Respekt geht anders - Gabriele Krone-Schmalz - E-Book

Respekt geht anders E-Book

Gabriele Krone-Schmalz

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Beschreibung

Deutschland ist im Kampfmodus. Andersdenkende werden verunglimpft, und statt aufeinander zuzugehen, breitet sich in der Öffentlichkeit ein aggressives Klima der Intoleranz aus. Gabriele Krone-Schmalz versucht Brücken zu schlagen und zeigt, wo die Fallen lauern, die aus pluralistischen Debatten polarisierende Spaltpilze werden lassen. Ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Streitkultur, das zum Nachdenken anregt, ob es nicht auch anders geht: ruhiger, gelassener, selbstkritischer, kurz: respektvoller. Respekt voll streiten, das wär’s doch!

Die Welt steht vor großen Herausforderungen. Stoff genug für erregte Debatten. Doch wie wollen wir sie führen? Respektvoll? Konstruktiv? Hart in der Sache, aber versöhnlich im Ton? Besser wäre es, gerade auch für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und die Stabilität unserer Demokratie. Stattdessen herrscht viel zu oft das «Entweder-oder» und nicht das «Sowohl-als-auch». Es wird überspitzt, es wird Panik geschürt, es wird die Würde des Andersdenkenden verletzt, und jeder kann zwar alles sagen, muss sich aber im Anschluss von denen beschimpfen und bedrohen lassen, die nicht seiner Meinung sind. Wie wäre es, nach Gemeinsamkeiten zu suchen statt aufeinander rumzuhacken, Kompromisse zu würdigen statt auf Maximalforderungen zu beharren und sich einen Blick dafür zu bewahren, wieviel auch gut läuft in Deutschland? Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins, das wusste schon Marie von Ebner-Eschenbach. Und wer wäre nicht gern selbstbewusst?

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GABRIELE KRONE-SCHMALZ

Respekt geht anders

Betrachtungen über unser zerstrittenes Land

C.H.BECK

Zum Buch

Deutschland ist im Kampfmodus. Andersdenkende werden verunglimpft, und statt aufeinander zuzugehen, breitet sich in der Öffentlichkeit ein aggressives Klima der Intoleranz aus. Gabriele Krone-Schmalz versucht Brücken zu schlagen und zeigt, wo die Fallen lauern, die aus pluralistischen Debatten polarisierende Spaltpilze werden lassen. Wie wäre es, nach Gemeinsamkeiten zu suchen statt aufeinander rumzuhacken, Kompromisse zu würdigen statt auf Maximalforderungen zu beharren und sich einen Blick dafür zu bewahren, wieviel auch gut läuft in Deutschland? Ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Streitkultur, das zum Nachdenken anregt, ob es nicht auch anders geht: ruhiger, gelassener, selbstkritischer, kurz: respektvoller. Respektvoll streiten, das wär’s doch!

Über die Autorin

Gabriele Krone-Schmalz war von 1987 bis 1991 Moskau-Korrespondentin der ARD und moderierte anschließend bis 1997 den ARD-Kulturweltspiegel. Seit 2011 ist sie Professorin für TV und Journalistik an der Hochschule Iserlohn. Bei C.H.Beck sind von ihr erschienen: Russland verstehen (18. Aufl. 2017) und Eiszeit (4. Aufl. 2018).

Inhalt

Jetzt mal ehrlich

Entweder … oder …

Klimaretter oder Klimaleugner

Das Sternchen und die Gleichberechtigung

Wie hältst du es mit dem Kopftuch?

Die deutsche Schuld

Hysterikerland

«Die Armutsdebatte nützt den Armen nicht»

Der Splitter und der Balken

«Früher war alles schlechter»

Gut und Böse

Gute und böse Staaten

Klimaengel und Klimateufel

Gute und böse Mobilität

Wo sind die Guten?

Die Würde des Andersdenkenden

Anständig streiten

Eliten und ihre Verantwortung

Spiel’ nicht mit den Schmuddelkindern

Das Kind mit dem Bade ausschütten

Wer bestimmt, wer ein Nazi ist?

