Rettung vom Totenwagen - Katrin Schregenberger - E-Book

Rettung vom Totenwagen E-Book

Katrin Schregenberger

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Beschreibung

Peter Iczkovits (*1942) ist zwei Jahre alt, als der Holocaust über Ungarn hereinbricht. 1944 gelangt er mit dem «Kasztner-Transport», einer geheimen Freikaufaktion des umstrittenen und nach dem Krieg ermordeten Rudolf Kasztner, in die sichere Schweiz. Der bis heute wenig bekannte Transport rettete rund 1700 Jüdinnen und Juden das Leben. Doch Peter kann sich an diese Zeit nicht erinnern. Erst als alter Mann beginnt er, der Geschichte seiner jüdisch-orthodoxen Familie nachzuspüren. Er kehrt zurück auf das Gelände des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, wo ihn der geheime Transport einst hinbrachte, und schliesst so Stück für Stück seine Erinnerungslücke. Peter Iczkovits gehört zu den letzten Zeugen des Holocausts – den Kindern. Von seinen aussergewöhnlichen Erlebnissen hat er der Historikerin und Journalistin Katrin Schregenberger berichtet, die seine Erzählungen – ergänzt durch umfassende historische Recherchen in Schweizer Archiven und in der Forschungsliteratur – hautnah erfahrbar in den historischen Kontext einbettet. Hierbei verdeutlicht sie, dass das Judentum auch in der Schweiz nicht gegen Antisemitismus gefeit war – und welche Rolle die Schweizer Behörden dabei spielten.

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Katrin Schregenberger

Rettung vom Totenwagen

Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

Stiftung Ernst Göhner

Stiftung Irène Bollag-Herzheimer

Stiftung Dialog zwischen Kirchen, Religionen und Kulturen

Ruth und Paul Wallach-Stiftung

Paul Grüninger Stiftung

Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG)

Katholische Kirche im Kanton Zürich

Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Alisa Charté

Korrektorat: Ulrike Ebenritter

Umschlagfoto: Peter Iczkovits als Kleinkind im Sanatorium, Privatbesitz

Umschlaggestaltung und Layout/Satz: Weiß-Freiburg GmbH – Grafik und Buchgestaltung, Freiburg

Druck: BALTO print, Litauen

ISBN: 978-3-7296-5149-4

eISBN: 978-3-7296-2419-1

www.zytglogge.ch

KATRIN SCHREGENBERGER

RETTUNG VOM TOTENWAGEN

ALS ZWEIJÄHRIGER AUS DEM KZ BERGEN-BELSEN IN DIE SCHWEIZ

Z Y T G L O G G E

INHALTSVERZEICHNIS

Leysin (VD) 1946

Der Stammbaum

AUFSTIEG UND BEDROHUNG

Das Gebetbuch, Tótkomlós 1905

Das Judentum in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn

Das Pogrom, Tótkomlós 1918

Fünf nach zwölf, Tótkomlós 1925

Fords Judenhass

Die Hochzeit, Tótkomlós 1936

Die Annäherung

Im Ersatzteillager, Tótkomlós 1939

GEWALT UND RETTUNG

In Zwangsarbeit

Besetzung Ungarns durch die Nazis, 1944

Der Kasztner-Transport

Schwarz auf weiss

Entlausung, Linz, 8. Juli 1944

Die Ankunft, Bergen, Juli 1944

In Bergen-Belsen

Peters Geburtstag, Bergen-Belsen, 27. August 1944

Der Lageralltag

Das Wunder, Bergen-Belsen

Die Schweizer Connection

Die Pfeilkreuzler

Die Abreise

An der Rampe, Bergen, 4. Dezember 1944

Der Abschiedsbrief, Sárvár, März 1945

Ankommen

Zersprengt, Caux, Sommer 1945

Allein gelassen

ENTWURZELT

Der Schwimmer

Am Leben, 1945

Die Schweiz als Transitland

Die erste Erinnerung

Die Kur, 1946

Der Plan: USA

Kein Zuhause, Dezember 1946

Zwischen den Mühlen

Fast eine Familie, Zürich 1948

Überlebensschuld

Fast nach Australien

Beginn der Diktatur

Wie verhext, Zürich 1950

Autohandel reloaded

Entzauberte Erwachsene

Ein unruhiges Kind

Unfug und Schweigen

Kasztner in Israel, 1954

Ein Jude in Zürich

Eine Freundschaft, Bern, 4. Juli 1954

Entlassen, Budapest, Oktober 1954

Entschädigung

Die Spionage-Affäre, 26. Juli 1956

Entwurzelt, Zürich, 24. Oktober 1956

Der Ungarnaufstand

Geister der Vergangenheit

Ein Jude in der Schweiz

Die Hochzeit, Haifa 1969

In die Fussstapfen, 1970

DIE SPURENSUCHE

Ein Sohn in Tótkomlós

Eine Tochter in Bergen-Belsen, 2010

Erste Anläufe

Die Rechnung, Januar 2020

In Bergen-Belsen, 2020

Der Weg

Das Erbe

Zeitreise, Zürich 2022

Epilog

Nachwort

Dank/Stiftungen

Abbildungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Ahnentafel

LEYSIN (VD) 1946

Der kleine Junge schläft. Es herrscht Mittagsruhe im Sanatorium. Auch durch die geöffneten Fenster dringen keine Geräusche herein. Als hielte das ganze Dorf den Atem an. Ein Windstoss fährt in den Raum, es riecht nach Tannenzapfen und nach würzigem Gras. Die warme Luft streicht über die blonden Locken des Buben, sie fallen ihm ins Gesicht. Der Dreijährige hustet im Schlaf, die Stille im Krankensaal bricht.

