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Manchmal schreibt das Leben die überraschendsten Liebesgeschichten.
Als Lektorin Claire Winston das neue Manuskript des gefeierten Bestsellerautors Samu Boheme, dessen wahre Identität unbekannt ist, auf den Schreibtisch bekommt, ahnt sie noch nicht, dass es ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Statt eines literarischen Meisterwerks erwarten sie flache Charaktere, geschmacklose Sexszenen, und keine Spur von Gefühl. Nach hitzigen E-Mail-Diskussionen lehnt sie das Werk ab – und bringt damit nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Zukunft ins Wanken.
Um ihre Karriere zu retten, muss Claire das Unmögliche tun: Herausfinden, wo der geheimnisvolle Autor lebt, und sich persönlich entschuldigen. Ihr Weg führt sie mitten in die kanadische Wildnis, wo ihr ein mürrischer Eigenbrötler mit messerscharfem Verstand und noch schärferer Zunge entgegentritt.
Doch auch wenn sie zunächst aneinandergeraten, begreift Claire mehr und mehr, dass hinter Samus Zynismus mehr steckt, als sie dachte. Und dass zwischen den Zeilen seiner Geschichten vielleicht die Wahrheit über Liebe – und über sie selbst – verborgen liegt …
"Rewrite My Heart" von Cecilia Lilienthal ist voll von Witz, Gefühl und winterlicher Kanada-Romantik – perfekt für Fans von Opposites Attract, Slow Burn und Liebe zwischen den Zeilen. Dies ist die überarbeitete Neuauflage von "Mr. Imperfect" von Lilian Dean.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
CECILIA LILIENTHAL
Verlag:
Zeilenfluss
Werinherstr. 3
81541 München
Deutschland
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Texte: Cecilia Lilienthal
Cover: MT-Design
Korrektorat: Tanja Eggerth – TE Languages Services
Satz: Zeilenfluss Verlag
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-559-5
Du willst mich finden?
Dann suche zwischen den Zeilen …
Langsam klappte ich den kleinen Handspiegel zu, mit dem ich mein Make-up geprüft hatte, und ließ ihn in der Schublade unter meinem weißen Schreibtisch verschwinden.
Olivia Barns, meine Chefin, schneite kurz darauf in mein Büro. Ihre High-Heels klackten über das Laminat. Sie hatte diesen energischen Gang, als würde sie stets auf einer unsichtbaren Startlinie stehen, bereit zum nächsten Sprint. Mein Magen zog sich unwillkürlich zusammen. Was hatte sie diesmal für mich?
»Hier ist es, beziehungsweise die ersten Zeilen davon«, verkündete sie mit bedeutungsschwangerem Unterton und legte mir ein paar Seiten vor die Nase. Sie atmete tief durch und stützte sich mit beiden Händen an der Kante des Tisches ab. »Das Skript ist sensationell«, säuselte sie und verzog die schmalen Lippen, die so kupferfarben waren wie ihr kurzes Haar, zu einem breiten Grinsen und nickte mir zu. Der stechende Ausdruck in ihren aschblauen Augen gefiel mir nicht. Der Duft ihres Parfüms erfüllte den Raum und war genauso dominant und zuckersüß wie ihr Charakter.
»Was anderes habe ich auch nicht erwartet. Er hat also auf meinen kleinen Rat gehört«, sagte Olivia.
»Wer und welcher Rat?«, fragte ich.
»Den Stick zum Skript bekommen Sie auch gleich.« Sie tippte auf die Seiten. »Das ist das erste Kapitel. Lesen Sie einmal den ersten Absatz. Den müssen Sie einfach schwarz auf weiß inhalieren.« Meine Frage hatte sie wohl überhört.
Olivia ließ die Tischkante los und straffte die Schultern. Neidvoll bemerkte ich, dass sie immer schlanker wurde. Das grau-rosa Businesskostüm passte ihr wie angegossen. Dazu trug sie eine Seidenstrumpfhose und schwarze Pumps. Genau die Art Outfit, die mein Verlobter Ray mochte. Inzwischen hatte ich mir diesen Stil angeeignet wie eine zweite Haut. Fürs Büro vor allem. Hier liefen alle Mitarbeiterinnen so rum. Sonst bevorzugte ich eher hipp und lässig. Jeans, Shirt, Sneakers – fertig.
»Claire?«, fragte Olivia Barns.
»Was?« Schnell kämpfte ich mich aus meinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.
Meine Chefin tippte noch einmal auf die erste Seite des Skriptes. »Das ist das neueste Werk unseres Bestsellerautors Samu Boheme.«
Ehrlich gesagt hatte ich keinen einzigen Thriller von ihm gelesen. Das, obwohl Boheme schon jahrelanger Stammautor des Hauses war, in dem ich seit Abschluss meines geisteswissenschaftlichen Studiums als kleine Lektorin arbeitete.
»Wir sind die Ersten, neben seinem windigen, zuweilen wortbissigen Agenten Bob, die es lesen dürfen. Also fühlen Sie sich geehrt«, verkündete Olivia.
»Wir?«
Olivia zeigte auf mich und dann auf sich. »Sie und ich.«
»Wow.« Bis dato hatte ich immer die Skripte von Debütautoren begleiten dürfen. Konnte ich bald auf die ersehnte Beförderung hoffen? Rasch schob ich die Seiten näher an mich heran und schreckte auf. Oh nein. Einer meiner Fingernägel, die ich erst kürzlich in Rays Lieblingsfarbe, Blutrot, hatte lackieren lassen, war abgebrochen.
»Mist«, murmelte ich.
»Konzentration, Miss Winston. Ich will Ihre Meinung. Das kleine Malheur können Sie später richten lassen. Sehen Sie es als gutes Omen. Die kürzeren Nägel früher standen Ihnen sowieso besser.«
Was meinte sie mit ›früher‹?
»Vor Ray«, betonte Olivia und rümpfte die Nase.
Hatte Olivia etwas gegen Ray? Die beiden waren sich erst ein paarmal flüchtig begegnet.
Ich musste ihr unbedingt etwas sagen: »Ray und ich sind mit seinen Eltern zum Essen verabredet, deshalb muss ich heute pünktlich gehen. Er holt mich gleich nach der Arbeit ab. Das Kapitel schaffe ich heute also nicht mehr.« Das würde sie sicher verstehen.
Die Barns hob eine Braue. »Einen Mann lässt man immer warten. Meiner hat sich daran gewöhnt. Sie müssen sich gegenüber dem anderen Geschlecht Respekt bewahren, meine Liebe. Privat wie auch in der Geschäftswelt. Was ist eigentlich los mit Ihnen? Ich dachte, Sie fallen vor Begeisterung vom Stuhl. Wo ist Ihr sonstiger Gefühlsüberschwang, wenn es ein neues Projekt gibt?«
Das versuchte Lächeln gelang mir nur halbwegs. »Es ist die Ehrfurcht und ja, ich bin auch überrascht«, gab ich zurück. Gut, wenn ich mich sehr beeilte, konnte ich alles unter einen Hut bringen. Wäre nicht das erste Mal, dass mir das gelang.
Olivia zeigte sich zufrieden. »Strengen Sie sich an. Auch hierbei will ich Sie in Höchstform erleben. Und denken Sie an das, was ich gesagt habe. Männer muss man ab und zu schmoren lassen. Das macht uns Frauen für sie nur interessanter.«
Olivia Barns, die Männerversteherin.
