Rhythmen des Lebens - Mike Rutherford - E-Book

Rhythmen des Lebens E-Book

Mike Rutherford

4,6

Beschreibung

Mike Rutherford hat mit Genesis Meisterwerke des Progressive Rock eingespielt. Alben wie Foxtrot oder The Lamb Lies Down On Broadway prägten das Genre und haben einen festen Platz in der Musikgeschichte. Die Karriere von Genesis ist geradezu legendär: Vier schüchterne und bescheidene Schuljungen gründeten eine Band und wurden zu weltweiten Superstars. Mit ihrem radiotauglichen Mainstream-Rock wurde Genesis mit Sanger Phil Collins und Keyborder Tony Banks zu einer der kommerziell erfolgreichsten Musikgruppen der 1980er und frühen 1990er Jahre. In ihrem Zentrum stand Mike Rutherford, der die Musik vom innovativen Progressive Rock, damals noch in der Besetzung mit Peter Gabriel und Steve Hacket, bis hin zu globalen Riesenhits vorantrieb. Jetzt erzählt er erstmalig die erstaunliche Geschichte von Genesis und seiner eigenen Band Mike + The Mechanics.

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Aus dem Englischen von

Alan Tepper

www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für Angie, Kate, Tom und Harry

Impressum

Der Autor: Mike Rutherford

Deutsche Erstausgabe 2014

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „The Living Years – The First Genesis Memoir” bei Constable & Robinson Ltd., UK

© Mike Rutherford, 2014

Coverabbildung und -design: Andy Vella, www.velladesign.com

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Alan Tepper

Lektorat & Korrektorat: Dr. Matthias Auer

© by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-458-8

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-457-1

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Bildstrecke 1

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Bildstrecke 2

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Danksagungen

3 Uhr morgens. Ich hielt mich in einem Hotelzimmer in Chicago auf, als das Telefon schrillte. Es war Angie: „Ich habe schlechte Nachrichten – Dad ist gestorben.“ In solchen Momenten scheint die Zeit stillzustehen und das Herz auszusetzen. Mum hatte sie angerufen: „Angie, mein Liebes. Dad ist tot. Ich habe ihn mit meinem Stock angestoßen, und er bewegt sich nicht. Er hat uns verlassen.“ Mum war an einen Rollstuhl gefesselt und konnte sich kaum mehr bewegen. Die beiden schliefen in Einzelbetten, und die Formulierung, die Angie benutzte, entsprach exakt ihrer Wortwahl. Ich konnte beinahe ihre Stimme hören.

In dem Moment fehlten mir die Worte, ganz zu schweigen von der Kraft, Vorbereitungen zu treffen. Ich stand zu sehr unter Schock. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, stellte ich mich ans Hotelfenster und schaute auf das Scheinwerferlicht der Autos hinab. Mein Zimmer lag im 35. Stock. Plötzlich war alles still, und ich fühlte mich so unglaublich einsam – getrennt von den Ereignissen unten auf der Straße, abgeschnitten vom Rest der Welt.

Wir befanden uns mitten in einer Serie von sechs Konzerten in Chicago, bei denen wir jeden Abend vor 20.000 Zuschauern auftraten. Weniger als ein Monat war seit dem Auftakt der einjährigen Tournee vergangen. Ich wusste, dass mich die Band und unser Manager Tony Smith unterstützen würden, falls ich nach Großbritannien zurückfliegen wollte. Man konnte es mit der Musik vergleichen, bei der wir uns immer gegenseitig bestärkten. Doch ich wusste auch, dass ich in Farnham wirklich nichts ausrichten konnte. Angie und meine Schwester Nicky standen Mum zur Seite, und mein Vater hatte sich schon selbst frühzeitig um die Begräbnisvorkehrungen gekümmert. So setzten sich Tony Smith und ich also hin und arbeiteten einen Plan aus. In zwei Wochen würde ich über Nacht nach Großbritannien fliegen, um an der Beerdigung teilzunehmen. Danach sollte es mit der Concorde direkt nach Kalifornien zurückgehen, um eine Show im LA-Forum zu spielen.

Die nächsten zwei Wochen wirkten surreal, wie ein Traum. Ich ging auf die Bühne, verlor mich für zweieinhalb Stunden in der Musik, doch nach dem Ende des Auftritts traf mich die Erkenntnis des Geschehenen mit voller Wucht. Mit Tony und Phil zu spielen vermittelte mir ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit, aber wir unterhielten uns nie über meine Emotionen und den Tod meines Vaters.

In meinem Leben gab es Phasen, in denen ich mich schuldig fühlte, wenn ich nicht über meine Gefühle sprach, aber so wurde ich nun mal erzogen. Der Grund dafür liegt größtenteils bei der Privatschule, die ich besuchte, aber auch in der Generationenzugehörigkeit: Mein Vater und ich stammten aus einer Zeit, in der Söhne ihren Vätern niemals sagten, dass sie sie lieben. Ich habe gegenüber Dad niemals meine Liebe und Zuneigung ausgedrückt. Es tut mir unendlich leid, ihm niemals erklärt zu haben, was für ein wunderbarer Mann er für mich gewesen ist.

Ich kam am 13. Oktober 1986 in Großbritannien an und eilte kurz nach Hause, um die Kinder zu sehen. Dann fuhr ich mit Angie zur Beerdigung in Aldershot. Noch am Abend zuvor stand ich vor Tausenden auf einer Bühne, und nun saß ich in einem Wagen auf dem Weg zu einer englischen Kirche, um meinem Vater ein letztes Lebewohl zu sagen. Danach plante ich, direkt nach LA zurückzufliegen.

Ich brauchte dringend Beistand, und so fragte ich Angie, ob sie mich für nur eine Nacht begleite. Während wir in der Kirche trauerten, machte sich deshalb irgendjemand auf den Weg zu unserem Haus, um ihren Pass zu holen. Danach ging es direkt nach Heathrow, wo wir uns zum ersten Reiseabschnitt in die Concorde setzen. Angie trug noch immer ihre Trauerkleidung und führte nur eine Handtasche mit sich.

Nach der Ankunft in New York wartete auf uns ein Wagen auf dem Rollfeld, der uns zu einem Privatjet brachte, mit dem wir nach LA fliegen sollten. Ich glaube, dass mir in diesem Moment das ganze Ausmaß der Geschehnisse bewusst wurde. Wir flogen mit der Sonne Richtung Westen, und der Tag zog sich endlos in die Länge. Während sich die Maschine LA näherte, rückte die Kirche in Aldershot immer weiter in den Hintergrund. Nur wir und einige Mitglieder der Crew hielten sich im Flieger auf. Es war sehr, sehr ruhig, und die Sonne ging einfach nicht unter. Mich beschlich das Gefühl, den Orientierungspunkt im Leben verloren zu haben.

Später fand ich heraus, dass sich Elton John und sein Promoter Gary Farrow unter das Publikum in LA gemischt hatten. Die beiden wussten, was geschehen war, und verbrachten die Zeit vor der Show mit Spekulationen, ob ich es rechtzeitig zum Auftritt schaffen würde. Die Band versuchte sich schon auf Songs zu einigen, die sie ohne mich spielen konnte. Auch eine Absage des Konzerts stand zur Diskussion. Dank einer Polizeieskorte, die mich vom Flughafen zum Auftrittsort geleitete, kam ich jedoch 20 Minuten vor der Show an.

Die Behauptung, dass ich das Konzert meinem Vater gewidmet hätte, mag vielleicht ein wenig übertrieben klingen, aber als ich die beklemmenden Akkorde von „Mama“ hörte, diesen ursprünglichen, simplen Beat, empfand ich es so. Vater lehrte mir, dass man seine Verpflichtungen erfüllt – eine einfache, unumstößliche Regel. An dem Abend brachte ich exakt diese Grundhaltung in das Konzert ein. Ich schätze, er hätte das mit Wohlwollen honoriert.

Ich ging mit Angie zu Bett, und als sie schließlich eingeschlafen war, drehten sich meine Gedanken im Kreis. Wie bizarr war das doch alles. Ich hatte meinen Vater am Morgen beerdigt, flog in der Zeit rückwärts und war gerade noch rechtzeitig für den Gig angekommen. Auch mein Vater befand sich auf einer Reise, und ich war mir nicht sicher, wie ich das alles einordnen sollte.

Nach dem Ableben von Mum 1992, also sechs Jahre später, war ich erneut mit dem Tod Dads konfrontiert. Nicky hatte das Haus ausgeräumt und mir drei abgenutzte, mit Leder bezogene Schrankkoffer Dads geschickt. Einer davon hatte Großvater gehört.

Mutters Tod belastete mich damals gerade sehr, genauso wie die Tatsache, dass wir das erste und einzige Zuhause meiner Eltern in Farnham verkaufen mussten. Es war das Ende eines Lebensabschnitts, und ich fühlte mich noch nicht bereit, in die Koffer zu schauen, da dadurch vielleicht Gefühle ausgelöst würden, denen ich mich noch nicht stellen konnte. Ich gehörte schon immer zu den Menschen, die ihre Emotionen gut verstecken. So landeten die Koffer auf dem Dachboden über meinem Studio, wo sie einige Jahre unberührt lagerten.

Ich weiß nicht, wann ein Zeitpunkt ideal ist, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es war denn auch nicht beabsichtigt, aber eines Tages – ich litt an einer Schreibblockade – dachte ich plötzlich an die Koffer. Kurze Zeit später stand ich auf dem Speicher. Welchen sollte ich zuerst öffnen? Ich entschied mich dafür, gleichzeitig einen Koffer von Dad und den von Opa zu inspizieren. Als ich die Deckel geöffnet hatte, verblüffte mich am meisten die militärische Präzision, mit der alles penibel und sauber verstaut worden war. Großvaters Papiere und Akten waren mit elastischen Bändern zusammengeschnürt, während Dads Unterlagen sorgfältig in Plastikordnern steckten. Letzteres schockierte und verblüffte mich, da ich mich selbst mit solchen Ordnern umgab – und ich bin niemals beim Militär gewesen.

Ich fand dort Papiere, Geschichtsbücher zur Marine aus Dartmouth, Memorabilia aus dem Krieg, die Medaillen, den Orden „Commander of the order of the British Empire“, Auszeichnungen für besondere Leistungen und seine Krankenakte. Sogar sein Schwert lag in der Truhe. In Großvaters Koffer befanden sich ähnliche Unterlagen, aber ich fand auch zwei Bücher, die er geschrieben hatte: Soldiering with a Stethoscope und Memoirs of an Army Doctor. Unter den Papieren fand ich ausgezeichnete Kritiken zu den Büchern, in denen Colonel Rutherford in höchsten Tönen gelobt wurde. Der Koffer von Dad enthielt ein Manuskript seiner Memoiren sowie einen unterstützenden und wohlwollenden Brief von David Niven, dessen Meinung er offensichtlich eingeholt hatte. (Vater war ein Fan von Nivens Vielleicht ist der Mond nur ein bunter Luftballon gewesen.) Dennoch fiel mir die Absage eines Verlegers in die Hände, der meinte: „Heutzutage werden Lebensläufe von Angehörigen des Militärs nicht sonderlich nachgefragt. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir den Titel nicht akzeptieren können.“

Ich konnte in diesem Moment Dads Enttäuschung förmlich spüren.

Letztes Jahr schnappten sich meine Söhne Vaters Manuskript und ließen daraus ein in Leder eingeschlagenes Buch binden. Sie schenkten es mir zu Weihnachten, was mich vollkommen überwältigte. Generell vermag ich meine Gefühle, wie gesagt, sehr gut zu verbergen, doch an diesem Tag fiel es mir schwer. Ich setzte mich hin, las das Buch von vorne bis hinten und begann das Leben meines Vaters wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Nicht nur seine Laufbahn in der Marine erfüllte mich mit Stolz, sondern auch das Erbe, das er mir hinterlassen hatte …

Ich erblickte im Mai 1906 in einer Londoner Entbindungsklinik das Licht der Welt. Mein Vater war damals als Stabsarzt in den Chelsea Barracks stationiert. Er führte zuerst eine Privatpraxis, trat dann dem Royal Army Medical Corps bei und wurde zum Krieg in Südafrika abberufen, nach dessen Ende er meine Mutter ehelichte. Sie gehörte zu den Cloetes, einer der alten Familien am Kap, die 1652 nach Südafrika übergesiedelt waren und keine Zeit verloren hatten, die Anzahl der Familienmitglieder drastisch zu erhöhen.

Mein Vater wurde im Zeitalter des Empire geboren, einer Ära, charakterisiert durch Erzherzöge, Kaiser und eine vielversprechende Karte der Welt. Die Marine von Edward VII beherrschte die Meere. Sie hatte seit der Schlacht von Trafalgar keinen Gegner mehr gesehen, der ihr die Stirn bieten konnte. Haushalte wie der meines Vaters wurden meist von Kindermädchen mit Unerbittlichkeit und eiserner Faust regiert.

Die Reisen von Dad begannen im Alter von zehn Jahren, als Opa nach Südafrika zurückkehrte – mit der Nanny im Schlepptau, obwohl ich an ihrer Freude an dem Umzug zweifle.

Wir erreichten Durban. Nachdem wir von Bord gegangen waren, konnte ich mich an der ersten Fahrt in einer Rikscha erfreuen, einem zweirädrigen Gefährt, von einem Zulu gezogen, der zwischen den beiden Holzholmen lief. Der eher spärlich bekleidete Mann trug dekorative Kleidung und einen Kopfschmuck aus Hörnern. Von Zeit zu Zeit hüpfte er mit einem das Blut gefrieren lassenden Schrei in die Luft, wobei die Fahrgäste beinahe aus den Sitzen fielen. Ich konnte mich köstlich über Nanny amüsieren, eine Anhängerin der damals allgemein verbreiteten Ansicht, dass schon in Calais das Land der schwarzen Rasse begann. Diese Erlebnisse raubten ihr den Atem und ließen sie verstummen.

Drei Jahrzehnte später hielt sich Vater erneut in Durban auf, wo er meiner Mutter Anne begegnete. Zu der Zeit absolvierte er seinen Dienst als stellvertretender Captain des schweren Kreuzers „Suffolk“, der dort für eine Überholung vor Anker gegangen war. Er traf Mum bei einer Wohltätigkeits-Tanzveranstaltung, und die beiden heirateten nur sechs Wochen später. Trotz des eher impulsiven Charakters meiner Mutter erscheint mir das dennoch als sehr schnell. Egal, das glückliche Brautpaar genoss sechstätige „Flitterwochen“, wonach Dad wieder in See stach, diesmal nach Trincomalee in Sri Lanka. Die beiden sahen sich erst nach einer Trennungszeit von zehn Monaten wieder.

Meine Eltern fielen sich in England am VE-Day erneut in die Arme, an dem die Alliierten den Sieg in Europa feierten. Mum war mit einem Truppentransporter nach Großbritannien gereist, und Dad hatte man einen Posten bei der Admiralität angeboten. Das Dienststellengebäude lag an dem Paradeplatz der berittenen Garde nahe Whitehall. Als Mum 1947 die Geburt meiner Schwester Nicolette erwartete, hatte das Militär Dad bereits zum Stabschef der Marinevertretung der Joint Chiefs of Staff in Australien berufen. Man entschloss sich, dass Mum zu Nickys Geburt nach Durban reisen und danach die Schifffahrt nach Australien antreten sollte, um Dad zu treffen. Das bedeutete Folgendes: Dad erfuhr erst von der Geburt seiner Tochter, als man ihm auf der Gangway seines Schiffs in Adelaide eiligst ein Telegramm überreichte.

Nach dem Ende seiner Dienstzeit zogen meine Eltern und Nicky nach Großbritannien. Dad trat wieder den Dienst bei der Admiralität an und fand ein Mietshaus in Chertsey, Surrey, wo ich am 2. Oktober 1950 geboren wurde. Bei der Suche nach einem passenden Namen entschieden sich die beiden für möglichst viele Optionen, und so taufte man mich Michael John Cloete Crawford Rutherford. Weniger als zwei Jahre nach meiner Geburt musste Dad uns dann neuerlich verlassen, diesmal eilte er in den Koreakrieg.

Vater war erst acht Jahre alt, als er Opa dabei beobachtete, wie dieser – mit Fernglas, einem Schwert und einem Revolver bewaffnet – in den Ersten Weltkrieg zog. Im Alter von nur 18 Monaten konnte ich zwar noch nicht wahrnehmen, was Dad bei sich trug, als er sich in den Fernen Osten aufmachte, aber ich erinnere mich genau an den Tag seiner Rückkehr zwei Jahre später. Er fragte mich, wie viele Zähne ich schon hätte, und dann ließ er mich über das ganze Auto klettern – meiner Meinung nach sympathische Begrüßungsgesten.

Bis ich ins Bett musste, lief alles ganz gut, doch dann wunderte ich mich ein wenig: Was machte der fremde Mann in unserem Haus? Der hatte doch sicher nichts mit uns zu tun?

Offensichtlich aber doch!

Ich kann das Bild meines Vaters immer noch klar vor mir sehen, der in der Abenddämmerung in meinem Zimmer auftauchte, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Er war ein großer, stämmiger Mann – nicht so groß allerdings, wie ich mal werden sollte –, erschien mir aber trotzdem nicht furchteinflößend.

Ich hegte immer noch den Gedanken, ob er nicht im Laufe der Nacht wieder verschwinden würde, und so stand ich mehrmals auf, um nachzuschauen, wo er steckte. Schließlich gaben meine Eltern nach und stellten mein Bett in ihr Schlafzimmer, damit sie endlich in Ruhe die Augen schließen konnten.

Vater war stets ein standesgemäß gekleideter Mann mit einer verblüffenden Grundhaltung. Sogar ohne Uniform bewahrte er Haltung und strahlte eine Präsenz aus, die andere Menschen beeindruckte. Wo auch immer er hinging – in ein Restaurant, ein Geschäft oder in einen Schreibwarenladen –, er zwang den Leuten förmlich Respekt ab, die sich daraufhin höflich und zuvorkommend verhielten. Darüber hinaus würde ich ihn als pünktlich, in allen Belangen methodisch vorgehend und gründlich charakterisieren.

Als kleiner Junge richtete ich mich jedoch eher nach meiner Mutter.

Sie wollte in ihrer Jugend die Kunsthochschule besuchen, was jungen Mädchen damals jedoch versagt blieb. Auch schwebte ihr eine Laufbahn als Balletttänzerin vor, doch dafür war sie zu groß. Mum nahm Klänge und Energie mit hoher Sensibilität wahr. Ein Sonnenuntergang oder ein kräftig blauer Himmel begeisterten sie jedes Mal: „Liebling! Schau dir diese Farben an!“

Ich möchte sie als eine wunderbare, auf eine bestimmte Art faszinierend verschrobene Frau beschreiben. Ich glaube, dass Dad ihre Persönlichkeit schätzte und genoss, was ihm jedoch einige Probleme einbrachte. Als die beiden in Melbourne lebten, verlor sich Mum ganz und gar im Sammeln von Gold-Akazien, die sie wegen der kräftig gelben Farbe liebte und die sie an Südafrika erinnerten. Allerdings wusste Mutter nicht, dass die Pflanzen in Australien – ganz im Gegensatz zu Südafrika – unter Naturschutz stehen. Eines Tages belud sie Dads Wagen mit Gold-Akazien, die ihr eine Strafe von 200 Pfund eingebracht hätten. Dad musste daraufhin mitten in der Nacht an den Strand fahren, ein Loch buddeln und das Grünzeug darin verschwinden lassen.

Mum war die Ehe mit Dad als Witwe eingegangen. Ihre vorhergehende Beziehung zählte zu den Tabuthemen der beiden. Erst im Alter von 13 Jahren, während eines Familienurlaubs in Italien, dachte ich laut darüber nach, warum jedes silberne Besteckstück im Schrank des Esszimmers die Gravur „Captain Woods“ trug. Die beiden schreckten hoch. Mum war kreidebleich. Damals stigmatisierte man noch eine zweite Ehe. Hinzu kam, dass „Captain Woods“ an Krebs gestorben war, worüber man erst recht nicht sprach. Ich schätze, es muss Mums Idee gewesen sein, ihre persönliche Geschichte unter den Teppich zu kehren, denn mein Vater war viel zu direkt, um etwas zu verbergen.

Vielleicht bewahrten die beiden Stillschweigen darüber, weil sie sich ernsthafte Sorgen machten, dass sich dieses Wissen auf mich auswirken könnte. Na ja, wenn sie wirklich von solchen Bedenken geplagt wurden, hätten sie nicht das gravierte Tafelsilber rumliegen lassen dürfen. Wie dem auch sei, Mums erste Ehe berührte mich nicht.

Als ich fünf Jahre alt war, ernannte man meinen Vater zum Kommandierenden Offizier der kleinen Insel Whale Island im Hafen von Portsmouth. Dad hatte dort vor 20 Jahren seine Ausbildung als Leitschütze der Marineartillerie absolviert und kehrte nun, 1955, zurück, um das Kommando zu übernehmen.

Es stellte den Höhepunkt seiner Laufbahn in der Marine dar. Schon bald bezog unsere Familie das Haus des Captains. Dieses Arrangement mutete ein wenig ungewöhnlich an, denn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Unterbringung alleinig Männern vorbehalten. Von den Familien erwartete man, dass sie in ihrer Wohnung an Land blieben. Hinzu kam noch, dass die Kinder der meisten Offiziere beim Erreichen des Captain-Rangs schon erwachsen waren und eine Universität besuchten. Mein Vater hingegen hatte im Alter von 49 Jahren eine siebenjährige Tochter und einen fünfjährigen Sohn. Doch Nicky und ich lernten schnell, uns in die Abläufe einzufügen:

In der Militäreinrichtung bezogen beide Kinder die ihnen zugewiesenen Plätze. Es gab keine Kinderpsychologie oder etwas Vergleichbares. Wenn sie die Dreiräder nicht benutzten, wurden sie exakt zwischen die weißen Linien ihres Fahrradparkplatzes außerhalb des Hauses gestellt. Nach jeder Freizeit wurde ihr Spielzeug auf Seemannsart eingezogen. Falls sie fragten: „Ist das ein Befehl?“, lautete die gewohnte Antwort: „Ja – rechts um – im Eilschritt Marsch!“ Mehr lässt sich darüber nicht berichten.

Ebenso wie Dad hatte ich in der Kindheit eine Nanny, zumindest während der Zeit auf Whale Island. Sie war die Tochter eines Lieutenants, die wie der Wind rennen konnte, was sich als nützlich erwies, wenn ich mal wieder mit dem Dreirad davonbrauste. Mein Ziel lag immer beim Strand, denn Gerüchten nach waren dort 50-Pence-Stücke vergraben. Doch ich kam niemals so weit. Wenn es mir mal gelang, meiner Nanny zu entwischen, wurde die Flucht mittels des Lautsprechersystems vereitelt, worüber man die Nachricht meines Ausbüchsens verlas: „Jeder, der den Sohn des Captains sieht, wird aufgefordert, Position, Zielrichtung und Geschwindigkeit mitzuteilen, einzugreifen und ihn zur Basis zurückzubringen.“

Leider befolgten sie immer den Befehl.

Trotzdem konnte das Leben auf Whaley für ein Kind aufregend sein. Ich brachte die Essensreste gemeinsam mit dem ersten Stallknecht Mr. Brown zu den Pferden, wobei immer eine leere Tonne auf der Ladefläche des Fuhrwerks stand. Falls es mal regnete, konnte ich da hineinkrabbeln, und der Deckel wurde einfach draufgelegt. Im zweiten Jahr auf der Insel trat ich den Jungkadetten der HMS „Excellent“ bei. Natürlich hatte ich das dafür nötige Alter noch nicht erreicht, doch niemand beschwerte sich darüber angesichts der Tatsache, dass Dad der Commander war. Dem Buch meines Vaters nach fiel ich vor einer Parade in einen Goldfischteich und weinte mir die Augen wund, da mir untersagt wurde, die nassen Hosen anzubehalten. Dad beschrieb das als „eines Seemanns unwürdiges Verhalten“. Bereute er es, die Dienstvorschriften ein wenig abgeändert zu haben?

Einmal wurde eine der Kanonen auf der Insel versehentlich abgefeuert.

Michael ritt auf der unteren Rasenfläche auf Joey, dem Pony, beaufsichtigt von Mr. Brown. Beim Knall des Schusses bockte das Pferd und warf Mike aus dem Sattel, der sich aber mit einem Fuß im [linken] Steigbügel verfangen hatte und sich kopfüber an Joeys [rechte Seite] klammerte. Als man ihn aus der Position befreite, schien seine Moral ungebrochen, da er annahm, dass es zum Reittraining gehörte und so eine verdrehte Körperhaltung – die der eines Kosaken glich – völlig normal war.

Zu den Höhepunkten auf Whaley zählte der Besuch einer russischen Marineschwadron in Portsmouth. Mein Vater erhielt den Befehl, sich um den Kreuzer der Swerdlow-Klasse und seine Crew zu kümmern. Nachdem der Kapitän unser Haus zum Tee besucht hatte, lud man mich im Gegenzug ein, am nächsten Tag auf das Schiff zu kommen. Ich kehrte mit einer wahren Wagenladung an Geschenken zurück, was aus meiner Perspektive als ein großer Erfolg zu werten war. Allerdings glaube ich, dass Dad sich ein wenig enttäuscht zeigte, da ich während des Aufenthalts auf dem Schiff keine Geheiminformationen in Erfahrung bringen konnte. Wir befanden uns mitten in der Zeit des Kalten Krieges! Die einzigen Informationen, die ich erhielt, waren die russischen Vokabeln für „Danke schön“. Ich merkte schnell, dass die Anzahl der Schokoladen rapide in die Höhe stieg, je öfter ich die Worte sagte. Die russischen Schokoladen waren ungefähr so groß wie meine Hand, und ich bedankte mich tapfer, bis ich sechs erbeutet hatte. Dann ging ich nach Hause und wurde krank.

Wenn ich an Whaley zurückdenke, muss ich immer an die Größe der Militäranlagen denken: Überall gab es riesige Gebäude zum Herumrennen. Der Paradeplatz schien sich ins Endlose zu erstrecken, und natürlich wurde damals alles mit Prunk und Pomp zelebriert – und mein Vater bildete das Zentrum der Aktivitäten. Jede Feier drehte sich um ihn, und egal wo wir auch hingingen – alle salutierten ihm. (Ich liebte das militärische Grüßen, denn es wirkte so erwachsen: Es war eine Geste, die nur Männern zustand. Ich versuchte ständig vor der Nanny und meiner Schwester auszubüchsen, da sie niemand grüßte.)

Bei den Inselrundgängen mit Dad streckte ich immer meine Brust heraus, um so groß wie möglich zu erscheinen. Ich spürte die Bedeutung, an seiner Seite zu gehen.

Ein Brief der Admiralität veränderte dann das Leben meines Vaters. Statt der erhofften Beförderung zum Konteradmiral enthielt der Brief die Nachricht, dass er in zwei Monaten aus der Navy ausscheiden solle.

Zum dem Zeitpunkt hatte Dad bereits 36 Jahre gedient, zwei Mal das Silberne Eichenlaub mit Urkunde für außergewöhnliche Leistungen im Zweiten Weltkrieg erhalten sowie einen Orden für hervorragenden Dienst vor der Küste Koreas in den Fünfzigern. Und plötzlich war er ohne Arbeit. Mit einer Frau und zwei kleinen Kinder stand eine Pensionierung außer Frage. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er sich auf Jobsuche begeben, trotz schlechter Aussichten.

Man überreichte mir ein offizielles Handbuch mit Ratschlägen für den Übergang ins Zivilleben. Ich las es eines Abends. Es war der wohl deprimierendste Text, den ich mir je zu Gemüte führte. Um meine Moral wiederherzustellen, brauchte ich danach einige harte Whiskeys. Offensichtlich war ich für den Arbeitsmarkt praktisch wertlos. Ich musste eine demutsvolle und bescheidene Haltung einnehmen, bereit sein, einen durchschnittlichen Job anzunehmen, in der Hoffnung, die Karriereleiter erneut hinaufzusteigen – falls ich überhaupt das Glück hatte, die erste Sprosse zu betreten.

Die Jugendlichen heutzutage würden das wohl als „voll düster“ bezeichnen.

Nach einigen Absagen bewarb sich Dad für einen Job beim Blue-Steel-Raketenabwehrsystem, entwickelt von Hawker Siddeley (die man später in die British Aerospace eingliederte). Die Bewerbung war erfolgreich, doch seine zukünftige Arbeit bedeutete einen Umzug nach Cheshire, also zur anderen Seite Großbritanniens, wo die Firmenzentrale von Hawker Siddeley lag. Mein Vater achtete immer auf für den Anlass angemessene Kleidung. Als er sich nach Wilmslow aufmachte, trug er seine neue Uniform: Einen Bowler, einen zusammengerollten Regenschirm und Handschuhe aus Schweinsleder.

Mum, Nicky und ich folgten ihm kurz darauf und zogen in das Dean Water, ein Hotel in Manchester. Daraufhin schauten sich meine Eltern nach einem Haus um. In dem Hotel fanden jeden Samstag Tanzveranstaltungen statt. Meine Schwester und ich – wir trugen zu der fortgeschrittenen Stunde schon Schlafanzüge – beobachteten zwischen den Streben des Treppengeländers hindurch die ankommenden Tanzgäste in ihrer schicken Abendgarderobe. Es war ein kurzer Einblick in eine neue Welt und sehr aufregend.

Far Hills, ein aus Ziegeln gebautes freistehendes Haus, für das sich meine Eltern letztendlich entschieden, lag ungefähr vier Meilen von Hawker Siddeley entfernt. Wenn einer der dreieckig wirkenden schwarzen Vulcan-Bomber über unser Heim flog, brachte die Turbulenz das ganze Gemäuer zum Beben, was eventuelle Gäste mehr als erschreckte. Mich hingegen beeindruckte die Tatsache, dass ich die Landebahn der Basis als Gokart-Strecke benutzen durfte.

Ich besaß einen gelben Gokart 30 cc – sehr cool –, den wir in den großen rotweißen Austin luden und damit zur Basis fuhren. Natürlich ragte das Gefährt aus dem Kofferraum. Ich erinnere mich hauptsächlich daran, dass es nicht leicht war, das verdammte Ding anzukriegen, aber wenn es mal lief, flog ich quasi damit.

Mum beförderte mich immer zur Basis und brachte Dad jeden Tag zur Arbeit. Ihr Fahrstil lässt sich am passendsten mit „recht flott“ beschreiben. Eines Tages hatten wir es eilig. Wir mussten zum Bahnhof und eilten zum Auto, das in der Garage abgestellt war. Nicky und ich quetschten uns auf die hintere Sitzbank und schauten erwartungsvoll aus dem Rückfenster. Dann geschah es! Mum durchbrach mit Vollgas die Garagenwand.

Eine Fahrt zu unseren Verwandten in Schottland entwickelte sich regelmäßig zu einem Drama. In einem Jahr mieteten wir einen Caravan, den Mum mit Nicky und mir am Vorabend der geplanten Reise abholte. Als es ihr mit Müh und Not gelungen war, das große Gefährt rückwärts durch das schmale Tor zu bugsieren, hoffte ich inniglich, dass sich Dad am nächsten Morgen hinter das Lenkrad setzt. Dann kämen wir nämlich reibungslos zur Hauptstraße, was mit Mum hinter dem Steuer schnell zu einem das Leben verändernden Trauma werden konnte.

Doch Mum hatte einen Einwand gegen Dads Fahrkünste. Nach ihrem Dafürhalten verwechselte er das Lenkrad mit einem Schiffsruder: Er verlasse die Garage, als steche er in See, meinte sie, setze bei einer gemütlichen Geschwindigkeit das Segel auf der Straße und ignoriere die anderen Fahrer, die die Lichthupe betätigten, wild mit der Faust gestikulierten und ihn zu überholen versuchten. Er stecke angeblich vollkommen in seiner eigenen Welt, was Mutter zur Weißglut trieb.

Im Gegensatz zu meinem Vater hatte Mum keine Probleme mit der Geschwindigkeit. Kurz nach der Autobahnauffahrt drückte sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch und prügelte den Wagen bis zur Höchstgeschwindigkeit. Die Karosserie bebte und vibrierte, und Dad klammerte sich mit schneeweißen Knöcheln an den Beifahrergriff über dem Fenster. Er wusste eins: Jeder Versuch, Befehle zu erteilen, wäre mit einem unverzüglichen Rauswurf geahndet worden. Unser Ziel unter diesen Bedingungen unversehrt erreicht zu haben war immer eine große Erleichterung.

Besonders mir gefielen Schottland und die Besuche bei meiner Großtante Jean mütterlicherseits. Die Biggars besaßen drei Farmen und züchteten Galloway-Rinder. Ich schätze mal, dass dort der Wunsch in mir erwachte, Farmer zu werden. Ich liebte den Lebensstil und die freien, großen Flächen, mochte es, den Kühen nahe zu sein: Sie strahlten Sanftmut und Sicherheit aus. Ihnen beim Fressen des Heus am Abend zuzuhören, erfüllte mich mit Zufriedenheit.

Allgemein betrachtet bestand kein liebevolles Verhältnis zwischen den Familien meiner Eltern und den nächsten Verwandten. In Southsea lebte eine gewisse Aunty Rosie, die einen Hang zur Kunst hatte und leicht exzentrisch war – speziell, wenn sie ein oder vielleicht auch zwei Glas Wein trank. Wir besuchten sie jedoch nur einige Male. Merkwürdig, denn während der Stationierung auf Whale Island trennte uns nur eine minimale Entfernung. Die Beziehung zwischen Aunty Rosie und mir nahm kein glückliches Ende: Mum rief mich eines Tages an – ich muss in meinen Zwanzigern gewesen sein – und erzählte mir, das Aunty Rosie geheiratet habe. Zumindest verstand ich das so am Telefon. Wie man es so macht, trug ich Mum daraufhin auf, ihr meine Glückwünsche zu übermitteln. Doch das kam nicht gut an.

„Nicht geheiratet, mein Liebling! Beerdigt!“ Na ja, „married“ und „burried“ klingen phonetisch eben fast identisch …

Onkel Berners, Mums Bruder, sah ich noch seltener – tatsächlich nur ein einziges Mal. Sein Name wurde mit leiser Stimme ausgesprochen und nur dann, wenn meine Eltern glaubten, ich sei außer Hörweite. Möglicherweise lag es an seinem Fehlverhalten, denn er weigerte sich, meine Oma zu betreuen, die wir Jean Granny nannten. Vielleicht lag der Grund für das unterkühlte Verhältnis auch in der Tatsache begründet, dass Onkel Berners, der viele Jahre als Vikar in Eton tätig war, seinen Namen im späteren Leben mit einem Zusatz versah, was meine Eltern anwiderte und abstieß. Dad tolerierte keine Großspurigkeit.

Wegen Onkel Berners musste mein Vater schließlich für beide Omis – Jean Granny und seine Mutter Granny Malimore – finanziell aufkommen. Sie lebten beide bis in ihre Neunziger. Granny Malimore (Malimore nannte man übrigens ihr Haus in Farnham), war eine schlaue, jedoch nicht sehr aktive Frau. Jean Granny hingegen war nicht sonderlich clever, dafür aber ein lebensfroher und aktiver Mensch. Die beiden trafen sich bei Familienfeiern, wo Jean Granny immer eine Treppe fand, die sie hinaufsausen konnte, wobei sie die Frage stellte: „Oh Roberta, bin ich zu schnell für dich gegangen?“ Natürlich konterte Granny Malimore! Sie warf allerlei historische Fakten ins Gespräch und brachte Jean Granny mit Fragen in eine peinliche Situation, weil sie diese nicht beantworten konnte.

Ich weiß wirklich nicht, wie Jean Granny ihre Lebenserwartung so hochschraubte, doch bei Granny Malimore lag das Rezept auf der Hand: Tiefkühlung! Man betrat ihr Haus in Farnham, atmete aus und sah das Kondensat wie einen dichten Nebel in der Luft – trotz des intakten Kamins! Es war einer dieser kleinen Feuerplätze mit nur geringer Rauchentwicklung. Wenn ein winziger Funke zu glühen begann und ein wenig Wärme abstrahlte, sprang sie aus dem Sessel, schnappte sich den Kohlenkübel und schüttete so viel auf die Glut, dass sie beinahe wieder erlosch.

Granny Malimore besaß einen Fernseher – in jenen Tagen eher selten –, den ihr ein wohlhabender Cousin aus Kapstadt geschenkt hatte. Sie schaute sich alle Sendungen an, zog es aber vor, die anderen in dem Glauben zu wiegen, sie läse nur die Times. Wenn wir den Raum betraten, saß sie unschuldig da und tat so, als würde sie Zeitung lesen, doch wenn man die Hand auf den Fernseher legte, war er glühend heiß. Wahrscheinlich strahlte das Ding mehr Hitze ab als der Kamin!

Jean Granny lebte in einem etwas heruntergekommenen „Heim für Dauergäste“ in Farnham, dem Morris Lodge Hotel. Morris Lodge spielte in unserem Familienleben eine große Rolle. Während mein Vater sich im Koreakrieg befand, zog Mum mit meiner Schwester und mir dorthin. Diese Erfahrung zählte wohl zu den Gründen, warum sie die Trennung verarbeiten konnte. Nicky und ich standen unter ständiger Beobachtung meist dieser oder jener „durchgeknallten“ Person. Ein Colonel und eine Mrs. Crosse führten das Heim, unterstützt von einigen ziemlich herrschsüchtigen Schwestern. Vermutlich wurde darum [die in einem Hotel spielende Comedy-Serie] Fawlty Towers zu einer meiner Lieblingssendungen: Ich identifizierte mich vollkommen mit den Charakteren.

Noch als wir in Cheshire lebten, besuchten wir während der Ferien die Morris Lodge. Wir verbrachten die Wochenenden gelegentlich mit Angeln in der hügeligen Landschaft Derbyshires. Ich liebte das Leben an der frischen Luft, und auch heute noch bringen mich Flüsse zum Schwärmen.

Beim Fluss in Hartington gibt es eine wunderschöne Stelle, an der sich der Lauf krümmt. Dort ist es immer ruhig und friedlich, was sich jedoch nach der Invasion der Rutherfords nebst Hund änderte. Die seriösen Angler zeigten sich schockiert, nicht zuletzt, weil Mum eine brandneue Hardy-Angelrute besaß, aber dennoch einen Wurm für das Fliegenfischen benutzte.

Dad hingegen lag diese Freizeitbeschäftigung nicht, während ich in der ganzen Zeit nur zwei Fische aus dem Wasser zog. Doch Mum hatte ein ausgeprägtes Gefühl dafür. In ihrer Jugend in Südafrika war sie überaus sportlich gewesen: Sie ritt, nahm an Bootsrennen teil und übte sich im Schießen. Als ich aber das Licht der Welt erblickte, gehörten diese Aktivitäten indes einer längst vergangenen Ära an.

Mutter war eigentlich ständig für irgendwelche Scherze zu haben. Sie versuchte meinen Vater etwas aufzulockern, denn er strahlte eine gewisse Steifheit und Förmlichkeit aus. Dad hatte einen Sinn für Humor, zwar einen trockenen Humor, den viele übersahen, doch er war da. Mir gegenüber verhielt er sich jedoch eher reserviert, obwohl ich mich immer geliebt und behütet fühlte.

Vater war mit Opas Geschichten über den Burenkrieg aufgewachsen, doch er erzählte mir niemals von seinen Kriegserlebnissen, obwohl er viel zu berichten hatte. Nach der Kriegserklärung 1939 bestand seine erste Mission darin, Goldbarren im Wert von einer Million Pfund nach Kanada zu befördern. Das Gold stammte aus Frankreich und sollte zur sicheren Aufbewahrung verschifft werden. 1940, nachdem Frankreich in die Hände der Deutschen gefallen war, oblag ihm die Aufgabe, zwei französische Schiffe im Hafen von Plymouth in Beschlag zu nehmen, und 1941 befand er sich an Bord der „King George V“, die an der Versenkung der „Bismarck“ beteiligt war. Als Kind spürte ich, dass Dad nicht über den Krieg reden wollte, und hielt es für unangemessen, ihn danach zu fragen.

Wir waren niemals eine unglückliche Familie, allerdings ernst. Ich habe Dad beim Yoga beobachtet, das er während seines Aufenthalts in Fernost gelernt hatte, doch er spielte niemals Fußball mit mir. Auch belanglose Gespräche fanden nicht statt. Schon von jungen Jahren an kannte ich seine hohen Ansprüche. Beim Dienst auf Whale Island entschied er, wer Prüfungen bestand und wer durchfiel.

Eine Erinnerung passte jedoch nicht ins Bild: Mein Vater und ich nahmen gemeinsam das Bad, als ich noch sehr klein war. Ich besaß ein Plastik-U-Boot – eines dieser lustigen Dinger, die man in einer Cornflake-Packung fand – und füllte Backnatron hinein, damit es auf- und abtauchte. Während mich Dad dabei beobachtete, dachte er vermutlich, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handeln könne, bis ich eine Laufbahn in der Marine antreten würde.

Wir verbrachten nur wenig Zeit miteinander. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, lag ich oft schon im Bett. Im Alter von siebeneinhalb Jahren verfrachtete man mich dann ins Internat. Dad stellte letztendlich nur einen kleinen Teil meines alltäglichen Lebens dar, und gerade deshalb empfand ich die wenigen gemeinsamen Episoden auch als so wichtig.

Was Mum anbelangt, da weiß ich eigentlich nicht, was sie den ganzen Tag lang trieb, doch was auch immer es war – sie hatte es stets eilig. Meine Erinnerung dominiert ein Bild: Mum platzt in ein Zimmer, riecht noch nach der kalten Luft von draußen, stellt etwas ab und eilt schon wieder hinaus.

Meine Eltern hatten nicht viele Freunde. Die beiden müssen es als eine Art Schock erlebt haben, als sie sich im fortgeschrittenen Alter in der realen Welt außerhalb des Militärs zurechtfinden mussten. Dad hatte zuvor nie ein Haus besessen, denn als Captain war er ständig unterwegs gewesen. Wo auch immer er die Dienstmütze ablegte, war sein Zuhause. Zudem musste er sich nie um das Begleichen von Rechnungen kümmern. Mum brauchte sich hingegen niemals um die Zubereitung einer Mahlzeit oder alltägliche Fragen des Haushalts zu sorgen, denn das gehörte nicht zu den Aufgaben der Frau eines Captains.

Vielleicht fiel es ihnen aus diesem Grund schwer, Nicky und mir ein Zuhause zu bieten. Auch wir hatten keine wahren Freunde. Mein bester Freund war der Sohn unserer Putzfrau, mit dem ich auf dem Treppenabsatz in Far Hills spielte.

Während des Aufenthalts auf Whale Island hatten mir die Marinetischler eine wunderschöne hölzerne Truhe für Holzspielzeug gezimmert. Wir bauten daraus kleine Forts, von wo aus wir uns mit allen erdenklichen Dingen beschossen. Es machte viel Spaß, doch eines Tages muss ich wohl geglaubt haben, dass mein Freund schummelt, denn ich warf ihm eines dieser Spielklötzchen an den Kopf. Da floss zwar nicht viel Blut, aber es war das einzige Mal, dass mir Dad eine Tracht Prügel verpasste.

Das alles mag auf ein einsames Leben hindeuten, doch ich fühlte mich nicht einsam, sondern zufrieden und autark, was sogar so weit ging, dass ich mir mein eigenes Taschengeld auszahlte – Half Crowns, die ich aus der Garderobe von Dad nahm. Das waren große und dicke Münzen, die wertvoll wirkten. Meist gab ich sie für Süßigkeiten oder Modellbausätze aus: Flugzeuge und keine Boote, die ich als zu langweilig empfand. Erst als ich die Vorschule besuchte, wurde mir klar, was ich bislang mit Blick auf das gesellschaftliche Leben verpasst hatte. Und ich machte eine weitere Entdeckung: die Musik.

„Nun, Michael! Du bist der Sohn eines Marineoffiziers. Du musst dich wie ein Marineoffizier verhalten und immer stark sein.“

Ich werde niemals die Worte meines Vaters vergessen, als er mich im Alter von sieben Jahren zum ersten Jahr in der Vorschule The Leas in Hoylake zurückließ: Er trug eine schicke Tweedjacke, eine robuste Hose aus Twill und braune Wildlederschuhe – und ich fürchtete mich zu Tode.

In dieser Nacht lag ich hellwach im Schlafsaal. Links und rechts neben mir weinten und wimmerten Jungs, denen am nächsten Morgen ein eiskaltes Bad blühte. Ich wiederholte Dads Worte: „Du bist der Sohn eines Marineoffiziers: Sei stark! Zeig niemals deine Gefühle, und dir wird es gutgehen.“ Mir ging es auch gut, aber das hielt nur drei Wochen an. Eines Morgens – ich trank gerade meine Milch in der großen Sporthalle – dämmerte es mir plötzlich. Meine Eltern hatten mich verlassen, und ich würde sie die nächsten sechs Wochen nicht mehr sehen. Ich war wie am Boden zerstört.

Mit der Milchflasche in der Hand brach ich in Tränen aus und heulte während der ganzen Pause. Die anderen Jungs hatten diese Erfahrung schon vor Wochen gemacht. Mit Sicherheit dachten sie: „Was ist denn mit Rutherford los?“ Doch ich war eben schon immer ein Mensch, der in emotionaler Hinsicht „nachhinkt“.

Auch Dad hatte eine Vorschule besucht. Sie lag in Rochester und war charakteristisch für die damalige Zeit: Abgewetzte Tische, gesprungene Tintenfässchen, primitive Toiletten und der typische Geruch von Haferflockenbrei, Rouladen, Fleisch-Kartoffel-Auflauf, Gerichten aus Rindertalg und Reispudding. Das war 1914, doch als ich in The Leas ankam, hatte sich nicht viel geändert. Der einzige Unterschied bestand in der vorgeschriebenen Kleidung für den Tanzunterricht. Dad musste ein Eton-Jackett und weiße Glacé-Handschuhe tragen, während ich zumindest Turnschuhe anziehen durfte. Das war nicht gerade ideal, denn mein Partner Jones Minor trampelte mir immer auf die Füße. Außerdem lief ihm ständig die Nase.

Ich rang meinen Eltern nur ein Versprechen ab, bevor ich ins Internat ging: Ich wollte auf keinen Fall Tanzunterricht nehmen. Wenige Wochen später drehte ich verkrampft und bemüht meine „Walzerrunden“ in der Turnhalle, wobei ich mich im Stich gelassen fühlte.

Ich empfand keine Wut, weil sie mich ins Internat verfrachtet hatten, sondern eher Selbstmitleid. Nach dem ersten Semester in der Vorschule fasste ich einen festen Plan: Auf gar keinen Fall würde ich wieder dorthin zurückkehren! Meine Eltern gingen jedoch geschickt mit der Situation um. Sie versuchten nie, mir die Schule schmackhaft zu machen, denn sie wussten, dass ich den Braten riechen würde. Stattdessen beschwichtigte mich Mum mit den Worten: „Schau mal, Mikey. Wir haben schon Januar, also zählen wir den Januar nicht. Du kommst im März schon wieder nach Hause, und so bleibt nur der Februar übrig. Nur vier Wochen!“, und ich dachte mir: „Oh ja, über was mache ich mir hier eigentlich Sorgen?“

Mich beeindrucken die Veränderungen, die sich im Verlauf der Zeit ergeben, und die Gewöhnung an schwierige Umstände. Zurückblickend war die Phase in The Leas gar nicht so schlecht. An dem großen vierstöckigen Gebäude rankten sich Kletterpflanzen hoch. Der Schulleiter betrat es durch eine ausladende, pompöse Tür, und von den Gängen zweigten zahlreiche Flure ab. Am Ende einer Allee befanden sich das Wissenschaftsgebäude, die Spielfelder und ein Hallenbad (ungeheizt – natürlich!). Es gab sogar einen Bereich für das Rollschuhfahren, zwar keine reguläre Bahn, aber immerhin. Am Abend wurde dieser Abschnitt vom Licht der Klassenzimmer erleuchtet, sodass man noch ungefähr eine Stunde nach dem Klingeln fahren konnte, was sich wie der Inbegriff der Freiheit anfühlte.

Das Essen war ziemlich eklig – ein Missstand, der sich seit 1914 nicht geändert hatte. Allerdings gab es eine überdachte Fruchtbar, die wie eine Kreuzung zwischen einer Nissenhütte und einem Gewächshaus aussah. Beim morgendlichen zweiten Frühstück gingen wir dorthin, um uns Früchte zur Milch auszusuchen. Der Geruch war fantastisch.

In The Leas förderte man den Obstverzehr, und die von Zuhause zurückkommenden Jungen brachten oft Körbe voller Orangen, Äpfel und Birnen mit.

Mutter, eine wahre Exzentrikerin, was die Ernährung anbelangte, schickte mich mit Granatäpfeln und Litschis ins Internat. (Hinsichtlich Bananen hatte Mum ihre Marotten. Wenn ich in den Ferien eine Banane essen wollte, an der auch nur eine winzige braune Stelle zu sehen war, schnappte sie sich die Frucht, begutachtete sie und meinte: „Oh, mein Liebling. Die ist schon schlecht. Gib sie Dad.“)

In der Schule war ich bei den Pfadfindern und sogar Anführer eines Zugs. Wir veranstalteten Schatzsuchen, bei denen man uns nach Hoylake schickte, wo wir auf Zeit eine Liste merkwürdiger Gegenstände einsammeln mussten. Eines Tages fand ich heraus, dass Busfahrten dabei untersagt waren. Meiner Meinung nach hatte ich meine Raffiniertheit unter Beweis gestellt, doch der Klassenlehrer teilte diese Ansicht nicht. Fazit: Eine Tracht Prügel mit einem sehr harten Hausschuh.

Scout zu sein bedeutete auch, jedes Jahr am Sommercamp teilzunehmen, was ich liebte. Dad borgte mir seine Kapitänsmütze – eine Geste, die einem beinahe unglaublichen Vertrauensbeweis gleichkam –, und wir fuhren nach Wales, meilenweit entfernt von einer Ortschaft. Dort erklommen wir den Cader Idris, wanderten die mit Geröll bedeckten Serpentinen hinunter und verbrachten die Zeit mit allerlei Freiluft-Aktivitäten. Mr. Waring, der Pfadfinderführer, war ein großartiger Mann, doch zurückschauend stelle ich mir die Frage, ob sein Verhalten heute noch als angemessen durchgehen würde. Er besaß einen netten alten Rolls Royce mit ausladenden Kotflügeln. Damit kreuzte er mit Jungen, die an den Seiten aus dem Auto hingen, durch Wales.

In der Schule gehörte ich nicht zu den Sportskanonen, doch ich konnte beim Schwimmen und Golfen glänzen. Ich versuchte ständig, im Wasser einen mir weit überlegenen Jungen aus Malaysia auszustechen, was mir allerdings nur ein einziges Mal gelang, da er sich an dem Tag nicht wohl fühlte. Manchmal überlegte ich mir einige schmutzige Tricks, zum Beispiel sein Essen mit einer besonderen Substanz zu „würzen“, aber als ich einige Runden Golf gewann (und man mich zum Golf Captain ernannte), entschied ich mich in dem Sport mit Höchstleistungen zu bestehen. (Leider muss ich eingestehen, dass nicht sonderlich viele Kandidaten um den Sieg wetteiferten. Trotzdem war ich stolz auf mich.)

Mein Vater bewahrte irgendwo einige Schläger auf und erzählte ausführlich von Golfspielen mit verschiedenen Würdenträgern, denen er bei seinen Reisen durch das Empire begegnet war. Natürlich versuchte er jeden, der ihm Gehör schenkte, davon zu überzeugen, dass man sein sportliches Können nur auf einer globalen Skala messen könne. In Wahrheit hatte er jedoch nur ein einziges Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gespielt. 1952 wohnte er bei einem Kommandanten der Royal Air Force in Singapur, der ihn für sein Flying Boat Wing Team „rekrutierte“. Sich plötzlich bewusst, dass er möglicherweise ein wenig eingerostet war, versuchte sich Dad aus der misslichen Lage herauszuwinden. Doch zu spät:

Als Gast durfte ich mich anstandshalber nicht entziehen. Die Vorstellung, während eines Probeschlags eine Rückenzerrung zu simulieren, war ausgeschlossen.

Zu gegebener Zeit stand ich im Angesicht einer erwartungsvollen Menschenmenge an der ersten Abschlagstelle. Ich fühlte mich jedoch nicht nervös, was vermutlich den Drinks und dem Lunch geschuldet war. Eine unbekümmerte Stimmung überkam mich. Falls ich wie ein erbärmlicher Popanz aussah – was soll’s!

Da es sich hier nur um ein kurzes Einlochen handelte, wählte ich einen eisernen Schläger mit einem Kopf, der einer Schaufel glich. Ich vermied einen Übungsschlag, da ich vermutlich nur ein Stück der Rasennarbe herausgepflügt hätte, nahm Ziel und holte aus.

Meine Schutzengel, die Drinks und der Lunch hielten mich davon ab, zu früh aufzublicken. Der Ball schoss kerzengerade entlang des Fairways, was die Zuschauer mit einem beeindruckten Gemurmel honorierten.

Wie oft bei solchen Anlässen übersteigt die tatsächliche Leistung die Erwartungshaltung.

Mir war es egal, wer gewann, und ich hatte nicht die geringste Ahnung vom Punktestand, da mein liebeswürdiger Opponent die Karte ausfüllte. So nahm ich eine entspannte Grundhaltung ein, ohne Ängste oder Hemmungen. Meine Abschläge waren selbstsicher und meine Putts todsicher. Auch die Schutzengel verließen mich nicht. Als einer der angeschnittenen Schläge von der Tangente abprallte und in Richtung einiger Gebäude flog, traf der Ball einen Baum und flog wieder auf den Fairway.

Nach einem weiteren Putt traf der Ball hart auf die Rückseite des Lochs, stieg in die Luft und fiel exakt hinein. Plötzlich meinte mein Gegner: „Potzblitz – Ihr Spiel!“ Bei der Rückkehr zum Tee fand ich heraus, dass ich den besten Spieler der gegnerischen Mannschaft geschlagen hatte. Die Leute sagten: „Wennsie 14 Jahre nicht mehr gespielt haben, müssen sie damals ein Ass gewesen sein, das sogar mit verbundenen Augen noch siegte!“

Den Rest meiner Zeit in Singapur drückte ich mich vor Turnieren mit wahren Golfspielern.

Ich spielte zehn Jahre nicht mehr und nahm dann, als Pensionär, am Väterspiel der Vorschule meines Sohnes teil …

Am Tag des Spiels von Dad war mir natürlich nicht klar, dass ich ihm eigentlich erst einige Drinks hätte verabreichen müssen, bevor er sich auf den Parcours begeben sollte. Wir standen beim ersten Abschlag. Dad holte einen rostig wirkenden Golfschläger mit hölzerner Stielummantelung aus der Tasche, der für mich wegen des eher prähistorischen Aussehens kaum einem Schläger ähnelte, besonders auch, weil alle anderen Stahlschläger benutzten. Als er den ersten Schlag mit solch einem Elan ausführte, dass er noch nicht mal den Ball traf, hätte ich mir am liebsten ein Loch gebuddelt, um mich selbst einzuputten.

Unbeeindruckt holte Dad zum nächsten Schlag aus und ließ sich von nichts abhalten, meiner Verlegenheit überhaupt nicht gewahr. Glücklicherweise steigerte er sich danach. Obwohl wir letztendlich nicht gewannen, hatte ich viel Spaß.

Die Sonntage zählten während meiner Zeit in The Leas zu den Höhepunkten, denn dem Lunch mit meinen Eltern außerhalb des Internats folgte Pick of the Pops. Sonntags die Vorschule zu verlassen glich dem Freigang eines Gefängnisinsassen: Draußen sahen die Farben klarer aus, die Luft roch besser … und es gab Roastbeef. Meine Eltern kamen früh morgens an, um an dem Gottesdienst in der Kapelle teilzunehmen. Dad trug Hosen aus Twill, nahm eine aufrechte und gefasste Körperhaltung ein, während Mum winkte und mich freudig und lautstark begrüßte. Dann ging es nach Hoylake, wo wir den Lunch in einem Hotel zu uns nahmen. Danach setzte sich mein Vater hin und führte sich ausgiebig die Times zu Gemüte. Im Sitzbereich hockte ich mich nahe an das Radio. Ich trug immer noch die kurzen grauen Schulhosen und die blaue Mütze – und drängelte andere Jungs aus The Leas weg, falls sich möglicherweise welche dort aufhielten.

Aus der heutigen Perspektive betrachtet, ist es schwierig, ein damaliges Ereignis wie Pick of the Pops zu erklären. Mittlerweile ist es möglich, sich alle musikalischen Wünsche überall zu erfüllen: In jedem Restaurant läuft Musik, in jedem Geschäft, am Flughafen und in jedem Fahrstuhl. 1963 beschränkte sich Popmusik auf drei Stunden jeden Sonntagnachmittag. Die Vorfreude darauf war einfach unglaublich. Man zählte die Tage bis zur Veröffentlichung eines Beatles-Albums, und wenn Alan Freeman dann endlich „She Loves You“ oder „Please Please Me“ spielte, war die Aufregung riesengroß – ich kann das Gefühl heute noch nachempfinden. (Das Gitarren-Riff von „You’ve Really Got Me“ der Kinks fällt auch in diese Kategorie. Seitdem hat es nie wieder so etwas Großartiges gegeben.) Die damalige Popmusik lässt sich mit einer weißen Leinwand vergleichen. Es gab keine Vorläufer. Alles war neu, einzigartig und aufregend. Ich liebte sie alle: The Who, die Stones, die Small Faces, Joan Baez, Arthur Brown … jedoch war mein erster Held zweifellos Cliff Richard.

Nicky entfachte meine Begeisterung für Cliff.

Obwohl Dad das Theater und das Varieté liebte, waren meine Eltern nicht musikalisch. Zuhause beobachtete ich ihn, wie er The Good Old Days mit Leonard Sachs sah und so tat, als würde er die Stücke dirigieren. Doch Mum und Dad besaßen keine Schallplatten (angesichts der durch die Marine bedingten Umzüge besaßen sie allgemein wenige Habseligkeiten). So gab es nur einen Plattenspieler, der im Zimmer meiner Schwester stand, was mich ständig nervte.

Nicky lauschte hautsächlich den Songs von Tommy Steele und Elvis – dem Balladen-Elvis –, der mich überhaupt nicht berührte. Erst als ich „Move It“ von Cliff und den Shadows hörte, diesen wilden, auf einer Gitarre basierenden Sound, packte mich die Musik, und zwar am ganzen Körper. Und dann war da noch Cliff als Person: Seine schnittigen Anzüge, das nach hinten gegeelte Haar, die Bewegungen – und dazu noch der packende Sound. Cliff begeisterte alle.

Mein erstes Konzert – ich überredete meine Eltern, mich dorthin zu bringen – fand im Apollo in Manchester statt: Es waren Cliff und seine Shadows. Wenige Tage davor kaufte ich Brylcreem, und kurz vor der Abfahrt geelte ich mir eine Art Tolle, um so cool wie Cliff auszusehen. Mum fand meinen Look nicht sonderlich toll, marschierte mit mir nach oben und steckte meinen Kopf unter den Wasserhahn.

Witzigerweise wirkte sich die unfreiwillige Haarwäsche nicht auf das Erlebnis aus. Cliff trug ein weißes Jackett sowie ein schwarzes Hemd und war so gut, wie ich gehofft hatte. Dennoch dachte ich nicht im Entferntesten daran, selbst Musiker zu werden, denn als Erwachsener repräsentierte er eine Welt, die außerhalb meiner Reichweite lag.

Ebenso sehr wie den typischen Sound mochte ich die Form der Gitarre. Ich hatte vorher schon Fotos einer roten Höfner mit einem doppelten Cutaway gesehen, wobei ich speziell die Symmetrie mochte. Meine erste Gitarre – eine billige Konzertgitarre – war hingegen eher eine Enttäuschung, vergleichbar mit Bert Weedons Lehrwerk Play in a Day, denn genau das erhoffte ich mir. Allerdings schaffte ich es nicht an einem Tag. Auf dem Cover des Buches ist ein Foto von Bert, der einen Anzug trägt und eine Halbakustik in Händen hält, doch er verlor mich schon auf der dritten Seite.