REVOLUTION AUTOMATON - Hendrik Kühn - E-Book

REVOLUTION AUTOMATON E-Book

Hendrik Kühn

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Beschreibung

Der deutsche Bundeskanzler wurde ermordet. Der Berliner Sicherheitsmann Simon Wächter wird verdächtigt, das schlimmste Attentat der deutschen Nachkriegsgeschichte begangen zu haben. Er muss ein surreales Polizeiverhör über sich ergehen lassen, ohne Erinnerung an eine Tat oder die Hoffnung auf Freilassung. Bei einer Attacke auf das Gebäude gelingt ihm jedoch die Flucht. Da ihn niemand daran hindert, ist er überzeugt davon, dass alles nur ein Traum war. Als das Land aber plötzlich in der Revolution einer künstlichen Intelligenz zu versinken droht, zweifelt er mehr und mehr an seinem Verstand. Er macht sich daraufhin auf die Suche nach der Grenze, wo sein Traum endet und die Wirklichkeit beginnt. Sein erster Anhaltspunkt: Der Bundeskanzler ist tatsächlich tot – und die Ursache noch unbekannt. REVOLUTION AUTOMATON verbindet die Fragmente eines politischen Attentats, die Erschaffung künstlicher Intelligenzen und eines persönlichen Gedächtnisverlustes gekonnt zu einem psychologischen Thriller mit hohem Realitätsfaktor.

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Revolution Automaton

Roman

Copyright © 2020 by Hendrik Kühn

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur Storyvents GmbH, Lüneburg

Für Lilian und Clara

Impressum

Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-477-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Revolution Automaton
Impressum
Nur ein Traum
Der Hausmeister
Zeitungskiosk
Sirenen in der Nacht
Tatort Hotel
Plan A
Hyperreale Weiblichkeit
Stencils
Berlin
Die schöne Eva
Ein hohes Tier
Vaterunser
Wieder zum ersten Mal
Nur ein Bier
Dr. Feinäugle
Alles, was du brauchst
Der Henker
Den sehen wir nie wieder
Die Observation
Der Zugriff
Kennen wir uns?
Er glaubte
Wir kommen nicht mit
Am Fuße des Fernsehturms
Über den Autor

»A glimpse into the world proves that horror is nothing other than reality.«

»Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.«

– Alfred Hitchcock

Nur ein Traum

Etwas unterwandert meinen Verstand. Alles, was ich mit meinen Augen ansteuere, entschwindet mir, ist blass und unscharf. Ich halte mich mühsam aufrecht, mir ist speiübel, ich atme schwer und mein Herzschlag beschleunigt sich, und droht mich aus der Bahn zu werfen, als ich deliriere, wie man mir die Hornhäute meiner Augen chirurgisch öffnet und die Linsen hinter den Pupillen mit einem schmalen Stab verschiebt. Damit ich mich von der Welt entferne, und es passiert. Immer wieder kneife ich sie zusammen, aber ich kann sie nicht fokussieren. Sehe nur die drohende Silhouette des Mannes vor mir, sehe, wie er ungehalten vom Stuhl aufschnellt, sich kurz zügelt, für einen Moment auf den Tisch stützt, dann wutentbrannt auf mich zuläuft und mit dem Finger in mein Gesicht zeigt. Es ist ein bohrender Schatten, der sich durch meine Stirn dreht und meinen Kopf in den Nacken stößt. Der detailarme Duft von Leder und kalter Asche stiebt in mein Gesicht und der von Plastik liegt mir auf der pelzigen Zunge. Außen erstarrt und innen getrieben, ist es, als ob sich die von Stress motorisierte Angst in meinem gebrochenen Körper festfährt. In mir pocht ein infernalischer Schmerz, der mich nahe an die Bewusstlosigkeit treibt. Mein Rückgrat ist ohne Spannung und ich muss mich mit zusammengebundenen Händen am Stuhl festhalten, zwischen meinen Beinen, wo mir die Lack- und Holzsplitter immer tiefer unter die Haut meiner tauben Finger fahren. Um meinen wackeligen Torso vor dem Einknicken zu bewahren und mich davor, ungebremst auf den rauen Boden zu rauschen, beiße ich mir auf die Zähne und drücke die Arme durch, wie damals als Halbwüchsiger am Barren im Sportunterricht, nur mit Handschellen. Wieder mustert jemand meine Übung, aber dieses Mal ist es nicht mein wohlgesinnter Lehrer, sondern der tobsüchtige Vernehmer. Er spricht mit schwelendem Zorn, ich kann seine geballten Fäuste bildlich vor mir sehen, dann lacht er verzweifelt und bald ist er verstört von der Wucht der Sinnlosigkeit, die auch mich paralysiert. Er schreit es mir zu und ich zucke zusammen. Seine Worte überschlagen sich, tosen unverständlich in meinem Kopf, den ich nur hilflos schütteln kann.

Nein, nein, ich habe das nicht getan!, ruft meine innere Stimme. Doch die ist tonlos, ohne Ausdruck, nur eine Selbstbesänftigung, denn meine äußere Stimme schweigt. Ich versuche, mich zu erinnern. Vergeblich. Da ist nichts. Blackout, selbst profane Erinnerungen scheinen ausgelöscht zu sein. Ich sei verantwortlich für das Attentat, brüllt er. Das Schlimmste der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Bundeskanzler sei tot.

Ist das wirklich wahr?Ich soll das gewesen sein? Unmöglich! Es macht mich betroffen, wenn ich daran denke, dass Dr. Engel Opfer eines feigen Anschlags geworden ist. Einfach so, einfach tot. Ich wollte dem Vernehmer bedingungslos offenbaren, was in mir vor sich geht; meine Gedanken nackt auf dem Tisch ausbreiten und meine Erinnerungen ausbuchstabieren bis zum letzten Zeichen, damit dieser verbohrte Zweifler es versteht und mich nach Hause gehen lässt. Ich will schreien, dass ich unschuldig bin, aber ich kann nicht. Weder finde ich einen einzigen Gedanken dazu in meinem Kopf, noch kann ich mich sprachlich oder mimisch verständlich machen. Meine Zunge ist taub und ein beißendes Brennen auf meinem Gesicht lähmt meinen Ausdruck wie das Gift einiger Jäger das Nervensystem ihrer Beute. Ich wollte immer Gebärdensprache lernen, wusste aber nicht warum. Jetzt sitze ich hier, hilflos und allein mit meinem Glauben, den ich nicht teilen kann, gefangen in mir, als ohnmächtige Beute vor dem lauernden Jäger und erwarte stumm mein Schicksal. Für ihn muss es sich ganz anders darstellen, wenn er beobachtet, wie sich mein unfreiwillig teilnahmsloser Blick wirr in alle Richtungen wendet und nur zögerlich seiner Stimme folgt. Er muss denken, dass ich ein Lügner bin. Zweifellos ein Mörder.