Sie zückte ihr Handy, als es klingelte, und ging ran.
Ihre Worte hallten in mir nach. Ray würde es vor allem misstrauisch machen, wenn ich ihn versetzen würde. Das wollte ich nicht. Ich dachte an unsere letzte Nacht. Er war wie immer ein Hengst im Bett gewesen. Zärtlich und wild zugleich. Nach wie vor wünschte ich mir eine Zukunft mit ihm – Kinder, Haus, einen Baum pflanzen, Haustiere. Er war ehrgeizig, gut aussehend, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Also eigentlich ein Traummann.
Wenn da nicht seine Kontrollsucht wäre, die mir tierisch auf die Nerven ging und meinem schönen Zukunftstraum mit ihm einen fetten Kreuzstrich verpasste. Ich verzog einen Mundwinkel. Bald sollte ich einen Ehering am Finger tragen. Vielleicht würde seine Kontrolle mir gegenüber aufhören, wenn wir erst einmal verheiratet waren. Der Gedanke beruhigte mich immer, wenn die Zweifel wie ein Bumerang zurückkamen.
Mein Blick richtete sich auf das erste Kapitel von Boheme:
Casanova war Schnee von gestern. Sie hatte keine Ahnung, was ich heute Nacht alles mit ihr anstellen würde. Sicherlich würde sie mich danach nie wieder vergessen. Schon allein mein neues Baby, eine schneeweiße Corvette, ließ ihr Herz höherschlagen. Selbst wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollte, konnte ich es an ihrem tiefen, von champagnerfarbenen Perlen gesäumten Ausschnitt erkennen. Ihre Brüste hoben und senkten sich vor offensichtlicher Aufregung. Sie fraß mir schon jetzt aus der Hand, war eine leichte Beute, die zu erlegen ich mir dennoch nicht entgehen lassen würde. Naives Ding.
Was genau sollte ich nur von diesen Zeilen halten? Meine Gedanken schrien jedenfalls nicht nach einer Zugabe.
Olivia beendete ihr Gespräch und wandte sich wieder mir zu. »Da bekommt man gleich Gänsehaut. Nicht wahr? Es ist eine Romance. Sie werden beim Lesen gehörig ins Schwitzen geraten, meine Liebe.«
Mal sehen. Da fiel mir ein: »Ich habe bisher angenommen, Mister Boheme schreibt ausschließlich Thriller – wenig Romantik, aber dafür umso mehr Spannung. Obwohl, von Romantik scheint sein Protagonist, den ersten Sätzen nach, nicht viel zu verstehen.«
Olivia winkte ab. »Er will dieses Mal etwas Neues ausprobieren. Ein wahrer Künstler eben. Bleibt nie auf einer Stufe stehen. Also mir gefällt es. Sicherlich wird diese Geschichte ebenso erfolgreich wie seine Thriller. Ich glaube sogar noch mehr. Laut einer Umfrage stellen ihn sich viele Frauen und auch Männer als äußerst attraktiv und lässig vor.«
»Er möchte aber nicht ins Porno-Genre wechseln, oder?«, fragte ich.
Meine Chefin runzelte die Stirn. »Was? Nein. Es ist eine prickelnde, bittersüße Romance. Sehr prickelnd halt.«
Mehr als sehr.
»Kommen Sie. Seit gewissen bekannten pikanten Romanen gibt es doch keine Tabus mehr. Knöpfen Sie sich mal ein wenig auf, Miss Winston. Das Skript wird Ihnen dabei helfen und guttun.« Sie lachte.
Hielt sie mich für bieder?
Ehrlich gesagt waren übertrieben romantische Geschichten weniger mein Fall. Am liebsten las ich Liebeskomödien. Diese konnten gern Erotik enthalten, wenn sie stilvoll geschrieben und nicht zu übertrieben war. Aber das … Ich war nicht sicher, wohin das führen sollte.
Mein Gefühl sagte mir nichts Gutes, und das schon nach wenigen Zeilen. Der Protagonist schien auf den ersten Blick recht oberflächlich und luxusbesessen. Für mich war er eindeutig nicht die Art Held, in den sich Frauen verlieben sollten. Es gab kein Zurück. War zu hoffen, dass das Skript besser werden würde. Eines war sicher. Ich wollte wissen, warum der Protagonist so tickte. Wenn Boheme es darauf anlegte, dass seine Leser:innen sich das lange fragten und damit Spannung erzeugen wollte, war es ein geschickter Schachzug, den er aber nicht lange offen lassen sollte.
Keinesfalls wollte ich Olivia Barns einen Korb geben. Schon gar nicht, da ich die Betriebsjüngste im Verlag war und erst eine kleine Lektorin. Für mich war es ein Glücksfall gewesen, dass Olivia mich damals eingestellt hatte. Das würde ich nicht vergessen. Sie und ihr Verlag galten als eine Legende.
»Du kannst tolle Praktikumsplätze und ein grandios abgeschlossenes Studium vorweisen. Sie kann froh sein, dass sie dich hat«, hatte meine beste Freundin Jenny mal gesagt.
Ein halbes Jahr, nachdem ich bei Barns angefangen hatte, lernte ich Ray kennen. Er war der Sohn einer einflussreichen Familiendynastie, die seit 1959 Markenstifte produzierte. GereStar-Pens verkaufte seine Produkte weltweit, und vor ein paar Monaten hatte Ray offiziell die Firma übernommen. Seine Eltern unterstützten ihn in den Geschäften. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil, er vergötterte sie.
»Oder gibt es ein Problem?«, riss mich Olivias Stimme aus meinen Gedanken.
Ihre Frage ließ mich stutzen. »Problem? Nein, ich –«
»Kathleen verlässt sich auf Sie, Claire. Es sollte eigentlich ihr Baby sein. Und es ist eine große Chance für Sie.«
Schon gut. Ich nickte.
»Das mit Kathleens Unfall tut mir echt leid.« Es war furchtbar, dass der Sturz ihr nicht nur heftige Prellungen, sondern auch zwei blaue Augen eingebrockt hatte. Olivia kräuselte die Stirn. »Das hört sich so an, als wären Sie schuld, dass sie die letzten zwei Stufen der Treppe auf dem Weg zur U-Bahn übersehen hat. Meine Güte. Augen auf, sage ich immer. Nun ist es nicht zu ändern. Sie wird für mehrere Wochen ausfallen. Die Krankmeldung ist schon da. Und die anderen Lektoren stecken bis über beide Ohren in Projekten. Enttäuschen Sie mich nicht. Ihre letzten Lektorate waren wirklich hervorragend.«
Oh, vielen Dank.
Der Ausdruck in ihren Augen wurde stechender. Ich wusste, was das bedeutete. Gleich würde sie ihre zickige Seite herausholen.
»Danke für das Lob«, entgegnete ich schnell.