Von berechtigten Fragen und falschen Antworten

Jung und Alt

«Wir werden euch damit nicht davonkommen lassen!»

Der inszenierte Generationenkonflikt

Die Aufmerksamkeitshändler

Zoff sells

Wird schon stimmen oder: Hast du mal ’ne Studie?

«Haltung zeigen»

Unbequeme Journalisten muss man sich leisten können

Objektivität als «regulative Idee»

Und jetzt?

Fußnoten

Jetzt mal ehrlich

Es gab schon einmal eine Situation, in der ich über mein eigenes Land und nicht über Russland geschrieben habe. Das war Mitte der Neunziger des vorigen Jahrhunderts. Ich war gerade ein paar Jahre wieder in Deutschland, nachdem ich in Moskau, damals noch Sowjetunion, gelebt und als ARD-Fernsehkorrespondentin gearbeitet hatte. Mit dem Blick von außen fiel mir eine Diskrepanz auf, die mich dermaßen ärgerte, dass ich darüber schreiben musste. Das Land, aus dem ich zurückkehrte, die Sowjetunion, hatte existenzielle Probleme, wohin man auch schaute, aber statt in Verzweiflung und Resignation zu versinken, war die Aufbruchsstimmung mit Händen zu greifen. Ich habe mich mehr als einmal gefragt, woher die Menschen ihre Kraft nehmen. Und da komme ich in mein Land zurück, dem es im Großen und Ganzen gut geht, und treffe auf Larmoyanz und Lethargie, und auf eine politische und journalistische Elite, die, ohne mit der Wimper zu zucken, von anderen Ländern und Gesellschaften verlangt, sich radikal zu reformieren, komplette Wirtschaftssysteme von heute auf morgen über den Haufen zu werfen, aber gleichzeitig selbst nicht bereit ist, im eigenen System überfällige Weichenstellungen vorzunehmen. Damals wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, was es heißt, mit zweierlei Maß zu messen, und wie schwer es ist, das denjenigen zu verdeutlichen, die ganz selbstverständlich so verfahren und es auch noch als ihr gutes Recht betrachten, diverse Weltregionen zu bevormunden. Kurz und gut: Es waren der Ärger und eine gewisse Sorge um Fehlentwicklungen in meinem Land, in dem ich gerne lebe, die mich zum Schreiben trieben.

Offen gestanden hätte ich nicht gedacht, noch einmal in eine solche Situation zu kommen. Wobei es diesmal weit mehr Sorge als Ärger ist, die mich dieses Buch schreiben lässt. Klar, es ärgert mich natürlich auch, wenn Alarmismus und Hysterie die Diskussion wichtiger Themen bestimmen statt zivilisierter Streit um belastbare Standpunkte; wenn im öffentlichen Diskurs allzu schnell Einigkeit herrscht und abweichende Positionen medial kaum noch vorkommen; und wenn Meinungen zwar geäußert werden können, ihre Urheber aber vom jeweils anderen Lager ausgegrenzt und diffamiert werden – wahlweise als Nazi, Rassist, Volksverräter, links-grün Versiffte, als Putin-Versteher oder manchmal auch schlicht als alter, weißer Mann. Respekt geht anders! All das ist weit mehr als nur ärgerlich. Es ist besorgniserregend, denn es trägt dazu bei, unsere Gesellschaft zu spalten, und nagt an den Grundfesten unseres demokratischen Rechtsstaates. Demokratie kann nur mit interessierten, gut informierten und kompromissfähigen Bürgern funktionieren. Null-Bock-Zeitgenossen, Hysteriker und Wutbürger fahren das System an die Wand, und die Missionarischen, die sich stets auf der moralisch richtigen Seite wähnen, legen allzu oft ein zutiefst intolerantes Verhalten an den Tag, ohne es selbst zu merken.

