Zuflucht in Schattenfall - Diandra Linnemann - E-Book

Zuflucht in Schattenfall E-Book

Diandra Linnemann

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Beschreibung

Willkommen in Schattenfall – wo Magie zuhause ist! Rosalinda will nur eins – weg. Doch als sie vor den Plänen ihrer Mutter flieht und mit einem goldenen Gott im Gepäck in Schattenfall landet, kommt dann doch alles anders als gedacht. Ausgerechnet hier, im Dorf ihrer Erzfeinde, erwachen in ihr Kräfte, die sie nie für möglich gehalten hätte. Während misstrauische Blicke sie verfolgen, rücken die Hexen immer näher. Ein uraltes Erbe fordert seinen Preis, und Rosalinda steht vor der Wahl: fliehen oder sich dem Schicksal als angehende Hohepriesterin stellen? Gemeinsam mit Gestaltwandlern, Drachen und unerwarteten Verbündeten muss sie lernen, alten Vorurteilen zu trotzen. Doch die Gefahr wächst, und die Erde bebt – und nur vereinte Magie von Schatten und Hexen kann den Wald um Schattenfall noch retten. Ein warmherziges, winterliches Fantasyabenteuer voller Humor, Herz und magischer Kreaturen für alle, die sich in zauberhafte Welten entführen lassen wollen.

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Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Manchmal sucht man sich Familie eben doch aus

Diandra Linnemann, Jahrgang 1982, wohnt und lebt im Rheinland. Dort übersetzt sie tagsüber medizinische Texte ins Englische und lässt ihre Charaktere nachts auf dem Papier wüste Abenteuer erleben. Sie fühlt sich unter Hexen und Geistern genauso zuhause wie in der Welt garstiger Tentakelwesen. Ihr Körper besteht fast ausschließlich aus Kaffee und teilt eine Wohnung mit einem geduldigen Mann, zwei verwöhnten Katzen, einigen afrikanischen Riesenschnecken und einem Dutzend sterbender Zimmerpflanzen.

Weitere Werke der Autorin:

Andrea die Lüsterne und die lustigen Tentakel des Todes (Chaospony Verlag, 2017) »Gruftgeflüster« Heftromanreihe (Eigenverlag, 2021/2022)

MAGIE HINTER DEN SIEBEN BERGEN:

Allerseelenkinder (Eigenverlag, 2013)

Spiegelsee (Eigenverlag, 2014)

Hexenhaut (Eigenverlag, 2014)

Waldgeflüster (Eigenverlag, 2015)

Feuerschule (Eigenverlag, 2016)

Knochenblues (Eigenverlag, 2017)

Lichterspuk (Eigenverlag, 2018)

Feengestöber (Eigenverlag, 2018)

Grimmwald (Eigenverlag, 2018)

Inhalt

Die Flucht

Ins feindliche Lager

Zirkuspossen

Die Rückverwandlung

Eine unwahrscheinliche Koalition

Feuerpause

Heimweg unter erschwerten Bedingungen

Auf Wiedersehen mit Tigern

Zukunftspläne

Die alte Mentorin

Außerhalb der Komfortzone

Und jetzt alle zusammen

Nicht für immer

Danksagung

Die Flucht

Kurz vor Imbolc herrschte Chaos im Hexenhaus. Überall lagen schwarze Roben, Strohkreuze und Wachsplatten. Junge und alte Frauen in schwarzen Gewändern liefen durcheinander, die Arme voll mit Arbeit. Es wurde gebacken, gebastelt und geputzt. Weiße Kerzen stapelten sich auf jeder ebenen Oberfläche. Die Hexen hatten alle Hände voll zu tun.

In diesem Durcheinander fiel gar nicht auf, dass Rosalinda den Gehörnten stahl. Während die anderen in der Küche halfen oder den Ritualsaal einer Grundreinigung unterzogen, knackte sie im Keller mit zitternden Fingern das Schloss des Schreins. Vorsichtig holte sie die vergoldete Statue hervor, schlug sie in ehemals schwarzen Baumwollstoff ein und stopfte sie in ihren schwarzen Rucksack. Dann spazierte sie zur Vordertür hinaus, als sei es die normalste Sache der Welt.

Rosalindas Herz raste. Es kostete sie große Anstrengung, sich nicht umzudrehen. Niemand außer ihr wusste, dass sie nicht zurückkehren würde. Es galt: Jetzt oder nie! Sie meinte zu spüren, wie die Schlinge um ihren Hals sich immer weiter zuzog.