»Gewöhnen Sie sich nicht daran. Den Stick bekommen sie wie gesagt gleich. Geben Sie mir den Ausdruck wieder. Ich habe mir auch den Rest ausgedruckt. So lese ich lieber. Will aber noch mal von vorn anfangen.« Sie zwinkerte in meine Richtung. »Viel Spaß.« Danach stolzierte sie zur Tür, öffnete sie schwungvoll und drehte sich zu mir um. »Ach, bevor ich es vergesse: Boheme möchte wissen, was Sie von dem ersten Kapitel halten. Das ist normal bei ihm. Vergessen Sie nicht, es ihm zu schreiben. Also noch heute. Sein Skript hat Priorität. Die Mailadresse finden Sie auch auf dem Stick. Boheme ist unser …« Sie zeigte auf mich.
»Bester Autor und sehr wichtig für den Verlag. Aber er kann auch dankbar sein. Barns-Books hat ihn von Anfang an gehypt und –«
Die Barns verzog einen Mundwinkel. »Dankbarkeit verliert sich schnell und kann rasch zum Nächsten wandern, wenn jemand Erfolg hat. Daher muss man immer achtsam sein, dass man diese Menschen bei Laune hält. Denn letztendlich hat man auch etwas davon. Ein Geben und Nehmen«, erwiderte Olivia.
Pfeifend verließ sie mein Büro im Südflügel des riesigen Verlagsgebäudes. Ich atmete auf, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Gregor Barns hatte Olivia, seiner einzigen Tochter, den Verlag hinterlassen. Er war vor zehn Jahren gestorben. Olivia hatte sein geschäftliches Erfolgs-Gen definitiv geerbt. Barns-Books war einer der führenden Verlage Englands mit Sitz in Brighton.
Mein Blick wanderte zur Fensterfront meines Büros im obersten Stockwerk. Langsam stand ich auf und schaute hinaus. Ich ließ meinen Blick über den perfekt getrimmten Rasen mit der Buchshecke schweifen, der das weiße Gebäude mit seinen vielen Spiegelfenstern umgab. In der Ferne konnte ich das Brighton Palace Pier sehen. Ich liebte diese Stadt an der Küste des Ärmelkanals, die einige liebevoll „die Badewanne Londons“ nannten. Der Vergleich brachte mich jedes Mal zum Schmunzeln. Besonders, weil ich bis vor kurzem noch im Haus meiner Eltern in einem kleinen Ort in der Nähe gewohnt hatte.
Die Tür öffnete sich erneut. Dieses Mal kam Olivias Sekretärin, Andrea Whiler, herein. Mit beinahe feierlichem Gesichtsausdruck überreichte sie mir den von Barns angekündigten Stick und zog sich sofort wieder zurück. Sie wirkte mal wieder abgehetzt – kein Wunder bei all den kleinen und großen Wünschen, die Olivia Barns an einem einzigen Tag äußerte. »Dann machen wir uns mal an die Arbeit, Mister Boheme«, flüsterte ich, rieb mir die Hände und hoffte inständig, dass mich der Rest des Skriptes, beziehungsweise für heute erst einmal der Rest des ersten Kapitels, flashen würde. Meine Finger kribbelten.
Im Grunde hatte Olivia recht. Gedruckt las es sich einfach besser. Man konnte sich entspannt zurücklehnen, durch den Raum schlendern oder – wenn es ganz schlimm kam – die Seiten zum Fenster hinauswerfen. Bei diesem Autor wäre das ein gefundenes Fressen für die Presse, sollte sie es mitbekommen. Ich druckte das erste Kapitel also aus. Kommentare, die selbst ein Mr. Boheme nicht verschont bleiben würden, würde ich später über den Laptop einfügen. Lesend lief ich im Zimmer auf und ab. Mein Herz schlug mit jeder gelesenen Zeile schneller. Mr. Boheme ließ seinen Protagonisten aufs Ganze gehen. Nur leider auf eine billige, übertrieben machohafte Art. Schrieb er immer so gewollt? Wo blieb das Gefühl?
Als der Protagonist seine neue Partnerin entblättert hatte und auf dem Rücksitz seiner Corvette wie eine hungrige Raubkatze über sie herfiel, reichte es mir. Nicht, dass ich frigide wäre oder so, aber das hier schoss weit über das Ziel einer leidenschaftlichen Romance hinaus. Ich brauchte eine Pause.
Mein Blick fiel auf meinen Laptop. Mir kam eine Idee. Ich wollte einen Vergleich. Also lud ich eine Leseprobe von Bohemes Thriller herunter. Shadow Hunter fesselte mich sofort. War Olivia wirklich sicher, dass das derselbe Autor geschrieben hatte? Oder hatte Boheme beim Schreiben seines Romans unter Drogeneinfluss gestanden? Schön und gut, dass er sich in einem neuen Genre ausprobieren wollte, aber wenn er so weitermachte, würde das gehörig nach hinten losgehen. Da war ich mir sicher.
Die ersten Seiten entschieden oft, ob eine Leserin oder ein Leser dabeiblieb oder das Buch für immer zuschlug. Und hier fehlte das Elementare – Gefühl. Vielleicht besaß er davon nicht viel. Aber auch in Thrillern brauchte man Einfühlungsvermögen, wenn auch auf eine andere Art.
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich steckte den Stick in den Laptop, öffnete das Skript, und las Kapitel Nummer zwei. Wie befürchtet, wurde es nicht besser. Dank Boheme kannte ich nun Stellungen, die mir absolut neu waren – und bei denen sich selbst Jennifer, die biegsamer war als eine Schlange, verrenken würde. Halleluja, das war harte Kost.
Ich ließ den Cursor über die E-Mail-Schaltfläche gleiten. Meine Anmerkungen würde Boheme, wie gewünscht, per Mail erhalten. Und zwar sofort. Mein angestauter Unmut brauchte ein Ventil.
Sehr geehrter Mr. Boheme,
ich freue mich, dass ich eins Ihrer Werke bearbeiten darf. Leider muss ich Ihnen sagen, dass es mich …
Stopp! Seufzend vergrub ich das Gesicht in den Händen und atmete dann ein paarmal hinein. Ich musste und wollte ehrlich bleiben. Nur wie genau sollte ich ihm auf die nette Art beibringen, dass mir seine Schreibe wie ein billiger Porno vorkam, dessen Protagonist ein gefühlskalter Macho war? Langsam nahm ich die Hände herunter, klickte in das Skript und überflog den Rest des zweiten Kapitels. Es ging so weiter. Auch im Folgenden nahm die Geschichte keine Wendung oder ging näher auf die Vergangenheit des Protagonisten ein. Die Frauen schienen Mr. Macho toll zu finden. Ich schüttelte den Kopf. Nachdem ich den letzten begonnenen Satz wieder gelöscht hatte, flossen die Worte nur so aus meinem Kopf durch die Finger in die Mail. Dann dachte ich an meine Chefin und schaltete einen Gang zurück.
Ich muss Ihnen sagen, dass ich mir mehr Gefühl in Ihrem Roman wünsche. Und damit meine ich ein anderes als das, das Sie vermittelt haben. Ihre Zeilen erinnern mich leider an einen Hardcore-Porno.
Ich bin sicher, dass Sie ein hervorragender Schriftsteller sind. Dafür spricht allein die Größe Ihrer Fangemeinde. Ihr Schreibstil gefällt mir. Doch das bisher Gelesene klingt nach Machogehabe. Ich weiß nicht, ob sich die Leser:innen so in Ihren Protagonisten verlieben könnten, da es ihm offensichtlich an emotionaler Tiefe fehlt.
