Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte - Alexander Gallus - E-Book

Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte E-Book

Alexander Gallus

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Beschreibung

Die "vertrackte Revolution" von 1918/19 beflügelte Hoffnungen und Visionen, mündete aber bald in Ernüchterung und Klagen. Während unter Linksintellektuellen ein ausgeprägter Wunsch nach stärkerer Demokratisierung herrschte, missbilligten die antiliberalen Vertreter einer intellektuellen Rechten die Republik grundsätzlich. Ihr Revolutionsenthusiasmus dagegen ging in eine "konservative" oder "nationale" Richtung. Solche Interpretationsversuche verschwisterten sich auch mit Verschwörungstheorien wie die der Dolchstoßthese und trugen dazu bei, die erste deutsche Demokratie zu delegitimieren. Historische Deutungskämpfe und intellektuelle Wunschbilder, die 1918 aufkamen und sich rasch verselbständigten, überdauerten die Zäsuren. Sie schimmerten in der Restaurationskritik der frühen Bundesrepublik ebenso durch wie in der "Weltbühnen"-Sehnsucht früherer Autoren der legendären Zeitschrift. So waren hartnäckige Nonkonformisten von links ebenso wie frühere Vertreter der "konservativen Revolution" nach dem Nationalsozialismus herausgefordert, ihre Demokratietauglichkeit unter Beweis zu stellen. Alexander Gallus eröffnet Einblicke in die Geschichte der Intellektuellen in Deutschland während des wendungsreichen 20. Jahrhunderts und erörtert, wie modellierbar Staats- und Demokratieverständnis gewesen sind und auf welche Weise Gesellschaftskritiker ihren Standort und ihre Rolle in unruhigen Zeiten zu behaupten suchen.

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Alexander Gallus, Jahrgang 1972, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin und Oxford. Nach seiner Zeit als Juniorprofessor für Zeitgeschichte – Geschichte des politischen Denkens an der Universität Rostock folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz. Dort leitet er auch den Forschungsbereich zur Intellectual History des 20. und 21. Jahrhunderts. Zu seinen Publikationen zählen u. a.: „Heimat ‚Weltbühne‘. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert“, Göttingen 2012; „Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990“, 2. Aufl., Düsseldorf 2006; (als Hrsg. mit S. Liebold und F. Schale) „Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik“, Göttingen 2020; (als Hrsg. mit A. Schildt) „Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930“, Göttingen 2011; (als Hrsg. mit P. Burschel und M. Völkel) „Intellektuelle im Exil“, Göttingen 2011; (als Hrsg.) Die vergessene Revolution von 1918/19“, Göttingen 2010.

Alexander Gallus

Revolutionäre Aufbrücheund intellektuelle Sehnsüchte

Zwischen Weimarer Republikund Bundesrepublik

In Erinnerung anAxel Schildt (1951–2019)

E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Coverfoto: Carl von Ossietzky Archiv,

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-578-8

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-122-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung

Revolution! Revolution?

1.Systemwechsel und Subjektivierung

Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 als politische Transformations- und Erfahrungsgeschichte

2.Zum historischen Ort der deutschen Revolution von 1918/19

Ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte?

Rechte Mythen und Verschwörungstheorien

3.Geschichtsmär als Integrationsideologie

Die Erfindung und Wirkung der Dolchstoßthese

4.Zwischen Autorität und Aberwitz

Ludendorffs Verschwörungswelten

Linke Erneuerungsversuche und die „Weltbühne“ als Sehnsuchtsort

5.Geistige Herberge und Fluchtpunkt für kritische Intellektuelle

Weimars berühmteste Zeitschrift „Die Weltbühne“

6.„Es ist ein Verhängnis: uns fehlt die Arena, die Tribüne, das Sprachrohr“

Veteranen der Weimarer „Weltbühne“ und ihre Neupositionierung in der politischen Öffentlichkeit nach 1945

7.Heimatlos links, heimatlos rechts

Intellektuelle Transformationen im Exil am Beispiel William S. Schlamms

Liberale und konservative Ideentransfers

8.Kapitalismus, Demokratie und „totaler Staat“

John Maynard Keynes und das deutsche Experimentierfeld der Zwischenkriegszeit

9.Von der „Konservativen Revolution“ zur westdeutschen Demokratie

Rudolf Pechels „Deutsche Rundschau“ und die Wandlungen des Konservatismus

10.Traditionstransfer an den offenen Grenzen des Geistes

T. S. Eliots ‚kulturelle‘ Remedur in der deutschen politisch-intellektuellen Diskussion nach 1945

Ermattender Revolutionswunsch und Abschied von Weimar

11.Betrachtungen über die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Drucknachweise

Personenregister

Einleitung

Am Anfang steht die Revolution, die Revolution von 1918/19. Sie markiert das Ende der Monarchie und den Beginn der Demokratie in Deutschland. Für einen Intellektuellen wie Carl von Ossietzky war sie der hoffnungsfrohe Ausgangspunkt auf dem Weg in eine neue Zeit, die es aktiv zu gestalten galt. Der große Religionssoziologe Ernst Troeltsch sprach in geradezu poetischer Weise von einem „Traumland der Waffenstillstandsperiode“, das weit mehr als die wieder aufzuräumende Trümmerlandschaft einer zerstörten Vergangenheit sein sollte und den Blick nach vorne eröffnete. Es ließe sich sogar behaupten, dass ab dem Herbst 1918 ein Überschuss an Zukunftserwartungen herrschte, mit ganz unterschiedlichen Hoffnungen und Visionen für eine bessere, neu zu formende Welt. Was konnte fundamentale Umgestaltung anderes bedeuten als Revolution? Carl von Ossietzky jedenfalls hat sie sich im März 1919 – wie auf dem Umschlagfoto dieses Bandes zu sehen – in großen Lettern als ein Statement in den Schoß gelegt, eine Revolution mit Ausrufungszeichen. Dabei hatten Ossietzky und seine intellektuellen Mitstreiter im Frühjahr 1919 bereits so große Zweifel an Reichweite und Erfolg der stattgehabten Revolution, dass wohl eher ein Fragezeichen hätte gesetzt werden müssen: Revolution! Revolution?

So mag man dieses Foto aus den Tagen der jungen Weimarer Republik als Allegorie für einen enttäuschten revolutionären Aufbruch nehmen, zugleich aber auch für den anhaltenden Drang gerade der Geistesarbeiter, sich nicht mit einem in die Sackgasse geratenen Wandlungsprozess abzufinden, sondern den Revolutionswunsch wachzuhalten. Wer eine weniger emblematische Interpretation bevorzugt, wird auf dem Bild zunächst den Lektor des frisch gegründeten Hamburger „Pfadweiser“-Verlags erkennen, der eine Ausgabe der Wochenschrift Revolution! präsentiert. Dieses Blättchen erschien dabei nicht einmal in seinem Verlagshaus, sondern wurde lediglich über den Zeitschriftenverleih des „Pfadweiser-Zirkels“ vertrieben, der auch Ret Maruts (B. Traven) Der Ziegelbrenner im Portfolio führte. Mithin Zeitschriften, die sich anarchistischem Gedankengut verschrieben hatten, gegen Parlamentarismus und Reformismus, ja gegen alle „Erwürger der Revolution“ publizistisch stritten, wie in der Ausgabe der Revolution! vom 15. März 1919 zu lesen war.