Windböen strichen klagend um die Hausecken. Das Tageslicht würde nicht mehr lange reichen. Es lag schon eine Ahnung von Frühling in der Luft, doch noch hatte die Kälte die Eifel fest im Griff. Feine Eiskristalle knisterten auf allem, was nicht unter Schnee und altem Laub begraben lag. Ein Schwarm Krähen wirbelte über den Baumwipfeln davon. Sie spürten den Winter.

Anstatt in die Kreisstadt hinunter, wo Erika sie vermuten würde, lief Rosalinda bergauf und tiefer in den Wald hinein. Sie war dankbar für den schwarzen Wollpulli unter ihrer Lederjacke, der sie vor dem Wind schützte. Außer der Kälte fürchtete sie nichts im Winterwald. Schließlich war sie eine Hexe. Sie klappte ihren Kragen hoch und legte einen Zahn zu.

Was die weiteren Schritte ihrer Flucht anging, tappte Rosalinda im Dunkeln. Sie wusste nur, dass sie zu jung war – für die Position in Nachfolge der Hohepriesterin, für das Austauschjahr bei den Magiern, für ein eigenes Kind. All das käme in den nächsten Monaten auf sie zu, wenn sie bliebe. Um diese Schicksalslawine aufzuhalten, mussten der Gehörnte und sie selbst verschwinden.

Rosalinda ahnte bereits, dass ihr eigenes Verschwinden eher bemerkt werden würde als das der kleinen Statue. Offiziell hielten moderne Hexen es mit Dualität und Balance. Tag und Nacht, Gott und Göttin, der ganze Kladderadatsch. Hinter verschlossenen Türen sah das allerdings oft ganz anders aus. Für Rosalindas Hexenzirkel beispielsweise spielte der Gott eine höchst untergeordnete Rolle. Nur zu ausgewählten Festen wurde er aus seinem Schrein geholt. Die meiste Zeit über ging es um die Göttin. Für Männer war im Hexenhaus kein Platz.

Trotzdem betrachtete Rosalinda diesen Diebstahl als ihren Geniestreich. Er war ihre Lebensversicherung. Sogar falls Erika sie aufspürte – ohne den Gott konnte das Imbolc-Ritual nicht wie geplant stattfinden. Und ohne Imbolc keine gemeinsame Maifeier, kein Austauschjahr, kein Nachwuchs. Sie verspürte kurz Mitleid für diejenigen Novizinnen, die sich tatsächlich auf das Austauschjahr bei den Hexern freuten, und verdrängte es sofort wieder. Es würde noch viele Maifeiern geben.

Rosalinda erreichte den Berggipfel. Hier oben fauchte der Winterwind ohne Gnade. Sie verschnaufte nur kurz und machte sich dann an den Abstieg. Sie kannte das perfekte Versteck. Querfeldein ging es am schnellsten. Sie verlagerte ihren Rucksack auf die andere Schulter.

Wie konnte ein so kleiner Gott nur so schwer sein?

In der Nähe des kleinen Wanderparkplatzes an der alten Bundesstraße hatten Zeit und Wetter merkwürdige Formen in den rotbraunen Sandstein gefräst. Die Vorsprünge und Nischen boten höchstens einem Kleinkind Schutz.

Entschlossen kletterte Rosalinda hinauf und quetschte sich durch immer engere Spalten, bis sie den Pfad, auf dem sie gekommen war, nicht mehr sehen konnte. Ihr wurde rasch warm. Der Stein schützte sie vor dem Wind.

Sie arbeitete sich weiter vor. Die in die Luft aufragenden knorrigen Wurzeln einer Kiefer, die oben auf einem der Felsen thronte, boten ihr Halt. Schon war der Spalt so eng, dass sie kaum noch vorwärts robben konnte. Da, eine Lücke! Sie ächzte und schob sich vorwärts.

Die Jahreszeiten hatten trockenes Laub und feine Zweige in der Nische deponiert. Unter diesen versteckte Rosalinda den Gott. Er war nur etwas dreißig Zentimeter hoch und schimmerte auch im trüben Februar-Halblicht vielversprechend. Sie schnaubte und benutzte beide Hände, um mehr Laub über ihn zu häufen. Dann kletterte sie wieder hinunter. Ihr kritischer Blick fand keine Hinweise darauf, dass irgendwer in den Felsen geklettert war. Nur ihre Fußspuren verrieten ihre Anwesenheit. Darum würde der Schnee der kommenden Nacht sich kümmern. Sie sah zu den tiefhängenden Wolken hinauf.

Eine Krähe saß in der Krone einer Eiche und beobachtete die Abenddämmerung.