Ich habe schon über das erste Kapitel hinaus gelesen, insofern bezieht sich meine Einschätzung nicht nur auf die ersten paar Seiten. Ich hoffe, dass ich von dem Protagonisten selbst, seinem früheren Leben, bald etwas erfahre, um ihn besser verstehen zu können. Ansonsten sollte man dringend darüber nachdenken, dies nachzuholen.
Ich möchte nur vermeiden, dass Leser:innen, die Herz und nicht nur Sex erwarten, zu früh abspringen. Ich selbst will die Geschichte im Herzen spüren können. Ich bin sicher, wir finden einen Kompromiss.
Mit freundlichen Grüßen
Ms. Claire Winston
Lektorin
Ich spitzte die Lippen und nickte. Die Zeilen drückten überaus nett aus, was ich dachte. Hoffend auf sein Verständnis, schickte ich die Mail ab. Man konnte ja über alles reden. Das war immer das Beste, um am Ende zu einer guten Lösung zu kommen. Ich war zufrieden mit mir, schloss den Laptop, räumte schleunigst zusammen und freute mich auf den Feierabend.
»Und haben Sie’s gelesen?«, rief mir meine Chefin im hellen Foyer des Verlags hinterher. Ich blieb stehen. Sie kam zu mir und fixierte mich auffordernd.
»Natürlich. Alles erledigt. Jetzt muss ich los.«
Olivias Augen glänzten. »Halt. Haben Sie ihm das Resümee des Beginns mitgeteilt?«
»Allerdings habe ich das.«
Sie legte die Hände zusammen wie bei einem Gebet. »Er ist so gut. Das wird vielen Frauen heiße Gedanken bescheren. Ich sehe schon die Schlangen vor den Buchläden. Boheme ist nicht nur spannend, sondern auch explosiv.« Olivia knurrte und eilte weiter. Meine Blicke folgten ihr. Was sollte denn das?
Kopfschüttelnd schob ich sie aus meinen Gedanken und ging weiter.
Ray, der wenig später im Restaurant in Brighton neben mir saß, nahm meine Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Du siehst bezaubernd aus, Darling. Das schwarze Cocktailkleid und die Perlenkette stehen dir. Ausgezeichnete Wahl«, flüsterte er und zwinkerte mir zu. Er konnte so charmant sein.
»Danke, lieb, dass du das sagst. Besonders nach diesem Tag. Du siehst auch gut aus.« Sein lasziver Blick erinnerte mich wieder an die Nächte, in denen wir uns geliebt hatten, als gäbe es kein Morgen. Wenn Olivia das wüsste. Von wegen bieder. Ich katapultierte Olivia Barns mit einem Kick aus meinen Kopf und konzentrierte mich ganz auf Ray. Er trug das schwarze Haar fast glatt gegelt und einen marineblauen Anzug. Darunter ein blütenweißes Hemd und Krawatte. Sehr adrett. Obwohl ich zugeben musste, dass ich ihn leger gekleidet und mit leicht zerzausten Haaren noch unwiderstehlicher fand. Er hatte ein neues Aftershave, das nach Zitronengras duftete, was mir gefiel. »Was war denn los? Stress mit dem neuen Skript?«, fragte er leise.
Ich winkte ab. Schon kroch Olivia Barns zurück in meinen Kopf und dirigierte dort die Gedanken. »Ach, dieser Bestsellerautor, von dem ich dir erzählt habe, ist … Nein. Reden wir ein anderes Mal darüber.«
»Bestsellerautor? Welchen meinst du?«, fragte Rays Mum. Mich überraschte es nicht, dass sie das sofort hellhörig werden ließ. Sie reckte den Hals und schaute über den gläsernen Tisch des Roof-Top-Restaurants hinweg. Es war das erste Mal an diesem Abend, dass sie mich ansah. Wieder einmal stellte ich fest, dass meine zukünftige Schwiegermutter Ohren wie ein Luchs hatte. Das konnte man von Elton, ihrem Mann, nicht behaupten.
»Was?«, fragte der. Innerlich seufzend sah ich durch die Fensterfront des Restaurants hinaus auf die Dächer der Stadt und wünschte mich zusammen mit Ray weit weg.
»Träumst du?«, fragte seine Mutter.
Allerdings. Von fernen Ländern …
Langsam richtete ich meine Aufmerksamkeit auf sie. War besser so. Ray war ihr beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten. Die Feststellung erschreckte mich jedes Mal. Das Graublau seiner Augen war identisch. Von Elton hatte er im Grunde nur seine Größe und die leicht hügelige, sonst aber perfekt geformte Nase geerbt. Zum Glück nicht die Glatze, die dieser schon früh bekommen hatte. Katherine Gere wartete ungeduldig auf eine Antwort, was ich an ihrer linken gezupften Braue erkennen konnte, die leicht zuckte. Ray zeigte das gleiche Zucken, wenn ihm etwas zu langsam ging – nur war es bei ihm die rechte.
»Sie arbeitet mit einem literarischen Weltstar zusammen«, kam er mir zuvor. Nun war die Katze aus dem Sack.
»Ach wirklich?« Katherine machte große Augen und faltete ihre grazilen Finger. An fast jedem steckte ein goldener Ring. Elton runzelte die Stirn, wobei sich sein mandelgroßer Leberfleck, der fast in der Mitte prangte, zu einem liegenden Halbmond verzog. Der Fleck war, wie er selbst einmal gesagt hatte, sein Markenzeichen. Ich mochte Elton. In seiner Brust schlug eindeutig ein wärmeres und größeres Herz als in der von Rays Mutter. Zwischen mir und Katherine war das Eis noch lange nicht gebrochen.
»Ja, ich bin seine Lektorin«, stillte ich Katherines Wissbegierde.
Ray nickte. »Sie wird selbst noch berühmt werden. Sagte ich doch.«
Was sollte denn das heißen?
»Wir mögen sie so oder so«, warf Elton schnell ein. Nett von ihm.
»Danke, Elton«, flüsterte ich und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, das er erwiderte. Dann rief er die Kellnerin und bestellte neuen Wein.
»Was weißt du schon, Elton.« Katherine winkte ab und wandte sich dann direkt an mich. »Wer ist es denn? Und vor allem – wie ist er so? Ich lese auch gern, wie du weißt. Kenne ich ihn? Wenn er Bestseller schreibt, bestimmt. Alles andere taugt sowieso nichts.«
Typisch Katherine.
»Von wegen. Da täuschst du dich gewaltig. Manchmal steckt nur ein großes Marketing dahinter. Das eben nicht jeder Autor bekommt.«
Katherine blinzelte. »Ach wirklich? Das weißt du also ganz genau?«
In Gedanken verdrehte ich die Augen.
Ray nahm mir die Vorfahrt, indem er mir das nächste Wort abschnitt. Doch seine vorherige Bemerkung mit dem Berühmtwerden ließ mich nicht los.
»Sie arbeitet mit Samu Boheme zusammen«, verriet er.
Katherine riss die Augen auf. »Mein Gott, tatsächlich? Das ist unfassbar. Du und Boheme!«
Ich verstand die Aufregung nicht. Boheme war schließlich auch nur ein Mensch.