Ein Mann und eine Frau betreten den Raum, sie mit verknotetem Kopftuch, er mit braunem Hut. Das Paar tritt an sein Bett, sie mit Tränen in den Augen, er mit ernstem Gesicht. Sie bückt sich über das Bett, die weissen Gitterstäbe hindern sie daran, sich an den Bettrand zu setzen. Sie berührt den Jungen am Arm. «Péter, drágám.» – «Peter, mein Schatz.» Der Junge öffnet langsam seine Augen. Er starrt die Erwachsenen an, die an seinem Bett stehen, setzt sich auf und mustert sie erneut. Die Frau redet auf ihn ein, der Mann nun auch, mit strenger Stimme. Sie berühren ihn am Arm, am Bein, schauen ihn erwartungsvoll an. Dann enttäuscht, verletzt. «Schwester!», ruft der kleine Junge beunruhigt, ruft nochmals, nun ängstlich: «Schwester Gertrud!» Eine Pflegerin mit weisser Haube tritt ans Bett, schüttelt der Mutter die Hand, sagt etwas, das Peter nicht versteht, lächelt. «Wer ist das?», fragt der Junge. «Das sind deine Eltern, Peter. Deine Eltern. Erkennst du sie etwa nicht?»

*

Peter Iczkovits, nun ein Mann von achtzig Jahren, sitzt an seinem alten Bürotisch in Zürich-Wiedikon und blättert in einem Buch. Es ist das Tagebuch eines einstigen Reisegefährten. Peter fixiert eine Seite mit dem linken Daumen und sagt: «Hier, die Fussnote.» Sein rechter Zeigefinger fährt zum Seitenrand und tippt auf die Fussnote zweihundertachtundfünfzig. «Ich habe in dem Buch den Namen meiner Familie gesucht, er kommt nicht vor. Aber hier, das ist spannend.»

Er liest vor: «Zuerst hiess es, Kinder, Alte und Kranke würden mit Lkws zum Zug gebracht. Als es sich herausstellte, dass die Lkws nur das Gepäck und einige wenige Häftlinge mitnahmen, gingen auch sie zu Fuss los.»1

Peter schaut auf, hebt fragend seine grauen Augenbrauen, blickt ungläubig über den Brillenrand und grübelt: «Bin ich diese Strecke, die sechs Kilometer bis zum Zugwaggon, als Zweijähriger wirklich allein gelaufen?»

Peter Iczkovits war zwei Jahre alt, als er eine geheime Reise von nicht nur sechs, sondern ganzen 2200 Kilometern antrat. Diese Reise rettete ihn vor dem Holocaust in Ungarn und machte die Schweiz zu seinem Schicksal. Heute trägt sie den Namen «Kasztner-Transport».

Der «Kasztner-Transport» lässt Peter Iczkovits bis heute keine Ruhe, obwohl er sich an nichts erinnern kann. Nicht an den Transport und nicht an die Zeit im Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo er einige Monate ausharrte, bevor eine unsichtbare Hand ihn in die Schweiz versetzte. Er war damals zu klein. Einzig ein Husten bleibt ihm aus der Zeit, ein Husten, der ihn sein Leben lang begleitet wie ein ungewolltes Andenken.

Alles, was er von diesen Erlebnissen weiss, weiss er durch die Berichte anderer Reisegefährten. Er gehört zur letzten Generation der Holocaust-Überlebenden, zu jenen, die damals Kleinkinder waren. Das Erste, woran sich Peter Iczkovits erinnern kann, ist der Moment, als er in einem Schweizer Sanatorium aufwacht und seine Eltern nicht mehr erkennt. Der Moment, der sich so abgespielt haben könnte, wie in den ersten Zeilen beschrieben.

Peter Iczkovits kam 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, als Sohn jüdisch-orthodoxer Eltern in Ungarn zur Welt. Er wurde geboren, als die Identität und die Existenz seiner Eltern, alles, was die Familie sich in Jahrzehnten aufgebaut hatte, zerrissen wurde wie ein Stück Papier. Für seine Familie gab es von nun an ein «Vorher» und ein «Nachher» – Peter aber hat das «Vorher» nie erlebt. Das Reissen der Familiengeschichte begleitete seine ersten Jahre.