»Nicht weitererzählen!«, rief Rosalinda ihr zu.

Die schwarzen Knopfaugen schimmerten. Zwei, drei mächtige Schläge dunkler Schwingen, und der Vogel war verschwunden.

Rosalinda wischte sich die zerschundenen Hände an ihrer schwarzen Hose ab. Dann sah sie sich um. Außer der Grenze zwischen Baumkronen und Himmel konnte sie kaum noch etwas erkennen. Sie brauchte dringend einen Unterschlupf. Aber in welche Richtung lag Schattenfall?

Die Einwohner hassten die Hexen. Dort würde niemand sie vermuten.

Der Wind schnitt gnadenlos durch die Bäume. Er trieb winzige Schneeflocken wie Dolche vor sich her. Obwohl es bergab ging, wurde Rosalinda immer langsamer. Ihre Knie knirschten. Seit wann war dieser Wald so groß? Sie war schon eine Ewigkeit unterwegs. Hatte sie sich am Ende verlaufen? War sie vielleicht sogar auf dem Weg zurück zu dem Ort, den sie nie wieder betreten wollte?

Jedes Knacken ließ sie zusammenzucken. Vielleicht verfolgten sie sie bereits! Ihr Verschwinden konnte nicht ewig unbemerkt bleiben. Laub rutschte unter ihren Füßen und ließ sie straucheln. Sie hätte ihr Ziel schon längst erreichen müssen! Endlich glaubte sie, den Rauch eines Kamins zu riechen.

Da! Das Rauschen des Flusses mischte sich in die Nachtmusik des Waldes. Sie reckte den Hals und erspähte ein kaltes Funkeln zwischen den kahlen Ästen.

Geschafft! Sie ahnte die Lichter am anderen Ufer. Ganz hier in der Nähe musste die Brücke sein. Rosalinda spürte ihre Zehen kaum noch. Sie stolperte vorwärts. Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen. Aber was war die Alternative? Sie taumelte auf das Flussufer zu. Nur noch wenige Minuten, dann wäre sie sicher im Warmen. Unter diesen Umständen musste Heidemarie ihr Unterschlupf gewähren. Auf einer digitalen Karte hatte sie sich den kürzesten Weg zum Haus ihrer Tante eingeprägt.

Doch als sie endlich die Brücke erreichte, geschah etwas Merkwürdiges. Rosalindas Füße schienen auf dem Boden anzufrieren. War das ein Zauber? Keinen einzigen Schritt konnte sie weitergehen. Was für eine schrecklich dumme Idee! Was machte sie nur hier? Vielleicht sollte sie nach Hause zurückkehren. Bestimmt konnten sie über alles reden. Erika würde ihr zuhören. Möglicherweise hatte sie etwas übersehen. Das Blut und der Fluss rauschten in ihren Ohren. Sie sah zum Wald zurück, als verstecke sich die Antwort in den Schatten.

»Was machst du denn hier?«

Rosalinda zuckte zusammen. Sie hatte ihn gar nicht näherkommen gehört. Thomas. Der Neue. Der Typ mit der Gans und der Wassermagie. »Ich denke nach.«

Er kam ihr über die Brücke entgegen, als sei es die einfachste Sache der Welt. »Über eine Umschulung zum Eiszapfen?«

»Und du?«

»Ich habe Helga besucht.«

»Ich meine, was machst du hier draußen?«

»Ich geh nach Hause.«

»Wo ist deine Gans?«

»Geronimo? Dem war zu kalt. Komm mit.« Er ging an ihr vorbei, ohne stehenzubleiben. Als bestehe nicht der geringste Zweifel daran, dass sie ihm folgen würde.

Und da sie die Brücke nicht überqueren konnte, da es kalt und dunkel war und sie nicht wusste, wohin sonst sie gehen konnte, beschlossen ihre Füße, genau das zu tun.

Eine Weile folgten sie schweigend dem Waldweg am Flussufer. Statt auf Rollsplitt liefen sie auf festgetretenem Schnee, der in der Dunkelheit bläulich schimmerte. Es war glatt. Schwarze Baumstämme säumten den Weg. Ab und zu hörte man einen Specht gegen gefrorenes Holz hämmern. Über ihren Köpfen knarzten die Äste unter der Winterlast. Links von ihnen gluckerte das Wasser unter dünnen Eisrändern.