»Wie schön. Laden wir diesen begnadeten und erfolgreichen Schriftsteller doch zu unserer Benefiz-Gala ein. Ich will wissen, wie er aussieht, ihn fragen, woher er all seine Ideen nimmt.« Katherine klatschte in die Hände. »Er wird sich nicht langweilen, und du kannst dich unseren Freunden und Verwandten auch gleich als seine Lektorin vorstellen, Claire. Endlich mal etwas, womit …« Sie hielt inne, räusperte sich.
Mir zog sich der Magen zusammen. Das fehlte mir gerade noch.
»Er hat keine Zeit. Er schreibt gerade an einem neuen Roman und tritt nie in der Öffentlichkeit auf. Jedenfalls nicht als Samu Boheme. Niemand weiß, wer wirklich hinter dem Namen steckt. Und ich glaube nicht, dass er das für eine Gala ändern wird. Tut mir leid.« Die Lüge kam mir überraschend leicht über die Lippen. Vielleicht, weil sie nicht ganz falsch war. Ich war mir sicher, dass Boheme ohnehin nicht erscheinen würde.
Katherine musterte mich. »Das ist deine Meinung. Man wird sehen. Auf jeden Fall möchte ich ihm eine Einladung schicken. Übernimmst du das für uns?«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Natürlich«, sagte ich einfach. Katherines Wille geschehe – und ich hatte meine Ruhe. Hoffentlich!
»Was hat er sich denn Neues ausgedacht für seinen Roman?«, erkundigte sie sich.
Kurz überlegte ich, ob ich die Wahrheit sagen sollte. Nein. Verdammt.
»Dieses Mal probiert er sich an einer Romance.«
Katherine schürzte die Lippen. »Ah, wie schön. Ich mag beide Genres.«
Elton verschluckte sich an seinem Wein und hustete heftig.
»Hier ist ein Taschentuch.« Katherine beugte sich sofort zu ihm.
Ich wollte aufstehen, ihm helfen, doch er hob eine Hand. »Geht schon wieder.« Er keuchte ein wenig.
Ray blieb überraschend gelassen. Er beugte sich zu mir, seine Lippen streiften meine Wange. Das Kribbeln, wenn er so etwas machte, war früher stärker gewesen.
»Was war denn nun genau los im Verlag?«, flüsterte er mir ins Ohr.
Unsere Blicke trafen sich, als ich mich ihm zuwandte. »Hatte nur Stress. Die neue Aufgabe und so.« Ich hielt inne, musterte ihn. »Wichtiger ist, warum du mich vorhin nicht hast antworten lassen. Also, warum?«
»Genau das habe ich gespürt. Du kommst mit der neuen Herausforderung nicht zurecht. Oder ist der Autor so attraktiv? Sag nicht, dass deine Chefin nicht weiß, wer Boheme wirklich ist.«
Pikste Ray etwa mal wieder der Stachel der Eifersucht? Ich verdrehte innerlich die Augen.
»Du weichst meiner Frage aus. Und nein. Ich glaube ihr, wenn sie sagt, sie hat ihn noch nie zu Gesicht bekommen, und ich bin ganz und gar nicht überfordert, Ray«, entgegnete ich.
»Pst. Deshalb habe ich für dich geantwortet. Ich kenn dich besser als du dich. Dass du überfordert bist, brauchen meine Eltern nicht zu wissen. Sie freuen sich so für dich über deinen Erfolg. Das wusste ich und daher …«
Seine Worte donnerten wie Steine gegen mein Herz und landeten in meinem Magen. Ich holte Luft und versuchte den inneren Druck loszuwerden. »Verstehe. Dann hattest du also Angst, ich blamiere mich – nein, eher dich. Wie nett. Sei froh, dass ich dich liebe.«
Ray zog die Stirn kraus. »Was soll das denn heißen?«
»Ich hab gehört, wie du deiner Mutter einmal gesagt hast, du wirst mich zu einem Diamanten schleifen, damit sie stolz sein kann. Du würdest Potenzial in mir sehen.«
Mein Herz krampfte.
»So ein Unsinn. Das hab ich so nie gesagt. Sie mögen dich, wie du bist.«
»Dein Vater, ja.«
Ray lachte leise, was so gar nicht zur Situation passte. »Hey Claire, ich meinte und meine es doch nur gut. Entschuldige.« Wirklich? Wie zufällig berührte er meinen Hals mit seinen Lippen und stöhnte leise auf. Dieses Mal bekam er mich damit herum. Das Kribbeln war eindeutig. Ray wusste genau, wie er mich letztendlich wieder weichkochen konnte. Aber wenn das alles so weiterging, dann –
»Ich liebe dich, und ich liebe dich auch ungeschliffen. Das ist die ganze Wahrheit«, hauchte er mir zu. Ich schloss die Augen. Verdammt, ich wollte ihm glauben. Ich wusste, er hatte den Drang, seinen Eltern zu gefallen. Wie er oft sagte, hatte er ihnen eine Menge zu verdanken. Okay, jeder fand doch an einem anderen etwas, das ihm nicht in den Kram passte. Vielleicht sollte ich viel lässiger werden. Trotzdem schoben sich mir unweigerlich die Bedenken, die Jenny geäußert hatte, in den Sinn. Sie wurde nicht müde, mich darauf hinzuweisen, dass Ray mich oft nicht würdig behandelte. Aber wer konnte schon behaupten, die perfekte Beziehung zu haben? Überall gab es mal Probleme. Das hatte ich unlängst auch zu meinen Eltern gesagt, als diese bei ihrem letzten Besuch Rays manchmal ein wenig abgehobene Art rügten.
»Hauptsache, du bist glücklich«, hatte Mum letztendlich gesagt, es aber wie eine Frage klingen lassen. Dad hatte nur skeptisch dreingeschaut.
»Sei mir nicht böse«, sagte Ray leise. Er ließ eine Hand zwischen meine Beine wandern. Mir wurde wärmer. »Kommst du in zwei Minuten nach?«, flüsterte er dann.
Was? »Wohin?«
»Toilette. Ich und du.« Er zwinkerte mir zu.
Er wollte es dort mit mir … Oh.
Ehe ich mich versah, war er schon aufgestanden und verschwunden. Ein kleines Abenteuer? Warum nicht. Ohne Katherine und die anderen zu beachten, folgte ich Ray.
Er wartete im Flur zu den Toiletten, lässig an die Wand gelehnt. Niemand sonst war da. Ein Blick, ein Lächeln, und wir verschwanden in einer Kabine der Damentoilette.
Das gedimmte Licht ließ seine Gesichtszüge weicher wirken. Mit einem Ruck zog er mich zu sich, deutete einen Kuss an und drängte mich dann rücklings gegen die Tür. Huch.
Dann presste er sich der Länge nach an mich. Unsere Blicke trafen sich, unser Atem ging schneller. Seine Lippen fanden meinen Hals – sanft, aber intensiv. Eine vertraute Hitze flammte in mir auf. Doch dann mischten sich Gedanken dazwischen, laut und störend.
Nicht jetzt, verdammt. Aber sie ließen sich nicht zurückdrängen. »Was, wenn ich kein Diamant werde?«, hörte ich mich fragen.
Als Antwort legte Ray seine Lippen auf meine. Fest, fordernd. Ich hätte lieber zuerst seine Antwort gehabt.
Er zog mich ein Stück von der Tür weg, seine Hände glitten über meinen Rücken, fanden meinen Po. Mein Herz schlug schneller. Unwillkürlich dachte ich an Samu Boheme. An seinen Protagonisten. Ein unangenehmes Ziehen breitete sich in meiner Brust aus.
