Rhein in Flammen - Diandra Linnemann - E-Book

Rhein in Flammen E-Book

Diandra Linnemann

0,0

Beschreibung

Seit Jahren treffen der schüchterne Einserschüler Niklas und die Schaustellertochter Jenna sich regelmäßig auf den großen Jahrmärkten in Bonn. Nach der Pandemie sind beide unsicher - was hat sich in den letzten zwei Jahren zwischen ihnen verändert? Doch schon bald wird ihr Wiedersehen auf dem Volksfest "Rhein in Flammen" von finsteren Machenschaften überschattet. Der Jahrmarkt hat sich verändert. Unheimliche Gestalten sind hinter den Kulissen zugange. Jenna und ihr Vater haben bereits alles vorbereitet, um die Gruppe zu verlassen. Vorher allerdings braucht Jenna noch Niklas' Hilfe dabei, die Pläne der anderen zu durchkreuzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 104

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

Kapitel DREIZEN

EINS

DER KARTOFFELBREI SCHMECKTE pappig, die Erbsen waren wächsern und kalt aber Niklas zwang sich, trotzdem aufzuessen. Sonst würde seine Mutter sich nur Sorgen machen. Nachher erlaubte sie ihm nicht, zu Rhein in Flammen zu gehen! Sie war sowieso nicht glücklich darüber, dass sein Vater entschieden hatte, mit sechzehn könne er sich durchaus mal allein auf einem Volksfest vergnügen.

Angesichts dieses Vorschlags war ihre Stimme noch schriller geworden. „Aber nur, wenn Ramona ihn mitnimmt!“

Die Geschwister hatten beide mit den Augen gerollt und sich gefügt. Zwei Jahre lang hatte es keine Großveranstaltungen gegeben. Keiner von ihnen war gewillt, diese Chance auf ein wenig Abwechslung wegen geschwisterlicher Zankereien zu riskieren. Ungewöhnlich schnell erklärte Ramona sich bereit, ihren jüngeren Bruder im Auto mitzunehmen und ihn den Abend über unter ihre Fittiche zu nehmen. Sie hielt den Blick auf ihre Erbsen gesenkt, damit niemand das hämische Glitzern in ihren Augen sehen konnte, aber Niklas kannte sie. Sie liebte es, ihn als Mamas kleines Baby aufzuziehen. Egal. Hauptsache, sie nahm ihn mit. Er hatte nämlich eine Verabredung.

Deswegen saß er auch eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit auf den Treppenstufen hinter der Haustür. Er traute seiner älteren Schwester durchaus zu, einfach ohne ihn zu fahren und später zu behaupten, sie habe ihn vergessen. Ramona war eine Zicke. Die zwei Jahre Altersunterschied hatte sie ihn schon immer spüren lassen – und seit sie ihren Führerschein hatte, war es nur schlimmer geworden. Er stützte sich auf den schwarzen Rucksack, der auf seinen Knien lag, und schloss die Augen. Die Nervosität in seiner Magengrube stemmte sich gegen den Kartoffelbrei. Er schluckte.

„Na, Baby, haben die Erwachsenen es sich noch nicht anders überlegt?“, trällerte Ramona, als sie die Treppe hinuntergetänzelt kam. Ihre schwarzen Leggings begannen zwei Handbreitüber goldglänzenden Sandalen und endeten dort, wo sie von einem wollfarbenen oversized Sweatshirt mit dem Logo einer angesagten Boyband verdeckt wurden. Sie warf ihre blonden Locken über die Schulter, während sie nach Autoschlüssel und Jacke griff. Eine überdimensionierte Handtasche aus Lederimitat vervollständigte ihren Look.

Niklas schulterte seinen weniger prätentiösen Rucksack. In dem Moment öffnete sich die Wohnzimmertür, und seine Mutter schaute mit einem nervösen Lächeln in den Flur. „Denk an deine Jacke, ja? Es wird kalt!“ Hinter ihrer gigantischen Brille, die schon seit Jahren aus der Mode gekommen war, wirkten ihre Augen riesig und konstant besorgt. Nervös fuhr sie sich mit der schlanken Hand durch die bereits ergrauenden Locken. Die Goldreifen an ihrem Handgelenk klimperten.

