adrian zurück, um Nova zu untersuchen, die in seinen Armen lag. Ihr Rücken fühlte sich warm und klebrig an, und als er seine Hand von ihr löste, war sie rot verschmiert.

»Es geht mir gut«, ächzte Nova. Und wirklich schien sie eher wütend als verletzt zu sein. »Nur ein paar Kratzer von diesen Dornen. Hoffentlich sind die nicht vergiftet.« Sie setzte sich auf und sprach in ihren Kommunikator, um dem Rest des Teams zu erklären, womit sie es zu tun hatten.

Adrian suchte inzwischen die Dächer ab, da er einen weiteren Angriff befürchtete, aber anscheinend war Dornenschlinge nicht länger hinter ihnen her. Fassungslos sah er zu, wie sie ihre Tentakel dazu benutzte, sich von der Feuerleiter zur Regenrinne zu schwingen, dann landete sie wieder unten in der Gasse. Zwei der Dornenarme streckten sich und packten den halb vergessenen Sack und das Tablettenfläschchen, das herausgefallen war, dann hetzte die Frau hinter ihrem Komplizen her.

»Ich verfolge sie«, verkündete Nova. Sie ließ sich von dem Müllcontainer gleiten und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Asphalt.

»Du bist verletzt!«, protestierte Adrian, der fast zeitgleich neben ihr aufkam.

Da löste sich Ruby aus den Schatten. Sie humpelte, aber wo vorhin noch Blut gewesen war, bedeckte nun eine Reihe scharfkantiger, roter Kristalle die Wunde. »Ich komme auch mit«, fauchte sie wütend.

Nova hatte sich bereits von den beiden abgewandt, doch Adrian packte sie am Arm.

»Lass mich los, Sketch!«

»Zwei Sekunden!«, schrie er ebenso gereizt und zog seinen Stift hervor. Er zeichnete einen Schnitt auf den blutgetränkten Stoff ihrer Uniform und legte so die Wunde an ihrem Rücken frei, nicht weit von der Wirbelsäule entfernt. Es war eher ein Stich als ein Kratzer.

»Adrian! So entkommen sie noch!«

Ungerührt malte er einen mehrmals gekreuzten Verband auf die Wunde. »So.« Während die Zeichnung mit ihrer Haut verschmolz, drückte er die Kappe auf seinen Stift. »Jetzt verblutest du uns wenigstens nicht.«

Von Nova war nur ein gereiztes Brummeln zu hören.

Gemeinsam rannten sie los, allerdings wurde schnell klar, dass Ruby nicht mithalten konnte. Während Nova weiterlief, blieb Adrian stehen und packte Ruby an der Schulter, um sie aufzuhalten. »Wir kriegen das Wunderkind schon gebändigt. Geh du zurück und sorg dafür, dass die anderen in Sicherheit sind.«

Ruby wollte schon protestieren, als Dannas Stimme aus ihren Kommunikatoren drang: »Habe Sichtkontakt zu Dornenschlinge und dem männlichen Verdächtigen. Sie laufen zum Krankenhaus zurück, auf der Zweiundachtzigsten, Richtung Osten. Wahrscheinlich wollen sie zum Fluss.«

Mit einem strengen Blick befahl Ruby: »Lasst sie nicht entwischen!«

Adrian sparte sich eine Antwort, fuhr herum und rannte in eine Seitenstraße. Vielleicht konnte er ihnen den Weg abschneiden. War Nova zurück zur Hauptstraße gelaufen, oder würde sie es über die Dächer versuchen und die beiden aus der Vogelperspektive im Blick behalten?

Als er sicher war, dass Ruby ihn nicht mehr sehen konnte, benutzte er die eintätowierten Sprungfedern an seinen Fußsohlen dazu, sich vorwärts zu katapultieren. So kam er zehnmal schneller voran als durch bloßes Laufen. Am Ende der Straße angekommen, sah er gerade noch, wie die beiden Flüchtigen hinter der nächsten Ecke verschwanden.

Er nahm wieder die Verfolgung auf und bog zeitgleich mit Nova um die Ecke, die aus der anderen Richtung kam. Als sie ihn sah, geriet sie vor Überraschung kurz aus dem Tritt. »Verdammt schnell«, stellte sie keuchend fest.

Gemeinsam liefen sie weiter. Die Kriminellen hatten einen Block Vorsprung. Immer wieder sah Adrian, wie ein Medikamentenfläschchen aus dem Schlitz in Dornenschlinges Sack fiel und im Rinnstein landete. Das machte es leichter, sie zu verfolgen.

Die Straße endete an einer T-Kreuzung, und Adrian registrierte, wie die beiden Verdächtigen auseinanderdrifteten. Offenbar wollten sie sich trennen und so auch Adrian und Nova aufspalten.

»Ich übernehme Dornenschlinge«, entschied Adrian.

»Nein.« Nova zog eine Pistole mit breitem Lauf aus ihrem Equipmentgürtel, legte, ohne langsamer zu werden, auf ihr Ziel an und schoss. Der Energiebolzen erwischte den Mann, als er gerade in die nächste Straße einbiegen wollte. Er wurde durch die Fensterfront eines kleinen Cafés geschleudert. In einem Regen aus Glasscherben fiel er über einen Tisch und war dann nicht mehr zu sehen. Einer der Müllsäcke blieb an dem kaputten Fenster hängen, und eine Sturzflut aus Medikamenten ergoss sich über den Bürgersteig.

»Du nimmst ihn fest«, bestimmte Nova, »und ich kümmere mich um Dornenschlinge.«

Adrian schnaubte empört. »Und wer ist jetzt von Ehrgeiz zerfressen?«

Dornenschlinge hatte zwar kurz gezögert, als ihr Komplize durch das Fenster flog, war aber nicht stehen geblieben. Wenn überhaupt, rannte sie nun noch schneller. Mithilfe ihrer zwei Beine und sechs Tentakel huschte sie förmlich die Straße hinunter.

Adrian hatte sich noch nicht ganz entschieden, ob er nun den Mann festsetzen oder bei Nova bleiben sollte, als ein lauter Schrei sie beide innehalten ließ.

Adrians Kopf fuhr zu dem kaputten Fenster des Cafés herum. Doch es war die Eingangstür, die plötzlich aufflog und so heftig gegen die Mauer krachte, dass das GESCHLOSSEN-Schild von seinem Haken fiel.

Der Mann kam heraus. Er hatte seine Müllsäcke losgelassen und stattdessen einen Arm um die Kehle eines jungen Mädchens in einer karierten Schürze geschlungen. Mit der freien Hand drückte er ihr eine Pistole an die Schläfe.

ZWEI

Atemlos starrte Adrian auf die Waffe und das entsetzte Gesicht des Mädchens. Viele kleine Kratzer entstellten ihren rechten Arm. Offenbar hatte sie am Fenster gestanden, als der Verdächtige durch die Scheibe gekracht war.