Eine scharfe richtungspolitische Entscheidung, die den Anarchismus zum Programm erhob, vermied der Verlag allerdings, der insbesondere – das kam auch in Ossietzkys Engagement zum Ausdruck – monistische und pazifistische Anliegen förderte. In erster Linie und ganz grundsätzlich verstand er sich jedoch als „Pfadweiser zur Bildung und Weltanschauung“ und wollte in den stürmischen Umbruchszeiten an der Entwicklung von „Richtlinien“ mitwirken, „um aus dem ethischen und politischen Chaos der Gegenwart herauszufinden“.1 Während seiner kurzen Tätigkeit bei „Pfadweiser“ publizierte Ossietzky 1919 die Schrift Der Anmarsch der neuen Reformation. Darin übte er Kritik an der Novemberrevolution, weil sie nicht gründlich genug mit der Vergangenheit gebrochen habe. Für den notwendigen politischen, wirtschaftlichen und geistig-ethischen Neuaufbau des Landes fehlten Ossietzky zufolge ein „führender Wille“ und eine „zentrale Idee“. Als umso wichtiger erachtete er künftig, gleichsam eine revolutionäre Daueraufgabe an die Intellektuellen adressierend, die „Durchsetzung der Köpfe mit neuem Geist“, auch um so etwas wie eine demokratische politische Kultur zu formen.2

Schon an dieser Episode lässt sich erkennen, wie nahe beieinander damals die Gefühlswelten von Euphorie und Enttäuschung lagen. Im Ganzen betrachtet sorgte der revolutionäre Gründungsakt während der Weimarer Republik eher für Misstöne, statt Harmonien zu erzeugen. Das kam auch in einem von intellektuellen Eliten beeinflussten Meinungsklima zum Ausdruck. Falsch wäre indes die Behauptung, die Intellektuellen hätten sich vornehm zurückgehalten und der Politik aus einem elitär-kulturellen Dünkel heraus den Rücken gekehrt. Hier und da mag eine solche Einschätzung zutreffen, doch sollten vielfältige Initiativen nicht übersehen werden, mit denen Intellektuelle in den ersten Revolutionsmonaten aktiv an der Umgestaltung des politisch-gesellschaftlichen Systems mitwirken wollten. An vorderster Stelle sind die „Räte geistiger Arbeiter“ zu nennen, die sich die Revolution mit intellektueller Verve anzueignen suchten. Heinrich Mann, der einen solchen Rat in München anführte, schrieb Mitte Januar 1919 hoffnungsfroh: „Die geistige Erneuerung Deutschlands, unsere natürliche Aufgabe, wird uns durch die Revolution erleichtert. Wir gehen endlich mit dem Staate Hand in Hand.“3 Zu erwähnen ist ebenso Kurt Eisner, der frühzeitig voller Enthusiasmus die geschundene Bevölkerung für politische Partizipation begeistern wollte, oder das Experiment der Münchner Literatenrepublik. Hier zeigte sich ein kraftvolles Moment ästhetischer, intellektueller und partizipatorischer Mobilisierung, die letztlich aber ins Leere lief und weniger Energien freisetzte, als sich die Akteure erhofft hatten.

Schnell machte sich Ernüchterung breit und wurden Klagen über eine festgefahrene, halbherzige, gescheiterte Revolution laut. Dieser Stimmungsumschwung war bereits während des Jahres 1919 zu spüren, kam in Ossietzkys Kritik zum Ausdruck und dann regelmäßig in der bald eng mit seinem Namen verbundenen Weltbühne, der bedeutendsten Zeitschrift einer parteiungebundenen intellektuellen Linken jener Jahre. Die Revolution von 1918/19 erschien nach ihrer Lesart als ein unbefriedigender und unvollständiger Umbruch, der nur einen Wandel der politischen Fassade bewirkte, die Fundamente der alten autokratischen Ordnung – seien es die alten Eliten in Justiz, Militär oder Verwaltung, seien es die Sozial- und Wirtschaftsstrukturen – hingegen weitgehend unangetastet ließ. Vor diesem Hintergrund galt es, die „wirkliche“ Revolution in Gang zu setzen und eine „wahre“ Demokratie erst noch zu schaffen, die der „formal“ erscheinenden Institutionen- und Verfassungsordnung Leben einhauchen sollte.

Während die Kritik von links im Namen einer besseren Demokratie und vollständigeren Revolution erfolgte, lehnten Vertreter einer intellektuellen Rechten als bekennende Antidemokraten die Novemberrevolution vollständig ab. Paradoxerweise verurteilten sie eine Revolution nicht per se, nur sollte sie eine konservative sein und einen „deutschen Sozialismus“ formen, von dem Oswald Spengler schwärmte. Links wie rechts zeigte sich eine höchst vitale Revolutionssehnsucht. Dies erschwerte es der Novemberrevolution, die immerhin den Systemwechsel von der Monarchie zur Demokratie bewerkstelligt hatte, einen revolutionären Alleinvertretungsanspruch im Kampf der Ideologien zu behaupten.

Gänzlich überschrieben werden sollte die Revolution von 1918/19 durch die „nationale Revolution“ von 1933, die sich als Antithese zu einem „vaterlandslosen“, „landesverräterischen“ Akt der „Novemberverbrecher“ stilisierte. Vorbereitet hatte diese Sichtweise seit Kriegsende die These vom „Dolchstoß“, den politisch subversive Kräfte dem im Feld – angeblich – unbesiegten Heer hinterrücks versetzt hätten. Diese Geschichtslegende vergiftete neben so manchem Verschwörungsmythos, wie ihn etwa Erich Ludendorff voller Aberwitz, aber mit der Autorität des alten Feldherrn bediente, von Beginn der Weimarer Demokratie an das politische Klima und schwächte so die Abwehrkräfte der Republik.

Anfang November 1928 schrieb ein halb zorniger, halb resignierter Ossietzky in der Weltbühne, „Deutschland ist […] das einzige Land, das ohne Erhebung an seine Revolution zurückdenkt“. Und noch mehr: „Im Grunde weiß man durchschnittlich von ihr nicht mehr, als daß sie unsern gloriosen Heerführern freventlich in den zum letzten Schlag erhobenen Arm gefallen ist.“ Folgt man Ossietzkys Interpretation, entwickelte sich die Dolchstoßthese mit den Jahren zu einem mächtigeren Erinnerungsort als die Novemberrevolution, obgleich Letztere doch trotz aller Mängel „lange veraltete Einrichtungen beseitigt“ und „viel Schutt und Moder fortgefegt“ habe. Ossietzky sprach in seiner bitteren Bilanz von einer „verspielten Revolution“, die schwerer wiege als ein verlorener Krieg, ja die „Niederlage eines Jahrhunderts“ sei.4

In Ossietzkys Urteil kommt der Novemberrevolution als einem konfliktträchtigen Orientierungspunkt für politisch-gesellschaftliche Normvorstellungen eine Schlüsselrolle in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu. Dieser Band setzt daher mit einer Bilanz der Novemberrevolution ein, die zunächst dem Verlauf und den Schritten des politischen Systemwechsels von der Monarchie zur Demokratie große Aufmerksamkeit schenkt, um ihn sodann mit der zeitgenössischen Wahrnehmung und Würdigung des Umbruchs zu konfrontieren. Erfahrungen und Erwartungen von Träumern und Gestaltern, Pragmatikern und Fanatikern, von – frei nach Erich Mühsam5 – Revoluzzern und manchmal auch nur Lampenputzern kommen zur Sprache. Hieran lässt sich bereits erkennen, eine wie kontroverse, je nach Interpretationsrichtung unterschiedliche Identität stiftende Deutungsgeschichte der Revolution sich anschließen sollte, die gerade rund um das Hundertjahresjubiläum 2018/19 wieder aufgeflammt ist und in zwei einander gegenüberstehenden historischen Webmustern zum Ausdruck gelangt: einem demokratiegeschichtlichen Paradigma hier, einem gewalt- und diktaturgeschichtlichen dort.