»Ich will nie als Sexspielzeug enden.«
Hatte ich das laut gesagt?
Ray verzog den Mund, schüttelte den Kopf. »Nicht reden, Claire. Genießen.«
Kein Zweifel – in diesem Moment wurde sein Denken allein von Testosteron gesteuert. Bevor ich noch etwas erwidern konnte, legte er seine Lippen wieder auf meine. »Du siehst zum Anbeißen lecker aus«, knurrte er gegen meinen Mund und knabberte dann an meinem Ohrläppchen. Sein schneller Atem ließ meine Haut prickeln. Endlich spürte ich wieder einen Hauch von Leidenschaft. Seine Zunge wanderte an meinem Hals entlang, während seine Hände nach meinen Brüsten suchten. Zuerst streichelte er sie leicht, dann wurde der Druck intensiver. Krampfhaft hielt ich an diesem Gefühl fest, versuchte, es nicht entgleiten zu lassen, wollte es nicht wieder verlieren. Unsere Körper drängten sich näher zusammen. Ich wollte mehr spüren, die Gedanken einfach abschalten, doch die Ebbe kehrte binnen Sekunden zurück. Vielleicht lag es auch an diesem Raum, der äußert eng war. Außerdem drang mädchenhaftes Kichern zu uns herüber.
Ray schien es anzutörnen. Er grinste mich an und küsste mich erneut. Der Gedanke, erwischt zu werden, schien ihm zu gefallen. Das war eine neue Facette an ihm, die ich gerade entdeckte. Ich schüttelte den Kopf und schob ihn sanft von mir. Er schob die Brauen zusammen. »Was ist?«, flüsterte er.
»Ich kann nicht. Lass uns später weitermachen, wenn wir zu Hause sind«, flüsterte ich zurück.
Das Lachen der jungen Frauen klang noch immer in meinen Ohren. Hatten sie uns gehört? Ray zog einen Schmollmund. Als wir wieder allein waren, fragte er: »Und ich dachte, du bist lockerer geworden. Oder hat es vielleicht doch mit diesem supertollen Autor zu tun?«
Wie bitte? »Ich bin locker, Ray. Völlig. Aber hier fühle ich mich einfach nicht wohl. Das ist alles. Obwohl der Gedanke, es hier zu tun, mich anfangs durchaus gereizt hat.«
»Aha.« Wie er es sagte, klang es, als würde er mir nicht glauben. Ray richtete seine Krawatte, die er vorhin locker gemacht hatte. Seine Eifersucht ging mir zunehmend auf die Nerven.
»Lass uns zurückgehen«, sagte Ray kühlt. »Und besorg bitte die verdammte Einladung. Ich will ihn auch kennenlernen. Oder hast du etwas dagegen?«
Um nicht Öl ins Feuer zu gießen, antwortete ich: »Ja doch, er bekommt eine ver… Einladung. Und nein, warum sollte ich etwas dagegen haben, dass ihr euch kennenlernt? Ich kenne ihn aber wirklich nur von seinen Zeilen her. So, und jetzt werde ich über das Thema nicht mehr reden. Ist mir zu kindisch.«
Ray schürzte die Lippen. »Zu kindisch also?«
»Allerdings!«
Mit einem Ruck öffnete ich die Toilettentür und hielt die Luft an. Davor stand eine alte grauhaarige Dame, die mich mit großen Augen musterte.
»Alles in Ordnung, Kindchen?« fragte sie.
Meine Wangen erhitzten sich, ich nickte rasch, räusperte mich und ging weiter, gefolgt von Ray.
»Ich hoffe, ihr habt verhütet« rief die Dame uns hinterher.
Ray musste, als wir wieder im Flur waren, darüber lachen und steckte mich damit an. Verdammt, ich wollte Frieden. »Lass uns nicht streiten, Ray.«
»Okay«, sagte er und verkeilte die Finger seiner Hand mit meinen.
Gegen zweiundzwanzig Uhr telefonierte ich mit Jenny und machte es mir in meinem Lieblings-Schlafanzug im Bett gemütlich. Jennifer Garner-Jackson war nicht nur meine beste Freundin, sondern auch ein angesehener weiblicher Fitness-Guru mit eigenem Studio in Brighton. Wir kannten uns schon seit der Schulzeit. Auch unsere Eltern verstanden sich bestens, obwohl sie ziemlich unterschiedlich waren. Seit einem Jahr verbrachten Jennys Mutter und ihr Vater ihren Feierabend, wie sie ihren wilden Ruhestand nannten, auf einer spanischen Insel. Sie liebten es, abends in Clubs zu tanzen und fast jeden Tag am Strand zu joggen oder Städte unsicher zu machen. Meine Eltern hingegen bevorzugten die Ruhe und Abgeschiedenheit.
Ich starrte auf den weißen Umschlag mit goldener Schrift, der die Einladung zur bevorstehenden Benefiz-Gala enthielt, die mir von Rays Eltern überreicht worden war. Meine zukünftige Schwiegermutter hatte sie mir heute zugeschickt, damit ich sie an Samu Boheme weiterleiten konnte. Ich war froh, dass Ray den Autor nicht mehr erwähnt hatte.
»Erde an Claire« rief Jenny.
Ich nahm das Kuvert und verstaute es in der untersten Schublade meines Nachttischchens.
»War echt ein anstrengender Tag heute. Olivia hat mich zigmal nach meiner Meinung zu dem Skript gefragt, mir ihre aber aufgedrängt. Ich kam kaum zu Wort, und wenn schien sie gar nicht wirklich zuzuhören. Sie ist nach wie vor hin und weg von der Story. Man könnte es langsam Besessenheit nennen.«
Wie so oft hatte ich Jenny in die Erlebnisse meines Lebens eingeweiht. Im Grunde waren wir Schwestern. Als Kinder hatten wir sogar einen Bluteid auf unsere Freundschaft geschworen.
»Und dieser Autor? Hat er sich nun schon gemeldet auf deine letzte Mail hin?«
Mein Magen grummelte bei dem Gedanken daran. »Nein. Ich hoffe, er ist nicht sauer, sondern denkt darüber nach.«
Jenny lachte. »Das kann bei Männern bekanntlich schon mal ein wenig länger dauern.«
Wie wahr. Außer bei Ray. Der wusste immer sofort, was er wollte. Zudem war er durch und durch Geschäftsmann. Erst gestern hatte er einen großen Deal mit amerikanischen Großkunden abgeschlossen, wie er mir und seinen Eltern überaus ausladend mitgeteilt hatte.
»Also, Süße. Ich werde noch eine Runde joggen und dann schlafen. Wir treffen uns morgen in der Mittagspause zu einem Kaffee in Jerrys Café-Lounge. In Ordnung? Ist Ray noch unterwegs?«
»Jap, macht mal wieder Überstunden. Zusammen mit seinem Dad. Du weißt doch, der kann auch nie ganz loslassen. Das mit dem Kaffee geht klar. Freu mich drauf. Schlaf gut.« Ich spitzte die Lippen zu einem Abschiedskuss, als könnte sie es sehen.
»Ray und sein Ehrgeiz. Den sollte er heiraten«, bemerkte Jenny spitz.