»Hört gut zu!«, brüllte der Mann. Äußerlich wirkte er wie ein harter Hund: An seinem Hals prangte ein Tattoo, das halb vom Hemdkragen verdeckt war, und seine Arme hatten mit Sicherheit schon eine Menge Hanteln geschwungen. Doch in seinem Blick lag eindeutig Angst. »Ihr werdet mich gehen lassen. Ihr werdet keinem von uns folgen. Ihr werdet nicht angreifen. Wenn ihr diese simplen Anweisungen befolgt, werde ich das Mädchen gehen lassen, sobald ich aus der Schusslinie bin. Aber wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, dass ich verfolgt werde, ist sie tot.« Er schob den Pistolenlauf an den Hinterkopf seiner Geisel und zwang sie, den Kopf zu senken. Seine Hand zitterte, als er sich langsam an der Hauswand entlangschob, das Mädchen immer zwischen sich und den Renegades. »Sind wir uns da alle einig?«

Die Geisel begann zu weinen.

Adrians Herz raste. Der Kodex der Renegades ging ihm durch den Kopf, wieder und wieder.

Die Sicherheit der Zivilisten steht an erster Stelle. Ohne Ausnahme.

Aber mit jeder Sekunde, die sie reglos hier rumstanden und sich den Forderungen dieses Verbrechers beugten, brachte sich Dornenschlinge mehr außer Reichweite.

Neben ihm schlang Nova verstohlen die Finger um die kleine Waffe, die hinten in ihrem Werkzeuggürtel steckte.

»Nicht«, raunte er ihr zu.

Nova hielt inne.

Der Mann schlich weiter die Straße hinunter und zerrte seine Geisel hinter sich her. Noch zwanzig Schritte, dann würden beide um die Ecke verschwinden.

Wenn Adrian und Nova nichts unternahmen, wenn sie ihn entkommen ließen, würde er seine Geisel dann wirklich freilassen?

Der Kodex sah vor, das Risiko einzugehen. Ihm keinen Grund für einen Angriff zu liefern. Beschwichtigen und verhandeln. Niemals das Leben von Zivilisten gefährden.

Fünfzehn Schritte.

»Ich kann ihn treffen«, hauchte Nova fast lautlos.

Der Blick des Mädchens wurde mit jeder Sekunde panischer. Ihr Körper war sein Schutzschild, doch der Kopf des Mannes ragte weit genug darüber hinaus, um Nova Glauben zu schenken. Adrian hatte sie schon oft in Aktion gesehen. Er hatte keinerlei Zweifel, dass sie ihn treffen konnte.

Aber der Kodex …

Zehn Schritte.

»Zu riskant«, entschied er. »Nicht eingreifen.«

Nova knurrte angewidert, zog die Hand aber ein Stück zurück.

Inzwischen schluchzte die Geisel hemmungslos. Der Verbrecher musste sie quasi tragen, um sie weiter mitzuschleifen.

Es bestand immer noch das Risiko, dass er das Mädchen tötete, sobald er außer Reichweite war. Das war Adrian bewusst. Das war allen bewusst.

Oder er hielt sie einfach nur so lange fest, bis er … dort ankam, wo er offenbar hinwollte.

Dann würden sich zwei Kriminelle weiterhin auf den Straßen herumtreiben, darunter ein gefährliches Wunderkind, und mehrere Kilo im Krankenhaus dringend benötigter Medikamente landeten auf den Drogenumschlagplätzen der Stadt.

Fünf Schritte.

Nova warf Adrian einen bohrenden Blick zu. Ihre Frustration war spürbar wie eine Hitzewelle. »Ernsthaft?«, zischte sie.

Er ballte krampfhaft die Fäuste.

Der Verbrecher hatte die Straßenecke erreicht und grinste Adrian höhnisch an. »Ihr bleibt jetzt ganz brav dort stehen«, befahl er. »Wie gesagt: Ich werde sie gehen lassen, wenn ich außer Reichweite bin, aber wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, dass die Renegades uns folgen, dann …«

Hinter der Ecke tauchte ein Stock auf und schlug dem Mann mit Wucht gegen die Schläfe. Der schrie auf und wollte sich umdrehen, doch ein zweiter Schlag schleuderte seinen Kopf herum. Sein Griff lockerte sich. Mit einem Aufschrei riss sich die Geisel los.

Wie eine kreischende Todesfee ließ sich Ruby von einem Hauseingang fallen, landete auf dem Rücken des Mannes und riss ihn von den Füßen. Oscar erschien, seinen Gehstock erhoben wie eine Keule. Er positionierte sich über Ruby und dem Verbrecher, jederzeit bereit, ein drittes Mal zuzuschlagen, doch da hatte Ruby dem Mann bereits Handschellen angelegt.

»Und das nennt man in unseren Kreisen Teamwork«, verkündete Oscar, während er Ruby auf die Beine half. Sie packte seinen Unterarm und ließ sich von ihm hochziehen.

Noch leicht benommen lehnte sich die Geisel an die Hauswand und rutschte daran herab, bis sie auf dem Bürgersteig saß.

»Verfluchte Scheiße«, murmelte Nova, was Adrians Gedanken ziemlich genau wiedergab. Rubys Wunden hatten wieder geblutet, sodass sich nun leuchtend rote Kristallformationen über den Stoff ihrer Uniform zogen: von der Schussverletzung am Oberschenkel aus bis hinunter zum Knie und bis hinauf zur Hüfte.

Adrian löste sich aus seiner Schockstarre. »Wo ist Danna?«

»Verfolgt das Wunderkind«, erklärte Ruby. »Wenn sie es nicht längst eingeholt hat.«

»Ich hänge mich an die beiden dran«, sagte Nova sofort, fügte mit einem säuerlichen Blick zu Adrian aber noch hinzu: »Falls der Kodex es mir gestattet.«

Er erwiderte den Blick, allerdings nicht besonders überzeugend. »Seid vorsichtig. Wir treffen uns dann im Krankenhaus.«

Nova lief in die Richtung, in der das Wunderkind verschwunden war. Mit leisem Bauchgrimmen sah Adrian ihr nach. Sie wussten immer noch zu wenig über Dornenschlinge und darüber, wozu sie fähig war.

Aber Danna war ja auch da. Und Nova wusste, was sie tat.

Mit eisernem Willen wandte er sich ab. »Was ist mit den anderen?«

»Alle festgenommen«, berichtete Ruby. »Und ich habe schon einen Gefangenentransport und den Aufräumdienst angefordert.«

Oscar war zu der Geisel hinübergegangen, die zitternd die drei Renegades anstarrte.