Wäre die Revolution eine geglückte und geliebte gewesen statt eine vertrackte und verschmähte, hätte sie nicht so viel Potenzial für widerstreitende Auffassungen bereitgehalten und womöglich alljährlich in routinierten Festveranstaltungen nur begrenzt Leidenschaften entfacht. Gerade weil sie umstritten blieb und sich gegen eindeutige historisch-politische Narrative sträubte, bot sie Anlass für geschichtspolitische Auseinandersetzungen, an denen sich intellektuelle Sehnsüchte und Deutungskämpfe entzündeten. Davon ist auch in der frühen Bundesrepublik noch einiges zu spüren: Auf der einen Seite diente die Novemberrevolution nicht der Traditionsstiftung, jedenfalls nicht im Sinne eines hell strahlenden Erinnerungsortes. Sie war überwiegend Teil der Fixierung auf Weimar als Negativfolie, von der es sich abzugrenzen galt. Bonn ist nicht Weimar lautete Fritz René Allemanns Buchtitel von 1956, der schnell zu einem Motto der jungen Bundesrepublik avancierte. Auf der anderen Seite stand eine Phalanx intellektueller Kritiker, die zumal während der Ära Adenauer ihre Restaurationskritik mit Revolutionssehnsucht verbanden. Daran zeigte sich, wie sehr die Bonner Intellektuellenszene in den frühen Nachkriegsjahrzehnten an Weimarer Traditionen anknüpfte und den Nonkonformismus gegenüber neu formulierten Zwängen zur Parteinahme während des Kalten Krieges verteidigte, um eine wahrhaft demokratische Lebensform mit intellektuellem Aufbruch zu verbinden.6

Um die Weimar-Bonn-Dramaturgie einzufangen, sind die meisten Beiträge in dieser Zusammenstellung zäsurübergreifend angelegt. Sie untersuchen, an konkreten intellektuellen Akteuren orientiert, den Zusammenhang von Lebens- und Zeitenwenden, von Erfahrungs- und Intellektuellengeschichte. Die daraus sich ergebenden Dynamiken und Transformationen stehen im Mittelpunkt einer kontextorientierten Intellectual History, die Ideen- und Zeitgeschichte miteinander kombiniert. Außerdem geraten verschiedene politische Spektren von links bis rechts in den Blick. Erneut sind es aber nicht festgefügte Lagerzugehörigkeiten, die besonders interessieren, sondern in Bewegung befindliche Areale des Übergangs und Umbaus sowie Reaktionsund Anpassungsleistungen von Intellektuellen gegenüber gewandelten Zeitläuften. Diese konnten Prozesse einer Radikalisierung verstärken, wie sie anhand der Dolchstoßthese und rechtsradikalen Verschwörungsmythen nach 1918 deutlich werden, aber auch deradikalisierende Tendenzen, wie sie am Beispiel von einstigen Protagonisten der Weimarer Weltbühne wie Axel Eggebrecht und Kurt Hiller ungeachtet mancher Ambivalenz ablesbar sind. Gerade Hiller liebte den Streit und teilte gern hart gegen intellektuelle Widersacher aus. Schon 1924 hatte ihn Carl von Ossietzky als jemanden charakterisiert, der einen „tintentriefenden Tomahawk“ schwinge.7 In der Bundesrepublik schleuderte Hiller diesen bisweilen umso heftiger, weil er darunter litt, dass der bundesdeutsche Medien- und Verlagsmarkt mit ihm, ungeachtet seines geistigen Heroen-Nimbus aus Weimars Tagen, nur noch wenig anzufangen wusste.

So unterschiedlich ihre Karriere- und Lebenswege verliefen, blieb doch die Weltbühne ein zentraler Sehnsuchtsort für heimatlose Intellektuelle wie Eggebrecht und Hiller. Auch auf William Schlamm traf dies zu. Seine Biografie war die eines hartnäckigen Nonkonformisten, der sich vom Kommunisten und Linksintellektuellen während der 1920er und 1930er Jahre zu einem Konservativen entwickelte, der seit den 1940er Jahren mit provokativen Positionen auf sich aufmerksam machte. In letztgenanntem Spektrum bezog er allerdings eine Außenseiterstellung, die Revolution weiterhin für ein geeignetes, vielleicht sogar notwendiges Mittel der Politik zu halten. In Umkehrung der Verhältnisse, wie sie sich in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg präsentierten, so argumentierte Schlamm, müsste die Revolution nun von rechts ausgehen angesichts einer Drift der politischen Verhältnisse, wie er sie spätestens nach „1968“ in polarisierten und zunehmend von der Linken dominierten Zeiten beobachtete.

Als wendungs- und anpassungsfähiger als die Erben der Weltbühne erwies sich im rechten Spektrum der Herausgeber der Deutschen Rundschau Rudolf Pechel. Er schloss schnell seinen Frieden mit der westdeutschen Demokratie und ließ nur noch wenig aus den konservativ-revolutionären Ideenwelten der Weimarer Tage durchschimmern. Insgesamt sollte er sich von nationalistischen und demokratieskeptischen Positionen verabschieden und zur Erneuerung eines liberalisierten Konservatismus beitragen, der sich gut in das Umfeld eines Antikommunismus während des frühen Kalten Krieges fügte. Indirekt lässt sich an Pechels Lern- und Umorientierungsleistung, die über eine instrumentelle Aneignung westlich-pluralistischer Leitmotive hinausging, der Erfolg eines Konsensliberalismus ablesen. Diesem sollte es nach 1945 gelingen, auch in konservative und sozialdemokratische Milieus einzudringen, dort einen pragmatischen Grundton zu etablieren und den Revolutionsblues in den Hintergrund zu drängen.

Nicht selten kamen die Angebote, Tradition zu bewahren und sich in den Basistrend einer Modernisierung und Liberalisierung nach 1945 einzufügen, von außen. Dies zeigte sich exemplarisch daran, wie nachhaltig der amerikanisch-englische Schriftsteller T. S. Eliot nicht nur als Lyriker, sondern auch und insbesondere als Intellektueller im deutschen politischen Feuilleton der Nachkriegszeit reüssierte. Mit ihm schien der Aufbruch zu neuen Ufern bei Bewahrung alter Werte möglich. Schon Thomas Mann hatte Eliot deshalb treffsicher als einen „erinnerungsvollen und immerfort aus der Kultur citierenden Revolutionär von konservativ traditionalistischer Haltung“ bezeichnet.8 Das Revolutionäre, je nach Würdigung als Odeur oder Odium, umwehte auch die Ideen von John Maynard Keynes. Während der Zwischenkriegszeit entfaltete der britische Ökonom und Zeitdiagnostiker eine große Ausstrahlungskraft auch und gerade in Deutschland. Insbesondere im bürgerlich-liberalen und gemäßigt-sozialdemokratischen Spektrum sorgten die mit seinem Namen verbundenen Ideentransfers dafür, abseits marxistischer Modelle einen sozialverträglichen Kapitalismus mit politischem Liberalismus in Einklang zu bringen.

Wie wenig es dabei aber um allzu lineare Adaptionsprozesse und Heldengeschichten einer Liberalisierung geht, lässt sich auch für Keynes an einem widerspruchsvollen Zusammenhang studieren: In seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe der General Theory von 1936 demonstrierte er die Vorteile einer stärker kontrollierten Wirtschaft in einer Diktatur für die Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Richtlinien, ohne damit seine liberal-individualistischen Grundüberzeugungen in Frage stellen zu wollen. Diese Episode verleiht einem Spannungsreichtum Ausdruck, wie er im Wechselverhältnis zwischen liberalen und demokratischen Vorstellungen in der Zwischenkriegszeit bestand. Eine gleichsam ahistorische Theoriegeschichte lässt sich selbst für den Autor einer General Theory kaum schreiben. Auch sie ist, wie die Geschichte des Liberalismus während der Weimarer Republik überhaupt, im „Modus eines konstellationsabhängigen Denkens“ zu ergründen.9

Eine Intellectual History, die diesen Namen verdient, sieht sich zudem herausgefordert, die Eisenspäne des politischen Denkens nicht den Gesetzen eines Magnetismus folgend auf das Ergebnis der jeweils nächsten großen Zäsur auszurichten, sondern in ihrer Zeitgebundenheit – ohne Umkehrung der Chronologie – nachzuvollziehen. Gleichwohl bleiben Fragen nach dem Anteil der Intellektuellen am Scheitern der Weimarer Republik wie später am Erfolg der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik legitim und wichtig. Nur dürfen die Antworten nicht im Sinne telelogisch ausgerichteter Niedergangs- oder Ankunftsgeschichten erfolgen.