„Ja, Mama“, antwortete Niklas und hängte sich seine Trainingsjacke über den Arm.

„Pass auf, dass er sie nicht im Auto vergisst!“

„Natürlich.“ Ramona grinste in Niklas‘ Richtung. „Wir wollen ja nicht, dass das Küken sich erkältet.“

Vaters Gesicht tauchte in der Tür auf. Er legte seiner Frau eine Hand auf die Schulter. „Jetzt lass die beiden. Die kommen schon klar. Wir könnten endlich einen gemütlichen Abend zu zweit haben, wie so langweilige alte Leute!“ Er zwinkerte Niklas zu und erinnerte Ramona: „Wenn ein Knöllchen kommt, das zahlst du!“

Sie rollte zur Antwort nur mit den Augen, winkte noch einmal und war zur Haustür hinaus. Niklas rief: „Tschüss!“, und folgte ihr. Er schaffte es gerade noch auf den Beifahrersitz des kleinen Renault, ehe der Wagen auf die Straße schoss. Er schnallte sich an und sah aus dem Fenster auf den Nachmittagsverkehr hinaus, während im Radio eine fröhliche K-Pop-Band plärrte.

Seine Nervosität wurde stärker. Sie hatten noch nie so viel Zeit zwischen zwei Treffen verstreichen lassen. Er wusste nicht, was er mit dieser Überlegung anfangen sollte.

Ob Jenna wirklich auf ihn warten würde? Inzwischen war so viel passiert! Die letzten zwei Jahre hatte alles stillgestanden, und gleichzeitig hatte alles sich verändert. Er dachte an das Mädchen, das ihm bei ihrem letzten Treffen auf Pützchens Markt gewunken hatte. Sie hatten nicht gewusst, wie lange es dauern würde, bis sie einander wiedersehen würden. Damals war sie fünfzehn gewesen, und er hatte bereits das Gefühl gehabt, dass sie ihn innerhalb weniger Monate überflügelt hatte. Vielleicht war sie inzwischen unerreichbar. Vielleicht dachte sie gar nicht mehr an ihn.

„Rücksitz!“, rief Ramona, als sie das nächste Mal hielten.

Niklas schreckte aus seinem Tagtraum auf und kletterte gehorsam nach hinten. Er machte sich so klein wie möglich, als Saskia, Katharina und Ilona ins Auto stiegen. Der Geräuschpegel stieg ins Unerträgliche. Die Freundinnen waren total überdreht. Er steckte sich Kopfhörer in die Ohren und drehte sich so, dass er durch das pollengetönte Seitenfenster nach draußen schauen konnte. Dabei bemerkte er einen niedlichen kleinen Marienkäfer, der mit weit gespreizten Beinchen als blinder Passagier auf der Scheibe mitfuhr. Die Straßen und Gehwege waren voll. Alle Welt schien auf dem Weg Richtung Rheinauen. Auf den Gesichtern, die er im Vorbeifahren sah, lag ein Ausdruck von Vorfreude. Endlich ging das normale Leben weiter. Endlich passierte hier mal wieder etwas Schönes.

Sie parkten in einer Nebenstraße, knapp zwei Kilometer vom Jahrmarkt entfernt. Die Anwohner hier waren darüber bestimmt nicht erfreut. Niklas stieg als letzter aus und schlug die Seitentür fester zu, als er beabsichtigt hatte. Die jungen Frauen sahen ihn überrascht an.

Ramona verzog das Gesicht. „Hast du auch deine Jacke dabei? Mama will nicht, dass ihr kleiner Liebling sich erkältet!“

„Halt die Klappe“, murmelte Niklas, vergrub die Hände in den Jackentaschen und stapfte davon.

Hinter ihm wurde gelacht.

„Nach dem Feuerwerk treffen wir uns wieder hier!“, rief Ramona ihm noch hinterher. Sie wusste genau so gut wie er, was für ein Theater es geben würde, wenn sie nicht gemeinsam nach Hause kämen.