»Du bist jetzt in Sicherheit«, sagte er und nutzte seinen Stock als Stütze, um sich vor sie hinzuhocken. »Gleich kommt ein Arzt, der sich um deine Wunden kümmert, außerdem haben wir auch psychologische Berater, falls du mit jemandem reden möchtest. Sollen wir in der Zwischenzeit vielleicht jemanden für dich anrufen?«

Als sie Oscar ins Gesicht sah, ließ das Zittern nach. Ihre Augen wurden groß – diesmal jedoch nicht aus Angst, sondern eher in benommener Glückseligkeit. Sie öffnete den Mund, brauchte aber mehrere Anläufe, um verständliche Worte zu formulieren. »Davon habe ich mein Leben lang geträumt«, flüsterte sie. »Mal von einem echten Renegade gerettet zu werden.« Ihr schmachtender Blick verriet, dass sie Oscar anscheinend für das achte Weltwunder hielt. »Danke … ich danke dir dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.«

Oscars Wangen verfärbten sich. »Äh … ja. Gern geschehen.« Er warf Ruby einen hilflosen Blick zu, doch als er sich aufrichtete, reckte er die Brust, wie er es noch nie zuvor getan hatte. »Das Übliche eben.«

Ruby kicherte leise.

Sirenengeheul setzte ein. Bald würden der Krankenwagen und die Einsatzfahrzeuge der Renegades hier sein. Adrian blickte erneut in die Richtung, in der Nova verschwunden war, und seine Nervosität kehrte mit voller Wucht zurück.

Wie weit war das Wunderkind wohl gekommen? Wo wollte die Frau überhaupt hin? Hatte Danna sie bereits eingeholt? Und Nova?

Brauchten sie Hilfe?

»Hey, Leute?«, setzte er an, während sein Adrenalinspiegel wieder spürbar stieg.

»Du willst ihr folgen«, kam Ruby ihm zuvor. »Klar, wissen wir doch.«

»Solltest dich besser beeilen«, fand Oscar. »Du weißt doch, dass Nova dir bestimmt kein Stück vom Ruhmeskuchen aufheben wird.«

Adrian warf ihnen ein dankbares Lächeln zu, dann rannte er los.

Inzwischen war die Sonne über die Häuser gestiegen, und die Straßen waren in lange Schatten getaucht. Langsam erwachte die Stadt zum Leben. Mehr Autos auf den Straßen, dazu Fußgänger, die Nova neugierige und teils sogar aufgeregte Blicke zuwarfen, wenn sie in ihrer so verdammt auffälligen Renegade-Uniform an ihnen vorbeirannte. Ohne weiter darauf zu achten, wand sie sich zwischen den Ladenbesitzern hindurch, die ihre Mülltonnen an die Straße rollten. Sprang über Aufsteller, die für Rabattaktionen und Neueröffnungen warben. Wich Fahrrädern und Taxis aus, schob sich an Straßenlaternen und verrosteten Briefkästen vorbei.

Tagsüber war ihr Job kompliziert. Ohne Zivilisten war alles viel einfacher, was die Geiselnahme vor dem Café mal wieder bewiesen hatte. Dann kam immer der berüchtigte Kodex ins Spiel, das bindende Gesetz von Gatlon. Diese ganze Schütze-und-verteidige-um-jeden-Preis-Sache. Grundsätzlich hatte Nova da auch gar nichts gegen einzuwenden – natürlich sollte ihre Arbeit dazu dienen, unschuldige Beobachter zu beschützen. Aber manchmal musste man eben Risiken eingehen. Und manchmal mussten Opfer gebracht werden.

Zum Wohle aller.

Ace hätte nie ein einzelnes Leben verschont, wenn dadurch Dutzende oder sogar Hunderte anderer gefährdet worden wären.

Doch die Renegades hatten sich diesem Kodex verpflichtet, und deshalb lief nun ein Wunderkind mit dornenbesetzten Auswüchsen frei herum, von dem niemand wusste, wann es das nächste Mal zuschlagen würde.

Falls Nova es nicht vorher aufhielt.

Immerhin war sie eine Superheldin und so.

Dieser Gedanke ließ ein trockenes Lächeln über ihr Gesicht huschen. Oh, wenn Ingrid sie jetzt sehen könnte. Welch eine Schande es für sie wäre, mit anzusehen, wie Nova, ihre Anarchistenkameradin, mit den Renegades zusammenarbeitete – sich mit ihnen sogar gegen ein aufsässiges Wunderkind verbündete. Ingrid hätte Nova dazu angestiftet, Dornenschlinge laufen zu lassen, sie vielleicht sogar zu einer Komplizin zu machen. Aber Ingrid hatte nicht weit genug gedacht. Ihr war einfach nicht klar gewesen, wie wichtig es war, dass Nova sich das Vertrauen der Renegades erschlich.

Ace verstand das. Er hatte es immer verstanden.

Erringe ihr Vertrauen. Finde ihre Schwächen heraus.

Und dann vernichte sie.

Dornenschlinge war auf dem Weg zum Fluss; so hätte Nova es auch gemacht, wenn sie auf der Flucht vor den Renegades wäre und ihre Spuren verwischen müsste. Zugegebenermaßen ein Szenario, auf das sich Nova jahrelang vorbereitet hatte. Ungefähr drei Blocks nachdem sie Adrian und die anderen zurückgelassen hatte, entdeckte sie ein weißes Tablettenfläschchen im Rinnstein. Dornenschlinge hatte den Kurs geändert, und zwei Blocks weiter fand Nova das nächste Fläschchen an einem Gullyschacht.

Über einem der Gemeinschaftsgärten hing eine dunkle, wabernde Wolke. Nova brauchte einen Moment, um sie als Dannas Schwarm zu identifizieren. Die Schmetterlinge tanzten vor und zurück, flatterten über eine Gasse, dann plötzlich in die Höhe und über die Dächer einiger aufgegebener Läden hinweg.

Es sah ganz so aus, als würden sie nach etwas suchen.

Kurz entschlossen sprang Nova über den Zaun und lief durch den schlammigen Garten. Als sie die Straße auf der anderen Seite der Parzelle erreichte, hatten sich die Falter auf Stromleitungen und Dachrinnen niedergelassen, Tausende kleiner Tierchen, die mit zuckenden Flügeln suchten und abwarteten.

Zuerst griff Nova nach ihrer Pistole, überlegte es sich dann aber anders und nahm die Schockwellenwaffe zur Hand. Bis auf ein halbes Dutzend Müllcontainer und haufenweise überquellende Abfallsäcke, die entlang der Hausmauern aufgestapelt waren, schien die Gasse leer zu sein. Ein durchdringender Gestank nach fauligem Essen und altem Fisch verpestete die Luft. Nova atmete möglichst flach und unterdrückte ein Würgen, während sie, umschwärmt von Fliegen, langsam vorwärtsschlich.

Ein Scheppern ließ sie herumfahren und die Schockwellenpistole hochreißen. Hinter einem Müllsack kam eine magere Katze hervor, maunzte kurz und sprang dann durch ein zerbrochenes Fenster.

Nova atmete auf.