Heute wohnt Peter in Zürich-Wiedikon, er ist strenggläubig, bezeichnet sich selbst als Schweizer Bünzli und hat zehn Kinder. Hinter seinen grauen Augen blitzt der Schalk, Witze gehören für ihn zum Leben wie die Luft zum Atmen oder die Gebete zum Glauben. Wenn sein Smartphone klingelt, ertönt eine Autohupe von 1926, denn das erinnert ihn daran, dass es ein «Vorher» in der Familiengeschichte gibt – auch wenn Peter nicht genau weiss, wie dieses «Vorher» eigentlich aussah.

Auf der Suche nach seiner eigenen Erinnerung blättert Peter durch alte Dokumente, betrachtet Fotografien aus dem Internet mit der Lupe und sucht in seinem jüdisch-orthodoxen Glauben nach Antworten. So setzt er seine Geschichte und die seiner Vorfahren Stück für Stück zusammen, als wäre sie ein Puzzle. Auf einem der Puzzleteile wird er sich selbst sehen, wie er als Zweijähriger auf einem Totenwagen liegt. Auf einem anderen seinen Vater, wie er der ungarischen Nationalmannschaft in Bern zujubelt. Auf einem dritten erneut seinen Vater, der hastig einen Abschiedsbrief in sein Gebetbuch kritzelt. Ein weiteres Puzzleteil zeigt seinen Grossvater als jungen Mann an der Seite seines Urgrossvaters, beide mit Zylinder. Wie passt das alles zusammen?

Als Peter Iczkovits und ich uns durch einen Zufall kennenlernten, war er mitten in seiner Spurensuche. Er erzählte mir von seiner fehlenden Erinnerung an den Holocaust, er sprach von einer Rechnung, die er der ehemaligen Schweizer Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Rahmen eines Gedenkanlasses übergeben hatte, und erzählte, er werde bald, ja bald, zurückfahren nach Bergen-Belsen. Das Rätsel – oder das riesige Puzzle – liess auch mich nicht mehr los, und so machten Peter und ich, die Historikerin, uns auf, die Geschichte der Familie Iczkovits zusammenzusetzen: ihren Aufstieg, über dem stets Gefahr schwebte, ihre Flucht, ihre Rettung – und ihre Suche nach dem Weg zurück zum einstigen Glück.

Wie durch Glasscheiben schauen wir dabei in die historische Wirklichkeit, der Ton ist weg, wir müssen ihn rekonstruieren. Diese Erzählung baut auf Fakten, die durch historische Forschung belegt sind. Sie beruht auf Originaldokumenten zur Familiengeschichte, auf Archivdokumenten zum Kasztner-Transport und auf Flüchtlingsakten. Und sie lebt von den Ergänzungen, die Peter Iczkovits überliefert wurden, sowie seinen persönlichen Erinnerungen.

Erinnerungen aber können trügerisch sein, eine Realität vorgaukeln, die es so nicht gab. Peter weiss das. Und doch sind seine Erinnerungen das Einzige, woran er sich in die Vergangenheit hangeln kann. Sie sind das Einzige, was ihm von der Realität bleibt.

So setzen wir die Vergangenheit zusammen, wir sehen Peters Vorfahren vor uns und wir fragen uns, was sie fühlten und dachten. Die Gesten, die Gedanken, die gesprochenen Worte, sie entspringen dem Bereich des Möglichen, sie können nur ein schwaches Echo der Realität sein. Doch was ist eine Erzählung ohne das Bangen und Hoffen der Menschen, ohne ihre Gefühle und Verwünschungen?

1Kolb, Jenő: »Glaube an den Menschen«. Bergen-Belsen-Tagebuch, Hg. v. Thomas Rahe u. Lajos Fischer, Göttingen 2019. Fussnote 258.

DER STAMMBAUM

Aus dieser Geschichte recken verschiedene Vor- und Nachfahren ihre Köpfe empor, es sind die Persönlichkeiten, die die Familiengeschichte prägen.

Da ist Peters Urgrossvater Leopold, 1853 geboren im Königlichen Ungarn, ein Mann mit Zylinder und buschigem Bart, ganz nach der Mode der Zeit. Der Mann, der in Ungarn das Maschinenkaufhaus Iczkovits gründet – und das mit Erfolg.

Da ist sein Grossvater Franz, ebenfalls geboren im 19. Jahrhundert in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn als einer von drei Brüdern. Er trägt einen buschigen Schnauzbart und ist einer der Ersten, der auf Automobile setzt und so den Sprung in die ungarische Oberschicht schafft.

Da ist Vater Alfred, bei Anbruch des 20. Jahrhunderts geboren, stets glatt rasiert und rauchend, der meist zu den Leuten hochschauen muss, temperamentvoll, ein Kämpfer, der als junger Mann im Ersatzteillager des väterlichen Betriebs anfängt und damit rechnet, diesen einst zu übernehmen. Dazu wird es nicht kommen.

Der Nächste in der Linie ist Peter, in den Krieg hineingeboren, gross, schlank, glatt rasiert wie sein Vater, als junger Mann gut aussehend und überheblich. Als alter Mann blickt er streng und kopfschüttelnd auf sein jüngeres Ich zurück.

Doch das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Hinter jedem dieser Männer stand – steht – eine Frau, oder mehrere. Sie tauchen auf Fotografien auf. In Dokumenten aber, und auch in Peters Erzählung, bleiben sie schemenhaft, wenn nicht unsichtbar.

