Sterntaler und Eismarie - Diandra Linnemann - E-Book

Sterntaler und Eismarie E-Book

Diandra Linnemann

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Beschreibung

Viele Märchen beginnen mit der bösen Stiefmutter. Aber Maries Leben ist kein Märchen, und als die obdachlose Cora der jungen Ausreißerin einen Job und einen Platz zum Schlafen verspricht, nimmt sie an. Sie kommen in einer verlassenen Fabrik unter, in der der mysteriöse Jack Hof hält. Er schickt sie nachts auf Friedhöfe, um nach geheimnisvollen Artefakten zu suchen. Der Reichtum, den sie finden, stellt eine tödliche Verlockung dar. Als Marie erkennt, auf welches Spiel sie sich eingelassen haben, ist es schon beinahe zu spät.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

EINS

MARIE HATTE NICHT damit gerechnet, dass ihr Vater sofort Bankkarte und Telefon sperren lassen würde. Er hoffte wohl sie damit zur Umkehr zu zwingen. Tja, sie hatten immer noch den gleichen Dickkopf. Deswegen lungerte sie stattdessen am späten Donnerstagnachmittag in der Nähe der Selbstbedienungs-Bäckerei herum, sprach sich leise Mut zu und versuchte, den richtigen Moment abzupassen. Genügend Leute mussten im Laden sein, dass sie nicht direkt Aufmerksamkeit erregen würde, aber nicht so viele, dass sie ihr den Fluchtweg versperrten. Der Duft warmer Brötchen und fettiger Pizzazungen stieg ihr in die Nase. Der Weg zur Tür musste eine gerade Linie mit knusprigem Käse … hey, konzentriert dich! Sie versuchte, ihren knurrenden Magen zu ignorieren, und drehte sich schnell zum nächsten Schaufenster um, als der Kassierer – ein junger Mann, der nur aus Ellbogen und Ohren zu bestehen schien – Richtung Tür guckte. Oh, guck mal, bauchfreie Winterpullover. Wie praktisch. Wer dachte sich so etwas nur aus?

Sie sollte die Aktion abbrechen.

Aber irgendwas musste sie essen!

Eigentlich war der Plan ja ein anderer gewesen. Sie hätte die Bahn genommen und wäre zu ihrer besten Freundin nach Hamburg zurückgefahren. Ingas klappriges Sofa war immer noch besser als das traute Heim, das ihr Vater mit ihr und seiner Neuen einrichten wollte. Weihnachten hin oder her, auf dieses angeklebte Familienglück konnte sie gut verzichten.

Wie stellte er sich das überhaupt vor?

Weihnachtsgottesdienst ohne Mama?

Möglicherweise hatte er damit gerechnet, dass sie nachgeben würde, wenn ihr erster Zorn verraucht wäre – in diese karge Wohnung, die noch nach frischer Farbe roch und in der sich Kartons an den Wänden stapelten, weil die Spedition es irgendwie geschafft hatte, die Hälfte der Möbel auf dem Weg Richtung Süden zu verlieren.

Überhaupt, der komplette Umzug war ein gigantischer Reinfall gewesen. Und das alles wegen einer Frau, die gerade mal fünfzehn Jahre älter war als Marie! Wenn er glaubte, dass sie ihm das so einfach verzeihen würde …

Deswegen lag sie seit drei Tagen mit ihrem Rucksack als Kopfkissen nachts in Hauseingängen wach und überlegte, wie sie es am besten anstellen sollte, minderwertige Backwaren zu stibitzen.

Zu klauen, meldete ihr Gewissen sich zu Wort. Nenn das Kind wenigstens beim Namen.

Du kannst ja auf deinem hohen Ross verhungern, wenn du willst, antwortete Marie still und nestelte an ihrer dunkelgrauen Wollmütze. Alle anderen Versuche, irgendwie über die Runden zu kommen, waren fehlgeschlagen. Wenn das hier nicht klappte, würde sie als nächstes aus den Mülleimern essen müssen. Allein beim Gedanken daran schüttelte es sie. Sie versuchte einmal mehr, ihre blonden Locken komplett unter der Mütze zu verstecken, damit sie nicht so leicht wiederzuerkennen wäre. Aber immer gab es eine vorwitzige Strähne, die sich den Weg zurück in die Freiheit erkämpfte. Nicht einmal ihre Haare hielten zu ihr!