Dann dröhnte ein Kampfschrei durch die Gasse. Explosionsartig schoss ein Müllcontainerdeckel in die Höhe, und Dornenschlinge sprang heraus. Einer ihrer Tentakel riss Nova die Waffe aus der Hand und hinterließ eine brennende Blase auf ihrer Hand.

Zischend griff Nova nach ihrer anderen Pistole, während Dornenschlinge sich die Schockwellenwaffe in die Hand schob.

Nova zog, aber Dornenschlinge schoss zuerst.

Der Schlag katapultierte Nova auf einen Stapel Müllsäcke, und ihr gesamter Körper zitterte von dem Nachhall des Stoßes.

Dornenschlinge rannte los, doch plötzlich stand ihr Danna im Weg, den Körper kampfbereit angespannt. Auch auf sie legte Dornenschlinge an, aber Danna löste sich wieder in den Schwarm auf, bevor die zischende Energie sie treffen konnte.

Die Insekten wirbelten in einer wilden Wolke herum. Einen Herzschlag später fiel Danna aus der Luft, direkt auf Dornenschlinges Rücken.

Drei der sechs Tentakel wickelten sich um Dannas Körper und zerfetzten ihren Rücken. Danna schrie, als sich die Dornen in ihre Haut bohrten. Dornenschlinge schleuderte sie gegen eine Mauer, wo Danna betäubt liegen blieb.

Nova kämpfte sich auf die Füße, packte eine herumstehende Mülltonne und warf sie mit aller Kraft auf den Gegner.

Aber Dornenschlinge musterte das Geschoss nur kurz, ließ einen Tentakel vorschießen und schlug die Tonne mühelos beiseite. Ein zweiter schlängelte sich zu einem Müllberg und griff einen der Säcke – Nova erkannte ihn an dem Schlitz in der Seite. Wie eine Spinne kletterte Dornenschlinge die Hauswand hinauf, hielt sich mit ihren zusätzlichen Armen an Fenstergittern und Lampen fest. So erreichte sie problemlos das Dach und verschwand.

Nova hetzte die Gasse hinunter. Sobald sie die Straße erreichte und die kleine Brücke über den Snakeweed River sah, wurde Dornenschlinges Ziel klar. Sie stand bereits am Geländer. Nachdem sie Nova noch einen hasserfüllten Blick zugeworfen hatte, sprang sie von der Brücke.

Obwohl ihre Lunge brannte und ihre Beine am liebsten den Dienst quittiert hätten, setzte Nova den Schwung ihrer Arme ein, um ihren Körper noch einmal anzutreiben. Sie musste nur sehen, wo Dornenschlinge auftauchte, dann konnte die Jagd weitergehen.

Doch als sie die Brücke erreichte, verließ sie der Kampfgeist.

Dornenschlinge war nicht im Fluss untergetaucht.

Sie war auf einem Schiff gelandet.

Unaufhaltsam pflügte es durch die Wellen und trug die Kriminelle mit jeder Sekunde weiter von der Brücke fort.

Umgeben von Frachtcontainern stand Dornenschlinge an Deck und winkte spöttisch zu Nova hoch.

Frustriert klammerte die sich an das Brückengeländer und versuchte, sich den Flusslauf vor Augen zu führen. Bevor er die Bucht erreichte, kamen noch vier Brücken. Dornenschlinge konnte an jeder von ihnen aussteigen, während Nova keine Chance hatte, sie einzuholen und herauszufinden, welche Brücke sie wählen würde.

Nova fluchte und schlang die Finger so fest um das Geländer, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Es musste eine andere Möglichkeit geben, sie zu verfolgen. Es musste einen anderen Weg geben, dieses Wunderkind aufzuhalten. Es musste …

Das Poltern von Stiefeln ließ sie herumwirbeln. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie den Mann in der schimmernden Ganzkörperrüstung sah, der mit langen Schritten auf sie zulief.

Der Wächter.

Ein Kribbeln breitete sich auf ihrer Haut aus, als sie nach ihrer Waffe griff und sich kampfbereit machte.

Doch der Wächter rannte einfach an ihr vorbei und katapultierte sich mit der Kraft eines Düsenjets in die Luft.

Fassungslos verfolgte Nova seine Flugbahn. Sein gestreckter Körper glitt über den Fluss hinaus, und einen Moment lang schien er tatsächlich zu schweben. Dann sank er ab, vollkommen kontrolliert und elegant, und spannte seinen Körper an, um den Aufprall abzufangen.

Mit einem Knall landete er an Deck des Schiffs, nur Zentimeter von der Kante entfernt.

Als sich der Wächter aufrichtete, warf er sich kurz in Pose – als wäre er direkt einem Comic entsprungen.

Nova verdrehte genervt die Augen. »Ja, ja, du Angeber.«

Falls Dornenschlinge einen Schreck bekommen hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Brüllend schleuderte sie dem Wächter alle sechs Dornenarme entgegen.

Irgendwie hoffte Nova fast, nun Zeugin einer Wächter-Pfählung zu werden, aber der streckte nur den linken Arm aus. Aus seiner Handfläche löste sich ein Feuerball, der die Tentakel in Flammen hüllte. Selbst aus der großen Entfernung konnte Nova die schmerzerfüllten Schreie hören, als Dornenschlinge hastig ihre Arme zurückzog.

Nachdem er die Flammen in seiner Hand zerdrückt hatte, riss der Wächter die Diebin mit solcher Wucht von den Füßen, dass beide hinter einen Stapel Schiffscontainer rollten.

Nova lehnte sich weit über das Geländer und blinzelte gegen die Morgensonne an. Einige Zeit sah sie gar nichts, und das Schiff glitt immer weiter durch das Wasser.

Doch bevor es die nächste Flussbiegung erreichte, konnte Nova auf dem Deck eine Bewegung erkennen.

Sie riss das Fernglas von ihrem Gürtel und suchte das Schiff ab. Der Autofocus stellte das Deck scharf.

Gespannt kniff Nova die Augen zusammen.

Dornenschlinges Kleidung war von dem Feuerball des Wächters versengt worden, und an ihren nackten Armen klebte Blut. Ihre Lippe war aufgeplatzt, die linke Gesichtshälfte geschwollen.

Aber sie stand noch. Der Wächter hingegen lag hilflos zu ihren Füßen, von den Schultern bis zu den Knöcheln in Dornententakel gewickelt.

Nova sah, wie Dornenschlinge ihn zum Heck des Schiffes schleifte und dort über Bord warf.

Die schwere Rüstung versank wie ein Stein in dem trüben Wasser.

Verblüfft richtete sich Nova auf. Es war alles so schnell gegangen, so unspektakulär, dass sie beinahe enttäuscht war. Sie war nie ein besonderer Fan des Wächters gewesen, und doch hatte ein kleiner Teil von ihr gehofft, dass er die Diebin zumindest fangen würde, so wie er in den vergangenen Wochen schon mehrere Kriminelle erwischt hatte.