Dies gilt es im Hinterkopf zu behalten, wenn man die Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik als die Geschichte eines ermattenden Revolutionswunsches schreibt, als eine Art schleichenden Prozess, in dem Erfahrung über Utopie obsiegte, ohne dieses Widerspiel überhaupt stets als Kampf wahrzunehmen. Der Band schließt mit diesem merkwürdigen Vorgang, der nochmals einen Bogen schlägt von Ideenformationen der Weimarer Republik hin zu Ideentransformationen einer Bundesrepublik, die Kritik an Staat und Demokratie ausdrücklich zuließ und so mehr Affirmation bewirkte als so manchem Gesellschaftskritiker recht war. In solchen Momenten des Selbstzweifels und der Entrüstung rief der eine oder andere unter ihnen eine Reminiszenz an die risikobehaftete Intellektuellenexistenz zu Weimars Zeiten wach. Es blitzten dann mindestens habituelle Beharrungskräfte, nämlich eine kämpferische und anspornende Außenseiterrolle einnehmen zu wollen, kurzzeitig auf. In diesen Augenblicken, so verklärend sie in der Rückschau sein mochten und den Zustand einer politischen Heimatlosigkeit geradezu heroisierten, rückten revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte nochmals nahe zusammen.

Die in diesem Band versammelten Aufsätze erschienen erstmals in meist etwas kürzerer Form zwischen 2009 und 2021. Für dieses Buch wurden sie durchgesehen, korrigiert, teilweise ergänzt, modifiziert und behutsam aufeinander abgestimmt. Zudem wurden die ursprünglich ohne Anmerkungen publizierten Essays mit Verweisen versehen. Die Texte können keine vollständige oder auch nur repräsentative Zusammenschau zur Geschichte der Intellektuellen in Deutschland während des wendungsreichen 20. Jahrhunderts bieten. Es sind Probebohrungen im Übergangsbereich von Geschichts- und Politikwissenschaft auf einem gleichermaßen zeit- wie ideenhistorischen Feld, dessen Erschließung ein möglichst breites Spektrum von intellektuellen Akteuren und Herausforderungen zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik erkennbar werden lassen soll. Kontinuität und Wandel des politischen Denkens, insbesondere des Staats- und Demokratieverständnisses, interessieren dabei ebenso wie Fragen nach dem Status und Rollenverständnis von Gesellschaftskritikern in unruhigen Zeiten. Für die Idee und Anregung zu diesem Buch danke ich ganz herzlich meinem Freund und Kollegen Jens Hacke sowie Axel und Irmela Rütters von der Europäischen Verlagsanstalt. Christoph Claussen danke ich schließlich für seine kritische Lektüre und kundige Korrektur der Texte.

Axel Schildt war mir in allen zeit- und intellektuellengeschichtlichen Fragen ein wichtiger Mentor, darüber hinaus ein wunderbarer Freund. Der Erinnerung an ihn möchte ich diesen Band widmen.

Revolution! Revolution?

1.

Systemwechsel und Subjektivierung

Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 als politische Transformations- und Erfahrungsgeschichte

I. Einleitung

Wenn Historiker streiten, gilt nicht selten ein abgewandeltes Clausewitz-Wort: nämlich dass Geschichte dann als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln erscheint. Auch und gerade die deutsche Revolution von 1918/19 war ein herausgehobenes Streitthema einer zankenden Historikerzunft während des Kalten Krieges. Es kam dabei zur Vermengung von geschichtswissenschaftlichen mit geschichtspolitischen, häufig den Geist der Zeit atmenden Argumenten. Von den einst heftig ausgefochtenen Debatten über ein Entweder-oder zwischen freiheitlicher Demokratie und Bolschewismus, über verpasste Chancen und nicht ausgeschöpfte Handlungsoptionen, über Dritte Wege und ein höheres Maß an Demokratisierung ist allerdings schon seit geraumer Zeit kaum noch etwas zu spüren. Der Forschungsstand präsentierte sich ab den 1980er Jahren als festgefahren, die ausgebliebene öffentliche Würdigung bot einigen Anlass, von einer „vergessenen Revolution“ zu sprechen.1 Überhaupt hält die 1918er-Revolution gelegentlich als Beleg dafür her, dass den Deutschen Revolutionen grundsätzlich nicht liegen und sie ihnen stets misslingen würden. Fünfzig Jahre nach der Novemberrevolution diagnostizierte Joachim C. Fest im Spiegel ein entsprechendes „Unvermögen“ der Deutschen, das am Beispiel des Umbruchs von 1918/19 besonders deutlich zum Ausdruck gekommen sei. Am Ende „proklamierte die Weimarer Verfassung eine Revolution“, urteilte Fest vernichtend, „die niemals stattgefunden hatte“.2

In jüngerer Zeit deutet sich indes ein Abschied von der erinnerungskulturellen wie historiografischen Revolutionslethargie an. Das Hundertjahres-Jubiläum 2018/19 trug dazu ebenso bei wie ein wieder gewachsenes Interesse an Krisen-, Umbruchs- und Revolutionsphasen in einer Zeit neuer Unsicherheiten.3 Hinzu kommt seit einigen Jahren ein zunehmend ergebnisoffener Blick auf die Weimarer Republik, der es ermöglicht, Interpretationen zur Novemberrevolution von normativen und quasi-teleologischen Einfärbungen zu befreien. Dies korrespondiert mit einer Sichtweise auf die gesamte Zwischenkriegszeit als Periode, die sich mithilfe der räumlichen Metapher eines „Laboratoriums“ für die Erprobung politischgesellschaftlicher Ordnungsmodelle gut einfassen lässt. Schon Tomáš Masaryk kam das Europa nach 1918 wie ein „auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“ vor.4 Ein krisengeschüttelter Liberalismus forderte ebenso wie erodierende monarchische Legitimationsmuster zum Experimentieren mit neuen Varianten politischer Repräsentation heraus, zumal vor dem Hintergrund des Spannungsfelds von Imperium und Nation am Ende des Ersten Weltkriegs.5 Dies beförderte nicht zuletzt gewaltgestützte Dynamiken von Revolution und Gegenrevolution. Fast kurios mutet dabei an, dass nicht nur die Anhänger des Kommunismus einerseits und die Verfechter westlicher Zivilisation wie Demokratie andererseits transnationale Ansprüche hegten und grenzüberschreitende Netzwerke pflegten, sondern auch radikal-nationalistische Paramilitärs.6