Eine besonders wichtige Stellung aber hat in dieser Geschichte Peters Mutter Szerén, die ihn stets vor dem Vater in Schutz nimmt. Eine Frau, über die in Dokumenten gesprochen wird, von der aber kaum eigene Äusserungen erhalten sind. Ebenfalls im Anbruch des 20. Jahrhunderts in Ungarn geboren, trägt sie ihre dunkelblonden Haare unter einem gebundenen Kopftuch oder unter einer Perücke, wie es ihr Glaube will. Sie rettet ihre Kinder, indem sie die Reise auf dem Kasztner-Transport antritt – davon wird sie sich nie mehr vollständig erholen.

Und dann sind da Peters zehn Kinder, darunter Sohn Avi und Tochter Debby, beide aus Zürich, beide nach Israel ausgewandert: Beide werden den Spuren in Peters Vergangenheit folgen. Avi, zweitältester Sohn, in den 1970ern geboren, Versicherungsinformatiker, jugendliches Aussehen, zeichnet die Stammbäume der Familie nach. Und Debby, Peters viertjüngstes Kind, in den 1980er-Jahren geboren, Mutter mit Langhaarperücke, reist als Erste der Familie zur Gedenkstätte Bergen-Belsen. Eine neue Generation.

All diese Menschen verknüpft ein dünnes Band, es reicht über Jahrhunderte hinweg. Es ist nicht nur ihre Blutsverwandtschaft oder ihr Name, es ist auch nicht ihr jüdischorthodoxer Glaube. Es ist das Gefühl, durch ein Wunder gerettet worden zu sein.

AUFSTIEG UND BEDROHUNG

Peter Iczkovits sitzt an seinem Schreibtisch in Zürich-Wiedikon, an dem er lieber sitzt als zu Hause, denn er steht hier, in der Firma, die er mit Abertausenden Arbeitsstunden seines Lebens erbaute und die nun sein erstgeborener Sohn Chanan führt. Dieser telefoniert im Hintergrund, auf Englisch, Hebräisch, Schweizerdeutsch und Französisch. Peter hievt ein Bündel auf die Tischplatte und schält es aus dem weissen Tuch. Ein Buch kommt zum Vorschein, gross wie ein Fotoalbum, ledergebunden, dick wie ein Backstein. Den Buchdeckel ziert eine Prägung in goldenen Lettern: Peter J. Iczkovits. «Ich müsste das Buch neu binden lassen, es sind neue Dokumente und Bilder aufgetaucht», sagt er, hüstelt, richtet seine Kippa und schlägt den Deckel auf.

Auf dem Titelblatt prangt eine Illustration, sie zeigt den Hammer eines Richters. Darunter steht auf Deutsch: «Fakten: Warum ich hier bin», auf Englisch: «Facts: Why did we survive (Warum wir überlebt haben)», auf Hebräisch: «Ich sterbe nicht, ich lebe und ich kann meine Geschichte erzählen».2 Er blättert. Auf der ersten Seite ist die Fotografie eines lachenden einjährigen Blondschopfs eingefügt. «Das war ich in Ungarn», sagt Peter.

Er fährt fort: «Nachdem ich jetzt pensioniert bin, habe ich mehr Zeit, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und das Puzzle, es kommen einfach immer neue Teile dazu, und es wird immer interessanter. Ich glaube kaum, dass am Schluss dann dieses Puzzle mit 3000 kleinen Stückli, dass das dann alles ineinanderpasst. Das glaube ich nicht.»3

Das ganze Puzzle seiner Familiengeschichte hat Peter binden lassen, darin alte Fotografien, ein Röntgenbild einer kindlichen Lunge, Kopien von Briefen seines Vaters an verschiedenste Ämter, an die Fremdenpolizei und an Entschädigungsbehörden, ausserdem Passkopien seiner Eltern, seiner Grosseltern, Bürgerurkunden, sogar die Kopie einer Urkunde, die sein Urgrossvater Lipót damals 1885 in Ostungarn bekam, als er seinen Militärdienst geleistet hatte.

Peter sagt: «Alles begann mit Lipót», und blättert zu einer Fotografie von 1905. Sie zeigt eine Familie vor der Fassade eines ländlichen Hauses, in der Mitte sitzt ein Mann mit Zylinder und buschigem Bart. «Da ist er, zwischen seinen Füssen steht eine Weinflasche, warum wissen wir nicht. Das sind seine Frau und seine Kinder, er hatte drei Söhne und drei Töchter.»

Lipót ist die ungarische Version des Namens Leopold. Er gehört Peters Urgrossvater, jenem Vorfahren, der die Familie Iczkovits ins goldene Zeitalter der Industrialisierung führte, die das «Vorher» so prägte.