Er gab ihr nicht zu erkennen, ob er sie gehört hatte. Stattdessen wurde er wie von selbst schneller, als er sich dem Volksfest näherte. Die schnatternden Stimmen der älteren Mädchen verloren sich in der Szene. Der Sonnenuntergang war nicht besonders spektakulär. Es war ein bedeckter Tag gewesen, aber die Luft war warm und weich. Schon von weitem sah er die Scheinwerfer an den Konzertbühnen in den Himmel stechen. Die Leute um ihn herum redeten und lachten. Die Aufregung war klar zu hören, auch wenn er nicht darauf achtete, was um ihn herum geredet wurde. Sein Telefon vibrierte im Rucksack, aber er holte es nicht hervor.

Sie hatten sich immer nach dem gleichen System getroffen: Zur vollen Stunde am Luftballonstand oben am Rondell, neben dem Eisverkäufer. Das war eine Institution – schon als kleines Kind hatte Niklas dort von seinen Eltern immer einen Luftballon ans Handgelenk gebunden bekommen. Erst später war ihm klargeworden, dass seine Mutter ihn so leichter im Auge behalten konnte. Sie machte sich immer Sorgen um ihn. In seiner Brust vermischten sich Wehmut und Vorfreude miteinander. Sein Herz klopfte schneller.

„Rhein in Flammen“ war nicht irgendein Volksfest – es war das Frühjahrsereignis am Rhein. Oder vielmehr, eine Reihe von Ereignissen in den größeren Städten am Ufer. Bis in den Hochsommer hinein konnte man sich regelmäßig an Feuerwerken und Zuckerwatte gütlich tun, wenn einem danach war. Bonn war jedes Jahr am ersten Wochenende im Mai dran. Es gab mehrere Tage voller ungesunder Snacks, lauter Musik, wilder Fahrgeschäfte – und den Höhepunkt bildete das Feuerwerk, das heute Abend zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie wieder abgebrannt werden sollte. Es fühlte sich an, als sei die ganze Stadt auf den Beinen. Niemand wollte sich das entgehen lassen.

Auf den Hängen hinter dem Kiosk am Parkplatz saßen Gruppen von jungen Leuten auf Decken und Kissen beieinander und ließen es sich gutgehen. Die ersten Familien mit kleinen Kindern waren bereits auf dem Rückweg – man erkannte sie leicht an den erschöpften Gesichtern, auf denen tausend Eindrücke sich zu einer Maske der Überforderung vermischten. Manche Kinder quengelten wegen Dingen, die sie noch nicht gemacht oder probiert hatten. Eltern schimpften. Ein älterer Mann fasste einen Jungen von vielleicht zehn Jahren fest am Handgelenk und zerrte ihn mit sich Richtung Ausgang. An den Fußgängerampeln sammelten sich Menschentrauben und warteten unter den wachsamen Augen zweier Polizistinnen auf ihr Signal.

Auf der Straße reihte sich ein Linienbus an den anderen. Eine lange Schlange an städtischen Fahrzeugen wartete darauf, die Bucht der Haltestelle zu erreichen, um ihre Fahrgäste in die parkähnliche Anlage speien zu können. Dazwischen hupten PKWs, die in der Hoffnung auf einen Parkplatz dicht am Geschehen in immer größeren Kreisen um den Jahrmarkt zirkelten. Dazwischen überquerten Leute, die nicht auf die Ampel warten wollten, die Straße im zähfließenden Verkehr. Niklas meinte, Ramonas übergroßes Sweatshirt zu erkennen, aber er war sich nicht sicher. Vielleicht ging da auch ein Mehlsack spazieren. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Wichtigeres.

Dieses Jahr waren Luftballons mit leuchtenden Elementen der letzte Schrei. Niklas sah den Stand schon von weitem. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 18:57. Er war früh dran. Jenna war noch nirgends zu sehen. Möglichst unauffällig stellte er sich an den Wegrand in der Nähe des Luftballonmannes und beobachtete die vorbeiziehende Menge.