Ich deute diese Perspektiven nur an, um mich doch auf die Vorgänge im Herzen des Deutschen Reiches zu konzentrieren. Wie vollzog sich dort der Wandel im Einzelnen? Welche Schritte der Transition lassen sich nachvollziehen, wie sind ereignisgeschichtliche Abläufe behutsam (ohne Übernahme des berühmt-berüchtigten Politologenjargons) mit strukturellen Überlegungen zu Ursachen und Verlaufsformen des politischen Systemwechsels zu verbinden.7 Dieser Zugang ist gleichsam als Ergänzung oder auch Begrenzung des umstrittenen, regelmäßig politisch aufgeladenen Begriffs der Revolution zu verstehen. Er konzentriert sich auf Transformationen zwischen verschiedenen Staatsformen, erörtert insbesondere die Ursachen für das Ende des alten Regimes, die Übergänge zum neuen und dessen Konsolidierung.8Eine so zugeschnittene Analyse trägt zur Systematisierung, Entnormativierung und Versachlichung bei und verabschiedet sich von einem maximalistischen Revolutionsbegriff. Ein solcher nämlich beansprucht einen weit über die staatliche und politische Ordnung hinausgehenden, fast „totalen“ Geltungsanspruch, der Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur umschließt und häufig mit dem Ziel eines utopisch anmutenden Endzustands verkoppelt ist.9 Neben dem Systemwechsel-Zugang will ich einen weiteren Weg zur Wiederbelebung der Revolution im Zeichen der Erfahrungsgeschichte, die den subjektiven Wahrnehmungswelten der Zeitgenossen zu ihrem Recht verhilft, aufzeigen und hier und da beispielhaft in die Darstellung einbinden. Wie im Falle des Systemwechsels ist dies kein gänzlich neuer Weg, aber seine Erkundung verdient eine Intensivierung, gerade weil durch eine konsequente Historisierung – so paradox es zunächst klingen mag – eine Aktualisierung gelingen kann, ohne bloß gegenwärtige Problemkonstellationen in die Geschichte zurückzuprojizieren.10 Die zwei Grundgedanken des Beitrags lassen sich also mit den beiden Schlagworten „Systemwechsel“ und „Subjektivierung“ knapp einfangen.

II. Ursachen und Verlauf des langen Novembers der Revolution11

Auch wenn der Chefredakteur des liberalen Berliner Tageblatts Theodor Wolff am 10. November 1918 euphorisiert von der „größten aller Revolutionen“ sprach und diese mit einem plötzlichen „Sturmwind“ verglich, so greift diese Sicht eines spontanen Umbruchs als Produkt der Kriegsniederlage doch zu kurz.12 Vielmehr reifte die Umwälzung schon „lange im Schoße der wilhelminischen Gesellschaft“ heran, wie es Volker Ullrich einmal formulierte, und blieb ihr verhaftet.13

Ein schleichender Legitimitätsverfall der monarchischen Ordnung zeigte sich an verschiedenen Symptomen, so an der Verlagerung der Entscheidungsgewalt vom Monarchen auf die Militärspitze im Verlauf des Weltkriegs und in Form einer Systemkrise angesichts der gesteigerten Kriegsmüdigkeit, der Hungerrevolten und Massenproteste im Januar 1918. Arthur Rosenberg erkannte darin bereits eine Generalprobe für die Novemberrevolution.14 Ungeachtet solcher Vorboten wirkte das Eingeständnis der Niederlage durch die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 wie ein Schock auf Öffentlichkeit und Politik. Schließlich hatte nicht zuletzt der Friedensschluss von Brest-Litowsk mit Sowjetrussland im Frühjahr 1918 nochmals Hoffnungen auf einen deutschen Sieg genährt.

Eine erste, von „oben“ gelenkte Transformationsphase begann im Spätsommer 1918, als die Oberste Heeresleitung einen Waffenstillstand gemäß den „Vierzehn Punkten“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson forderte, wie dieser sie im Januar 1918 formuliert hatte.15 Die Entente-Mächte waren zu diesem Zeitpunkt allerdings zu einem solchen Entgegenkommen nicht mehr bereit und boten einen Waffenstillstand an, der einer umfassenden Kapitulation gleichkommen sollte. Außerdem wollten sie nicht länger mit Vertretern des deutschen Militärs verhandeln, verlangten vielmehr die Schaffung einer demokratisch legitimierten Regierung. Insofern wirkte Wilsons Notenoffensive auf die Parlamentarisierung des Reiches ein, ohne dass diese Initiative sogleich zu einer „Revolution von außen“ zu stilisieren ist. Weitere Aspekte sind in Betracht zu ziehen.

So befürwortete erstens die militärische Führung des Reiches, wenn auch nicht ohne den Hintergedanken der bald ins Leben gerufenen „Dolchstoßthese“16, eine Verfassungsrevision in Richtung Parlamentarismus; zweitens plädierten insbesondere die Mehrheitsfraktionen im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstags – Sozialdemokraten, die liberale Fortschrittliche Volkspartei und das katholische Zentrum – für eine solche Entwicklung, auch um das „Chaos“ einer revolutionären Massenbewegung von unten zu verhindern. Die neu gebildete Regierung unter Reichskanzler Prinz Max von Baden, der auch Vertreter der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Liberalen angehörten, brachte vor dem Hintergrund des durch den Notenwechsel Wilsons ständig gesteigerten Drucks die Verfassungsreform auf den Weg.17 Am 28. Oktober traten die sogenannten Oktoberreformen in Kraft, die den Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie markierten.

Wenngleich die Novemberrevolution im Lichte der Oktoberreformen in verfassungsformaler Hinsicht gleichsam als überflüssig erscheint, so war sie dies politisch keinesfalls. Dem Staatsformen-Wechsel vom Oktober fehlte in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Zeitgenossen der Zäsurcharakter – und im juristischen Sinne war dies auch noch keine Revolution, weil sich der Wandel bis hierhin legal im Rahmen der Bismarck’schen Reichsverfassung vollzogen hatte. Vor allem aber war angesichts der materiellen Nöte, einer grassierenden Grippe-Epidemie18 und der Verarbeitung der Niederlage wenig Raum für eine theoretisch anmutende Diskussion über politische Ordnungsvorstellungen. Die öffentliche Stimmung war nicht dazu angetan, sich mit einer papiernen Verfassungsreform zufrieden zu geben. Ihr fehlte der Eros des Auf- und Durchbruchs. Oder anders ausgedrückt: Diesem Anfang wohnte noch kein Zauber inne. Auch deshalb mag man hinter Arthur Rosenbergs These von der „wunderlichsten aller Revolutionen“, bei der die Massen – im Angesicht der Oktoberreformen – wenig später „eigentlich gegen sich selbst“ rebelliert hätten, ein Fragezeichen setzen.19

Die ebenfalls Ende Oktober einsetzende „Revolution von unten“ drängte auf die Abdankung des Kaisers als stärkstes Symbol für das Ende der alten Ordnung. So diffus die „Programmatik“ der neu ins Leben gerufenen Arbeiter- und Soldatenräte, die in jener Zeit übrigens in ihrer Mehrheit überaus friedfertig, diszipliniert und in engem Verbund mit der Sozialdemokratie agierten, auch war, so zielten sie doch auf die dauerhafte Überwindung des Ancien Régimes. Die Bildung von „Räten“ war der äußeren Form nach durch die Revolution in Russland motiviert. Diese Nachahmung war in den meisten Fällen jedoch lediglich ein von spontaner Euphorie getragener Wunsch, der keineswegs auf die Übernahme des Bolschewismus zielte.20 Räte zu gründen schien einer allgemeinen Mode zu entsprechen. Mit spöttischem Unterton notierte der Heidelberger Mediävist Karl Hampe am 14. November 1918 in seinem Tagebuch: „Man überbietet sich allenthalben in Gründungen von allen möglichen Räten: Bauernräte, Bürgerräte, geistige Räte, Kunsträte, Theaterräte. Die deutsche Vereinsmeierei ist in die Arme der Revolution geflüchtet!“21

Der Vorwurf, „russische Verhältnisse“ schaffen zu wollen, stand gleichwohl im Raum. Auch deshalb hob beispielsweise der Vorsitzende des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates Heinrich Laufenberg mehrfach hervor, wie sehr sich die deutsche von der russischen Situation unterschied. Er verband ein vages Rätewollen – dabei selbst in klarer Distanzierung zur Mehrheitssozialdemokratie – ausdrücklich mit der Ablehnung der „politischen Methode der Bolschewisten“, die in seinen Augen bisweilen terroristische Züge annehmen konnte. Solche „extremste Gruppen“, von denen er sprach und wie sie sich zum Teil innerhalb der deutschen sozialistischen Arbeiterschaft fanden, suchte er auf Distanz zu halten.22