Dornenschlinge sah noch einmal zu Nova herüber. Durch das Fernglas war ihr triumphierendes Grinsen deutlich zu sehen.

Dann glitt das Schiff um die Biegung des Flusses, und sie verschwand.

Seufzend ließ Nova das Fernglas sinken.

»Na ja«, sagte sie leise. »Wenigstens muss ich mir seinetwegen jetzt keine Gedanken mehr machen.«

DREI

Adrian tauchte unter der Halfpenny Bridge wieder auf. Mühsam kämpfte er sich ans Ufer und brach dort zusammen, wobei er einen Einsiedlerkrebs aufscheuchte, der sich ängstlich unter einem von Flechten bewachsenen Felsen verkroch.

Selig versuchte er, die wundervolle Luft zu atmen, verschluckte sich dabei und bekam einen Hustenanfall. Seine Lunge brannte, weil er so lange den Atem angehalten hatte, ihm war schwindelig, und sämtliche Muskeln taten ihm weh. Seine durchnässte Uniform war voller Schlamm und Sand.

Aber er lebte, und im Moment reichte das aus, um ihn trotz des würgenden Hustens laut auflachen zu lassen.

Jedes Mal, wenn er sich in den Wächter verwandelte, schien er etwas Neues über sich selbst und seine Fähigkeiten zu erfahren.

Oder auch über nicht vorhandene Fähigkeiten.

Heute hatte er gelernt, dass die Rüstung des Wächters nicht wasserdicht war. Und dass sie sank wie ein Stein.

Die Erinnerung an die Jagd war bereits ziemlich verschwommen. Eben stand er noch an Deck des Schiffs und bereitete den Feuerball auf seinem Handschuh vor, vollkommen überzeugt davon, dass Dornenschlinge gleich um Gnade flehen würde. Jedenfalls sahen diese Dornen aus, als wären sie brennbar. Und dann war er plötzlich in ihre Tentakel gewickelt, die, wie sich herausstellte, so fest waren wie Stahlzwingen. Eine der Dornen hatte sogar ein Loch in seinen Rückenpanzer gebohrt, auch wenn sie zum Glück nicht bis in die Haut gedrungen war.

Und dann versank er. Alles wurde dunkel. In seinen Ohren baute sich Druck auf, und durch die Gelenke der Rüstung drang Wasser ein. Erst als er schon auf halbem Weg zum Grund des Flusses war, gelang es ihm, den Anzug wieder in die auftätowierte Tasche an seiner Brust verschwinden zu lassen und Richtung Ufer zu schwimmen.

Als der Hustenanfall endlich vorbei war, rollte sich Adrian auf den Rücken und starrte zur Brücke hinauf. Ein schwerer Lastwagen fuhr über ihn hinweg. Unter seinem Gewicht begann die Stahlkonstruktion zu beben.

Der Lärm war gerade abgeebbt, als er das Piepen seines Kommunikatorbands hörte. Genervt verzog er das Gesicht.

Zum allerersten Mal kamen ihm Zweifel an seiner Entscheidung, in die Rolle des Wächters zu schlüpfen. Hätte er Dornenschlinge erwischt und die gestohlenen Medikamente zurückgebracht, würde er vermutlich anders darüber denken, aber so war er ohne greifbares Ergebnis ein enorm hohes Risiko eingegangen.

Sein Team fragte sich bestimmt schon, wo er abgeblieben war. Und er musste sich eine Erklärung dafür einfallen lassen, dass er klatschnass war.

Er setzte sich auf und schob eine Hand in die Innentasche seiner Renegade-Uniform, doch sie war leer.

Kein Stift, keine Kreide.

Adrian fluchte. Bestimmt waren sie im Wasser rausgefallen.

So viel zu der Idee, sich trockene Kleidung zu zeichnen.

Wieder piepte der Kommunikator. Nachdem er mit dem feuchten Ärmel zumindest die Tropfen vom Display gewischt hatte, rief er seine Nachrichten auf. Es waren sieben: drei von Ruby, eine von Oscar, eine von Danna und zwei von seinen Dads.

Fantastisch. Sie hatten also den Rat eingeschaltet.

Kaum hatte er das erkannt, hörte er das Brausen von Wasser. Erschrocken riss er die Augen auf und sprang auf die Füße. Zu spät. Eine Wand aus schäumendem Flusswasser schlug über ihm zusammen und durchnässte ihn gleich noch einmal. Nur mit Mühe gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben, als sich das Wasser ins Flussbett zurückzog. Während er sich keuchend diverse Wasserpflanzen von der Uniform pflückte, sah er, wie sich am anderen Ufer ebenfalls eine gigantische Wasserwand aufbaute. Die Welle war bestimmt zehn Meter hoch. Oben auf ihrem Scheitelpunkt tanzten ordentlich aufgereiht die Schiffe, die in diesem Teil des Flusses unterwegs gewesen waren. Im Flussbett lag nun der Grund frei, übersät mit schleimigem Pflanzenbewuchs und jeder Menge Müll. Die Welle verharrte einen Moment lang reglos vor dem Ufer, dann sank sie in sich zusammen und zog sich Richtung Bucht zurück.

Tsunami, vermutete Adrian, oder einer der anderen Wasserbändiger der Truppe, die den Grund des Flusses absuchten.

Nach ihm suchten, wie ihm schlagartig bewusst wurde.

Bestimmt hatte Nova gesehen, wie der Wächter über Bord geworfen wurde, und nun suchten sie nach der Leiche.

Adrian wandte sich ab und ging zur Böschung hinüber. Indem er sich an Gräsern, Steinen und Baumwurzeln festhielt, gelang es ihm hinaufzuklettern. Als er oben ankam, war er nicht mehr nur nass, sondern auch vollkommen verdreckt.

Zwar gab es gewisse Anzeichen, dass im Schutz der Brücke jemand lebte – eine Plane, ein paar Decken, einen leeren Einkaufswagen –, aber es war niemand da, der gesehen hätte, wie Adrian um die Pfeiler herumhuschte und zur Straße hinauflief. Unter ihm gab der Fluss ein tiefes Grollen von sich, als die nächste, nicht natürlich entstandene Welle aus seinen Tiefen gezogen wurde.

Gerade als er über die Leitplanke klettern wollte, hörte Adrian eine dröhnende Stimme, die ihm nur allzu vertraut war.

Hastig ging er wieder in Deckung.

»… weitersuchen«, sagte der Schreckliche Patron gerade, einer von Adrians Vätern und außerdem Mitglied im Rat der Renegades. »Elster wird bald hier sein. Sie kann den Anzug wahrscheinlich aufspüren, selbst wenn er unter Schlamm begraben ist.«

Adrian atmete erleichtert auf. Er war nicht entdeckt worden.