Ich verdrehte die Augen. »Das mit Ray und mir passt schon.«
»Ich wünsche es dir so sehr, wie du es dir selbst wünschst.«
Jenny sagte immer offen, was sie dachte. Sie war mein Fels in der Brandung, der schon so manche heranschwappende Sturmwelle aufgehalten hatte. Sie erdete mich. Mit ihrem Freund Val hatte sie einen Volltreffer gelandet. Er trug sie auf Händen.
Gerade wollte ich das Handy weglegen, da rief Mum an. Ich ging ran. »Hi Mum.«
»Hallo Schatz. Wie geht es dir und Ray?« fragte sie.
Mit der freien Hand strich ich über die kühle Satinbettwäsche. »Gut, alles bestens.« Mir entwich ein Gähnen. Das Lektorat der ersten Kapitel von Bohemes Werk, bei dem ich bei fast jedem Satz einen Kommentar einfügen musste, und Olivias Nachfragerei hatten mich geschlaucht.
»Schön«, gab Mum zurück und fügte »liebe Grüße von Dad« an.
Ich lächelte. »Danke. Sag ihm auch liebe Grüße.«
»Wir sind so stolz auf dich. Ray hat uns schon erzählt, dass du nun Lektorin eines Bestsellerautors und auf dem besten Weg zur Beförderung bist. Aber nicht nur deswegen sind wir stolz. Das weißt du.«
Wann das? »War er bei euch oder habt ihr telefoniert?«
»Ray hatte vormittags einen Termin in der Nähe. Er hat Kuchen mitgebracht. Sehr nett. Adam hat sich gleich darauf gestürzt. Du kennst deinen Vater ja. Wird immer schlimmer mit seiner Naschsucht. Sein Bäuchlein formt sich langsam zu einer Kugel.«
So lange er sich damit wohlfühlte, war es doch in Ordnung. Ray fand es lustig, dass meine Eltern Adam und Eva hießen. Seiner Meinung nach hatten wir daher von unseren Eltern gleich den Segen für die Heirat bekommen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Das erzählten sie zu gern. Beneidenswert. »Ich glaube«, sagte Mum dann, »Ray ist sogar ein wenig eifersüchtig auf deinen Autor.«
Geräuschvoll pustete ich Luft aus. »Ich kenne den Autor nicht mal persönlich.«
»Sei froh.«
»Warum?«
»Ein bisschen Eifersucht schadet nie.«
Gegen ein bisschen hatte ich auch nichts.
»Du kennst den Autor also nicht persönlich? Ich lese ja keine Thriller. Aber wenn er nun eine Romance schreibt, wie Ray erzählt hat, dann möchte ich diese schon lesen. Und du weißt, ich liebe alle Bücher, bei denen du mitgewirkt hast. Die gute liebe Katherine ist auch schon so gespannt auf das Buch.«
»Ich weiß.«
»Ray hat sich erkundigt, ob wir mehr wissen. Also über den Autor und so. Kam uns jedenfalls so vor.«
Dachte ich es mir doch.
»Du meinst, er wollte euch mit Kuchen und seinem Charme bestechen?«
»Ich habe nur gesagt, es kam uns so vor.«
Im Hintergrund hörte ich Dad. »Gib mal her, Eva … Claire, hör mal, Ray macht sich halt Gedanken um dich. Nicht mehr und nicht weniger. Alles gut also.«
Dad hielt zwar zu Ray, hörte sich aber dennoch unsicher an.
»Gedanken darf ich mir als Mutter auch machen, Adam«, erwiderte Mum und übernahm das Gespräch wieder.
»Sag Ray nicht, dass wir ihn verpetzt haben, Claire.«
»Du hast ihn verpetzt, Eva«, erinnerte Adam sie.
»Streitet deswegen bloß nicht. Das ist es nicht wert«, erwiderte ich.
»Keine Sorge. Du kennst uns alte Knochen doch.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ihr seid doch nicht alt, Mum.«
»Fast siebzig immerhin. Ich hab dich lieb, Süße.«
»Ich dich und Dad auch«, sagte ich. Ich fragte mich, warum Ray mir so wenig vertraute. Ich hatte ihn nie betrogen, war auch früher bei meinen zwei Ex-Freunden treu gewesen. Rays Vergangenheit war da weniger unbescholten. Er hatte eine Frau sitzen lassen, die sich eine Verlobung mit ihm erhofft hatte, und eine andere betrogen. Das hatte er mir nie erzählt, Jenny hatte es herausgefunden.
Als ich ihn einmal danach gefragt hatte, hatte er das Thema mit der Aussage ›Es hat eben nicht gepasst. Und das war im Grunde nicht meine Schuld‹ abgespeist.
Nach dem Telefonat mit meinen Eltern stand ich auf und blickte aus dem Fenster.
Das weiße Flachdachhaus, in dem Ray und ich wohnten, hatte eine umlaufende Veranda mit Swimmingpool. Es lag nur einen Katzensprung vom Brighton Pier entfernt. Vor fünf Jahren hatte Ray es sich mit einem großzügigen Zuschuss seiner Eltern gekauft. Die Zimmer waren geräumig, modern und hell eingerichtet. Auf Schnickschnack, wie Ray es nannte, wurde bewusst verzichtet. Ich, die ich früher genau darauf stand, hatte mich mittlerweile daran gewöhnt. Jetzt setzte ich, genau wie er, auf schlichte Eleganz. Ich öffnete meinen Dutt, ließ mein langes, blondes Haar über die Schultern fallen und lauschte dem Kreischen der Möwen draußen.
Brighton war nicht nur schön, sondern auch ein Ort der Toleranz und des freien Denkens. Ein Magnet für Prominente, Querdenker und Menschen voller Lebenslust. Kurz überlegte ich, einen Spaziergang am Strand zu machen, doch es war kühl draußen, und ich fröstelte bereits im Haus. Selbst jetzt im August stiegen die Temperaturen in Brighton selten über einundzwanzig Grad. Ich rieb mir die Oberarme und zog mir eine Strickjacke über. Krank werden wollte ich keinesfalls.
Ich erinnerte mich an etwas, das Jenny einmal gesagt hatte: »In Brighton kann man Machos sofort an ihrer Kleidung erkennen, weil sie ganzjährig mit T-Shirts am Strand herumlaufen.«
Meine Gedanken tauchten weiter in die Vergangenheit ab. Ich war so aufgeregt gewesen, als Ray mich damals, nachdem wir ein paar Wochen zusammen waren, gefragt hatte, ob ich aus meiner kleinen Wohnung ausziehen wollte, die ich während meines Studiums bewohnt hatte. Seitdem versuchte ich mich hier zu Hause zu fühlen, was mir mit jedem Tag besser gelang. Meine Eltern hatten damals nie verstanden, warum ich mir überhaupt eine eigene Wohnung genommen hatte. Ich wollte selbstständiger sein und freier. Was nicht bedeutete, dass ich meine Eltern nicht liebte. Im Gegenteil.
Jenny erinnerte mich gern an meinen Freiheitsdrang. Manchmal kam es mir vor, als wollte Ray mir dieses erlangte Ziel mehr und mehr enteignen.
Gedanken-Stopp. Ich schüttelte den Kopf. Als ich mich hingelegt und die silbergraue Satindecke bis zum Kinn gezogen hatte, bekam ich eine WhatsApp von Ray:
Wird sicher nach Mitternacht. Aber die Vorarbeiten lohnen sich. Dad ist auch noch da. Kennst ihn ja. Kuss, Ray. Schlaf gut. Du bist doch schon im Bett?
Ich antwortete:
Ja. Denke an dich und liege dabei in unseren Federn. Nur du fehlst. Mach nicht mehr so lange.
Partnerschaft bedeutete für mich, dem anderen seine Freiheiten zu lassen. Das musste Ray umgekehrt noch lernen. Ich wollte zuversichtlich bleiben. Jenny glaubte nicht daran, dass er dies je schaffen würde. Gut, Ray war speziell in Sachen Kontrolle. Er versäumte es nie, jeden Tag öfter nachzufragen, wo ich war und was ich machte. Selbst dann nicht, wenn er es genau wusste. Seufzend schloss ich die Augen. In dieser Nacht träumte ich von Mr. Boheme. Er tauchte als dunkle Silhouette auf, die durch einen menschenleeren Park huschte. Mich fröstelte es, als ich ihm durch aufziehende Nebelschwaden folgte. Fieberhaft versuchte ich, ihn zu erreichen und ihm die weiße Maske, die er trug, vom Gesicht zu reißen.
»Ich mag keine frigiden Frauen«, rief er mir zu.
Wollte er etwa damit sagen, dass ich so war? Ich tippte mir an den Kopf. »Ich bin nicht frigide, falls du das denkst. Was bildest du dir ein?«
Er lachte dunkel. »Weißt du, mit wem du redest?! Ich bin ein bedeutender Schriftsteller.«
Was für ein eingebildeter Zeilenmacho. Ich wollte losrennen, doch meine Füße blieben im Asphalt des Parkweges stecken, als hätten sie Wurzeln geschlagen. Großartig. »Das kann schneller vorbei sein, als du denkst. Nämlich dann, wenn man seine Fans enttäuscht, vielleicht sogar vor den Kopf stößt. Du weißt, was ich meine, Samu«, rief ich ihm hinterher. Unbeirrt setzte Boheme seinen Weg fort, die Nebelschwaden schienen ihm zu folgen. Ich beobachtete ihn. Im Schein des Vollmonds wirkte er sportlich und beeindruckend – breite Schultern, groß gewachsen, ein Bild von einem Mann.
»Du wirst dir an mir die Zähne ausbeißen, du kleine Lektorin, deren Namen keiner kennt.« Sein Atem folgte seinen Worten in die Nacht. Mein Brustkorb kam mir vor wie ausgesogen. Nach Luft ringend ruderte ich mit den Armen. Boheme blieb stehen, wandte sich nach mir um und lachte. So laut, dass es mir in den Ohren schmerzte.
So sehr ich mich auch anstrengte, ihm meine Meinung entgegenzupfeifen, es gelang mir nicht. Stattdessen drangen Seifenblasen aus meinem Mund, die eine nach der anderen vor meinen Augen zerplatzten.
Am nächsten Tag küsste Ray mich sanft zum Abschied. Ich schenkte ihm ein Lächeln. Das Telefonat mit meinen Eltern hatte ich ihm verschwiegen und war fest entschlossen, es zu vergessen. Schließlich war er am Morgen beim Frühstück nett und zärtlich zu mir gewesen. Danach hatte er mich zur Arbeit gefahren, da mein schneeweißer Beetle noch bis zum Abend beim Kundendienst verweilen musste. Ray hatte mir das Auto letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt. Praktischerweise ließ er mich direkt vor dem Verlagsgebäude aussteigen.
»Ach, Claire«, pfiff er mich zurück, als ich die Beifahrertür schließen wollte.
Ich beugte mich hinunter und sah ihn an. »Ja?«
»Sag Jenny nachher liebe Grüße, vor allem, weil sie mich nicht leiden kann. Geht mir andersrum ebenso.«
Ich fand das kindisch. »Was sich hoffentlich einmal ändern wird.«
»Glaube ich kaum«, gab Ray zurück. Beim Frühstück hatte ich ihm erzählt, dass ich mich mittags mit Jenny treffen würde. Ray und sie waren wie Feuer und Wasser, was sie sich nie offen sagten. Das war auch gar nicht nötig. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Die Zeit drängte.
»Noch was. Hast du dafür gesorgt, dass dieser Boheme die Einladung für die Gala bekommt?«
Meine Güte. »Hab ich. Wir werden dann ja sehen, ob er kommt.« Die kleine Notlüge musste sein. Ich warf ihm einen Luftkuss zu. »Du, ich muss jetzt.«
»Gut. Wir wollen ja die Beförderung nicht gefährden. Bis später, Liebes. Das rote Kleid steht dir übrigens hervorragend. Auch wenn ich dich am liebsten nackt sehe.« Er grinste. Keine Zeit mehr darauf zu antworten. Kaum hatte ich die Wagentür zugeworfen, brauste er davon. Die Bemerkung mit der Beförderung hinterließ einen fahlen Nachgeschmack in mir.
* * *
Zum Glück war Olivia den ganzen Tag unterwegs. Das wusste ich von Andrea. Sie hatte es mir mit einem Lächeln erzählt, was mir sagte, dass sie darüber genauso erleichtert war wie ich. Gemächlich steuerte ich auf mein Büro zu. Ob Boheme schon geantwortet hatte? Mir zog sich der Magen allein bei der Vorstellung das Mail-Postfach zu öffnen zusammen. Kolleg:innen, die mir begegneten, grüßten nett, was ich ebenso erwiderte. Manche lächelten, andere gähnten, wieder andere wirkten, als wären sie ferngesteuert. Mit keinem hatte ich engeren Kontakt. Nur Kathleen, die bei den letzten Romanen Bohemes Lektorin war, kannte ich näher. Kathleen war ehrgeizig und wissbegierig. Ich beschloss, sie nach Feierabend zu besuchen und ihre Meinung bezüglich Boheme einzuholen.
Im Büro machte ich mich an den nötigen Mailcheck. Augen zu und durch. Und? Keine Antwort von Boheme. Hm. Nachdem ich alle Mails abgearbeitet hatte, zückte ich meinen kleinen Taschenspiegel und tupfte mir die Schweißperlen von der Stirn. Die Ehrfurcht vor der Weiterarbeit an dem sogenannten neuen Werk Bohemes hatte mich gepackt.
Bevor ich mich in seine Zeilen vertiefte, hatte ich im Internet nach Interviews und Fotos des berühmten und geheimnisvollen Boheme gesucht. Das hatte ich schon vor rund einem Jahr getan, als Bohemes letzter Thriller herausgekommen war und im Verlag in aller Munde war. Vielleicht hätte ich ihn auch mal lesen sollen. Aber abgesehen von den zwei Interviews, die der Autor telefonisch beantwortet hatte und die mir bereits bekannt waren, fand ich nichts Neues. Dieses war etwas über zwei Jahre alt.
Eine der Fragen des Interviewers Carl Leavensteen lautete:
Leavensteen: »Warum wollen Sie Ihre Identität für sich behalten?«
Boheme hatte äußerst sachlich geantwortet.
Boheme: »Ich möchte es einfach, will keinen Trubel, nur meine Ruhe. Mehr denn je.«
Leavensteen: »Haben Sie Frau und Kinder?«