Die Innenstadt war überfüllt, denn jeder und alle mussten unbedingt auf den Weihnachtsmarkt, um sich mit Glühwein und kitschiger Musik druckzubetanken und anschließend billigen Chinaschrott zu kaufen. Aber auch das, nahm Marie an, wäre zu ihrem Vorteil. In Menschenmengen konnte man gut untertauchen – hatte sie gelesen.

Eine Familie mit drei aufgeregt lärmenden Kindern schob sich an ihr vorbei durch die Ausgangstür. Jetzt oder nie! Marie holte tief Luft und straffte die Schultern.

Jemand rempelte sie an.

Sie hörte ein gerauntes: »Dümmer kannst du dich wirklich nicht anstellen. Versuchst du, eine Wette zu verlieren?«

Gleichzeitig zog ihr jemand den Rucksack von der Schulter.

Erschrocken drehte sie sich um. Ihre Sachen! Wer war das gewesen?

Die Tür fiel zu, und der günstige Moment war vorbei.

Eine Gestalt in einem langen weinroten Filzmantel hielt im Davonschlendern ihren Rucksack in die Höhe und winkte damit, ohne sich umzudrehen.

Marie gab ihren Beobachtungsposten auf und trabte hinter dem Fremden her. »Hey, gib mir das wieder!«

Er wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Sie waren vielleicht fünfzig Meter von der Bäckerei entfernt. Die dunkel gekleidete Menge schob sich an ihnen vorbei, als seien sie nur Dekoration. Oder Straßenlaternen.

Marie griff nach ihrem Rucksack. »Das ist meiner!«

Der Fremde hielt das Gepäckstück aus ihrer Reichweite, drehte sich um und musterte sie mit hochgezogener Augenbraue.

Die Fremde, korrigierte Marie sich im Stillen. Sie sah in das wettergegerbte Gesicht einer Frau, die vielleicht vierzig Jahre auf dem Buckel hatte, eingerahmt von langen braunen Dreadlocks. Sie quollen wie Schlangen aus ihrer Kapuze hervor. Die Frau verströmte einen herben, erdigen Geruch und hatte die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. »Du könntest mir ruhig danken. Machst das wohl noch nicht so lange, was?«

»Ich habe nur die Pullover angeschaut!«, protestierte Marie

»Sicher, deswegen lungert man zehn Minuten genau unter der Kamera herum. Wahrscheinlich stand der Wachmann schon in den Startlöchern. Ich bin Cora, und du musst ziemlichen Hunger haben.«

»Marie.«

»Komm mit, ich zeig dir, wie man das macht.« Cora ließ Maries Rucksack auf den Boden fallen. »Du solltest übrigens beide Schulterriemen benutzen, man kann dich viel zu leicht beklauen.«

Empört hob Marie ihn auf und folgte der Fremden.

Sie ließen sich von der Menge Richtung Weihnachtsmarkt spülen. Cora zögerte keinen Augenblick. Sie glitt zwischen den anderen Menschen hindurch wie ein Fisch durch klares Wasser. Plötzlich bog sie nach rechts ab. Der Geruch nach Bratfett und heißem Puderzucker war beinahe unerträglich. Marie wurde vor Hunger schwindlig. Für einen Augenblick verlor sie Cora hinter einem Pulk junger Männer mit roten Wangen aus den Augen. Dann tauchte sie wieder auf – und hielt eine große Schale mit Fritten in der Hand. In der Mitte thronte ein glänzender Klacks Mayonnaise. Sie reichte sie an Marie weiter. »Erst Land gewinnen, dann kannst du reinhauen.« Mit diesen Worten griff sie nach der Schulter von Maries Daunenjacke und zog sie an der Ecke des nächsten Klamottenladens vorbei.

»Ich – danke, aber …?«

»Iss schon.« Cora sah sich wie beiläufig um. »Wenn große Gruppen bestellen, fällt gar nicht auf, wenn mal was verschwindet. Nur schnell muss man sein. Und versuch das lieber nicht allein. Du bist eine von den Guten, die werden immer geschnappt.«

Die Pommes waren das Beste, was Marie je gegessen hatte. Innerhalb weniger Augenblicke war die Portion verschwunden, und sie leckte sich noch Fett und Salz von den Fingern. »Wirst du mir jetzt eine Standpauke halten?«

»Wieso sollte ich? In deinem Alter hilft das eh nicht, und du machst es auch nicht lange hier draußen. Wahrscheinlich wartet irgendwo ein gemütliches Bettchen auf dich.«

»Nicht mehr.« Marie schüttelte den Kopf.