1884 gründet Leopold Iczkovits mit einunddreissig Jahren einen Kaufmannsladen in Tótkomlós, einer Kleinstadt in Südungarn.4 Bald spezialisiert er sich auf Maschinen, der Laden wird zum Kaufhaus. In dem Maschinenkaufhaus, das an der Hauptstrasse der Stadt liegt, finden die rund 8500 Bewohner ab der Jahrhundertwende Nähmaschinen, später folgen Landwirtschaftsmaschinen. Es geht bergauf für alle, die auf Industrialisierung setzen, während es für die alten Eliten, für den Adel, der in Ungarn zu jener Zeit führend ist, bald bergab gehen wird. Da die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, damals eines der grössten Länder Europas, Reformen und Industrialisierung verschleppt, trifft der fast mittelalterliche Lebensstil von Adel und Bauern bald auf eine neue Schicht von Industriellen. Und diese Spannungen werden zu Problemen führen.

Doch das weiss Leopold noch nicht, als er sich auf einen hölzernen Stuhl niederlässt, um für jene Fotografie zu posieren, die Peter einst in sein Buch einsortieren wird. In Gedanken setzen wir uns zu ihm, stellen uns vor, was ihn stattdessen beschäftigt haben könnte.

DAS GEBETBUCH, TÓTKOMLÓS 1905

Als Leopold Iczkovits an diesem Tag dasitzt, auf einem Stuhl, und sich nicht bewegen darf, während zwei Hände auf seiner Schulter liegen, jene seiner Frau und jene seiner ersten Tochter, und während sein Sohn Franz an ihm vorbeischaut, starr den Horizont fixierend, da beginnt ihn sein Gebetbuch in die Rippen zu drücken.

Schon einige Minuten steht und sitzt die ganze Familie da, steif und unbeweglich, damit die Fotografie möglichst scharf wird. Wie immer trägt Leopold das Gebetbuch, das so klein ist, dass es leicht in eine Hand passt, in der Innentasche seines Mantels. Gerne würde Leopold es aus seiner Tasche nehmen, er tut es aber nicht. Schon oft drückte das Büchlein gegen seine Brust, seinen Bauch, vor allem als er als Infanteriesoldat dem königlichen Heer diente. Er erinnert sich an seine Zeit in der straffen Uniform, die zu tragen seinem Vater noch verboten gewesen war.5 Und er erinnert sich an die grünen Wälder des Tokajer Gebirges mit seinen Burgen, an der Nordgrenze des Reiches, wo er stationiert war. Zwanzig Jahre ist das jetzt her, die Urkunde, die seinen Dienst bescheinigt, beginnt bereits zu vergilben.

Leopold erlaubt sich ein Blinzeln, dann schaut er wieder starr geradeaus, denn diese Fotografie soll scharf werden. Sie soll zukünftige Generationen daran erinnern, was die Familie Iczkovits erreicht hat. «Gott sei Dank dürfen wir im Ungarn des Jahres 1905 leben», sagt Leopold zu sich.

Er denkt daran, wie er vor über zwanzig Jahren hierherzog, nach Tótkomlós. Wie er die erste Nähmaschine in dieses Dorf brachte, das erste Fahrrad. Er denkt an seinen Vater, der ihm beigebracht hatte, nie, niemals den Glauben an die Zukunft zu verlieren. Unwillkürlich drängt sich ein Bild in seine Gedanken, verdunkelt seine Augen, die das Objektiv der Kamera fixieren. Ein Bild seiner Fantasie, genährt von den Geschichten seines Vaters, seines Grossvaters. Das Bild einer lachenden Fratze. Von Bauern mit Knüppeln und Mistgabeln. «Es ist ein Wunder», denkt er, «dass sein Grossvater genau dann in der Religionsschule in Moskau weilte, als in seinem Heimatdorf im Osten die Judenhatz losging. Dass er entkam.»

«Das ist zum Glück für immer vorbei», denkt Leopold weiter, blinzelt erneut und schiebt das Bild beiseite. Er will seinen Nachfahren keinen tristen Eindruck hinterlassen. Denn die Zukunft verheisst Gutes.

DAS JUDENTUM IN DER DOPPELMONARCHIE ÖSTERREICH-UNGARN

Das ungarische Judentum sticht zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch zwei Merkmale hervor. Erstens: Jüdische Ungarn sind in der ökonomischen Entwicklung und Industrialisierung des Landes seit dem 19. Jahrhundert so federführend wie in keinem anderen europäischen Land.6 Zweitens: Viele ungarische Juden sehen sich als flammende Patrioten.7

Seit der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger im Jahr 1867 setzen viele alles daran, vollständig mit der ungarischen Gesellschaft zu verschmelzen. Das gilt nicht nur für liberale Jüdinnen8 und Juden, sondern auch für Orthodoxe, die zu dieser Zeit ein Drittel des ungarischen Judentums ausmachen.9 Viele Familien sind im 18. Jahrhundert aus Osteuropa eingewandert, oft im Zuge der Flucht vor judenfeindlichen Pogromen. Die Familie Iczkovits hat 1905 denselben Weg hinter sich.