Kam es ihm nur so vor oder waren die Leute lauter als früher? Konnte es sein, dass sie die verlorenen Jahre gutmachen wollten? Er sah Erwachsene mit Baseballkappen und dicken Kameras Richtung Fest gehen, Studentinnen mit einem Bollerwagen voller Bierkästen, eine alte Frau mit einem angespannt zitternden Schäferhund an der Leine. Ein verliebt strahlendes Pärchen schleppte gemeinsam einen riesigen rosa Babyelefanten den Weg entlang. Ein kleines Mädchen, dessen Eltern ihr Auswahlverfahren mit resignierter Geduld begleiteten, bekam schließlich einen heliumgefüllten Schmetterling mit leuchtenden LED-Antennen und strahlte auf dem Weg zum Parkplatz beinahe heller als ihr Luftballon. Eine Gruppe Jugendlicher scharrte sich um den Wagen des Eisverkäufers. Zwei von ihnen hantierten mit merkwürdig asymmetrisch geformten Drohnen, die laut surrend über ihren Köpfen im Kreis flogen. Lautes Johlen begleitete den Tanz der Geräte.

Plötzlich ertönte eine Stimme hinter ihm. „Junger Mann, warten Sie auf jemanden?“

Niklas zuckte zusammen. Er fuhr herum.

Jenna hatte sich verändert, war aber immer noch sofort zu erkennen. In den vergangenen zwei Jahren war sie in ihre Körpergröße hineingewachsen und sah jetzt nicht mehr aus wie eine verschüchterte Stabheuschrecke. Ihre langen braunen Haare waren zu einem Dutt am Hinterkopf zusammengebunden und das Lächeln genau so frech wie früher. Hatte sie immer schon Sommersprossen gehabt?

Der Kloß im Hals ließ ihn nicht sprechen.

Sie betrachtete ihn und wurde rot. „Du bist doch Niklas, oder?“

Nicken ging.

Für diese Geste wurde er mit einem strahlenden Grinsen belohnt. „Puh, Glück gehabt! Stell dir vor, wenn ich einen Wildfremden angequatscht hätte – der hätte mich doch für verrückt gehalten, oder schlimmer! Hast du ein Schweigegelübde abgelegt oder was?“

Er schüttelte verlegen den Kopf. Der Kloß war immer noch im Weg.

„Dann ist ja gut. Komm, mein Dad hat mir den Abend freigegeben!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und rannte mit großen Schritten vom asphaltierten Pfad weg, über die Rasenfläche hangabwärts auf das Fest zu.

Niklas schulterte seinen Rucksack und folgte ihr. Mit jedem Schritt ließ er die Nervosität, die ihm seit Tagen in den Knochen hing, ein wenig weiter hinter sich zurück.

ZWEI

JENNA LIEF, ALS habe sie ein Ziel. Hier am Rand des Volksfestes war es noch einfach, ihr zu folgen. Niklas konzentrierte sich auf ihr weißes T-Shirt und die rote Stoffblume, die sie sich an den Dutt gesteckt hatte, und legte einen Zahn zu. Er kam schnell ins Schwitzen, und der Rucksack hopste ihm rhythmisch ins Kreuz. Sie umrundeten die feiernde Meute vor der Bühne, auf der lokale Bands rheinischen Frohsinn verbreiteten, und passierten eine Reihe von Ständen, an denen dem leiblichen Wohl Sorge getragen wurde. An einem langen, mit gelben Plastiktischdecken geschützten Stand wurde Jenna langsamer. „Hast du Durst?“

Niklas nickte und sah sich das Angebot an. In großen durchsichtigen Behältern gab es bunte Flüssigkeiten, in denen Fruchtwürfel schwammen, und auf den Tafeln, die darüber an metallenem Gestänge baumelten, wurden exotische Punschmischungen angepriesen. „Haben die auch etwas ohne Alkohol?“

„Sicher.“ Jenna wechselte ein paar Worte mit einer der Damen hinter einer Glasschale und reichte Niklas gleich darauf einen großen Plastikbecher mit einer roten Flüssigkeit. „Magst du immer noch Erdbeere?“

„Danke“, antwortete Niklas und nahm einen starken Zug. Das Getränk war sehr kalt und sehr süß. „Was kriegst du?“

„Ich lad dich ein.“ Sie selbst hatte ein quietschgelbes Getränk bekommen und nippte. „Hmm, ich liebe Mango! Worauf hast du jetzt Lust?“

„Keine Ahnung“, antwortete Niklas. „Lass uns ein wenig rumgucken.“