»Haben sie dich rausgeworfen?« Cora musterte sie ernst und seufzte. »Was es auch ist, du solltest lieber nach Hause zurückkehren. Glaub mir, ich mach das schon seit … puh, zehn Jahren? Elf? Auf jeden Fall lange. Und du bist viel zu zart und blass für die Straße, dich fressen doch direkt die Wölfe.«

»Danke für das Essen, aber was ich mache, geht dich gar nichts an.«

Cora warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. »Hab ich’s nicht gesagt? Und dann stehe ich hier wie so eine Anfängerin und versuche trotzdem, dir gut zuzureden. Vergiss, was ich gesagt habe. Hast du einen Platz zum Schlafen?«

Marie nickte, stutzte, schüttelte den Kopf. »Ich finde schon was.«

»Ich könnte dich mitnehmen.«

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.

»Hey, nicht was du denkst!« Cora schien aufrichtig empört. »Du wärst sowieso nicht mein Typ. Aber wir haben mit ein paar Leuten einen Unterschlupf aufgetan, und da ist bestimmt noch Platz für eine mehr. Für die anderen verbürge ich mich. Wenn Jack nichts dagegen sagt, kannst du bleiben. Es ist viel zu kalt für eine wie dich, um auf Türschwellen zu schlafen. Jetzt guck nicht so – ich sag doch, ich mach das schon eine Weile.«

Marie zögerte. Sie wusste, dass sie nicht mit Fremden mitgehen sollte. Was wusste sie über diese Cora schon? Andererseits, vielleicht konnte sie eine Nacht im Warmen verbringen. Sie sollte schließlich auch nicht auf der Straße schlafen. Und sie hatte ja gerade schon gesehen, dass sie noch eine Menge zu lernen hatte. Also nickte sie. »Wer ist Jack?«

»Das ist … wirst du sehen. Aber keine Bange, dessen Typ bist du auch nicht.« Cora fuhr mit beiden Händen in die Taschen ihres Mantels, drehte sich von der Menge weg und zückte zwei Geldbörsen. Eine drückte sie Marie in die Hand. »Hier, Geld rausholen, Rest fallenlassen. Irgendwer gibt die schon ab, es gibt immer ehrliche Finder.«

ZWEI

ZU FUSS BEWEGTEN sie sich von der Innenstadt aus Richtung Westen. Über ihnen bekam der Himmel ein gedecktes Dezemberblau, dass die Fenster und Bäume noch wärmer erstrahlen ließ. Der Feierabendverkehr schob sich zäh die Straßen entlang, kaum schneller als sie es waren. Cora kannte Schleichwege und lotste sie bald von den Hauptstraßen weg auf schmale gepflasterte Pfade, die sich zwischen vornehm aussehenden, alten Stadtvillen hindurchzwängten. Ihr langer Mantel bauschte sich hinter ihr und ließ sie wie eine Märchengestalt aussehen. Winzige Gärten hinter schwarz gestrichenen Gitterzäunen waren bereits auf den Winter vorbereitet – kurzgeschnittene Stauden, in Jute oder Plastik gewickelte Kübel, teilweise abgedeckte Fahrräder. Cora war schnell und schien sich gut auszukennen. Marie hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Von dem Marsch wurde ihr richtig warm, und ihr Atem bildete flüchtige Wölkchen vor ihrem Gesicht, die ihre Wangen streichelten wie Geisterhände, wenn sie hindurcheilte.

»Hier solltest du dich nicht anquatschen lassen«, rief die Ältere irgendwann über die Schulter, »hier kommen immer Typen her, um Nutten aufzugabeln. So eine Verwechslung kann brenzlig werden.«

Marie sah sich um. Sie hatten die vornehmeren Wohngegenden hinter sich gelassen und befanden sich in einem Viertel mit eindeutig industriellem Flair. Statt Villen mit Gipsblumen und steilen Eingangstreppen gab es hier große Blöcke aus roten Backsteinen mit blinden Fenstern, hinter denen sich Schemen durch Pfützen aus fahlem Licht bewegten. Auf einem eingezäunten Hof luden junge Männer große Plastikkisten von einem Transporter in einen anderen. Versteckt in einem Gebäude fauchten Maschinen. Industrielle Rhythmen zerhackten die Nacht.