Die Familienlegende besagt, dass der Urahne «Leib» einst – es muss um 1800 gewesen sein – aus Russland vor der Judenverfolgung floh. Er fand in Oroszkomoróc, einer Stadt in den Karpaten, damals Ostungarn, heute Teil der Ukraine, ein neues Zuhause. Seinem Sohn Abraham fiel dann die Aufgabe zu, einen Nachnamen zu wählen, wie es das Gesetz in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn verlangte.10 Wie kam Abraham auf den Namen «Iczkovits»? Die Mehrheit der Juden nahm den Vornamen ihres Grossvaters an. Abraham griff hingegen auf den Vornamen des Urgrossvaters zurück, und der war «Icig» – die jiddische Variante des Namens Isaak. So kam Abraham auf den Namen «Iczkovits».11

Es ist Abrahams Sohn Leopold – Peters Urgrossvater –, der von Ostungarn nach Südungarn zieht und dort ein Maschinenkaufhaus eröffnet, nachdem seine Dienstzeit im kaiserlich-königlichen Heer beendet ist. Österreich gehörte zu den ersten Ländern in Europa, die in der Neuzeit Juden als «wehrwürdig» ansahen und zum Militärdienst einzogen.12

Dass Leopold vom Osten in den Süden des Landes, von den Bergen in die Tiefebene zieht, hängt laut der Familienlegende mit dem grossen Hochwasser in Szeged von 1879 zusammen, das 95 Prozent der Stadt zerstörte.13 Der damals 24-jährige Leopold, so heisst es, trommelte 300 Handwerker zusammen und reiste mit ihnen über 300 Kilometer nach Szeged, um beim Aufbau der Stadt zu helfen. Südungarn, genauer Tótkomlós, 50 Kilometer von Szeged entfernt, bleibt fortan sein Schicksal.

Als Leopold Iczkovits in den 1880er-Jahren ein Maschinenkaufhaus eröffnet, hat er zur richtigen Zeit den richtigen Riecher. Wir befinden uns nun in der ungarischen Tiefebene, der Boden ist flach, so weit das Auge reicht, und die einstige Steppe wird zunehmend für die Landwirtschaft genutzt.14 Er verkauft zuerst Nähmaschinen und Fahrräder, bald aber auch Dreschmaschinen und Traktoren, die immer gefragter sind. Um die Jahrhundertwende treibt die orthodoxe Familie Iczkovits also die Industrialisierung des Königreichs Ungarn voran, eine Rolle, die zu jener Zeit vielen Jüdinnen und Juden zufällt. Denn die alten wirtschaftlichen Eliten zeigen kein Interesse daran, das veraltete Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu modernisieren, da sie gegenwärtig davon profitieren. Viele jüdische Familien hingegen haben sich in der Landwirtschaft finanziell abgesichert – und streben nun in den Mittelstand.

Urgrossvater Leopold expandiert, baut kurz vor dem Ersten Weltkrieg neue Lagerhallen und Geschäftsgebäude, errichtet eine Maschinenwerkstatt und eine Tankstelle.15 Seine drei Söhne rücken bald nach. Der erstgeborene Sohn Franz – der Grossvater Peters – übernimmt nach der Jahrhundertwende zunächst die Leitung der Maschinenhalle und lebt mit seiner Frau in einer Wohnung direkt daneben. 1909 kommt sein Sohn Alfred auf die Welt, später Tochter Blanka.

Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. Er wuchtet die Welt aus den Angeln.

Wir wissen nicht, ob unter den zwanzig jüdischen Männern aus Tótkomlós,16 die im Krieg als Soldaten dienen, auch der junge Franz ist. Was wir wissen: Leopold, 61-jährig, Franz, 32-jährig, und Alfred, 6-jährig, erleben alle drei die Zeit des Ersten Weltkriegs. Sie erleben, wie die Lebensmittel knapp werden und die Menschen zunehmend auf die Juden zeigen, in denen sie die Schuldigen sehen.17 Ausserdem, wie die Doppelmonarchie an der Seite des Deutschen Reichs kämpft – und verliert. Die Folgen dieser Niederlage erlebt Leopold, der im Frühling 1918 stirbt, nicht mehr. Franz und Alfred hingegen werden direkt in den Strudel gezogen, der für ganz Europa in einem Albtraum enden wird.

Noch im gleichen Jahr erfasst der Strudel auch die Kleinstadt Tótkomlós.

DAS POGROM, TÓTKOMLÓS 1918

«Nieder mit den Juden, nieder mit den Reichen!», schreien die Soldaten, die Bauern, sie schreien es und legen in ihre Schreie den ganzen Frust und Hass, die Not und das Leid, die der Erste Weltkrieg und das ganze marode System der Doppelmonarchie über sie brachten. Am Mittag dieses 1. Novembers 1918 haben sie sich zusammengerottet in Tótkomlós, in dem zu jener Zeit knapp eineinhalb Prozent der Bevölkerung jüdisch ist.18 Sie haben sich getroffen, um zu demonstrieren, wie es viele im Land tun. Darunter sind auch Soldaten, die in Russland Kriegsgefangene gewesen waren und nun, im Zuge der Russischen Revolution, freigelassen wurden.19 Sie schiessen in die Luft und grölen.