»Ich werde sehen, ob ich von der nächsten Brücke aus etwas entdecke«, schlug Tsunami vor. »Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er weiter gekommen ist als bis hier, aber es kann ja nicht schaden, einmal nachzusehen.«

Vorsichtig hob Adrian den Kopf und spähte über die Leitplanke. Tsunami und sein Dad standen mitten auf der Halfpenny Bridge. Der Wind ließ Tsunamis leuchtend blauen Rock flattern und zerrte am schwarzen Cape des Schrecklichen Patrons. Beide sahen auf den Fluss hinunter.

Dann schnippte Tsunami mit dem Finger, und von unten war das Donnern von Wasser zu hören.

Anschließend gingen die beiden in Adrians Richtung. Der duckte sich hastig und wollte sich wieder unter die Brücke zurückziehen.

»Sketch?«

Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr er herum. Auf der anderen Straßenseite stand Nova und musterte ihn, als wäre er ein neuartiges Wassertier, das sie gleich sezieren wollte.

»Nova«, stotterte er, lief die Böschung wieder hinauf und stieg über die Leitplanke. »Äh … Insomnia. Hi.«

Sie runzelte nur die Stirn. Statt ihrer Uniform trug sie nun eine Jogginghose und ein Oberteil, das sie offenbar von den Heilern bekommen hatte. An ihrer rechten Schulter lugte ein Verband unter dem Stoff hervor.

»Wo warst du denn? Ruby ist halb krank vor Sorge«, informierte sie ihn und kam über die Straße. Nach einem prüfenden Blick auf seine Uniform fügte sie hinzu: »Und warum bist du so nass?«

»Adrian?«

Schuldbewusst zuckte er zusammen und drehte sich dann zu den beiden Ratsmitgliedern um, die gerade von der Brücke traten. Sie schienen ebenso überrascht zu sein wie Nova, ihn hier zu sehen, wirkten allerdings eher neugierig als misstrauisch.

Noch.

»Hi, Leute«, begrüßte er sie mit einem gezwungenen Lächeln, versuchte dann aber gar nicht mehr, den Ungezwungenen zu spielen. Die ganze Situation hatte nichts Ungezwungenes an sich. Also leckte er sich über die Lippen, die noch immer nach schlammigem Flusswasser schmeckten, und zeigte zur Brücke hinüber. »Schon was gefunden?«

»Himmel noch mal, Adrian«, schimpfte der Schreckliche Patron. »Oscar hat uns vor über einer halben Stunde mitgeteilt, du wärst verschwunden. Erst erzählst du deinem Team, du würdest ein kriminelles Wunderkind verfolgen, und dann – nichts mehr! Wir wussten nicht, ob du von Dornenschlinge angegriffen worden bist oder … oder …« Er unterbrach sich, offenbar nicht ganz sicher, ob er nun besorgt oder wütend sein sollte. »Was hast du denn die ganze Zeit getrieben? Und warum reagierst du nicht auf unsere Nachrichten?«

»Äh … Ich habe …« Adrian sah zum Fluss hinunter, der unschuldig in der Sonne funkelte. »… den Wächter gesucht.« Schnell fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. »Ich war gerade in einer von den Gassen, als ich gesehen habe, wie Dornenschlinge ihn ins Wasser geworfen hat. Also bin ich zum Ufer runter und habe gewartet, ob er irgendwo auftaucht.« Die Zerknirschtheit musste er nicht einmal spielen. »Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass ihr so schnell damit anfangt, den Boden des Flusses abzusuchen, deshalb …« Vielsagend deutete er auf seine Uniform, die unangenehm kalt an seiner Haut klebte. »Und … äh … Nachrichten?« Er tippte auf sein Kommunikatorband. »Oh, wow, sieben Nachrichten? Das ist ja komisch. Habe gar nicht gehört, dass welche gekommen sind. Aber mein Band hat in letzter Zeit öfter mal gesponnen, wisst ihr? Ich muss wohl die Technikabteilung mal draufschauen lassen.« Vorsichtig spähte er zu Nova hinüber. Sie kniff noch immer misstrauisch die Augen zusammen.

»Ja«, sagte sie langsam, »da solltest du dich drum kümmern.« Mit neutraler Miene wandte sie sich dann an die Ratsmitglieder: »Der Aufräumtrupp ist da, und sie haben Elster mitgebracht.« Bei der Erwähnung des Namens verzog sie abschätzig den Mund. Adrian war das Mädchen eigentlich recht sympathisch, aber er wusste, dass Nova der Kleinen nie ganz verziehen hatte, dass sie einmal ihr Armband stehlen wollte. Automatisch wanderte sein Blick zu ihrem Handgelenk, und er suchte nach dem Verschluss, den er damals auf ihre Haut gezeichnet hatte, um es zu reparieren, aber das Schmuckstück wurde offenbar von ihrem Ärmel verdeckt. »Sie ist sich nicht ganz sicher, wo sie anfangen soll.«

»Ich rede mit ihr«, beschloss Tsunami. »Soll Blendnebel den Aufräumtrupp einweisen«, sie warf Adrian einen prüfenden Blick zu, »oder übernimmt das der Teamleiter?«

Adrian wollte sich schon dankbar auf diese Gelegenheit zu einem Themenwechsel stürzen und ihr versichern, dass er nichts lieber täte, als in der ganzen Gegend sämtliche Stellen aufzuzeigen, wo Fenster zu Bruch gegangen, Wände beschädigt oder Kugeln abgefeuert worden waren, doch der Schreckliche Patron kam ihm zuvor: »Lass das Blendnebel machen. Adrian muss jetzt erst mal zu den Sanitätern und sich untersuchen lassen.«

»Und den anderen Bescheid sagen, dass es ihm gut geht«, ergänzte Nova, »bevor Ruby noch einen eigenen Suchtrupp zusammentrommelt.«

Sie folgten Nova in eine der angrenzenden Seitenstraßen, wo Adrian zwei Rettungswagen mit dem symbolischen R der Renegades entdeckte, außerdem mehrere Transporter. Medienvertreter waren auch schon zur Stelle, wurden aber von einem gelben Absperrband zurückgehalten.

Weiter hinten stand der Aufräumtrupp bereit und wartete auf seine Anweisungen. Adrian freute sich, dass Elster dabei war. Es würde ihr guttun, ihre Kräfte für etwas Sinnvolleres einzusetzen als zum Taschendiebstahl. In diesem Mädchen schlummerte großes Potenzial, das wusste er, auch wenn ihr Wesen ungefähr so stachelig war wie Dornenschlinges Extraarme.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, richtete sich Elsters Blick auf Adrian, und ihr gelangweiltes Gesicht verzog sich säuerlich. Er winkte ihr fröhlich zu, woraufhin sie ihm den Rücken zuwandte.