Endlich blieb Thomas stehen – so abrupt, dass Rosalinda beinahe gegen ihn geprallt wäre. »Mi casa es su casa.«

»Gib nicht so an.« Sie sah auf und bemerkte, dass sie vor den Überresten einer alten Mühle standen, die sich hier am Waldrand perfekt getarnt hatte. »Diese Bruchbude ist dein Zuhause?«

»Innen sieht es besser aus. Wir renovieren noch.« Er stieg ein paar ächzende Stufen hinauf zu einer altersschwachen Plattform und zückte einen schmiedeeisernen Schlüssel. »Die Mühle gehört Helga. Sie lässt mich hier wohnen.«

Rosalinda folgte ihm vorsichtig, während er aufschloss.

Das Holz unter ihren Füßen war glatt vor Nässe. Als die Tür sich öffnete, ergoss sich ein Schwall warmer Luft über sie.

Sie zögerte. »Was glaubst du, was jetzt passiert?«

Er betrat die Mühle und balancierte auf einem Bein, um die Schnürsenkel seiner Turnschuhe aufzukriegen. Von irgendwoher ertönte verschlafenes Schnattern. »Ich dachte, wir trinken einen Tee. Du bist abgehauen, nicht wahr? Den Gesichtsausdruck kenne ich. Jetzt komm schon rein, es wird kalt!«

Zur Not, dachte Rosalinda, trete ich zu und verfluche ihn. Sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln. Tief durchatmen. Was war das Schlimmste, was ihr passieren konnte?

»Deine Schuhe können dort vorn trocknen.« Thomas wies auf ein wackliges Regal aus alten Obstkisten neben der Tür. »Ich setz schnell Teewasser auf. Mach es dir schon mal bequem.«

Rosalinda zögerte. Sie sah sich um. Groß war der Raum ja nicht. Links von ihr lagen einige Sitzkissen wild durcheinander auf einem dicken bunten Teppich. Über ihrem Kopf spannten sich Dutzende bunter Lichterketten durch den Raum und funkelten an den Wänden entlang.

Zum Teekochen war Thomas auf die andere Seite des Raums gegangen, wo es eine improvisierte Küchenzeile gab – Spüle, Kühlschrank, Herd. Er schaltete eine kurze Neonröhre an, die unter einem Hängeregal voller bunter Tassen hing, und füllte den Wasserkocher. Der leuchtete blau, als er in Betrieb genommen wurde, und fing an zu zischen. »Lieber Earl Grey oder Pfefferminz? Ich hab auch noch …« Er zog eine violette Verpackung aus dem Regal. »… Winterzauber, irgendwas Fruchtiges mit Zimt.

Oder …«

»Den bitte«, sagte Rosalinda schnell, die noch mit ihren Schnürsenkeln und ihren roten, tauben Fingern kämpfte.

Sie hätte Handschuhe mitnehmen sollen.

»Setz dich«, sagte Thomas und kam zu ihr herüber.

Perplex sah sie auf, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Hosenboden. »Autsch!«

Er kniete sich nieder und befreite ihre Füße aus den Stiefeln. Als er aufsah, waren seine Wangen knallrot. Rasch stand er auf und kehrte in die Küchenecke zurück. »Gern geschehen. Winterzauber also, hm? Hast du Hunger?«

Rosalinda antwortete nicht, denn sie war von Geronimo abgelenkt. Sie hatte ihn zunächst nicht entdeckt und fragte sich jetzt, wie das hatte passieren können. Aus der Nähe sah er riesig aus. Er hockte auf der untersten Stufe einer Leiter, die links neben der Küchenzeile in den ersten Stock hinaufführte, und musterte sie wachsam.

Thomas sah über die Schulter und lachte. »Ich sehe schon, ich bin abgemeldet.«

»Greift der mich gleich an?«

»Nur wenn du zwischen ihn und sein Futter kommst.«

Das hatte sie nicht vor. Vorsichtig stand sie auf, klopfte ihren Hosenboden ab und humpelte zu den Sitzkissen hinüber. Sie waren erstaunlich gemütlich. Und weil sie sonst nichts zu tun hatte, während Thomas an der Anrichte hantierte, sah sie sich weiter um.

Von innen sah die Mühle nicht aus wie eine Mühle. Dass sie alt war, konnte man hingegen eindeutig erkennen.

Beispielsweise daran, dass es keine einzige gerade Wand und keine Neunzig-Grad-Winkel gab. Alle Oberflächen bestanden aus in Würde gealtertem Holz. Dem gegenüber stand die Einrichtung, irgendwo zwischen Studentenbude, Shabby Chic und Hippie Death Camp. Die Lichterketten ließen die Schatten in den Ecken tanzen.