Einige der Gebäude schienen leer zu stehen, und so eins steuerte Cora an. Sie wurde langsamer, während sie sich dem Tor näherte. Ein LKW rollte brummend an ihnen vorbei. Die Bremslichter leuchteten auf, dann bog er an der nächsten Kreuzung nach rechts ab. Dann war die Luft rein. Cora quetschte sich an dem verzogenen Rolltor vorbei, überquerte im Laufschritt einen Hof aus gerissenen Betonplatten und zwängte sich durch eine Tür, die wohl seit Jahren weder völlig offen noch komplett geschlossen gewesen war.

Marie folgte ihr auch hier, mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube. Was wusste sie schon über diese Frau? Das Herz sprang ihr bei jedem Schlag in die Kehle, und ihre Ohren versuchten, verdächtige Geräusche aufzufangen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, denn hier drinnen war es so dunkel, dass sie kaum etwas erkennen konnte.

Das Erdgeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum, in dem einmal gigantische Maschinen gestanden haben mussten. Nur fingerdicke Bohrlöcher im Boden und mysteriöse Schächte waren von ihnen übriggeblieben, und metallene Röhren, die aus der Decke kamen und über ihren Köpfen baumelten. Auf langen Streben saßen Tauben und gurrten leise. Einzelne Federn segelten zu Boden. In den Ecken stapelte sich Unrat. Marie entdeckte eine tote Ratte, die halb vertrocknet aus einer leeren Popcorntüte ragte. Sie schluckte.

Links neben der Tür gab es eine Treppe. Sie wirkte allerdings nur bedingt vertrauenerweckend. Das rostige Geländer wackelte, und an den Rändern waren Betonbrocken aus den Stufen gebröckelt. Je mehr sich Maries Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten, desto nervöser wurde sie. Mit viel Begeisterung und wenig Talent hatten Unbekannte riesige Graffiti an die Wand geschmiert – verzerrte Buchstaben in Blau und Schwarz, deren Sinn sich ihr nicht erschloss, mit noch gigantischeren Ausrufezeichen, die einen Krieg gegeneinander zu führen schienen. Im ersten Stock gab es großzügige Fenster unter der Decke, von denen die meisten keine Scheiben mehr hatten. Der Boden war mit Unrat bedeckt, und es roch verlassen. Das Gurren der Tauben hallte als trostloses Echo von den Wänden.

Cora stieg weiter in den zweiten Stock. Dort gab es auf dem Treppenabsatz tatsächlich eine Tür, die sich noch bewegte. Sie war gut geölt und verursachte nicht das kleinste Geräusch. Hinter ihr wurde es wärmer, und Marie konnte Gesprächsfetzen und Gelächter ausmachen. Sie ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. Die Muskeln zwischen Nacken und Schultern waren gespannt wie Stahlfedern.

Dies musste eine Büro-Etage gewesen sein, denn hier gab es Flure und Zimmer, von denen die ersten, die sie sah, genauso verlassen und vergessen wirkten wie die ersten beiden Etagen. Dann kamen sie um eine Ecke, und plötzlich roch Marie Rauch. Aus einer Tür vor ihnen drang flackernder Lichtschein.

»Wir sind meist hier hinten, weil man die Fenster von der Straße aus nicht sehen kann«, erklärte Cora halblaut. Sie war stehengeblieben und drehte sich zu Marie um. In ihren Augen schimmerte etwas, das Marie nur noch nervöser machte. Aber kneifen galt jetzt nicht. Sie wusste nicht einmal genau, wie sie in die Innenstadt zurückgefunden hätte. »Das da war mal eine Kaffeeküche. Komm, ich stell dich vor.«

Marie schluckte und folgte Cora in einen Raum, in dem sich mehrere Gestalten in unterschiedlichen Stadien der Verwahrlosung um eine Feuerschale versammelt hatten. Es roch nach ungewaschenen Körpern, Rauch und herzhaftem Eintopf. Die Pommes hatten kaum etwas getan, um das Loch in ihrem Magen zu stopfen, und er meldete sich knurrend zu Wort.

Mehrere Augenpaare musterten sie. Die Gespräche verstummten.

»Wen hast du uns denn da mitgebracht?«, fragte ein bärtiger Typ mit dem Körperbau eines ausgehungerten Schwarzbären. »Ist etwa schon Weihnachten?«

Einige lachten.