Vor einem kleinen Elektronikladen war ein weißes Zelt errichtet worden. Drinnen lagen Oscar, Ruby und Danna auf Klappliegen und wurden von Heilern versorgt. Einer von ihnen zog gerade mit einer enormen Pinzette die verkrusteten Kristalle aus Rubys Oberschenkel. Die zuckte jedes Mal zusammen, während gleichzeitig die offene Stelle der Wunde mit einer dicken Mullbinde abgedeckt wurde, um die Blutung zu stillen, damit sich keine neuen Blutsteine bildeten.

Danna lag flach auf dem Bauch. Ihre Uniform war am Rücken vom Hals bis zur Hüfte aufgeschnitten worden, damit der Heiler an die vielen, kreuz und quer verteilten Wunden herankam. Ihr Rücken sah aus, als hätte ein Grizzlybär darauf herumgekaut. Adrian vermutete, dass dies das Werk von Dornenschlinges Stacheln war. Doch zumindest schien der zuständige Heiler einige Erfahrung mit Fleischwunden zu haben, denn selbst aus der Entfernung konnte Adrian sehen, wie die oberen Hautschichten an den verletzten Stellen langsam wieder zusammenwuchsen.

»Adrian!«, schrie Ruby so laut, dass ihr Heiler – der gerade den letzten Blutstein aus ihrer Haut ziehen wollte – heftig zusammenzuckte. Im nächsten Moment wurde aus ihrem Ruf ein Schmerzensschrei, als der Kristall sich löste. Prompt warf sie dem Heiler einen bösen Blick zu, den dieser ungerührt erwiderte. Ruby schnappte sich eine aufgerollte Kompresse und machte sich daran, die Wunde selbst zu verbinden. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen, als sie sich wieder Adrian und Nova zuwandte.

Adrian wollte gerade zum zweiten Mal zu seiner Erklärung von vorhin ansetzen – in der hehren Hoffnung, dass sie diesmal überzeugender klingen würde –, als der Heiler die Hand hob, in der er noch immer seine Pinzette hielt. »Die Wiedersehensfeiern können warten. Wir müssen euch alle ins Hauptquartier bringen, damit ihr weiter behandelt werden könnt.«

»Ist Blendnebel einsatzfähig?«, fragte Tsunami. »Wir hätten ihn gern als Einweiser für den Aufräumtrupp.«

Der Heiler nickte. »Ja, gut. Seine Verletzungen sind nur oberflächlich.«

»Nur oberflächlich?«, empörte sich Oscar und hob demonstrativ seinen Unterarm an, der mit einem weißen Verband umwickelt war. »Der Fahrer des Fluchtfahrzeuges hat mich gekratzt, als ich ihm die Handschellen angelegt habe. Und wenn der Typ nun die Tollwut hatte? Oder Schlimmeres? Das könnte sich zu einer tödlichen Verletzung entwickeln!«

Der Heiler warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Tollwut wird nicht durch Kratzer von Fingernägeln übertragen.«

Oscar schnaubte gereizt. »Deshalb sagte ich ja: oder Schlimmeres.«

»Habt ihr ihn schon auf Egomanie getestet?«, stichelte Ruby. »Wäre doch zu traurig, wenn ihn sein übergroßes Selbstbewusstsein erstickt.«

Mit einem finsteren Blick zu ihr stellte Oscar fest: »Du bist ja nur eifersüchtig.«

»Und wie eifersüchtig ich bin!«, lachte Ruby. »Ich habe ebenfalls bei der Rettung des Mädchens geholfen, aber mich hat sie gar nicht wahrgenommen. Es hieß immer nur: Oh, Blendnebel, schon mein ganzes Leben lang habe ich von deiner schwelenden Qualmigkeit geträumt!«

Adrians Mundwinkel zuckten. Zwar hatte er die Barista aus dem Café nicht ganz so in Erinnerung, aber Rubys Imitation kam der Sache schon ziemlich nahe.

Oscar hingegen nickte. »Ich habe schon öfter die Erfahrung gemacht, dass meine schwelende Qualmigkeit so auf die Menschen wirkt.«

Ruby schnaubte nur. Adrian war klar, dass sie Oscar provozieren wollte und nun frustriert war, weil es nicht zu funktionieren schien.

»Welches Mädchen?«, fragte Nova. »Die Geisel?«

»Jawohl.« Oscar schwang lässig seinen Gehstock. »Die ist schwer verliebt in mich.«

»Wer wäre das nicht?«, warf Danna mit einem frechen Grinsen ein.

»Ganz genau. Ich danke dir, Danna.«

Von ihrem Platz auf der Liege aus reckte sie den Daumen in seine Richtung.

»Oscar versucht immer, uns weiszumachen, dass diese Uniformen eine Art Liebesmagnet sind«, erklärte Adrian. »Ich bin überrascht, dass so etwas nicht öfter passiert. Obwohl … mich hat noch nie jemand so angeschmachtet. Jetzt bin ich ebenfalls eifersüchtig. Vielen Dank auch, Ruby.«

»Es liegt nicht nur an der Uniform«, sagte Oscar abwehrend. »Ich meine, immerhin habe ich ihr das Leben gerettet.«

»Wir haben ihr …«, setzte Ruby an, beschränkte sich dann aber auf ein wütendes Brummen.

»Vielleicht hätte ich mir ihre Nummer geben lassen sollen«, fuhr Oscar versonnen fort.

Als Ruby ihn daraufhin mit hochroten Wangen fassungslos anstarrte, tat sie Adrian beinahe ein wenig leid. Andererseits hatte sie mit der ganzen Stichelei angefangen, also hatte sie es vermutlich nicht anders verdient.

Ruby klappte abrupt den Mund zu und wandte sich ab. »Hättest du vielleicht tun sollen. Die würde bestimmt liebend gern mal einen echten Renegade daten.«

»Wer hat denn etwas von einem Date gesagt?«, erwiderte Oscar. »Ich dachte nur, dass sie vielleicht Vorsitzende meines Fanclubs werden möchte. Es ist so schwer, gute Leute zu finden.«

Wieder war Ruby sprachlos, doch als sie sich zu Oscar umdrehte, wurde ihr Blick plötzlich misstrauisch. »Dann würdest du also nicht mit ihr ausgehen?«

»Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.« Einen Moment lang schwiegen sich die beiden an, dann fuhr Oscar mit einem Hauch Unsicherheit in der Stimme fort: »Meinst du wirklich, ich hätte sie um ein Date bitten sollen?«

Damit war Ruby endgültig in ihrer eigenen Falle gefangen und konnte ihn nur noch mit offenem Mund anstarren. Nach einer ganzen Weile räusperte sie sich schließlich und meinte achselzuckend: »Du kannst tun und lassen, was immer du willst.«

Adrian musste sich auf die Zunge beißen, um bei dieser nichtssagenden Antwort nicht breit zu grinsen.

Ruby hingegen konzentrierte sich nun wieder ganz auf ihre Wunden und musterte sie eingehend, während sich ihre Wangen dunkelrot verfärbten.