Begonnen hatte die Aufstandsbewegung in den ersten Novembertagen als Militärstreik und Matrosenrevolte in Wilhelmshaven, dann bald verstärkt und durchdringend in Kiel. Harry Graf Kessler notierte am 7. November über die „Physiognomie der Revolution“ in seinem Tagebuch: „allmähliche Inbesitznahme, Ölfleck, durch die meuternden Matrosen von der Küste aus“.23 Das Bild, das diese oder eine ähnliche Metaphernsprache zeichnet, trifft es ganz gut. Und doch verweist es auf eine Frage, die von der Forschung weiter zu bearbeiten ist, nämlich wie sich von einem lokalen Aufstand ausgehend innerhalb kurzer Zeit eine weit ausgreifende, überwiegend friedlich sich darbietende Revolutionsdynamik entfalten konnte. Das betrifft Fragen nach der noch wenig ausgeschöpften Kommunikations- und Mediengeschichte der Revolution ebenso wie nach dem Akteur „der Massen“ an sich. Die Mobilisierung der Massen und die damit verbundenen Partizipationsansprüche harren noch der weiteren Untersuchung.24

Angeregt von den Ereignissen der Münchner Räteherrschaft veröffentlichte Ernst Toller sein Dramenwerk Masse Mensch über den Charakter der „sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts“ und gab diesem Akteur damit bereits einen zeitgenössischen, ebenso politischen wie kunstvollen Ausdruck.25 Am 7. November 1918 wurden in Bayern Regierung wie Monarchie gestürzt, zugleich rief Kurt Eisner die Republik („Freistaat“) aus.26 Am 9. November schließlich erfasste die Revolution Berlin: Prinz Max machte an jenem Tag komprimierter Geschichte – ohne offizielle Autorisierung und wenige Stunden vor dem Entschluss Wilhelms II. – die Abdankungserklärung des Kaisers sowie des Kronprinzen öffentlich. Das Amt des Reichskanzlers übertrug er dem Führer der Mehrheitssozialdemokraten Friedrich Ebert. Von den Sozialdemokraten war im Vorfeld der Druck auf Kanzler und Kaiser, die Abdankung zu vollziehen, in ultimativer Weise erhöht worden. Auf Anraten der Obersten Heeresleitung flüchtete Wilhelm am 10. November nach Holland, unterzeichnete die Thronentsagung aber erst am 28. November.

Diesem formalen Vorgang kam keine entscheidende Bedeutung mehr zu, da die Durchbrechung der Normenkette in staatsrechtlicher Sicht bis dahin schon längst im Gange war. Spätestens die unmittelbare Übertragung der Reichskanzlerschaft von Prinz Max auf Friedrich Ebert stellte einen eklatanten Bruch mit der Reichsverfassung von 1871 dar. Diese „Diskontinuität der Rechtsordnung“, das betonte der Rechtshistoriker Horst Dreier, war in staatsrechtlicher Hinsicht nichts anderes als Revolution. Schließlich bedürfen „Revolutionen im juristischen Sinne“, das ergänzte er, „nicht unbedingt des Blutvergießens und des Schlachtenlärms, der Barrikadenkämpfe und der Volksstürme“.27 Vergleichbares gilt für den Systemwechsel-Ansatz.

Systemwechsel benötigen Symbole, gerade um längerfristig ihre Wirksamkeit zu entfalten. Philipp Scheidemann sorgte für eine besonders symbolträchtige Szene, als er, wenngleich zu Eberts Leidwesen, am 9. November 1918 nachmittags gegen zwei Uhr von einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik ausrief.28 Mit seiner improvisierten Rede verdeutlichte Scheidemann zweierlei: erstens den Führungsanspruch der Mehrheitssozialdemokraten innerhalb der Revolution, zweitens die Auffassung, dass die Revolution aus Sicht seiner Partei bereits an ihr Ziel gelangt sei und es fortan um die parlamentarisch-demokratische Legitimierung und Festigung der neuen republikanischen Ordnung gehe. Spätestens war dieser Moment gekommen, als die Führer der Mehrheitssozialdemokratie „um der Wirkung auf die Massen willen“ – so ein berühmtes Wort Ernst Troeltschs – die Revolution, die sie an sich nicht wollten und die sie nicht in Gang gesetzt hatten, „adoptierten“.29 Sie hatten mit dem Vorwurf zu leben, „den Revolutionären die Revolution gestohlen“ zu haben, wie es Otto Wels später einmal aus einer Abwehrhaltung heraus während des Münchner „Dolchstoß“-Prozesses im Jahr 1925 ausdrücken sollte.30 Die Scheidemann-Rede verbreitete sich jedenfalls rasch über Mundpropaganda und entfaltete noch am Tage selbst eine deutliche Wirkung bei den demonstrierenden Arbeitern und Soldaten, die wenigstens kurzzeitig an die siegreich beendete Revolution glaubten.31 Dieses Signal wurde um so begieriger aufgegriffen, als nicht zuletzt unter den Soldaten nach vier Jahren Krieg der „Drang“ groß war, „ins normale Leben zurückzukehren“32 und „heim zu Muttern zu kommen“.33

Wie wenig nur die Republik auf einem stabilen Konsens der Überzeugungen begründet werden konnte, belegt schon – erneut vorrangig in symbolischer Weise – die Tatsache, dass rund zwei Stunden nach Scheidemann der bekennende Revolutionär und „Spartakist“ Karl Liebknecht im Lustgarten vor dem Schloss die „freie sozialistische Republik Deutschland“ verkündete.34 Er kürte sie zur Zwischenetappe auf dem Weg zur kommunistischen Weltrevolution. Selbst angesichts dieses weit ausgreifenden Machtanspruchs formierte sich im übrigen kein royalistischer Widerstand zum Erhalt der Monarchie. Es floss kaum Blut, der Revolution wohnte insofern – wie schon der Politikwissenschaftler Thomas Ellwein vor vielen Jahrzehnten bemerkte – eine „gewisse Liebenswürdigkeit“ inne: „In den meisten deutschen Ländern“, hieß es mit leicht süffisantem Unterton, „bemühte man sich sehr, die Gebote der Höflichkeit zu achten, Fürsten und Revolutionäre verkehrten in einer gewissen Resignation miteinander und in manchen Fällen sprachen die neuen Machthaber den abgedankten Monarchen ihren Dank aus.“35 Manch einem Beobachter unter den revolutionären Arbeitern behagte diese Gutmütigkeit nicht, einem erschienen die Novemberereignisse im Rückblick als „fast unblutig, vielleicht zu unblutig“.36 Der Kommentator der unabhängigsozialdemokratischen Chemnitzer Volkszeitung begrüßte dagegen am 16. November 1918 den unblutigen Charakter, der vielen älteren Revolutionen auch gut angestanden hätte: „Die gewaltigste soll zugleich auch die friedlichste und ordnungsgemäßeste Revolution sein.“37