»Ein politischer Anschlag ohne Beispiel!«, faucht er durch seine Zähne. Er erwartet mein Geständnis, obwohl er es nicht braucht, denn die Beweise seien erdrückend. Ich spüre ihn, diesen Druck, er schiebt und staucht mich widerstandslos zusammen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch mein Brustkorb nachgibt. Der Vernehmer haut unvermittelt auf den Tisch und der schmetternde Knall durchfährt meine Glieder. Wie lange halte ich aus, bis ich gestehe, was ich nicht getan habe? Werden sie mich foltern? Meine losen Gedanken driften schmerzverzerrt ab und folgen dem Licht über mir. Die Leuchtstoffröhren erkenne ich an ihrer Form und ihrem pastoralen Lichtwurf; ein kokosweißes Leuchten, das vermeintlich langsam auf mich herabsinkt wie Staub. Dann befällt sie ein Flackern. Ich starre sie mit meinen Milchglasaugen an und glaube zu spüren, wie die Luft unter meine Netzhäute zieht.

»Jetzt mach endlich deine Klappe auf, herrje!«

Mein Kopf sinkt nach vorn und zeigt in die Richtung des Vernehmers. Ich schlucke, doch er will nicht hinunter, dieser massige Kloß, der meinen Hals förmlich auseinanderdrückt. Mit meinen Beinen schiebe ich meinen Körper an der Rückenlehne hoch und helfe mit einem Stemmen meiner Arme nach, bis ich eine Position erreicht habe, die mich besser atmen lässt. Ich räuspere mich und schlucke meine Kehle trocken. Komm schon, sag ihm irgendetwas, damit er nicht denkt, dass du unkooperativ bist. Mach schon!

»Er ist … tot?«, stöhne ich kaum über ein Flüstern hinaus.

»Willst du mich verarschen, Wächter?«, schreit er beleidigt. »Ich dachte, das hätten wir gerade geklärt! Du wirst im Knast verrotten, da kannst du dich dann dumm stellen! Aber eines sage ich dir: Wenn du eine Matratze in deiner Zelle haben willst, dann erzählst du mir jetzt besser was, sonst verbringst du deine Nächte auf kaltem Stein. Verstehst du mich?«

Er duzt mich, als würden wir uns schon ewig kennen, doch weder kenne ich seinen Namen noch traue ich mich, ihn danach zu fragen.

»Verstehst du mich?« Ich weiß nicht, wie oft er diese Frage schon wiederholt hat. Seine herrische, dunkle Stimme dringt dumpf in meinen Kopf, aber nein, ich verstehe ihn nicht. Ich höre ihn, aber ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nicht einmal, ob all das wahr ist oder ob ich nur träume. Es fühlt sich an wie ein Traum. Wie ein absurder Albtraum.

Ich schrecke auf, als der Vernehmer plötzlich über den Tisch springt, meinen Hals packt und mir ins Gesicht schlägt. Letzteres ist eher eine Ahnung, denn ich kann nicht mehr Schmerz fühlen, als ich ohnehin schon fühle. Ich habe das Maximum erreicht und wandle in eine Taubheit über, die einen Bewusstseinsverlust verkündet. Dann wird es dunkel.

Es müssen die Lampen sein. Ich spüre, dass er von mir ablässt und höre seine Schritte durch den Raum wandern, wie ein Raubtier. Seine Schläge waren echt und sie haben Wirkung gezeigt, eine befremdliche, erschreckende, die mich panisch macht. Mein Kopf fühlt sich weich und geleeartig an, als hätte der Schädelknochen seine ganze Härte verloren, als hätte er unter der Gewalt nachgegeben und den Abstand zwischen der Haut und Hirn aufgehoben. Ich habe kein Vertrauen mehr in meinen Körper und bin endgültig in meine Gedankenwelt gewandert. Ich habe Angst, dass die Gewalt nicht enden wird, bis ich gestehe, was ich nicht getan habe. Ist es möglich, dass man jemanden ermordet und sich nicht mehr daran erinnert? Unwahrscheinlich. Ich ahne, dass ich gegen meinen Willen herhalten muss. Das ist ein Komplott gegen mich, in dem ich der Sündenbock für ein politisches Kalkül bin. Ich habe gar kein Motiv, den Bundeskanzler zu töten. Genau, das ist es! Ich habe kein Motiv und das muss ich dem Vernehmer klarmachen. Er muss wissen, dass ich zwar immer geglaubt habe, dass ich politischer sein sollte und dass ich mehr Gebrauch von meinen Rechten als Bürger machen wollte, aber in Wirklichkeit nur ein desinteressierter Niemand bin. Ich bin der falsche Mann, der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß!

Das Licht geht wieder an und ich sehe schemenhaft die kargen, hellgrauen Wände und den weißen Schreibtisch vor mir. Es ist kein wirkliches Sehen, wie ich es bisher getan habe, sondern ein Identifizieren von Lichtquelle und Richtung. Ich presse die Lider zusammen, reibe meine Augen und reiße sie dann auf. Die Ränder schärfen sich und langsam formen sich die Schemen. Aus einem schwarzen Fleck einige Meter von mir entfernt wird der Vernehmer und ich meine zu erkennen, dass er mir seinen Rücken zugewandt hat. Meine Nase läuft, es fließen Tropfen von meiner Oberlippe zum Kinn hinunter und fallen hinab. Ich blicke nach unten. Aus einem dunklen Ton bildet sich ein Rot, das in schmalen Bahnen über meine Hände fließt. Mit dem Oberarm wische ich mir über mein Gesicht. Ein Türschloss springt auf und ich höre, wie jemand den Raum betritt. Schritte, die sogleich haltmachen. Neben dem Vernehmer erscheint jetzt eine andere Gestalt. Beide tauschen sich kurz aus und dann kommt sie auf mich zu, groß und schlank.

»Wasser«, sagt eine ruhige, kehlige Männerstimme und die Gestalt reicht mir ein Glas. Ich soll es trinken, fordert sie mich auf und ich bedanke mich höflich mit einem gequälten Wort. Mithilfe meiner schmierigen Hände setze ich das Glas an und das kalte Wasser rinnt ölig durch meinen Hals. Es tut gut, wie es sich in meiner Körpermitte sammelt und mich in ein behagliches Gleichgewicht balanciert. Ich kann auch wieder schlucken und der Luftstrom zieht ungehindert durch meinen Hals und bringt mir meinen Geruchssinn zurück. Ich atme tief ein und aus und ich rieche als erstes Schweiß. Es ist das beste Wasser, was ich je getrunken habe, und ich sage es der Gestalt. Keine Antwort. Man gibt mir einen Moment Ruhe, denke ich, und ich höre sie von der anderen Seite des Raumes scharf flüstern. Rasch platziere ich das Glas zwischen meine Beine, tippe mit Zeige- und Mittelfinger in das Wasser, das sich sofort dunkel färbt, und reibe es mir in die geschwollenen Augen. Tropfen laufen mir über meine brennenden Wangen, therapieren leidlich einen schweren Fall und löschen den Schmerz für den Bruchteil einer Sekunde, der sich mehr auf der rechten Seite lokalisiert. Es ist kein vernünftiges Sehen, aber ich spüre die stete Besserung; ein Formen, Schärfen und Einfärben meiner Umwelt. Auch die beiden Männer werden nun als Figuren sichtbar. Ihr Flüstergespräch, eben noch ein Säuseln, steigert sich nun mehr und mehr in ein wechselseitiges Zischen. »Ich weiß, was ich mache!«, sagt einer der beiden, der Vernehmer, vermute ich. Er kommt zu mir, nimmt mir das Wasserglas aus dem Schoß, setzt sich an den Tisch und blättert in einer Akte herum.

»Dann fangen wir noch mal von vorn an, damit das Ganze endlich mal produktiver wird«, sagt er, mehr zu sich selbst, und auch das weitere Nuscheln adressiert er nicht an mich. »Simon Wächter … Ende dreißig … hm … hat Wirtschaftswissenschaft studiert … hm … und ist Wachmann …«

Der Schleier fällt. Allmählich normalisieren sich meine Sinne, meine Augen sehen Farben, fokussieren wieder und meine Ohren befreien sich von der Dumpfheit und nehmen die Töne in ihrer Höhe und ihrem Klang wahr.

Ich bin zurück und das Erste, was ich erblicke, ist das vernarbte Gesicht des Vernehmers. Es ist dick, schweinefarben und dünkelhaft – ein Kandidat für Albträume. Der kräftige Kerl mit den kurz geschorenen Haaren, der kaffeebraunen Lederjacke und der tiefblauen Jeanshose lehnt sich auf den Tisch wie ein militärischer Ausbilder. Zigarettenstummel springen mit jeder Handbewegung über die mürbe Tischplatte und einer fällt zu Boden. Meine Augen folgen ihm wie zur Übung nach einer überlangen Auszeit. Die Gestalt verlässt uns, das ist, was ich höre, aber ich sehe nur die farblose Wand am Ende des Raumes, als ich meinen Kopf drehe.

»Du hast also als Wachmann in dem Hotel gearbeitet?«

Aber klar, jetzt erinnere mich wieder! Zumindest an das Hotel, wo ich zuletzt gearbeitet habe. Es war ein festlicher Abend und es galt in Erwartung von Prominenz die höchste Sicherheitsstufe. Gesprächsfetzen mit dem Sicherheitschef Urban finden sich nun in meinem Kopf wieder, aber kein wirklicher Inhalt, der auf den gesamten Abend schließen lässt. Ich weiß nicht, ob der Bundeskanzler da war, aber ich vermute es. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.

»Schtimmt …«, murmele ich, aber es wird nicht deutlicher. Meine Lippen müssen wohl aufgeplatzt oder geschwollen sein, die Worte kommen nur breiig heraus.

»Aha, wir machen offenbar Fortschritte. Gestern hattest du angeblich gar keine Erinnerungen.«

An gestern erinnere ich mich auch nicht. Wieder versuche ich, mich aufrechter zu positionieren, und wische meinen Mund an der Schulter ab. Ich will erst jedes Wort abwägen und es dann mit gespitzten Lippen formen, damit wir uns nicht falsch verstehen. »Als Sischerheitsexperte … ähm … aber isch habe niemanden umgebracht.«

»Was sagst du da?« Meine Worte scheinen ihn zu amüsieren. »Sicherheitsexperte? Oh, der studierte Herr ist also gar kein einfacher Wachmann, sondern ein Sicherheitsexperte. Deine Eltern müssen stolz auf dich sein. Beachtlich, Wächter, beachtlich!«

Ich spüre, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt. Die Worte hätten von meinem Vater stammen können. Es ist genau dieselbe Art von Gehässigkeit, die gerade aus dem Mund des blasierten Kerls vor mir kommt. Aber mein Vater zog Direktheit stets der Ironie vor und hätte mir deshalb gesagt, dass er nicht stolz auf mich ist. Was er getan hat. Ich könnte lachen.

»Ich habe nur meinen Job gemacht«, erkläre ich. »Ich war es nicht. Ich habe niemanden …«

»Ich verstehe«, unterbricht er mich, »du willst also sagen, dass du es nicht geplant hast.«

Beiläufig bemerke ich, dass eine Pistole auf dem Tisch in meine Richtung zeigt und seine Hand darauf ruht. Vor Schreck fahre ich zusammen. Ich räuspere mich, ehe ich eine Antwort gebe, und lehne mich zur Seite gegen die Armstütze, um mich der Schusslinie zu entziehen. »Nein, das wollte ich nicht …«

»Natürlich nicht. Obwohl du es könntest, bist ja ein schlaues Kerlchen, aber ich glaube nicht, dass du das allein geplant hast. Welche Organisation steckt hinter deinem Attentat? Wer hat dich angeleitet und dich dabei unterstützt? Sag mal, Wächter, welcher Religion gehörst du eigentlich an?«

Es zieht unsere Blicke zur Decke, da das Licht abermals flackert. Er erhebt sich vom Stuhl und schaut sich erschrocken um, aber ich verstehe nicht warum. Plötzlich geht ein ungeheures Vibrieren los, das wie seismische Wellen durch die Bodenplatte stürmt und uns und das spärliche Mobiliar schwer erschüttert. Dreck, Krümel und Zigarettenstummel fallen vom Tisch und springen am Boden wie heißes Öl in der Pfanne auf und nieder. Der hochfrequente Druck steigt von den Füßen bis in den Nacken und lädiert die Festigkeit meiner Knie. Dann ertönt ein Bersten, als bräche etwas Großes entzwei. Schreie auf dem Flur, ein Schlag oder Knall, und ich höre, wie Menschen hektisch am Raum vorbeilaufen. Fragend schaue ich zum Vernehmer, der furchtsam und kleinmütig die Quelle des Übels ausfindig machen will. Wider Erwarten steckt er seine Pistole in das Halfter und läuft zur Tür, als sie im selben Moment auch schon vor ihm aufspringt. Ich denke noch, dass er die Pistole besser griffbereit hätte halten sollen und stelle mir vor, wie ihn jemand attackiert, während ich die Szene vom hinteren Teil des Raumes aus hilflos mit ansehen muss. Aber was folgt, ist keine Überraschung. Die Person auf der anderen Seite der Tür ist jene, die mir das Wasser gegeben hat. Ich kann die Gestalt anhand ihrer kehligen Stimme zweifelsfrei identifizieren, obwohl ich kein Wort verstehe. Der Vernehmer ist mit irgendeinem Umstand nicht einverstanden. Er schüttelt den Kopf, weist die Gestalt mit der Hand ab, doch diese brüllt: »Vergiss den! Los, sofort!« Das kam auch bei mir an. Beide verschwinden daraufhin und die Tür fällt ins Schloss.

Das Dröhnen von Laufschritten und vereinzelte Schreie dringen durch die dünnen Wände. Sie alle laufen und schreien sich in das Angstzentrum meines Gehirns. Ich kann ihn nicht abwenden, meinen Blick von der Tür, mental gefesselt starre ich anderthalb Minuten – ich habe die Sekunden gezählt – auf den Griff, in Erwartung, dass der Vernehmer zurückkehrt. Nicht in froher Erwartung, denn ich wünsche ihn mir natürlich nicht zurück. Aber er kann mich doch nicht einfach so allein lassen. Hundertachtzehn, hundertneunzehn, zwei Minuten sind es jetzt bereits. Schüsse fallen. Ich schrecke auf. Zwei, drei, vier an der Zahl, ein paar Räume weiter. Mein Blick wird von einem Vibrieren des Türgriffs gefangen genommen, das langsam beginnt, sich in ein Klappern zu steigern und in einer heftigen Erschütterung mündet. Wie von einem Erdbeben von hoher Stärke, aber mit einer abnormen Frequenz, die meine Füße, Schienbeine und Knie schmerzlich durchschüttelt. Es folgt ein brutales Geräusch vom Flur her, das wie das Zusammenschlagen regloser Körper klingt; dumpf und fleischig. Dann ein Schleifen über den Boden, ein Türöffnen, wieder das Schleifen, wieder die Tür und das Licht erlischt. Mein Herz trommelt bis zum Hals, ich atme schwer und rutsche ruhelos über den Stuhl. Schweißperlen sammeln sich an meinem Haaransatz und rollen mir über meine feurigen Wangen. Aus der Ferne erschallen nun undefinierbare Tumulte und von den Nebenräumen schnelle Schritte. Ich weiß nicht, was hier geschieht, aber alles deutet auf eine Attacke hin. Eine Attacke auf das Gebäude, und der Vernehmer hat mich allein gelassen — auf seine Wiederkehr hingegen deutet nichts. Ich glaube, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann, wenn ich das hier überleben will.

Nach wenigen Sekunden flackern die Leuchtstoffröhren an der Decke erneut und spenden wieder Licht. Zögerlich erhebe ich mich von der Sitzfläche und schleiche auf die andere Seite des Schreibtisches. Ich ziehe die Schublade auf und finde zwischen Taschentüchern und Minzbonbons, einen Halfter mit einer Pistole, meine Auto- und Haustürschlüssel, mein Handy und mein Portemonnaie … so als hätten sie auf mich gewartet. Auch die Handschellenschlüssel sind dort. Voller Zweifel schaue ich auf die Handschellen, und nachdem ich mich von ihnen befreit habe, auf meine Hände. Es ist nicht falsch, was ich mache, aber richtig ist es auch nicht, doch es fühlt sich an, als ob freie Hände einen freien Mann aus mir machen. Mehr noch hat mich das Lösen von den Handschellen von der Präsenz gelöst, und es hebt meinen Geist wenige Zentimeter über meinen Körper. Es entrückt mich in etwas Traumhaftes, genau jene Zentimeter fern von der Bedrohung. Ist die Wirklichkeit defekt oder ist das alles nur ein Traum? Ich schaue mich um. Ich weiß es nicht.

Schnell stecke ich die Sachen in die Taschen, gehe zur Tür und öffne sie. Nur einen Spalt, groß genug, um mich vorsichtig in den Flur zu lehnen. Es ist niemand zu sehen. »Hey, Kumpel, bist du da?«, rufe ich mit halber Lautstärke und sehe, dass die Tür einen langen Riss im Holzfurnier hat und dadurch ihr wabenförmiges Innenleben offenbart. Vorsichtig trete ich aus dem Raum. Weißer Dunst hängt an den grellen Leuchtstofflampen, der sich bis zum Flur-Ende zieht. Mein Blick richtet sich auf den Boden. Zu meiner Linken ist der PVC-Bodenbelag mit Bluttropfen übersät, Schuhspuren führen durch einige hindurch, und rechts sehe ich längliche Spuren einer blauen Flüssigkeit. Das Leuchten erscheint mir karibisch schön und chemisch toxisch zugleich, aber identifizieren kann ich es nicht. Ich will mich gerade hinunterbeugen, da schießt plötzlich ein blitzförmiger Schatten die Wand entlang. Als er im Dunkel eines Lichtflackerns entschwindet, donnert es ungestüm gegen die Wand, derart stark, dass der Druck die Rahmen mehrere Türen aufspringen lässt. Adrenalin schießt unkontrolliert durch mein Blut, packt und schickt mich auf meine Beine. Ich laufe, so schnell ich kann, statt nach der Ursache zu schauen, und ich habe diesen Gedanken, doch ich verlasse den Flur bereits mit einem Schulterstoß durch die Tür. Sie führt in einen weiteren Flur. Ich laufe und mein Blick geht von Seite zu Seite und nur einmal kurz zurück. Niemand folgt mir, aber meine plattfüßigen Schritte lärmen über den hohlen Boden und mir ist bewusst, dass man mich durch die anliegenden Wände hören kann. Labyrinthisch führt der nächste Flur in einen weiteren und ich versuche gar nicht erst, in die Räume zu schauen, die er verbindet. Die Wege werden nun länger und dunkler, bis der längste und dunkelste von ihnen endlich zu einem leuchtenden Notausgang führt.

Als ich das Gebäude verlasse, schlagen mir Motorenlärm und das matte Licht des bewölkten Himmels entgegen. Chaotische Fluchtbemühungen spielen sich vor mir ab, auf einem Parkplatz, der sich binnen weniger Sekunden leert. Verängstigte Menschen rennen zu ihren Autos wie Ratten vom sinkenden Schiff, bis nur noch ein Auto vor dem violetten Horizont wartet. Es ist meines, und ich laufe wieder, nehme die Schlüssel in die Hand und entriegle die Türen des Coupés mit der Fernbedienung. Ich springe hinein, starte den Motor, beschleunige durch einen seichten Graben und rase dann vom Gelände. Eine leere Pforte mit geöffneter Schranke passiere ich mit Hochgeschwindigkeit. Die Schlaglöcher der unbefestigten Straße werfen mich von einer Seite zur anderen und Staub wirbelt hinter mir auf. Flüchtig schaue ich zurück, kann jedoch niemanden erkennen und sehe nur ein bedrohliches Gebäude, das sich wie ein riesenhaftes Containerdorf auf der Ebene ausbreitet. Mit jedem Meter, den ich zurücklege, werden Gebäude und Sperrzaun kleiner, bis sie vor dem violetten Horizont verschwinden. Irgendetwas ist noch dort, denke ich, und stelle mir vor, wie es durch seine Räume streunt, sie kontaminiert und entseelt. Doch der Vernehmer, der ist nicht mehr da.

Der Weg führt mich von einem Nadelwald über ein brachliegendes Feld bis in ein menschenleeres, mir unbekanntes Dorf, dessen brüchige Häuser wie Ruinen in der Landschaft stehen. Das ist die Pampa Brandenburgs, ahne ich, aber erst als am Ortsausgang Berlin ausgeschildert ist und ich über Umwege auf eine Bundesstraße komme, fühle ich eine eigenartige Sicherheit über meine Existenz. Ich greife fest in das Lenkrad, drücke mich in den Sitz und frage mich: Habe ich das alles nur geträumt? Ich schaue hinauf zum Himmel, der zu einem natürlichen Grau zurückgekehrt ist, dann in den Rückspiegel des innen von der Dämmerung verdunkelten Autos. Allein das matte Weiß meiner Augäpfel gibt sich im Kontrast zu erkennen, meine Haut entzieht sich dem Licht der verstreichenden Sonne. Meine Pupillen sind groß und starr beim Blick in den Spiegel und hatte ich gerade das Gefühl, dass meine Augen mich ansehen, bin ich es nun, der sie ansieht. Ja, ich bin wieder wach, aber noch benebelt von meinem Traum. Ich war von der Erdoberfläche verschluckt und bin wiederaufgetaucht, aufgetaucht in der Wirklichkeit, auf bekannten Straßen, inmitten unzähliger Autoschlangen im Feierabendverkehr und unbescholtener Menschen, die Radio hören, telefonieren und Gespräche mit ihren Begleitern führen. Gott sei Dank, ich habe das alles nur geträumt. Doch was ist das? Ich ziehe einen gelben Zettel von der Armatur und schaue ihn mir genauer an. Das Wort Lauterkeit ist mit blau-grauer Kugelschreibertinte unzählige Male auf dem Zettel nachgezeichnet, tief wie eine Prägung. Das ist meine Schrift, ich erkenne sie, aber ich kann mich nicht erinnern, das Wort geschrieben zu haben.

Der Hausmeister

Der Schlüssel rotiert im Schloss und die Spannung im Holz schiebt die Wohnungstür auf. Erschöpft, blutarm und noch vom Albtraum geschockt, fasse ich am Griff vorbei. Statt hineinzugehen, stehe ich immer noch davor und schaue in den Schatten meiner vereinsamten Wohnung, als wäre ich tagelang nicht mehr hier gewesen. Genauso benimmt sich mein Körper, mit dem Gefühl der Wiederkehr in eine fremde und unbewohnte Stätte, die lange leer stand und entstaubt und mit Leben gefüllt werden muss. Ich kenne das, aber es ist intensiver als sonst und wäre meine Energie nicht versiegt, würde ich sofort eintreten und genau das tun … die Räume beleuchten, die Heizung aufdrehen und Musik anmachen. Stattdessen schwimmt mein Geist und meine Gedanken treiben davon, assoziieren die unangenehme Leere mit einem Aderlass. Ich bin so kraftlos, als pumpe mein Herz in die Leere der offenen Adern. Gleich welchen Gedanken ich beginne, er wandelt sich in wenigen Zügen in die Sehnsucht nach meinem Bett mit der anheimelnden Daunendecke, die sich an meinen Körper schmiegt. Das Licht im Treppenhaus erlischt. Meine Hand tastet am Türrahmen vorbei in meine Wohnung und drückt den Lichtschalter. Vergebens. Kein Funke und kein Knall, um mich herum ist alles stockfinster.

Behäbig laufe ich durch die Dunkelheit bis zur Küche, halte mich an der Kommode und dem Türrahmen fest, stoße ein gerahmtes Porträt meiner Eltern um und falle beinahe über den Wäschekorb, als ich feststelle, dass dort das Licht auch nicht funktioniert. Die Glühbirnen im Flur und der Küche werden ja wohl nicht zur gleichen Zeit kaputtgegangen sein, überlege ich und spüre, dass mein Fuß in eine schmierige Pfütze getreten ist. Die Feuchtigkeit wandert binnen Sekunden durch mein löchriges Schuhwerk und sammelt sich zwischen meinen Zehen. Mit meinem Handy beleuchte ich die Lache und stelle fest, dass der Kühlschrank ausgelaufen ist. »Das kann doch nicht wahr sein …« Ich bin müde, todmüde sogar, und mein Körper schmerzt, von oben herab, bis in die Fingerspitzen und verschlingt mich. Er trennt meinen Verstand von der Welt … nur der nasse Fuß erinnert mich daran, dass es nicht so ist. Ich hebe ihn, lasse ihn abtropfen, ziehe dann Schuhe und Socken aus, und stelle alles zur Seite. Beim Herunterbeugen höre ich plötzlich ein Fiepen in beiden Ohren, sehe farbige Kreise in der Dunkelheit und spüre ein trockenes Brennen in meinem Hals. Auf der Spüle befindet sich eine zimmerwarme Wasserflasche aus papierdünnem Plastik, die ich mit einem gewissen Ekel trinke. Die fade Kohlensäure schäumt und lässt mich aufstoßen, der Nachgeschmack erinnert mich an meine Kindheit, an jene verregneten Tage, an denen ich im muffigen Keller Verstecken gespielt habe. Das sind schöne Erinnerungen, aber heute ist offensichtlich nicht mein Tag. Ich fühle mich beschissen, anders kann ich es nicht ausdrücken.

Es klopft plötzlich an der Tür. Ich taste mich zurück und orientiere mich an dem kleinen Lichtpunkt, den die Beleuchtung des Treppenhauses durch den Türspion wirft. Helmut, natürlich. Er ist unser altgedienter Hausmeister … beinahe hätte ich ausgedient gesagt … der seinen grauen Cord-Hut wie eine Arbeitsuniform trägt. Einmal habe ich ihn ohne getroffen, er war gerade mit seiner Frau auf dem Weg zu einer Beerdigung, und er sagte mir, er wäre privat unterwegs und hätte deshalb keine Zeit. Die Sprechzeiten seiner üblicherweise Rund-um-die-Uhr-Aufgabe konnte ich danach wieder an seiner Kopfbedeckung ablesen. Eines vorweg: Helmut ist nicht in Ordnung. Er ist ein aufdringlicher, suspekter Typ, dem ich nicht über den Weg traue. Er ist undeutbar, sowohl als Charakter als auch als biologisches Wesen. Ich kann nicht einmal sein Alter genau schätzen, aber so lange ich ihn kenne, sieht er nach Rente aus. Was man aber mit Gewissheit sagen kann: Er ist immer der Erste vor Ort. Der Strom fällt aus und schon steht er vor meiner Tür, mit seiner grimmigen Miene, die der Türspion wie eine Karikatur verzerrt. Am liebsten würde ich ihm gar nicht öffnen, aber spätestens morgen stünde er doch wieder vor meiner Tür, mit seinem Cord-Hut und seinen guten Absichten. Widerwillig mache ich ihm die Tür auf und der beißende Geruch von Salami und Butter macht ihn vorstellig.

»Ick hab jesehn, dass du jetze jekommen bist, Simon«, sagt er, als sei es ungesetzlich und schaut mich dabei unverwandt an. Sobald er bemerkt, dass ich mitbekomme, wie er mich anschaut, wendet er seinen Blick rasch ab und schaut in meine Wohnung. »Wir hamm Probleme mit de Elektrizität.«

»Das habe ich gerade festgestellt«, sage ich. »Mein Kühlschrank ist nämlich abgetaut.«

Ein süffisantes Grinsen steht in seinem Gesicht. »Dit muss ja ooch regelmäßich, wa?«

»Der hat eine automatische Abtauvorrichtung, aber frag mich nicht, wie die funktioniert.«

»Ach so. Wie ooch immer, im janzen Haus sind heute die Sicherungn rausjeflogn. Die Hauptsicherungn, inne Wohnungn, überall. De Elektrika war schon hier u nun gehts wieda. Janzen Tach hattn wa Ärga.«

»Verrückt. Wie ist denn das möglich?«

»Jute Frage. Ditt weeß ick nich jenau, aber de vonne Stadtwerke sagn, dass sonne Internethacka uffe Netze zugreifn. Aber hey, du musst de Sicherungn wieda reinmachn.« Er zeigt auf den graulackierten Blechkasten neben meiner Tür, den ich hätte suchen müssen, wenn er ihn mir nicht gezeigt hätte. Ich öffne den Kasten, drücke die Sicherungen hoch und das Licht in meinem Flur geht wie von Zauberhand wieder an. Auch den Kühlschrank höre ich summen.

»Vielen Dank, Helmut.«

»Dafür nich«, antwortet er. Dann folgt betretenes Schweigen. Ich räuspere mich, er räuspert sich. Ich schaue ihm in die Augen, er dreht sich weg.

»Hacker, sagtest du?«

»Ja, da wird eenem blümerant. De janzen Beklopptn komm’n roos, du weeßt schon, weil de Bundeskanzla tot is. Schlimm, wa?«

Dieser Satz fährt mir wie ein Schwert durch meine Brust. Ich erstarre äußerlich, da mir der Atem stockt, aber in der Brust holt mein Herz weit aus und erschüttert mich mit dem nächsten Schlag. Ich will glauben, dass ich ihn nicht richtig verstanden habe, aber da gibt es keine Zweifel. Es ist wahr, unser Bundeskanzler ist tot. Betroffenheit legt sich auf mein Gesicht und Helmut nickt mir zu, weil er glaubt, dass der Tod des Kanzlers der Grund dafür ist, aber in Wirklichkeit ist es die Einsicht, dass ich das alles nicht nur geträumt habe.

»Das kannst du laut sagen, Helmut. Sehr schlimm«, flüstere ich und sinniere still darüber nach, was die Medien gerade berichten. Ich stelle mir mein verwaschenes Bild vor, das von einer der Überwachungskameras des Hotels stammt. Alle Welt würde mich sehen, vorverurteilen und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Lynchmob dann nach Rache dürstend vor meiner Wohnungstür stünde, für etwas, das ich nicht getan habe. Ist es euch auch egal?

»De Welt wird imma schlimma«, seufzt Helmut.

Für mich ist das Gespräch beendet, denn ich will ihn so schnell wie möglich verabschieden und signalisiere ihm das auch mit einem in den Hausflur drängenden Schulterklopfen. Er versteht die Geste aber nicht und observiert stattdessen lieber meine Wohnung. Ich bemerke die Unordnung hinter mir und schiebe meinen Körper vor sein Sichtfeld. »Gute Nacht, Helmut. Ich muss jetzt! Nochmals vielen Dank.«

»Dafür nich.«

Ich drücke die Tür zu und meine den Widerstand von Cord-Hut und Nase spüren zu können, die immer an vorderster Front stehen, wenn seine Neugier Schlachten mit den Nachbarn schlägt. Mit der Hand verdecke ich den Türspion, lege meine Stirn auf das lackierte Holz, schließe meine Augen und lausche der anderen Seite. Dort ist kein Ton seiner Schuhe auf den Treppenstufen, kein Schlurfgeräusch seiner Sohlen auf dem Stein, und kein Atem seines alten Körpers zu vernehmen.

Ich halte inne und versuche mich auf das zu konzentrieren, was mir so surreal, albtraumhaft und unmöglich erschienen ist: Die Wahrheit.

Bin ich nun ein Verdächtiger auf der Flucht oder hat man mich gehenlassen? Ich bin geflohen, genauso wie mein Vernehmer, aber erst nach ihm. Hätte er mich zurückgelassen, wenn er geglaubt hätte, dass ich der Mörder des Bundeskanzlers wäre? Ausgeschlossen. Es kann keine Beweise geben, die mich belasten, nichts, was fälschlicherweise auf eine Tat hindeutet, die ich nicht begangen habe. Ich wurde festgehalten, weil sie keinen blassen Schimmer hatten und es besser ist, irgendeinen Sündenbock als niemanden zu haben. Außerdem: Warum erinnere ich mich an nichts? Sie müssen mich bewusstlos geschlagen haben und infolgedessen habe ich eine posttraumatische Amnesie oder Ähnliches erlitten. Ich werde sie anzeigen und vor Gericht zerren, wenn das wahr ist. Doch die Zweifel bleiben bestehen, ohne die vollständige Erinnerung. Es sind nur die jüngsten da, die mitten im Verhör begonnen haben. Ich zeichne sie in meinem Kopf nach und mit ihnen kehrt automatisch der Schmerz zurück und er pocht nun von der rechten Schläfe hinab bis zum Hals. Ich nehme meine Hand vom Türspion und schaue hindurch. Der Hausflur ist nun dunkel.

Ich kehre zur Küche zurück, reiße ein paar Papiertücher von der Rolle und knie mich dann vor den wiederbelebten Kühlschrank, um das abgestandene Wasser aufzuwischen. Es ist nicht viel, denke ich zuerst, aber als ich das Papier unter die Tür schiebe, laufen mir dunkelrote Tropfen auf die Finger. Mein Blick folgt den langen Bahnen, die sich über die Dichtungen des Eisfachs bis zum Boden ziehen und unter dem Kühlschrank eine widerliche Pfütze nähren. Ich öffne die Tür und in mir steigt Ekel auf. Es ist Tomatensoße mit Hackbällchen aus einer vergessenen Gefrierpackung ausgelaufen und sie klebt nun überall, in jedem Fach und an allen Essensresten. Ich brauche mehr Papier, viel mehr. Doch beim Aufstehen packt mich erneut der Schwindel und er schickt mich zurück auf meine Knie. Ich stütze mich am Küchenstuhl ab und es dauert einen Moment, bevor ich der Bodenfestigkeit vertraue. Einmal tief durchatmen. Ich schaue nach oben und dann zu Boden. Irgendetwas stimmt mit dem Deckenlicht nicht, so dunkel war es noch nie und ich habe Mühe, zu erkennen, wo ich genau wischen muss. Es gibt Brüche in den Fliesen, die ich sinnlos bearbeitet habe, und da sind Flecke, die viel älter und unbestimmbar in Farbe und Form sind. Ich beuge mich flach über die Fliesen und je dichter ich komme, desto schlechter kann ich sehen. Die Soße breitet sich aus, scheint zu hüpfen und zu flüchten, als kämpfe ihre innere Tomate ums Überleben.

Ich brauche lange, bestimmt zwanzig Minuten, bis ich alles im und um den Kühlschrank herum entfernt habe, und bleibe schließlich erschöpft auf meinem Hintern sitzen. Der Schmerz ist schlimmer geworden, er tobt und strahlt über meinen ganzen Körper. Vorsichtig fasse ich an die Stelle in meinem Gesicht, wo er sich lokalisiert. Wie ätzend stößt die Hautoberfläche meine Finger ab. Ich wollte sie im Spiegel inspizieren, aber mir fehlt die Kraft. Mit meinen Beinen schiebe ich mich zurück an die Spüle und schließe meine Augen. »Allein fehlt mir die Kraft …«

Ich weiß noch, wie ich als Achtjähriger einen toten Mann auf der Straße liegen gesehen hatte, der Minuten zuvor bei einem Frontalunfall aus seinem Auto geschleudert worden war. Ich sah nicht viel, denn die Sanitäter hatten ihn abgedeckt, aber die Vorstellung, dass dort ein Körper ohne Leben lag, war für mich ein wochenlanger Horror. Der erste Tag war der schrecklichste, alles fühlte sich plötzlich grau und sinnlos an, selbst die neuen Spielzeuge, die ich zu Ostern bekommen hatte, und das satte Sonnenlicht, mit dem ich die schönen Dinge des Lebens verband. Mir schmeckte das Abendessen nicht mehr, mit meinen Eltern wollte ich nicht reden und die Nacht bestrafte mich mit einer pausenlosen Vorstellung des neuen Horrorfilms in meinem Kopfkino. Über die Jahre hinweg gewöhnte ich mich an den Anblick, sah ihn regelmäßig auf Autobahnen oder in den Nachrichten. Er hob mich nicht mehr an. Aber was ich heute erlebt habe – den Tod des Bundeskanzlers, das verrückte Verhör und meine Flucht – versetzt mich unwillkürlich in den erschütterten Achtjährigen zurück, der ich einmal gewesen war. Das gleiche Gefühl kommt wieder in mir auf, jedoch gepaart mit dem Mysterium des Umstands und dem absurden Verdacht, ich wäre für diese Tat verantwortlich. Es macht mich verrückt. Die Situation nimmt mich gefangen und steigert sich mit jedem Gedanken, bis sie selbst die Sehnsucht nach meinem Bett bezwingt. Fünf Minuten mit mir allein auf dem Küchenboden und ich bin davon überzeugt, keinen Moment mehr länger ausruhen zu können. Das war immer so … in Einsamkeit komme ich stets auf unheilvolle Gedanken. Dumme Gedanken nannte sie mein Vater. Ich könnte lachen.

Meine Kraftreserven mobilisieren sich erneut, sie öffnen meine Augen und stellen mich auf die Beine. Sie bringen mich zum Flur, geben mir mein Handy von der Kommode in die Hand und lassen mich nach den Nachrichten suchen. Es ist ein neues Gerät, ein richtiges Arbeitstier und eine Entertainment-Maschine. Das sage ich mit einem gewissen Stolz und fahre mit dem Daumen über die polierte Plastikkante, die das Display abschließt. Ein Kratzer, nicht tief, aber ich kann ihn spüren. Das ist ärgerlich. Mein Blick geht zurück auf das Symbol des Browsers, das sich nur endlos dreht, bis eine Fehlermeldung erscheint: Seite kann nicht gefunden werden. »Ach, komm schon!« Dann sehe ich, dass das Gerät kein Netz hat. Der Netzanbieter ist das Problem. Egal. In meinem Arbeitszimmer habe ich meinen Laptop, den ich – ich schaue auf dem Schreibtisch und in der Tasche nach – wohl in meinem Büro gelassen habe. Der Fernseher funktioniert auch nicht, er zeigt nur ein Bildrauschen an.

Obwohl es lediglich ein paar Autominuten sind, will ich nicht für die Nachrichten von Berlin-Wedding, wo ich wohne – in der Kameruner Straße, wohlgelegen zwischen Mitte und dem Flughafen Tegel – bis zu meinem Büro am Alexanderplatz fahren. Das mache ich aus Prinzip nicht, denn der Zeitungsladen ist direkt um die Ecke. Hier ist meine Jacke, dort die Wohnungstür. Damals sind wir noch alle rausgegangen, wenn wir etwas brauchten, und es hat uns nicht umgebracht. Meistens zumindest.

Leise ziehe ich die Tür in das Schloss und schleiche mich durch das dunkle Treppenhaus. Ich will nicht, dass Helmut sieht, wie ich das Gebäude verlasse. Allein bei dem Gedanken daran, dass er meine Ausgehzeiten dokumentiert und darüber Vermutungen anstellt, könnte ich ausflippen. Seine Wohnung liegt unseligerweise in der ersten Etage und jeder Hausbewohner muss daran vorbei. Selbst die junge Frau, die ihm gegenüber wohnt, ist häufig ein Opfer seiner Arbeit. Ich bilde mir ein, dass es ihr nahegeht, diesem zarten Geschöpf mit dem dünnen, roten Haar und dem leichten Strabismus, der ihr linkes Auge nach innen wandern lässt. Ich habe erlebt, wie sie beim Ausgehen unweigerlich in die Richtung seiner geschlossenen Wohnungstür grüßt, weil sie weiß, dass er auf der anderen Seite des Türspions steht. Damals wie heute bebte sein Herzschlag geradezu durch das Holz der Tür und auch sein Ohr scheint an jede Wand gepresst zu sein. Die Paranoia ist unvermeidbar.

Zeitungskiosk

Der Abend ist ungewohnt kalt. Der Herbst ist ausbewegt und liegt still vor dem Winter, der in seinem Jahresschatten lauert. Eine harzige, schweflige Note begleitet die glasklare Luft. Ich stecke meine Hände in die kühlen Jackentaschen und mache mich auf den Weg zum Zeitungskiosk, der fünf Gehminuten von meiner Wohnung entfernt liegt. Die Krater auf dem Mond kann ich mit dem bloßen Auge erkennen, aber die Straßen unter seinem Ablicht sind meinem Blick verschlossen. Ich sehe die gediegen-farbigen Häuserblöcke mit ihren kantigen Balkonen nicht, die langen Parkreihen, das von der Witterung platingraue Kopfsteinpflaster oder die kargen, herbstbraunen Baumgewächse nicht. Es herrscht Totenstille. Die Bierstuben, Elektroniklädchen und Friseursalons sind geschlossen, und die Straßenlaternen hinter mir haben ihre Funktion eingestellt, was ich erst bemerke, als das grelle Licht der Seestraße in meinen Augen sticht. Welch eine Ironie, dass die Straße fünfhundert Meter weiter nordöstlich an den Osram-Höfen vorbeiführt, dem ehemaligen Fabrikgelände, wo 1904 Deutschlands erste Glühbirnen produziert wurden. Außer dem Licht treffe ich vereinzelt Leben an. Zwei schweigende Wesen verlassen gerade den U-Bahnhof, eine Handvoll Autos pirschen über die Straßen und von irgendwoher höre ich schlierigen Husten aus der Tiefe einer sich zersetzenden Lunge.

Ich glaube, dass der Kiosk geöffnet hat, aber mehr will mir dazu nicht einfallen. Er ist Gegenstand meiner Erinnerung, nur nicht detailliert genug oder in Worte zu fassen. Ich denke, ich habe ihn bereits zwei- oder dreimal mitten in der Nacht aufgesucht und jedes Mal war er geöffnet. Nicht Qualität oder Kundenfreundlichkeit sind seine Stärken, sondern Zuverlässigkeit. Das ist es, sagt mir eine undefinierte Erinnerung … dieser Kiosk hat mich noch nie im Stich gelassen.