Doch Oscar ließ sie nicht aus den Augen. Er schien verwirrt zu sein, aber auch hoffnungsvoll. »Na ja … vielleicht bitte ich wirklich mal ein Mädchen um ein Date«, sagte er langsam. »Irgendwann mal.«

»Vielleicht solltest du das tun«, erwiderte Ruby, ohne aufzublicken.

»Vielleicht mache ich das.«

»Sagtest du bereits.«

»Stimmt. Na ja.« Oscar rutschte von seiner Liege, und nun sah Adrian auch, dass Ruby nicht als Einzige rot geworden war. »Wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich muss mich der verantwortungsvollen Aufgabe des Einweisens widmen. Also dann … äh … wir sehen uns später im Hauptquartier. Gute Arbeit heute, Team.«

Damit zog er seine Uniform zurecht und ging zum Aufräumtrupp hinüber, gefolgt von Tsunami, die kaum hörbar seufzte.

Danna stieß einen leisen Pfiff aus. »Ihr zwei seid unmöglich«, stellte sie fest. »Aber eigentlich treibt ihr mich alle vier in den Wahnsinn.«

VIER

Der Schreckliche Patron seufzte so schwer, dass Adrian zusammenzuckte. Er hatte ganz vergessen, dass sein Dad noch da war. »Dieses Alter fehlt mir wirklich nicht«, stellte er fest, was einer der Heiler mit einem wissenden Blick kommentierte. »Dr. Grant, hätten Sie vielleicht Zeit, Sketch auch kurz zu untersuchen?«

»Mir geht es gut«, beharrte Adrian. »Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit mir. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ruby und Danna.«

»Adrian …«, setzte der Schreckliche Patron an.

»Ehrlich, Paps, ich habe nur etwas Flusswasser abbekommen. Ist ja nicht so, als wäre ich ertrunken oder so. Mach dir deswegen keinen Kopf.« Um es noch glaubwürdiger zu machen, grinste er breit. In letzter Zeit hatte er verdammt viel Glück gehabt, denn seit er sich selbst die Tätowierungen gestochen hatte, die ihm die Kräfte des Wächters verliehen, hatte er sich noch keine ernsthaften Verletzungen zugezogen. Und er wollte ganz sicher nicht, dass ein Heiler die merkwürdigen Tintenbilder auf seiner Haut bemerkte und anfing, neugierige Fragen zu stellen – vor allem nicht seinen Vätern.

»Na schön«, gab der Schreckliche Patron nach. »Schaffen wir alle zurück ins Hauptquartier. Anschließend …«, er drehte sich kurz zu der Journalistenmeute und den blitzenden Kameras um, »… überlegen wir uns dann, was wir denen da erzählen.«

»Moment, Moment, Moment!«, rief Danna, als zwei Sanitäter ihre Liege auf einen der Krankenwagen zurollen wollten. Sie stützte sich auf ihre Ellbogen. »Ich gehe nirgendwohin, solange uns nicht endlich jemand erzählt, was genau passiert ist. Adrian verschwindet spurlos, der Wächter tritt auf, Dornenschlinge entkommt, und jetzt behaupten die Leute, der Wächter sei wahrscheinlich tot? Und wieso hat Adrian eigentlich Flusswasser abbekommen?« Sie streckte Adrian die gespreizten Finger entgegen, als wollte sie ihn packen und durchschütteln, sobald er in ihre Reichweite kam. »Was hast du angestellt?«

»Ich habe den Wächter verfolgt, und nachdem Dornenschlinge ihn ins Wasser geworfen hatte, habe ich darauf gewartet, dass er wieder auftaucht.« Mit einem erleichterten Achselzucken stellte er fest, dass die Geschichte beim zweiten Mal tatsächlich überzeugender klang.

»Ihr werdet alle auf den neuesten Stand gebracht, sobald die Heiler euch aus der Krankenstation entlassen haben«, versprach der Schreckliche Patron. Dann schnippte er mit den Fingern, und Danna und Ruby wurden unter leisem Protest in die Rettungswagen verfrachtet.

»Nova?« Der Schreckliche Patron drehte sich zu ihr um. »Ich würde gern kurz unter vier Augen mit Adrian sprechen. Du könntest ja Oscar und Tsunami bei der Einweisung helfen.«

Ein Blick zu der Gruppe verriet Nova, dass Elster immer noch dort war. Abfällig verzog sie den Mund. »Eigentlich würde ich lieber nach Hause gehen, bevor die Geschichte in den Medien zu sehr aufgebauscht wird. Ich würde meinem Onkel gern meine eigene Version erzählen, ehe er es aus zweiter Hand erfährt.« Sie musterte noch einmal eingehend Adrians nasse Kleidung. Ohne es zu wollen, richtete er sich steif auf. »Ich … bin froh, dass es dir gut geht«, sagte sie dann. Fast schien es so, als würde dieses Eingeständnis ihr schwerfallen. »Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«

»Wir sind Superhelden«, entgegnete er. »Wir würden unseren Job vernachlässigen, wenn wir anderen nicht hin und wieder einen Schrecken einjagen.«

Nova antwortete nicht, aber ihr Blick wurde weich. Dann wandte sie sich ab und ging wieder Richtung Fluss. Von hier aus hatte sie einen ziemlichen Fußmarsch vor sich, bis sie zu Hause wäre, weshalb Adrian ihr schon hinterherrufen wollte, dass sie doch warten solle. Vielleicht konnten sie sich zusammen von einem der Transporter mitnehmen lassen. Aber irgendwie wollten die Worte nicht kommen, und er wusste sowieso, dass sie die Einladung ablehnen würde.

Von Nova wurden die meisten seiner Einladungen abgelehnt. Wozu sich also die Mühe machen?

Kaum merklich sackte er in sich zusammen.

»Genau darum geht es«, meinte sein Dad.

Adrian drehte sich zu ihm um. Der Schreckliche Patron zog sich die Dominomaske vom Gesicht, und dadurch schien sich sein Dad in einen ganz anderen Menschen zu verwandeln. Es war nicht nur das Kostüm – seine Haltung entspannte sich leicht, ein ironischer Zug umspielte seinen Mund. Wo gerade noch der Schreckliche Patron gestanden hatte, berühmter Superheld und Gründungsmitglied der Renegades, blieb nun einfach nur Simon Westwood zurück, besorgter Vater.

»Worum?«, fragte Adrian verwirrt.

»Es ist keinesfalls Teil unseres Jobs als Superhelden, den Leuten hin und wieder einen Schrecken einzujagen.«

Mit einem leisen Lachen erwiderte Adrian: »Okay, es steht vielleicht nicht in der offiziellen Stellenbeschreibung, aber mal ehrlich: Was wir tun, ist nun einmal gefährlich.«

Simons Ton bekam etwas Unerbittliches, als er fortfuhr: »Du hast recht. Und gerade weil es so gefährlich ist, dürfen wir niemals leichtfertig handeln.«

»Leichtfertig?«