Allgemein entbrannte gerade innerhalb des linken politischen Spektrums ein Streit über die künftige Gestaltung der neuen Ordnung. Ebert an der Spitze der Regierung wie der Mehrheitssozialdemokratie versprach die baldige Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Es galt, wie immer geartete Räte-Experimente und erst recht eine Revolution bolschewistischen Typs in Deutschland zu vereiteln.38 „Bolschewismus“ war eine vielfach vernehmbare Leitvokabel in zeitgenössischen Texten 1918/19. So wenig damals eine tatsächliche Bolschewisierung drohte, ist der Begriff als Erfahrungs- und Wahrnehmungskategorie doch von großer Bedeutung.39 Selbst der „rote Graf“ Kessler hielt am 5. Januar 1919 in seinem Tagebuch fest: „Die Welle des Bolschewismus, die von Osten kommt, hat etwas von der Überflutung durch Mohammed im siebenten Jahrhundert. Fanatismus und Waffen im Dienste einer unklaren neuen Hoffnung, der weithin nur Trümmer alter Weltanschauungen entgegenstehen. Die Fahne des Propheten weht auch vor Lenins Heeren.“40 Der deutsche Lenin hieß Liebknecht, und um ihn rankte sich bald der Mythos eines mächtigen Hohepriesters der Revolution, der in keinem Verhältnis zu seiner realen Machtposition stand.41

Die Spaltung der sozialdemokratischen Partei im Verlauf des Ersten Weltkriegs hat in unumkehrbarer Weise den Boden für die Auseinandersetzungen während der Revolutionstage bereitet. Heinrich August Winkler nannte die Spaltung der Arbeiterbewegung, so paradox dies anmutete, sowohl eine gravierende „Vorbelastung“ als auch eine entscheidende „Vorbedingung“ der ersten deutschen Demokratie42; letzteres deswegen, weil das innerlinke Schisma erst die Voraussetzung für eine Übereinkunft zwischen gemäßigt sozialdemokratischen und liberal-bürgerlichen Kräften geschaffen habe. Dabei ist zu ergänzen, dass es zu einfach wäre, das Lager der Linken nach einem binären Schema zu scheiden. In den Blick geraten müssten mindestens vier unterschiedlich starke, sich teilweise überschneidende Kraftzentren, nämlich MSPD und USPD, die beide wiederum ein breites Spektrum in den eigenen Reihen aufwiesen, „Spartakus“ und diverse linksradikale Gruppierungen, die an der Jahreswende 1918/19 die KPD begründeten,43 sowie die Revolutionären Obleute.44

Es fiel schon den Zeitgenossen nicht leicht, zu einem gerechten Urteil über diese verschiedenen Aktivisten-Gruppen zu gelangen. Für Käthe Kollwitz galt es zu bedenken, dass es neben den Matrosen und Soldaten (deren politische Positionierung kaum auf einen Nenner zu bringen war) die links der Mehrheitssozialdemokratie stehenden Aufständischen waren – ob innerhalb der Gruppe der Unabhängigen, der Revolutionären Obleute oder im Spartakusbund –, die den Umbruch und das unwiederbringliche Ende des Kaiserreichs forciert hatten. Für manchen Beobachter war es deshalb schwer, sich eindeutig auf eine Seite zu stellen. Die allgemein mit pazifistischen und sozialistischen Positionen liebäugelnde Künstlerin fühlte sich bei dem Versuch einer gerechten Würdigung hin- und hergerissen. Letztlich findet sich am 8. Dezember 1918 in ihrem Tagebuch ein versöhnliches Urteil notiert:

„Eben sage ich mir noch, wenn Wahl zwischen Diktatur Ebert und Diktatur Liebknecht, ich bestimmt Ebert wählen würde. Auf einmal aber fällt mir ein, was die eigentlich Revolutionären doch geleistet haben. Ohne diesen steten Druck von links hätten wir auch keine Revolution gehabt, hätten wir den ganzen Militarismus nicht abgeworfen. Die Mehrheitspartei hätte uns davon nicht erlöst. Sie wollte immer nur evolutionieren. Und die Konsequenten, die Unabhängigen, die Spartakusleute sind auch jetzt wieder die Pioniere. Sie drängen immer vorwärts, wie es auch liegt. Auch wenn es Blödsinn ist, auch wenn Deutschland darüber kaputt geht. Man wird sie jetzt knebeln müssen um aus dem Chaos herauszukommen und es besteht ein gewisses Recht dazu. Sieger werden voraussichtlich die Gemäßigten bleiben. Ich selbst würde es wünschen. Nur darf man nicht vergessen, daß die zu Knebelnden das eigentlich revolutionäre Ferment sind, ohne die wir überhaupt keine Umwälzung gehabt hätten. Daß es tapfere Menschen sind, die ohne weiteres sich Maschinengewehren aussetzen, daß es hungernde entrechtete Leute sind, die immer zu kurz gekommen sind. Daß es vor allem Leute sind, die, hätten sie damals schon die Macht von heute gehabt, den Krieg verhindert hätten. Kurz und gut, es sind die Leute des revolutionären Prinzips, dem sie mit Unentwegtheit anhängen. Natürlich haben sie faktisch Unrecht. Faktisch muß man mit den Mehrheitssozialisten gehen. Es sei denn, daß einem der gänzliche Zusammenbruch Deutschlands ganz schnuppe ist.“45

Die Mehrheitssozialdemokratie pochte auf Kontinuität im Wandel und geordnete, parlamentarisch-demokratisch legitimierte Transformationswege. Die erfolgreiche Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung blieb daher zunächst das vorrangige Ziel. Ausschließlich dort sollten die Grundentscheidungen zur künftigen Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft erfolgen. Der erste Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der vom 16. bis 21. Dezember 1918 zusammentrat, stimmte schließlich mit großer Mehrheit der Forderung nach Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 zu. Aus staatsrechtlicher und demokratietheoretischer Perspektive spricht einiges dafür, die Sozialdemokratie für ihr Verantwortungsbewusstsein und ihr unbeirrtes Festhalten am Ziel der parlamentarischen Demokratie zu loben. Darin sind Weichenstellungen ganz grundsätzlicher Natur zu erkennen, die durch Eberts eigenes Wort von der Konkursverwaltung in keiner Weise angemessen eingefangen werden.46

Und doch erscheint das Vorgehen der Sozialdemokratie in mancher Hinsicht als allzu vorsichtig. So haben die Furcht vor dem Chaos und ihr Beharren auf Verwaltungskontinuität, überhaupt ein „starres, institutionenfixiertes Denken“47 insbesondere den alten Verwaltungs- und Militärapparat in einem Maße verschont, das nicht notwendig gewesen wäre. Andererseits lässt sich die kontrafaktische Frage nicht eindeutig beantworten, ob ein stärkerer Elitenaustausch nicht ein ebenfalls erhebliches Desintegrationspotenzial mit sich gebracht hätte. Viele Aufständische empfanden die erste Phase der Revolution aufgrund eines unzureichenden Wechsels der Herrschaftseliten und geringer sozioökonomischer Wandlungen jedenfalls als eine „Zeit der Enttäuschungen“, wie es Detlev Peukert einmal pointiert zusammenfasste.48 Dies rief Sehnsüchte nach einer „zweiten Revolution“ wach.49

Noch im Dezember 1918 verdichteten sich die Signale einer fortan zunehmend von Dissens und Gewalt geprägten Revolution. Die Mitglieder der USPD im Rat der Volksbeauftragten schieden Ende Dezember 1918 wegen schwerwiegender Meinungsverschiedenheiten und veranlasst durch den Militäreinsatz gegen die „Volksmarinedivision“ an Weihnachten aus der Regierung.50 Nach der Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, einem linken USPD-Mann, brachen neue Massenproteste aus. Bald forderten der Berliner USPD-Vorstand, Liebknecht und Teile der KPD-Führung, aber auch die Revolutionären Obleute in ihrer Proklamation zum Generalstreik während der ersten Januartage dazu auf, die rein mehrheitssozialdemokratische Regierung Ebert-Scheidemann zu stürzen – sogar: sie „ins Zuchthaus, aufs Schafott“ zu schaffen.51 Die Volksbeauftragten, nun mit dem in Kesslers Worten „schnurrbartschnauzenden“ Noske52 in ihren Reihen, trieben ihrerseits den Verbalradikalismus voran. Und mehr als das: Sie zeigten sich entschlossen, diese Januaraufstände, die sich in den Geschichtsbüchern gelegentlich noch unter dem so nicht zutreffenden Rubrum „Spartakusaufstand“ eingetragen finden, gewaltsam niederzuschlagen. Entschiedener Widerstand war notwendig, die ausgeübte Gewalt im Verbund mit aggressiven Freikorps-Verbänden, die am 15. Januar 1919 Liebknecht und Luxemburg ermordeten, keineswegs. Diese Vorgänge trugen zur Eskalation der Gewalt im Frühjahr 1919 bei und versetzten Deutschland in einen bürgerkriegsähnlichen Zustand. Die sich radikalisierende Massenbewegung geriet in zunehmenden Gegensatz zur Reichsregierung, die zur Sicherung ihrer Autorität von nun an verstärkt auf militärische Mittel angewiesen war und sich dabei in der „Stunde der Abrechnung“ – von der fataler Weise die Rede war – mit skrupellosen Freikorps-Verbänden verbündete, ohne sie wirklich bändigen zu können.53

Dies ist deutlich kritikwürdiger als der sagenumwobene Ebert-Groener-Pakt. Ebert hatte am 10. November 1918 mit Generalquartiermeister Groener telefonisch eine Absprache über die Loyalität des Militärs gegenüber der neuen Regierung getroffen. Dieses Agreement war nachvollziehbar und folgte einem rationalen Kalkül, nämlich die neu gewonnene politische Machtbastion in einer völlig ungewissen Anfangsphase notfalls militärisch sichern zu können. Ähnliches gilt für Eberts Agieren am 10. Dezember 1918, als er die heimkehrenden Truppen mit den Worten „Kein Feind hat Euch überwunden“ begrüßte, was – einer kritischen Auslegung zufolge – dazu beitrug, die Dolchstoßthese „in den Köpfen zu verankern“.54 In weniger düsterem Licht sieht Ebert dagegen, wer in dessen Worten ein Angebot an das Feldheer sieht, sich in das neue politische System zu integrieren. Das Bild hellt sich noch weiter auf, sobald man nicht nur den berühmten Halbsatz zitiert, sondern auch die weiteren Ausführungen berücksichtigt. Keinen Zweifel lässt der Volksbeauftragte nämlich an der „Übermacht der Gegner an Menschen und Material“ als Ursache für die Kriegsniederlage aufkommen. Und in seiner Eröffnungsrede zur Nationalversammlung am 6. Februar 1919 hob er nochmal unzweideutig heraus: „Wir haben den Krieg verloren. Diese Tatsache ist keine Folge der Revolution.“55

Die Interpretation der Militärpolitik der Revolutionsregierung gehört weiterhin zu den herausgehobenen Streitfragen rund um die Umbrüche von 1918/19. Selbst wer das militärische Vorgehen Anfang 1919 als „Politik der Stärke“ rubriziert und für „unausweichlich“ hält, muss die falsche Wahl der „Bundesgenossen“ konzedieren.56 Mark Jones beschreibt die Gründungsgewalt und ihre öffentliche Legitimierung seitens der Regierung als einen fatalen, stilbildenden Prozess und als eine wesentliche Belastung für die Weimarer Republik, die den Weg ins „Dritte Reich“ und den „von ihm angerichteten Horror“ begünstigt habe.57 Auch wer eine solche historische Linienziehung ablehnt, kann nicht übersehen, in welch hohem Maße sich das Militär Eigenständigkeit bewahrte und als Staat im Staate fühlen konnte. Dies sollte sich während des Kapp-Putsches zeigen und gipfelte gegen Ende der Republik in den Querfront-Ambitionen eines Generals Kurt von Schleicher.58 Die ausgebliebene Schaffung einer schlagkräftigen republikanisch-loyalen „Volkswehr“ präsentiert sich vor diesem Hintergrund als ein entscheidendes Versäumnis, ja als „katastrophaler Fehler“ und das „große Übel“ der Revolution, wie sie von den führenden Mehrheitssozialdemokraten betrieben worden sei. Hier wurde für Joachim Käppner die Chance verpasst, dem Militarismus in Deutschland einen mächtigen Dämpfer zu verpassen.59

Aus diesem Blickwinkel besaß die gewaltsame Phase der Revolution in den ersten Monaten des Jahres 1919 samt einer fehlgeleiteten Militärpolitik, die es verpasste, „der Freiheit Waffen zu geben“60, eine anhaltende Prägekraft. Aus der politischen Systemwechsel-Perspektive, die Veränderungen des Regierungssystems in den Mittelpunkt stellt, erscheint dagegen die erste Phase der Revolution mit strukturbildenden Entscheidungen im November und Dezember 1918 gleichwohl von erheblicher formgebender Kraft.61 Ungeachtet der Versäumnisse der ersten Revolutionsperiode sind über diese politischen Transformationsleistungen hinaus wenigstens segmentäre soziale Reformen zu erwähnen wie das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November samt Einführung des Acht-Stunden-Tags.62 Die getroffenen Regelungen waren zugleich ein zentraler Schritt auf dem Weg zur Sozialpartnerschaft in Deutschland.63 Dies sind Indizien dafür, wie wenig sich die Sozialdemokratie bei aller Ablehnung einer weit ausgreifenden sozialen Revolution (denn nur diese hasste Ebert wie die Sünde64) mit dem Erreichen einer liberalen Demokratie zufriedengeben wollte. Sie dachte darüber hinaus über die Ausgestaltung einer sozialen Demokratie konkret nach.

In der linken Arbeiterschaft wuchs dagegen ein Gefühl der Frustration. Vielerorts und insbesondere in den industriellen Zentren kam es zu General- und Massenstreiks, in Bremen und in München gründeten sich Räterepubliken. Nicht vor Mai 1919 beruhigte sich mit der Niederschlagung der zweiten Münchner Räterepublik vorerst die politische Lage, wobei die unheilvolle Dynamik aus „rotem“ und vor allem „weißem Terror“, der an Härte und Erbarmungslosigkeit kaum zu überbieten war, nicht nur hohe Opferzahlen hervorbrachte, sondern auch tiefe Furchen in die politische Kultur der jungen Republik zog. Attentate und Putschversuche belasteten sie bis ins Jahr 1923 weiterhin akut. Mit der ausgeprägten paramilitärischen Gewalt des Nachkriegs gegen nunmehr sogenannte „innere Feinde“ gingen zwischen 1919 und 1922 mehrere hundert politische, von Rechtsterroristen verübte Morde einher.65

Aber nochmals zurück in der Chronologie: Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 – erstmals in der deutschen Geschichte unter Beteiligung von Frauen – hatten die Parteien der „Weimarer Koalition“ (MSPD, Zentrum und DDP) immerhin mehr als drei Viertel der Stimmen auf sich vereinigt. Auch wenn diese Koalition bekanntlich 1920 wieder zerbrach, gab sie doch einer breiten Mehrheit im gemäßigt linken und bürgerlich-liberalen Spektrum Ausdruck. Schließlich konnte die USPD bei den Wahlen nur 7,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, während die MSPD 37,9 Prozent, die Deutsche Demokratische Partei 18,5 und das Zentrum 19,7 Prozent erzielten. Diese Kräfteverhältnisse gilt es in Rechnung zu stellen, wenn man im Bruch der MSPD-USPD-Allianz einen besonders verhängnisvollen Vorgang sieht. Eine gewisse Fixierung der Revolutionsforschung auf Gruppierungen der Arbeiterbewegung im weitesten Sinne geht mit einer vergleichsweise randständigen Berücksichtigung anderer politischer Lager und Milieus in jener Zeit einher, ohne die sich jedoch kein adäquates Stimmungsbild dieser Wendezeit einfangen lässt.66