Teppiche und Wandbehänge in Spätsommerfarben hielten die Kälte draußen. Rosalinda dachte nach. Wahrscheinlich saß sie gerade genau über dem Fluss. Sie schloss die Augen und spürte der Energie des Wassers nach. Ein leises Murmeln strich über ihre angespannten Nerven.

»Fang!«

Rosalindas Hände reagierten vor ihrem Verstand. Sie griffen etwas Weiches, Flauschiges aus der Luft, ehe es ihren Oberkörper treffen konnte. »Was soll das?«, fragte sie und musterte das regenbogenfarbene Bündel.

»Socken. Du siehst total erfroren aus.« Thomas kam mit zwei gigantischen dunkelblauen Tassen und glitt ihr gegenüber in den Schneidersitz, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Was hast du dir dabei gedacht, bei diesem Wetter ohne Mütze und Schal loszuziehen? Ist das so ein Hexending?« Er stellte eine Tasse vor ihren Füßen ab.

Misstrauisch entrollte Rosalinda die Socken. »Hast du die gemacht?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Nee, das war Bjarne. Ich kann nicht stricken.«

»Hatte der nichts in … gedeckten Farben?«

»Schwarz ist gerade in der Wäsche, sorry.«

Es war ja nicht so, als ob die Hexenregeln noch für sie galten. Rosalinda zog ihre feuchten schwarzen Baumwollsocken aus und die bunten Woll-Ungetüme an. Sofort wurde ihr wärmer. Sie beugte sich vor und griff nach der Teetasse. Ihr unterer Rücken knackte. Während sie die Tasse an die Lippen hob, schickte sie ein Dankgebet in die Nacht. »Schmeckt gut.«

Sie tranken schweigend. Rosalinda dachte darüber nach, warum ihr Plan schon so früh versagt hatte. Wieso hatte sie es nicht geschafft, über die Brücke zu gehen? Rückblickend war sie sicher, dass kein Zauber sie zurückgehalten hatte. Sie war ihrem eigenen Gehirn zum Opfer gefallen.

Minderwertiger Gewebeklumpen. Freiwillig nach Schattenfall zu gehen fühlte sich an wie Verrat. Dieses piefige kleine Dorf, in dem alle über die Hexen lachten! Und beim ersten kleinen Hindernis hatte sie versagt. Wie sollte sie es da mutterseelenallein in der großen weiten Welt schaffen? Sie wusste nicht einmal, was Thomas jetzt von ihr erwartete.

Apropos, der sah sie fragend an. Offenbar hatte sie etwas verpasst. »Ja bitte?«

»Ob du einen Platz zum Schlafen brauchst.« Er las irgendwas in ihrer Miene und fügte rasch hinzu: »Rein platonisch natürlich. Du kriegst das Bett im ersten Stock, ich bleib hier unten. Oder soll ich dich lieber zu Heidemarie bringen? Ihr kennt einander, nicht wahr?«

»Nein – also ja, irgendwie schon. Sie ist meine Tante.

Aber sie wurde verbannt, ehe ich geboren wurde.«

»Verbannt? Harter Tobak.«

Sie wartete, dass er nachfragte, aber da kam nichts. »Und ja, ich würde wirklich gern hier schlafen. So spät will ich sie nicht unbedingt stören, also …«

Ein schrilles Piepen hinderte sie daran, sich aus Verlegenheit um Kopf und Kragen zu reden.

Thomas sprang auf. »Essen ist fertig!« Er hantierte kurz am Ofen und kehrte dann mit zwei Tellern zurück, auf denen aufgewärmte Pizzastücke dampften. »Tomate, Zwiebel und Oliven.«

»Klingt gut.« Rosalinda schämte sich beinahe dafür, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Sie musste sich zwingen, still Dank zu sagen und den ersten Bissen langsam zu kauen. Weglaufen machte hungrig.

Geronimo hopste von der Leiterstufe, kam angewatschelt und untersuchte neugierig den Inhalt von Thomasʼ Tasse. Der schob den Ganter lachend beiseite. »Nichts da, das ist meiner! Geh Körner futtern!« Er kraulte dem Ganter den Halsansatz, ehe er ihn mit einem Fingerschnippen davonschickte.

Rosalinda hatte nie darüber nachgedacht, ob eine Gans ein gutes Haustier wäre. »Ist er stubenrein?«

»Geht so.« Thomas zeigte in die Ecke neben dem Kühlschrank. »Meist benutzt er das Katzenklo, und die Tür hat eine Klappe, falls er spontan raus will. Nutzt er aber eigentlich nie – im Gegensatz zu den Eichhörnchen, die musste ich schon mehrfach vertreiben. Dreiste Biester!«

Er schob sich den Pizzarand in den Mund.