In diesem Buch will ich mich mit den Mechanismen der Polarisierung beschäftigen. Ich will zeigen, wo die Fallen lauern, die aus pluralistischen Debatten polarisierende Spaltpilze werden lassen. Und ich will zum Nachdenken anregen, ob es nicht auch anders geht: ruhiger, entspannter, sachorientierter, kurz: respektvoller. Haben wir in unserer Gesellschaft nicht außerdem viel mehr gemeinsam, als es die aufgeheizten Debatten vermuten lassen?

Manche Kommentatoren vermitteln den Eindruck, als wäre alles in bester Ordnung, wenn die westlichen Demokratien nicht gezielt von außen unter Druck gesetzt würden, um sie zu destabilisieren. In dieser Sichtweise sind es die Trolle aus den russischen, chinesischen oder iranischen Einflussfabriken, die bewusst Zwietracht säen, um den Westen insgesamt zu schwächen. Natürlich gibt es diese Versuche. Aber wie einflussreich sind sie wirklich? Und spaltet man die Gesellschaft nicht nur noch mehr, wenn man «Abweichlern» unterstellt, sie seien Agenten einer feindlichen Macht? Hatten wir das nicht schon mal? In Wahrheit bekommen wir es ganz gut selber hin, in unseren Debatten eine aggressive, hysterische und intolerante Atmosphäre zu erzeugen. Und wer denkt, das alles käme nur von außen, der kann sich erst gar nicht bemühen, die eigentlichen Ursachen zu beheben, weil er sie nicht erkennt.

Ein Denken in binären Alternativen – entweder oder statt sowohl als auch – entwertet die Suche nach Kompromissen und führt die Debatten auf unfruchtbaren Boden. Hysterie und Alarmismus untergraben den Glauben an die Leistungsfähigkeit und Stabilität unseres Systems und befördern Radikalisierungsprozesse. Die moralische Aufladung unserer Debatten presst Sachthemen in ein Gut-Böse-Schema und behindert die Sicht auf die eigentlichen Problemlagen. Zudem lässt sie den Gegner nicht als Menschen mit anderer Meinung erscheinen, sondern als fragwürdige Person. So wird die Würde des Andersdenkenden verletzt, und es werden Gruppen gegeneinander gehetzt: Deutsche gegen Flüchtlinge, Klimaleugner gegen Klimaretter, Alt gegen Jung. Manchmal wird ein Generationenkonflikt geradezu herbeigeschrieben, der so gar nicht existiert. Und daher muss auch die Rolle der Medien betrachtet werden, die eben nicht bloß eine vierte Gewalt sind, sondern auch «Aufmerksamkeitshändler», die einen wirtschaftlichen Zweck verfolgen und nicht selten die Polarisierung unserer Debatten noch verschärfen.

Es geht mir also nicht darum, all die Sachthemen, die gegenwärtig so erregt diskutiert werden, detailliert aufzuarbeiten. Das wäre vermessen. Es geht mir darum, zu zeigen, was in unserer «Debattenkultur» schiefläuft und so viel wie möglich dazu beizutragen, konstruktiven Streit anzuregen. Zurzeit sind wir nicht mal mehr in der Lage, uns gegenseitig zuzuhören. Wo sind wir gelandet, wenn Gastredner in Hochschulen am Reden gehindert werden, weil deren Standpunkt einer bestimmten, lautstarken Gruppe nicht passt? Sind Universitäten nicht genau dafür da, um unterschiedliche Standpunkte auszutauschen, sich gegenseitig weiterzuentwickeln und zu Erkenntnisgewinn zu kommen? Wie soll das gehen, wenn alle nur im eigenen Saft schmoren und sich für den Nabel der Welt halten?

Wo bleibt das, was man Anstand und Menschenwürde nennt, wenn Gerichte bestätigen, dass unflätigste Beschimpfungen als freie Meinungsäußerung durchgehen? Wie frei ist unsere Gesellschaft, wenn sich Kommunalpolitiker aufgrund ihrer Bedrohungslage zurückziehen oder sich zum eigenen Schutz bewaffnen wollen? In Deutschland! Nicht in Texas.

Es gibt wie so oft im richtigen Leben keine Gebrauchsanweisung, die man Punkt für Punkt befolgen könnte, um aus dieser schwierigen Lage herauszufinden, aber man kann ohne die allgegenwärtige Verbissenheit nachdenken und andere am eigenen Denken teilhaben lassen. Die Versuchung ist groß, sich auf die eigene Meinung zu versteifen, gerade wenn die Debatten so aggressiv geführt werden. Aber es kann nicht schaden, auch sich selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, was man zur Entspannung beitragen kann. Auch das will ich in diesem Buch tun, denn niemand ist im Besitz der einen und unteilbaren Wahrheit.

Und noch etwas. Man muss sich von der Angst befreien, vor falsche Karren gespannt zu werden. Wenn in der Mitte der Gesellschaft kein Platz mehr ist für streitbare Debatten, besteht dieses Risiko durchaus. Aber wo führt es hin, etwas unter den Teppich zu kehren, nur weil man befürchten muss, Beifall von der «falschen» Seite zu bekommen? Ränder und Extreme einer Gesellschaft werden gestärkt und die Mitte noch weiter geschwächt.

Vor einiger Zeit ist mir ausgerechnet auf einem Katzenkalender ein, wie ich finde, hilfreiches Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach begegnet: «Die Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewusstseins.» Und wer wollte schon von sich behaupten kein Selbstbewusstsein zu haben …

Entweder … oder …

Wenige Wochen nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001 erklärte Präsident George W. Bush, im «Krieg gegen den Terror» gebe es keine Neutralität. «You are either with us or against us.» Das ist die krasseste Form von Entweder-oder-Denken: «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.» Wurden Sie auch schon einmal vor diese Alternative gestellt? Was für eine Anmaßung! Denn es läuft darauf hinaus, dass Sie Ihr eigenes Gehirn abschalten sollen und in bedingungsloser Treue demjenigen folgen, der diese letztlich rhetorische Frage stellt. Das passt eher in diktatorische Denkmuster als zu demokratischen Verhaltensweisen. «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich» zwingt Sie dazu, auch Dinge zu tun oder zuzulassen, mit denen Sie persönlich nicht einverstanden sind, andernfalls werden Sie zum Feind erklärt, der bekämpft werden muss. Man könnte auch sagen: «Vogel friss oder stirb.» Das wäre die ehrlichere Variante.

Entweder oder, ja oder nein, das klingt nicht nur nach Mittelalter und Inquisition, es führt auch mit Blick auf Problemlösungen in die Irre. Zum einen, weil Realitäten nicht so holzschnittartig sind, dass man ihnen mit entweder oder und ja oder nein gerecht werden könnte, und zum anderen, weil es über tatsächlich bestehende Gegensätze hinaus welche aufbaut, die keine sind. Es kommt noch etwas Drittes hinzu: Wenn über fruchtlose Alternativen diskutiert wird, statt über pragmatische und konkrete Lösungen, dann lenkt das oftmals von den eigentlichen Fragen ab. Andererseits muss man auch zugeben, dass klare Alternativen gewisse Vorteile haben. Es ist übersichtlicher, modelliert die Streitpunkte heraus und verschafft zudem mediale Aufmerksamkeit. Doch ein Denken in den Kategorien von «Entweder-oder» befördert zwangsläufig die Polarisierung. Demgegenüber enthält sein Widerpart, das «Sowohl-als-auch», in sich schon den Kompromiss und bietet die Chance, die unterschiedlichen Lager zusammenzuführen, indem es Widersprüche integriert.

Als wegen der Corona-Pandemie das normale alltägliche Leben nahezu komplett heruntergefahren wurde und nach wenigen Wochen die Diskussion begann, was man wie wieder öffnen könne und müsse, weil selbst ein so gut ausgestatteter Staat wie Deutschland das auf Dauer nicht durchhalte, lief es in den Debatten schnell darauf hinaus, was denn nun wichtiger sei: Gesundheit oder Wirtschaft? Was für eine Frage! Beides hat ganz konkret mit Menschen zu tun. Klar, Krankheit und Tod fürchtet jeder. Nicht umsonst wünscht man jemandem zum neuen Lebensjahr in aller Regel vor allem Gesundheit. Aber auch die Wirtschaft ist kein anonymes Wesen, von dem nur Konzerne und diejenigen, die den Hals nicht vollkriegen, profitieren. Wirtschaft – das sind wir alle, jeder auf seine Weise. Die schwierige Aufgabe, an deren Lösung man sich angesichts der vielen Unbekannten in Zusammenhang mit diesem neuen Virus nur herantasten kann, wird nicht dadurch leichter, dass man so tut, als gäbe es eine klare Alternative: eine intakte Wirtschaft oder eine gesunde Gesellschaft. Wenn Millionen Menschen erkranken und Zehntausende unter chaotischen Umständen sterben, dann nimmt die Wirtschaft enormen Schaden, auch ganz ohne «Lockdown». Und wenn die Wirtschaft durch staatliche Hygienemaßnahmen abgewürgt wird, dann werden Existenzen ruiniert, und wir können uns auf Dauer unser Gesundheitssystem nicht mehr leisten. In Wahrheit geht es hier doch um ein Sowohl-als-auch: Wie retten wir möglichst viele Menschen zu ökonomisch gerade noch verkraftbaren Kosten? Das ist die eigentliche Frage, und eine Antwort ist schwierig genug. Darüber kann jedoch nur sehr konkret diskutiert werden und damit gleichzeitig auch sehr viel weniger aufgeheizt als über griffige, aber realitätsfremde Alternativen.

Ende April 2020 hat sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in die Debatte eingemischt und Folgendes gesagt: «Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.» Das mag auf den ersten Blick unangenehm berühren. Aber auf den zweiten Blick öffnet Schäubles Beitrag den Raum für die eigentliche Debatte. Diese kann uns nicht erspart bleiben, und wir müssen sie respekt- und würdevoll führen. Um Entweder-oder-Positionen darf es dabei auf keinen Fall gehen. Wir müssen als Gesellschaft gemeinsam abwägen, wie ein gangbarer Weg in solchen Fällen aussehen kann.

Auch in der Außenpolitik entfaltet das Entweder-oder-Denken seine schädliche Wirkung. Muss man sich wirklich entscheiden, ob man zu Polen oder zu Russland gute Beziehungen unterhält? Zu Russland oder den USA? Ich denke, nein, aber es ist tägliche Praxis, «Transatlantiker» gegen «Russlandversteher» politisch und medial in Stellung zu bringen. Nicht jeder, der die Politik der USA kritisiert, will gleich das transatlantische Bündnis auflösen. Es gibt nicht nur die Alternative zwischen einer bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber Washington und einer einseitigen Hinwendung nach Moskau. Man kann auch die Gewichte innerhalb des transatlantischen Bündnisses zugunsten Europas verschieben wollen. Angesichts der Politik Washingtons in der letzten Zeit und ihrer gerade für Europa gravierenden Konsequenzen ist das doch keine so abwegige Idee. Aber in solchen Fragen geht es oft weniger um die Sache als um ideologische Positionierung. Ideen, Vorschläge und Überlegungen werden, je nachdem aus welchem «Lager» sie kommen, verklärt, verteufelt oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen. In der Folge schaukeln sich Auseinandersetzungen auf, und diejenigen, die das «Sowohl-als-auch» mitdenken und sich um Verständigung bemühen, werden beiseitegeschoben, eben weil sie sich nicht sklavisch auf eine Seite stellen wollen.

Jeder Einzelne kann versuchen, in zugespitzten Debatten Missverständnisse zu vermeiden und sich nicht provozieren zu lassen. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es in einer aufgeheizten Atmosphäre nicht leicht ist, gelassen zu bleiben und in ruhigen, möglichst klaren Formulierungen deutlich zu machen, was man meint bzw. nun gerade nicht meint. Das funktioniert nicht als «Solokünstler», sondern nur im Team, wenn man sich gegenseitig zuhört und ausreden lässt. Wie oft werden Diskutanten in Talkshows zu einer Antwort auf die Frage ja oder nein genötigt? Ich will gar nicht bestreiten, dass diese Zuspitzung in Einzelfällen hilfreich sein kann, wenn politische Entscheidungsträger allzu sehr herumeiern, um sich ja nicht festzulegen und Sachdebatten argumentativ austragen zu müssen. Da gibt es durchaus Situationen, die einem als Zuschauer zu Aha-Erlebnissen verhelfen. Aber bei den meisten Debatten, die uns zurzeit beschäftigen, kommt man mit entweder oder, ja oder nein nicht nur nicht weiter, sondern es wird eine Unversöhnlichkeit suggeriert, der bei genauerer Betrachtung die Grundlage fehlt.

Man kann die «Fridays for Future»-Bewegung begrüßen, ohne sie gleich heilig zu sprechen.

Man kann den Kohlekompromiss vernünftig finden, ohne den Klimawandel zu leugnen.

Man kann gegen Diesel-Fahrverbote sein, ohne die schädliche Wirkung von Stickoxiden abzustreiten.

Man kann die Betrügereien der deutschen Autoindustrie beim Namen nennen, ohne diesen Industriezweig ruinieren zu wollen.

Man kann für Gleichberechtigung kämpfen, ohne jedes Wort mit einem Sternchen zu versehen.

Man kann eine offene Einwanderungspolitik fordern, ohne die Kontrolle über die Grenzen aufgeben zu wollen.

Man kann über Clan-Kriminalität sprechen, ohne arabische Familien unter Generalverdacht zu stellen.

Man kann sich kritisch mit dem Islam befassen, ohne alle Muslime über einen Kamm zu scheren.

Und man kann für ein humanes Asylrecht sein, ohne Gewalttaten von Geflüchteten zu beschönigen oder gar zu verschweigen.

Klimaretter oder Klimaleugner

Nicht jeder, der etwas Kritisches über Klimaaktivisten sagt, ist gleich ein «Klimaleugner». Man kann Greta Thunberg dankbar sein und trotzdem bei ihrer Wutrede vor der UNO ein gewisses Unbehagen empfinden, in der sie mit bebender Stimme den Vorwurf in die Welt schmetterte, «How dare you?» – Wie könnt Ihr es wagen? «Ihr habt meine Träume und meine Kindheit gestohlen mit Euren leeren Worten.» Das muss für diejenigen Menschen, denen ihre Kindheit durch Krieg und Zerstörung, Hunger und Vertreibung tatsächlich genommen wurde, arg befremdlich klingen. Wenn man ernst genommen werden möchte, sollte man die Kirche im Dorf lassen, pflegte meine Großmutter zu sagen.

Man kann die Frage stellen, wie es in der Vergangenheit zum Wechsel von Eiszeiten und tropischen Verhältnissen kam, obwohl weder Verbrennungsmotoren noch Massentierhaltung noch Industrieproduktion existierten. Es hat durchaus etwas Irritierendes, wenn es im Februar 1900 wärmer war als im bemerkenswert warmem Februar 2020. Man kann all diese Überlegungen anstellen, ohne den menschengemachten Anteil am Klimawandel zu leugnen. Ja, das Klima der Erde verändert sich auch ohne menschliches Zutun. Doch der Klimawandel, den wir zurzeit erleben, ist offenbar anders. Nach allem, was wir beobachten können, vollzieht er sich so schnell wie noch nie in der Erdgeschichte, und das spricht dann schon für einen erheblichen menschengemachten Anteil. Den Daten kann man jedenfalls entnehmen, dass die 2010er Jahre insgesamt das wärmste Jahrzehnt seit Beginn der Wetteraufzeichnungen Mitte des 19. Jahrhunderts waren und dass 19 der 20 wärmsten Jahre in die letzten zwei Jahrzehnte fallen. Zudem ist seit 60 Jahren jedes Jahrzehnt wärmer als das vorangegangene.

In unseren erregten Debatten entsteht leicht der Eindruck, als gebe es nur die Wahl zwischen Problem und Lösung: Klimaretter oder Klimaleugner. Hört auf die Wissenschaft oder gebt euch den Verschwörungstheoretikern auf Youtube hin. Doch ist das wirklich die Alternative, um die es geht? In einer Deutschland-Trend-Umfrage vom Mai 2019 gaben 86 Prozent der Befragten an, dass der Klimawandel menschengemacht sei. Nach meinem Eindruck ist den meisten Menschen in Deutschland auch durchaus bewusst, dass etwas gegen den Klimawandel getan werden muss. Doch was genau? Und in welchem Tempo? Welche sozialen Verwerfungen ist man bereit hinzunehmen? Wer soll wie stark belastet werden? Helfen Verbote? Gibt es andere Möglichkeiten, das Verhalten von Menschen zu steuern? Lassen sich marktwirtschaftliche Instrumente nutzen? Wie schnell kann man aus Kohle- und Atomstrom aussteigen, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden, auf die unser Industriestandort angewiesen ist? Sollte man einseitig auf Elektroautos setzen? Oder technologieoffen bleiben? Sind Autos mit Verbrennungsmotor überhaupt das drängendste Problem? Was ist zum Beispiel mit dem Bausektor (rund acht Prozent der globalen CO2-Emissionen gehen auf die Zementherstellung zurück) und der Lebensmittelproduktion (im Bereich «Ernährung» verursacht der deutsche Durchschnittshaushalt etwa genauso viel Treibhausgasemissionen wie im Bereich Mobilität)? Und welche Rolle spielt das Bevölkerungswachstum? Die afrikanische Bevölkerung etwa nimmt jährlich um dreißig Millionen zu, wobei die Frauen in den ärmsten Ländern Afrikas die meisten Kinder bekommen. So oder so – die Erkenntnisse der Wissenschaft sind das eine, die politischen Konsequenzen das andere, wie uns auch die Corona-Pandemie gelehrt hat. «Die» Wissenschaft, die es genauso wenig gibt wie «die» Wahrheit, kann keinem Politiker die Entscheidung abnehmen, was sinnvollerweise wie und nicht zuletzt auch wie schnell getan werden sollte. Selbst wenn es keine Klimawandelleugner gäbe, wären die Probleme damit nicht gelöst.

Als Angela Merkel es wagte, Greta Thunberg vorsichtig zu kritisieren, traf sie ein Sturm der Entrüstung. In ihrer Rede vor den Vereinten Nationen in New York hatte Thunberg gesagt: «Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens und alles, worüber Ihr reden könnt, ist Geld und die Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum – wie könnt Ihr es wagen? (…) Wie könnt Ihr es wagen zu glauben, dass man das lösen kann, indem man so weitermacht wie bislang – und mit ein paar technischen Lösungsansätzen? Ihr seid immer noch nicht reif genug zu sagen, wie es wirklich ist.» Merkel lobte Thunberg grundsätzlich, wies aber darauf hin, dass sie ihrer Ansicht nach nicht genug gewürdigt habe, «in welcher Weise Technologie, Innovation gerade im Energiebereich, aber auch im Energieeinsparbereich uns Möglichkeiten eröffnen, die Ziele zu erreichen». Der Blogger Sascha Lobo attestierte der Bundeskanzlerin auf Spiegel Online daraufhin eine bedenkliche Form von «Greta-Skepsis». Die «Technikgläubigkeit der Greta-Skeptiker» sei nur eine Abwehrreaktion, um die eigentlich notwendigen «massiven Einschnitte in den heute normalen, westlich-industriellen Lebenswandel» zu vermeiden. Die «Greta-Skeptiker» seien daher «nicht viel besser» als die unbelehrbaren «Greta-Hasser», bilanzierte er in bewährter Entweder-oder-Manier.