In einem jüdischen Laden verlangen einige Soldaten Streichhölzer und Zigaretten, doch statt Streichhölzern entzündet sich hier ein verheerender Streit. Vielleicht benehmen sich die Soldaten rüpelhaft, vielleicht sind sie auf Provokation aus, vielleicht hat der Ladenbesitzer keine Zigaretten. Wir wissen es nicht. Was wir durch Nachforschungen eines ungarischen Historikers aus Tótkomlós wissen, ist, dass der Ladenbesitzer die Soldaten nicht bedienen kann oder will und diese daraufhin anfangen zu wüten.20 Einer zertrümmert das Schaufenster und verteilt alle Waren, die sich darin befinden, auf der Strasse. Die Soldaten verprügeln den jüdischen Mann, sie plündern und zerstören. Diese Zerstörungswut nehmen sie mit auf die Strasse und stecken die Menge an. Stundenlang zieht der Mob durch das Städtchen und zerstört ein jüdisches Geschäft nach dem anderen.

Wir wissen nicht, wie die Familie Iczkovits diesen Nachmittag erlebt, Peter ist diese Geschichte nicht überliefert. Vielleicht verlässt die Familie die Stadt für die Dauer des Pogroms, wie es viele jüdische Familien tun. Oder vielleicht verbarrikadiert sich Franz mit seiner Familie. Was wir wissen, ist, dass der Mob auch das Maschinenkaufhaus Iczkovits plündert und zertrümmert, um aller Ordnung ein Ende zu bereiten. Sicher ist, dass Franz und Alfred am nächsten Tag eine Schadensbilanz ziehen müssen und erfahren, dass der Kantor der Synagoge im Zuge des Pogroms erschossen worden ist.

*

Das Pogrom, das am 1. November 1918 in Tótkomlós ausbricht, entlädt sich im Rahmen der sogenannten Asternrevolution. In den letzten Tagen des Oktobers 1918 protestieren Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land, vor allem aber in der Hauptstadt Budapest. Soldaten desertieren zuhauf und schliessen sich ihnen an,21 es kommt zu Kämpfen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Sie fordern eine demokratische Regierung. Karl IV., der letzte König von Ungarn, gibt schliesslich nach.

Der neuen Regierung fehlt aber die Macht, für Recht und Ordnung zu sorgen in einem Land, das politisch, sozial und moralisch kollabiert.22 Die Soldaten und Bauern, die durch die Strassen von Tótkomlós ziehen, sind wütend, weil sie den Krieg verloren haben, aber sie waren auch vor dem Krieg schon unzufrieden, denn Ungarn verschleppte Reformen zu lange. Die Wut entlädt sich auch in Judenpogromen, jenes in Tótkomlós ist das grösste im ganzen Verwaltungsbezirk.

Die jüdische Bevölkerung zog aus zwei Hauptgründen die Missgunst der unteren Bevölkerungsschichten auf sich. Erstens: Viele Jüdinnen und Juden passten sich kulturell stark an, was den ethnischen Minderheiten im Vielvölkerreich ein Dorn im Auge war, die für ihre Selbstbestimmung kämpften. Zweitens hatten die jüdischen Bürgerinnen und Bürger mit Gunst des Adels die Industrialisierung des Landes vorangetrieben und damit auch dem Kapitalismus Vorschub geleistet, denn dies war der Weg, der ihnen Integration und gesellschaftlichen Aufstieg versprach.23 Doch vor allem auf dem Land herrschten noch mittelalterlich-feudalistische Strukturen, der Adel verhinderte eine Demokratisierung und soziale Veränderungen. Die Bauern sahen vom Fortschritt wenig. Für viele galten Jüdinnen und Juden deshalb als Inbegriff von Kapitalismus und kultureller Unterdrückung, während der regierende Adel gewissermassen hinter diesem jüdischen Feindbild verschwand.

Nach dem Ersten Weltkrieg muss Ungarn zwei Drittel seines Territoriums abgeben,24 nachdem sich verschiedene Nationalitäten von der Monarchie abspalten.25 In vielen Ungarinnen und Ungarn löst diese Verkleinerung ein historisches Trauma aus, das sich Jahrzehnte später im Zweiten Weltkrieg entladen wird. Der Zerfall der Monarchie führt zudem zu vielen arbeitslosen Beamten,26 die nun auf die bisher jüdisch dominierten Arbeitsfelder schielen. Die wirtschaftliche Schieflage des Landes befeuert die antisemitische Stimmung noch zusätzlich. 1920 wird ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt – es ist das erste antijüdische Gesetz in Europa.27 Doch nicht nur in Ungarn nimmt die Judenfeindlichkeit zu – sie ist längst in ganz Europa spürbar.

Für die Familie Iczkovits geht es vorerst trotzdem aufwärts, denn nun verkaufen sie auch: Automobile.

FÜNF NACH ZWÖLF, TÓTKOMLÓS 1925

Franz Iczkovits, nun ein Mann im besten Alter und Mitbesitzer des Maschinenkaufhauses Iczkovits, knöpft seinen schweren schwarzen Mantel auf und klaubt eine Taschenuhr, eine Schweizer Uhr, aus der Westentasche. Wir wissen, dass er eine solche besass, sie wird einst an Peters Weste baumeln. Doch bleiben wir bei Franz.