Jetzt, da Kälte und Hunger fürs erste besiegt waren, merkte Rosalinda, wie müde sie eigentlich war. Sie hatte nicht einmal mehr Energie, sich Sorgen zu machen. »Wo, hattest du gesagt, kann ich schlafen?« Sie leerte ihre Teetasse.

Sofort war Thomas auf den Beinen. »Kümmre dich nicht um das Geschirr, ich räum später auf.« Er scheuchte Geronimo beiseite. »Vorsicht, es ist etwas steil.« Dann kletterte er die Leiter hinauf und drückte eine Klappe in der Decke beiseite. Dahinter lag ein finsteres Viereck, in dem er verschwand. Etwas klickte, und warmes Licht fiel auf die hölzernen Leiterstreben.

Rosalinda nahm ihren Rucksack mit nach oben. Hier gab es einen improvisierten Schreibtisch samt Hocker, ein niedriges Bett aus Europaletten und ein kleines Fenster, hinter dem die Nacht lauerte. Ein paar Klamotten hingen an einer Kleiderstange. Davor hatte jemand eine halb zerschnittene Jeanshose auf dem Boden ausgebreitet, inmitten von bunten Flicken und Stoffresten. Auf jeder Oberfläche stapelten sich Fachbücher über Magie. Einige der Titel kannte sie sogar - obwohl ihre Mutter sich wenig aus der Theorie machte. Wahre Hexenkunst konnte man nicht aus Büchern lernen, sagte sie immer.

Thomas zog einen bodenlangen bunten Vorhang vor das Fenster und wies auf einen weiteren Vorhang auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. »Da ist ein kleines Bad, damit man sich nicht mitten in der Nacht den Hals bricht, wenn man mal muss. Duschen kannst du nur unten. Frische Handtücher liegen im Regal.« Er sah sich prüfend um. »Brauchst du noch etwas?«

Rosalinda schüttelte den Kopf. Sie wartete, bis er mit zwei Wolldecken über der Schulter wieder nach unten geklettert war, ehe sie so leise wie möglich den Hocker auf die Luke schob. Nur, damit es keine bösen Überraschungen gab. Dann kroch sie in voller Montur ins Bett, zog sich die Decke ans Kinn und schlief sofort ein. Der letzte Gedanke galt ihrem leeren Bett im Zimmer ganz oben unter dem Dach des Hexenhauses. Wer wohl zukünftig darin schlafen würde?

Ins feindliche Lager

Am nächsten Morgen schob wattige Helligkeit sich durch einen Spalt an dem bunten Vorhang vorbei und weckte Rosalinda. Sie hatte bestimmt viel zu lange geschlafen.

Die Luft im Raum war kühl und roch nach dem Fluss, der sich unter der Mühle hindurchschlängelte. Eine Etage tiefer klapperte Besteck.

Thomas, erinnerte Rosalinda sich. Du hast bei Thomas übernachtet, nachdem du von zu Hause weggelaufen bist.

Die anderen Hexen haben inzwischen wahrscheinlich entdeckt, dass du verschwunden bist. Erika wird toben.

Dieser Gedankengang war nicht dazu angetan, sie aufzumuntern. Sie schlug die Decke zurück und fluchte. Wieso war es hier drin so kalt? Sie griff nach einer dünnen Decke, die von der Kleiderstange hing, und wickelte sich darin ein. Dabei fiel ihr Blick auf die Bücher auf dem Schreibtisch. Sie schob den Hocker beiseite und kletterte durch die Luke nach unten. Hier war es wesentlich wärmer. »Glaubst du wirklich, dass du so Magie lernen kannst?«

»Das ist für den Aufnahmetest an der Uni«, antwortete Thomas und schlug ein zweites Ei in die Pfanne. »Hast du gut geschlafen?«

Rosalinda nickte und kam sich beim Gedanken, dass sie sich letzte Nacht verbarrikadiert hatte, ein wenig albern vor. »Du willst an die Uni?«

Er zuckte die Schultern. »Ich will lernen, mit meiner Magie umzugehen. Helga meint, das sei ein guter Anfang.«

Als ob man Magie von der Theorie aus lernen könnte!

»Haben deine Eltern dir nichts beigebracht?«

»Meine Eltern?«

»Irgendwoher musst du dein Talent ja haben.«

Er hob ein perfektes Spiegelei aus der Pfanne und ließ es auf eine Scheibe Toast gleiten. »Isst du Ei?«

»Ich esse alles außer Fleisch.«

»Gewagte Behauptung.« Er schlug ein zweites Ei auf, ohne sie anzusehen. »Meine Eltern hatten andere Sorgen, als mir Dinge beizubringen.«

Oh, ein Fettnäpfchen. Rosalinda ärgerte sich. Am liebsten hätte sie ihm zur Wiedergutmachung angeboten, dass sie ihm etwas beibringen könnte. Aber ihre Hexerei war Familiensache, nur für Frauen. »Ich hab das Jeansprojekt auf dem Boden gesehen – nähst du?«

»Ich übe. Für den Fall, dass das mit der Magie nicht klappt, versuch ich es vielleicht als Modedesigner. Die Vorhänge habe ich auch selbst genäht, sind ein bisschen schief geworden.«

»Fällt gar nicht auf.«

Er schnaubte. »Irgendwie muss man seine Zeit halt füllen, wenn man keinen Fernseher hat. Such dir einen Tee aus.

Oder willst du lieber Kaffee?«

»Ich hätte dich nie für so häuslich gehalten«, sagte Rosalinda und ging zur Küchenecke hinüber. Sie zog aufs Geratewohl eine Teeschachtel aus dem Regal. Die enthielt Papierkuverts in verschiedenen Farben – die Restesammlung. Gab es wohl in jedem Haushalt. »Happy Sunshine.«

»Ist mir auch neu.« Thomas setzte sich auf ein Kissen und stellte die Teller mit Toast und Ei in die Mitte auf den Boden. »Ich improvisiere noch.«

Der Wasserkessel dampfte, also goss Rosalinda seinen und ihren Tee auf und gesellte sich zu ihm. »Wo steckt Geronimo?«

»Nimmt ein Bad. Guten Appetit!«

»Draußen?«

»Wo sonst? Keine Sorge, er ist gut isoliert.« Thomas hatte sein Frühstück bereits zur Hälfte verschlungen, während Rosalinda noch auf dem ersten Bissen herumkaute. Er begann, Dinge in seinen Rucksack zu stopfen.

»Hast du einen Termin?«, fragte Rosalinda. Erst jetzt ging ihr auf, dass sie vielleicht ungelegen kam.

»Nur einkaufen. Und ich will in der Bibliothek vorbeischauen.«

Das war ihre Gelegenheit. Besser, es schnell hinter sich zu bringen. Sie hatte ja letzte Nacht schon gekniffen.

»Kann ich mitkommen?«

Thomas versuchte vergeblich, seine Überraschung zu verbergen. »Klar.«

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, versprach Rosalinda: »In zehn Minuten bin ich sprungbereit.« Sie trank von ihrem Tee, aß noch ein Stück Toast und stand auf.

Unter Druck funktionierte sie immer noch am besten – auch wenn der Druck selbstgemacht war.

Als sie kurze Zeit später die Mühle verließen, rieselten winzige Schneekristalle flüsternd auf die kahlen Äste über ihren Köpfen. Über Nacht hatte die Welt einmal mehr ihren weißen Mantel angelegt.

Geronimo kam angepaddelt und trötete zur Begrüßung.

Das Wasser musste eisig sein. Dem Ganter merkte man davon allerdings nichts an.

Thomas lachte. »Ja, ich frag auf der Post nach den Mehlwürmern.«

Rosalinda schmunzelte. »Ihr versteht euch wirklich gut.

Ist er dein Familiar?«

»Nein – nein, so ist das nicht«, widersprach Thomas.

»Ich weiß nicht einmal, ob ich eins habe. Komm, wir müssen uns sputen. Die Post macht um elf dicht!«

Das waren ja Hinterwäldler-Öffnungszeiten. Rosalinda bemerkte, dass sie immer langsamer wurde, als sie sich der Brücke näherten. Schließlich blieb sie stehen.

Thomas war vorgegangen und drehte sich um. »Was ist?«

Geht schon weiter, Füße!, befahl Rosalinda ihren Gliedmaßen. Sie schluckte. Das war doch lächerlich!

»Kommst du?«

»Moment!«

Thomas runzelte die Stirn. »Was stimmt mit dir nicht?

Ich dachte immer, es sei nur ein Gerücht, dass Hexen kein fließendes Wasser überqueren können.«

»Du bist blöd!« Sie musste lachen.

»Hast du vielleicht eine spirituelle Brückenallergie? Was ist? Ich biete nur Lösungen an!«

»Das sind keine Lösungen, sondern Ausreden.« Rosalinda holte tief Luft und setzte sich in Bewegung. Sie ging an Thomas vorbei und fühlte die hölzernen Bohlen unter ihren Füßen vibrieren. Ihre Schritte klangen hohl. Das Wasser gurgelte zwei Meter tiefer.

Erst, als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte, entspannte sie ihre Fäuste. Da war sie also angekommen.

In Schattenfall.

»Mutig!«, rief Thomas und folgte ihr mit großen Schritten. »Seht her, die Bezwingerin der Brücke!«

»Hör auf damit!«

»Schon gut.« Er blies sich eine blondierte Haarsträhne aus der Stirn. »Sorry. Wie kommst du sonst in die Stadt?«

»Gar nicht.«

»Gar nicht?«

»Gar nicht.«

»Was, wenn du Heidemarie besuchen willst? Sie ist doch deine Tante.«

»Hast du mich schon einmal Tante Heidemarie besuchen sehen?«

»Und ich dachte immer, meine Familie sei verkorkst.«

Er hakte sich bei ihr unter. »Darf ich? Wir müssen da lang.« Wenn er die Einkerbungen bemerkte, die ihre Fingernägel in ihren Handflächen hinterlassen hatten, war er auf jeden Fall klug genug, sie nicht zu erwähnen.

Rosalinda wartete vor der Post. Sie studierte die Aushänge am Schwarzen Brett, um sich die Zeit zu vertreiben.

Ein Aufruf für den Frühjahrsputz am gemeinschaftlich genutzten Ritualkreis. Fragestunde zum Bau der neuen Bundesstraße. Der Männerchor kündigte sein »Osterkoncert« an. Rosalinda bedauerte, dass sie keinen Rotstift dabeihatte. Hoffentlich sangen die besser, als sie schrieben. Ein Foto von einem entlaufenen Huhn. Zum Glück dauerte es nur wenige Minuten, bis Thomas mit einem kleinen Karton in der Hand wieder auf die Straße trat.

»Ein Festmahl für Geronimo!« Als er den Karton schüttelte, raschelte es.

Vor dem Supermarkt an der Ecke spielten ein paar rothaarige Kinder auf der Straße, ohne sich um das Wetter oder den spärlichen Verkehr zu kümmern. Als sie jedoch Rosalinda sahen, unterbrachen sie ihr Treiben. Wie auf Kommando skandierten sie: »Hexe! Hexe! Eine Hexe! Hexe! Hexe! Eine Hexe!« Und sie zeigten mit schmutzigen Fingern auf sie.

Rosalinda blieb stocksteif stehen.

Thomas trat vor sie. »Hey, eure Mutter ist ein Leprechaun! Zeig ich deswegen etwa auf euch?«

Die Kinder kicherten und rasten davon.

»Sorry.« Thomas drehte sich zu Rosalinda um. »Whoa, alles in Ordnung?«

Rosalinda schluckte und nickte. Sie wusste, dass sie anders war. Und dass die anderen sie dafür hassten, hatte man ihr schon von klein auf eingetrichtert. Das war nichts Neues. »Ich sollte gehen.«

»Was?« Thomas griff nach ihrem Arm. »Wegen der Rotzgören? Du wolltest doch unbedingt herkommen – mitten in der Nacht im tiefsten Winter! Und jetzt kneifst du tagsüber wegen dieser Hosenscheißer?«

»Du verstehst das nicht!«, widersprach ihm Rosalinda.

»Hexen und Schatten sind eingeschworene Todfeinde!«

Sie riss sich los, machte kehrt und lief aufs Geratewohl davon.

Thomas folgte ihr. »Ich habe Fragen!«, rief er. »Gilt das für alle Hexen oder nur für euch? Und wie wird man ein eingeschworener Todfeind? Muss man dafür zum Amt oder gibt es ein Online-Formular?«

Wütend wirbelte sie herum. »Mach dich nicht immer über mich lustig!«

Er stoppte. »Aber ich … Sorry, du hast recht.«

Rosalinda wäre am liebsten davongelaufen, doch sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Also verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihn wütend an.

»Es tut mir wirklich leid, ich hab nicht nachgedacht.

Komm, ich bring dich zu Heidemarie. Es ist nicht mehr weit.«

Da Rosalinda ihrer Stimme nicht traute, nickte sie nur und folgte ihm. Es ging durch schmale Gassen zwischen krummen Häusern hindurch in ein ruhiges Wohnviertel, in dem Thomas vor einem winterbefestigten Kräutergarten stoppte. »Da wären wir. Soll ich mitkommen?«

Rosalinda hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Sie hatte ihre Tante erst einmal gesehen – letzten Herbst, an der Quelle. Es war ein Notfall gewesen. »Nein, danke.«