Franz geniesst das Gefühl, die glatte, schwere Uhr in der Hand zu halten, betrachtet zuerst die Schrift hinter den Zeigern – International Watch Co. Schaffhausen – und schaut dann auf die Ziffern: Es ist zwölf Uhr null vier. Er steckt die Uhr wieder ein und rückt seinen Hut zurecht. Ein Gewitter liegt in der Luft. Dazu der Geruch von Benzin, Maschinenöl und Eisen. «Der Geruch der Zukunft, so Gott will», denkt er zufrieden. Er denkt daran, dass der Autohersteller Ford die Produktion in Europa dieses Jahr erneut steigern will. Die Montagewerke laufen auf Hochtouren, sagt man. Und der Autobauer General Motors, so heisst es, will nun ebenfalls den europäischen Markt erobern und ein Werk in Hamburg errichten. Es sind die Goldenen Zwanziger: Nie mehr werden die Amerikaner den weltweiten Automarkt so stark prägen wie jetzt. Franz Iczkovits weiss nur: Es geht bergauf. Er denkt an die neuen Werbesprüche, die er in der Zeitung publizieren will: «In einem Ford werden Sie immer glücklich sein.»28

Der Aufstieg der Familie Iczkovits zwischen den Weltkriegen ist eng mit dem Durchbruch des Automobils verbunden. Sie gehört zu den Autohändler-Pionieren in Südosteuropa – und das hängt mit dem Verkauf von amerikanischen Autos zusammen.

Nach dem Ersten Weltkrieg dominieren die Amerikaner den weltweiten Automarkt. Auf schönes Handwerk legen sie keinen Wert, wodurch sie effizienter arbeiten, was Kosten spart. Und sie stehen nach dem Ersten Weltkrieg finanziell bedeutend besser da als Europa. Dort kommt die Autoproduktion nur langsam wieder in Gang und die Käuferschaft hat sich gewandelt: Eine Mittelschicht mit bescheidenem Budget ersetzt die Adeligen, die einst für teure Handarbeit gut zahlten.

Ab 1925 dringen die amerikanischen Autohersteller immer vehementer auf den europäischen Markt vor.29 Als die Firma Iczkovits 1925 den Zuschlag für die Ford-Vertretung erhält, ist sie damit unter jenen Firmen, die von der amerikanischen Motorisierungswelle emporgetragen werden.

Während Franz Iczkovits nun dasteht und wartet, streift ihn ein Gedanke. Er denkt kurz daran, was der Autobaron Henry Ford geschrieben haben soll. Sofort schiebt er den Gedanken ärgerlich beiseite, über Geschäftspartner sollte man nur Gutes denken, alles andere ist schlecht für die Geschäftsbeziehung, ganz schlecht. Und hat Ford nicht gerade eben ihn, einen guten Juden, als Vertreter in Ungarn eingesetzt?

Er schaut die Strasse hinab, wippt ungeduldig auf den Fussballen. Erneut fischt er seine Taschenuhr aus der Westentasche und weiss nicht, dass nicht die gegenwärtige Minute, sondern das Herstellerland der Uhr, die Schweiz, die Zukunft seiner Familie prägen wird. Es ist zwölf Uhr null fünf. Die neuen Ford-Automobile, Modell T, hätten bereits eintreffen sollen.

FORDS JUDENHASS

Nur etwa ein Jahr lang behält das Maschinenkaufhaus Iczkovits die Ford-Vertretung. Dann beendet der Autohersteller die Geschäftsbeziehung – Peter ist heute überzeugt, dass dies aus antisemitischen Motiven geschieht. Handfeste Hinweise darauf finden sich keine. Dass Henry Ford antisemitischen Theorien anhing, dafür lieferte er hingegen selbst ausführliches Anschauungsmaterial.

Bereits 1920 publiziert Ford in der Zeitung The Dearborn Independent, die er herausgibt und deren Abonnement durch Ford-Händler stark gefördert wird,30 eine ganze Artikelserie mit dem Titel The International Jew: The Worlds Problem.31 Die Artikel verbreiten antisemitische Theorien und Judenhass. Später werden sie in einem Buch zusammengefasst, das in sechzehn Sprachen übersetzt wird.32 1922 liegt ebenjenes Buch im Wartezimmer vor Hitlers Büro in der Parteizentrale der Nationalsozialisten aus.33 Als Franz Iczkovits die Ford-Vertretung 1925 bekommt und im selben Jahr wieder verliert, ist Henry Fords antisemitische Einstellung bereits bekannt.

Franz Iczkovits bleibt trotz des Rückzugs von Ford Autohändler: Er ergattert Ende 1926 die Vertretung von General Motors, dem grössten Konkurrenten Fords. Franz verkauft fortan Opel, Chevrolet, Pontiac, Oldsmobile und Oakland in ganz Südungarn.34 Als er im März 1928 an der Budapest Motor Show teilnimmt, schreibt die Zeitung Pesti Hírlap: