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Risiko & Recht 03/2024 E-Book

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Beschreibung

Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.

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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.

Zeitschrift Risiko & Recht - 03/2024 Copyright © by Tilmann Altwicker; Dirk Baier; Goran Seferovic; Franziska Sprecher; Stefan Vogel; und Sven Zimmerlin is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.

Herausgeber: Tilmann Altwicker, Dirk Baier, Goran Seferovic, Franziska Sprecher, Stefan Vogel, Sven ZimmerlinVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion & Vertrieb: buch & netz (buchundnetz.com)ISBN:978-3-03805-xxx-x (Print – Softcover)978-3-03805-xxx-x (PDF)978-3-03805-xxx-x (ePub)DOI:https://doi.org/10.36862/eiz-rr202403Version: 0.10 – 20241029

Dieses Werk ist als gedrucktes Buch sowie als Open-Access-Publikation in verschiedenen Formaten verfügbar:https://eizpublishing.ch/publikationen/zeitschrift-risiko-recht-032024/.

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Risiko & Recht Ausgabe 03 / 2024

Editorial

Polizei & Militär

PDE-5-Hemmer im Straf- und Massnahmenvollzug[Thomas Noll / Andreas Hill / Jérôme Endrass / Astrid Rossegger / Thierry Urwyler]

Zwischenstaatliche Konsultationen im Vorfeld von Einreisen Drittstaatsangehöriger in den Schengen-Raum[Mathias Lanz]

Technik & Infrastruktur

Automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung gestützt auf das Zollrecht – de lege lata und de lege ferenda[Patrice Martin Zumsteg]

GASTBEITRAG:Die Gefahr der digitalen Notenbankwährung[Kristoffer J. M. Hansen]

Buch- rezension

Buchrezension: Gefahr im Verzug bei der vorläufigen Festnahme durch die Polizei (Art. 217 StPO) von Sandra Francesca Lazzarini[Gian-Flurin Steinegger]

Editorial

Editorial

Sehr geehrte Damen und Herren

Die vorliegende Ausgabe 3/2024 der Risiko & Recht deckt ein breites Themenspektrum aktueller Sicherheitsfragen ab. Eingangs thematisieren das Autorenteam Thomas Noll / Andreas Hill / Jérôme Endrass / Astrid Rossegger / Thierry Urwyler die Abgabe von PDE-5-Hemmer im Straf- und Massnahmenvollzug und entkräften verschiedene diesbezügliche Bedenken als rechtlich unbegründet.

Mathias Lanz unterzieht zwischenstaatliche Konsultationen im Vorfeld von Einreisen Drittstaatsangehöriger in den Schengen-Raum einer rechtlichen Analyse. Um Sicherheitslücken bei der Einreise von drittstaatsangehörigen Personen in den Schengen-Raum zu vermeiden, sieht das Schengen-Recht strukturierte, digitale Verfahren für einen Informationsaustausch und eine Koordination unter der Schengen-Mitgliedstaaten vor.

Anlässlich der Totalrevision der Zollgesetzgebung untersucht Patrice Martin Zumsteg die Anforderungen der Rechtsprechung an die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) und ob das Recht des Bundes diesen Anforderungen genügt. Der Autor beurteilt die geplante Revision als Fortschritt, identifiziert indes, dass weiterhin Lücken verbleiben.

In seinem Gastbeitrag setzt sich Kristoffer J. M. Hansen mit den Gefahren der digitalen Notenbankwährung (CBDC) auseinander. Er führt aus, dass eine CBDC der Notenbank und dem Staat viel grösseren Einfluss verschaffen, die Freiheit des Einzelnen indes sehr beschränken würde. Die möglichen Vorteile der CBDC seien dagegen sehr gering.

Wir wünschen Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre und erlauben uns noch auf die Möglichkeit eines Print-Abonnements hinzuweisen.

Tilmann Altwicker Dirk Baier Goran Seferovic Franziska Sprecher Stefan Vogel Sven Zimmerlin

Polizei & Militär

PDE-5-Hemmer im Straf- und Massnahmenvollzug

Normalisierungs- und Äquivalenzprinzip bei der Anwendung von Substanzen wie Sildenafil bei Straftätern

Thomas Noll; Andreas Hill; Jérôme Endrass; Astrid Rossegger; und Thierry Urwyler

PD Dr. iur. Dr. med. Thomas Noll ist Arzt und Strafrechtler. Er hat als Allgemein- und Gefängnispsychiater gearbeitet, war Chef Vollzug der JVA Pöschwies und Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal. Heute ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zürcher Amt Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe) und Lehrbeauftragter an den Universitäten St. Gallen und Zürich sowie an der ZHAW; PD Dr. med. Andreas Hill (geb. 1962) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie), Forensischer Psychiater und Sexualwissenschaftler. Von 2000 bis 2008 war er leitender Oberarzt am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Seit 2009 ist er in eigener Praxis in Hamburg tätig, daneben seit 2017 in Teilzeit als Leitender Arzt an der Klinik für Forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik Zürich, sowie seit 2009 als assoziierter Wissenschaftler am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Verschiedene Lehrtätigkeiten, u.a. an den Universitäten Hamburg, Zürich, Konstanz, der Staatsanwaltsakademie Luzern, der ZHAW und dem IOT Zürich; Prof. Dr. Jérôme Endrass ist Rechtspsychologe und Psychotherapeut. Er verfügt über langjährige Erfahrung in Klinik, Forschung und Lehre. Er leitet die Abteilung Forschung & Entwicklung im Zürcher Amt Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe) und ist der stellvertretender Amtsleiter von JuWe. An der Universität Konstanz leitet er die Arbeitsgruppe für Forensische Psychologie. Berufspolitisch engagiert sich Endrass im Vorstand der SGFP und SGRP; PD Dr. Astrid Rossegger ist Rechtspsychologin. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in Klinik, Forschung und Lehre. Sie leitet in Co-Funktion die Abteilung Forschung & Entwicklung im Zürcher Amt Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe) und an der Universität Konstanz die Arbeitsgruppe für Forensische Psychologie. Berufspolitisch engagiert sie sich im Vorstand der SGRP; Dr. iur. Thierry Urwyler, MSc. Forensische Psychologie, ist Strafrechtler. Seine beruflichen Stationen führten über die Swiss Re, die ZHAW und die Universität Luzern. Nach dem Doktorat trat er die Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forschung & Entwicklung bei Justizvollzug & Wiedereingliederung Zürich an. Zusätzlich ist er Lehrbeauftragter an den Universitäten Zürich und Basel sowie an der ZHAW. Ab 2025 wird er die Assistenzprofessur Straf-/Strafprozessrecht an der Universität Zürich antreten.

In der Justizvollzugspraxis wird die Abgabe von PDE-5-Hemmern wie Sildenafil (Viagra® u.a.) kritisch hinterfragt. Dabei werden insbesondere das Risiko eines unerlaubten Handels sowie die Gefahr sexueller Übergriffe hervorgehoben. Die vorliegende Analyse zeigt auf, dass diese Bedenken medizinisch unbegründet sind und Gesundheitsdienste im Justizvollzug bei entsprechender Indikation somit verpflichtet sind, bei sexualmedizinischer Indikation Inhaftierten Sildenafil oder einen analogen PDE-5-Hemmer abzugeben.

Inhalt
EinleitungHistorisch-sozialer KontextErektile Dysfunktion (ED) und deren BehandlungÄquivalenz- und NormalisierungsprinzipÄquivalenzprinzipGrundlagenUmstrittener Krankheitswert der erektilen DysfunktionNormalisierungsprinzipEinschränkungenMedizinische DimensionVollzugsrechtliche DimensionUnerlaubter HandelRisiko von (Sexual-)StraftatenIntegrative WürdigungLiteratur

Einleitung

Sexualmedizinische Fragen sind in der Gesellschaft ein gleichermassen komplexes und tabuisiertes Thema.[1] Noch einmal akzentuierter gestaltet sich die Sachlage im Justizvollzug, wo ein grundrechtliches Spannungsfeld zwischen Autonomie des Einzelnen einerseits und Sicherheit der Anstalt sowie der Gesellschaft andererseits besteht. Mit Blick auf das wachsende Durchschnittsalter der inhaftierten Personen im Justizvollzug[2] sind die Gesundheitsdienste immer wieder mit sexualmedizinischen Fragestellungen konfrontiert, wie z.B. die Indikation für die Abgabe von Phosphodiesterase-5-Hemmern (PDE-​5-​Hemmer). Zu dieser Substanzgruppe gehören neben dem Ende der 1990er Jahre als erstes zugelassenen Sildenafil (Viagra® u.a.) die Substanzen Tadalafil, Vardenafil und Avanafil, die sich teilweise in ihrer Wirkungsdauer und dem Wirkungseintritt unterscheiden. Diese Substanzgruppe kann sowohl bei allgemeinmedizinischen Fragen als auch bei sexualmedizinischen Indikationen wie der erektilen Dysfunktion (ED) eine Rolle spielen. Es wird beobachtet, dass in Justizvollzugsanstalten inhaftierte Personen vor der Benutzung von unbeaufsichtigten Besuchsräumen beim Gesundheitsdienst um die Abgabe von PDE-5-Hemmern bitten. Dies mit der Begründung, dass Leistungserwartung und -druck (von der Partnerin/dem Partner und sich selbst gegenüber) sehr hoch seien und zu kurzfristigen erektilen Funktionsstörungen führten oder diese auch situationsunabhängig bzw. überdauernd bestehen. Es wird also im Haftsetting nach PDE-5-Hemmern gefragt, um bei Nutzung unbeaufsichtigter Besuchsräume sexuell aktiv sein zu können.

Gleichzeitig ist es möglich, dass es unter Sicherheitsgesichtspunkten auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar ist, wenn einem Inhaftierten, der gegen Gesetze verstossen hat (insbesondere bei Sexualdelikten), entsprechende Substanzen verabreicht werden. In einem rationalen Rechtssystem sollten indes nicht subjektive Risikowahrnehmungen oder Reputationsüberlegungen (siehe unten, Kap. II), sondern empirische Befunde die Grundlage eines evidenzbasierten Justizvollzugs bilden. Aus diesem Grund geht die vorliegende Untersuchung der Frage nach, ob die Gefängnismedizin im Justizvollzug der Schweiz verpflichtet ist, PDE-5-Hemmer für die Behandlung der erektilen Dysfunktion (ED) bei der Benutzung von unbeaufsichtigten Besuchsräumen für sexuelle Kontakte abzugeben.

Grundlage der Abhandlung bildet die Beschreibung des historisch-sozialen Kontexts, woraus sich unter anderem der Bedarf nach einer medizinisch-juristischen Klärung der Frage ergibt (siehe unten, Kap. II und III). Daran anknüpfend wird sich zeigen, dass je nach Indikation das Äquivalenzprinzip oder das Normalisierungsprinzip eine Abgabe nahelegen (siehe unten, Kap. IV). Die Analyse möglicher Risiken (bzw. deren Mangel) zeigt zudem, dass vorbehaltlich medizinischer Kontraindikationen keine vollzugsrechtlichen Gründe bestehen, um die Abgabe von PDE-5-Hemmern generell einzuschränken (siehe unten, Kap. V). Daraus folgt, dass PDE-5-Hemmer auch im Justizvollzug bei entsprechender Indikation abgegeben werden müssen (Kap. VI).

Historisch-sozialer Kontext

Die Abgabe von PDE-5-Hemmer im Justizvollzug stellt keine zeitliche Konstante dar. In der grössten geschlossenen Strafanstalt der Schweiz, der JVA Pöschwies im Kanton Zürich, wurde bis ins Jahr 2006 „unter ärztlicher Kontrolle“ Sildenafil an inhaftierte Personen abgegeben,[3] sofern sie vor dem Treffen im unbeaufsichtigten Besuchsraum („Beziehungs- oder Familienzimmer“) Erektionsprobleme geltend machten.[4] Diese Praxis erfuhr 2006 eine wesentliche Kursänderung, als ein wegen Sexualdelikten mehrfach vorbestrafter, seit 1995 verwahrter und mit einem triebdämpfenden Medikament behandelter Inhaftierter auf einem Hafturlaub straffällig wurde und gegen seine Auflagen verstiess. Dabei nutzte der krebserkrankte Inhaftierte das Zeitfenster für die unbegleitete Teilnahme an einer onkologischen Therapie ausserhalb der Gefängnismauern, um sich Sildenafil verschreiben zu lassen, konsumierte Alkohol und traf sich mit Prostituierten, die er sexuell nötigte.[5]

Der Rückfall löste ein grösseres mediales Echo aus. So war in der Boulevardpresse zu lesen, dass Sildenafil zusammen mit Alkohol „die chemische Kastration durch triebhemmende Medikamente, die einem Sexualstraftäter gewöhnlich vor einem Hafturlaub verabreicht werden, neutralisieren. Der 49-jährige 1,90 grosse Hüne versuchte jedenfalls 2005 sowie im Frühling 2006 während seines Freigangs mehrfach, Callgirls im Kanton St. Gallen brutal zu vergewaltigen“.[6] Der Vorfall blieb für die zuständigen Fachpersonen nicht ohne politische und administrative Folgen: Die ehemalige Leiterin des Zürcher Amts für Justizvollzug erhielt vom damaligen Justizdirektor einen personalrechtlichen Verweis.[7] In der Justizvollzugsanstalt Pöschwies wurde die Abgabe von Sildenafil eingestellt.[8] Dies illustriert das ethisch-rechtliche Spannungsfeld, in dem sich die (sexual‑)medizinische Versorgung im Freiheitsentzug befindet.[9] Gleichwohl ist die beschriebene Ausgangslage in jüngerer Vergangenheit vermehrt hinterfragt worden.

Inhaftierte Personen haben gemäss Rechtsprechung keinen bundesrechtlichen Anspruch auf Besuch in Räumlichkeiten, der ihnen sexuellen Kontakt mit Partnerinnen oder Partnern ermöglicht. Strafanstalten, welche den Inhaftierten Möglichkeit zur Benutzung eines unbeaufsichtigten Besuchsraums ermöglichen, gehen somit über das verfassungs- und völkerrechtliche Minimum hinaus.[10] Das Anbieten eines Beziehungs- bzw. Familienzimmers ist in mehrfacher Hinsicht sinnvoll: Neben dem individualrechtlichen Aspekt (Ausübung der Grundrechte) weisen empirische Untersuchungen darauf hin, dass Familienzimmer negativ mit der Inzidenz sexueller Übergriffe zwischen Insassen, der Inzidenz von Regelverstössen und der Bereitschaft zu aggressivem Verhalten korrelieren.[11],[12]

Die JVA Pöschwies verfügt als eine von neun Institutionen schweizweit über einen unbeaufsichtigten Besuchsraum, der auch – aber bei weitem nicht nur – für Intimkontakte verwendet werden darf.[13] Im Kanton Zürich sind Familien- und Intimbesuche in § 117 Abs. 3 und 4 der Kantonalen Justizvollzugsverordnung (JVV) geregelt.[14] Danach können in der JVA Pöschwies Ehegattinnen, eingetragene Partner, Lebenspartnerinnen und -partner sowie Kinder für längere Besuche zugelassen werden, wenn (a) der verurteilten Person keine Urlaube gewährt werden können und (b) die erforderlichen personellen und räumlichen Voraussetzungen gegeben sind.

Die Verfügbarkeit eines Familienzimmers bringt es mit sich, dass manche inhaftierten Personen vor der Benutzung des Familienzimmers beim Gesundheitsdienst um die Abgabe eines PDE-5-Hemmers bitten. Dies oft mit der Begründung, dass Leistungserwartung und -druck (von der Partnerin/dem Partner und sich selbst gegenüber) sehr hoch seien und zu kurzfristigen Erektionsstörungen führten. Eine informierte Antwort auf die Frage der Abgabeindikation setzt sowohl medizinisches als auch vollzugsrechtliches Wissen voraus, welches nachfolgend zu erörtern ist.

Erektile Dysfunktion und deren Behandlung

Im Normallfall folgt bei Männern auf die sexuelle Stimulation eine Erektion des Penis, weil der Körper mit einer Steigerung des Blutflusses in den Schwellkörper reagiert. Eine erektile Dysfunktion (ED) liegt vor, wenn dieser biologische Prozess beeinträchtigt ist und sich der Penis bei entsprechender Stimulation nicht versteift.

Die ED ist weit verbreitet: Eine Erhebung in England konnte aufzeigen, dass über 40% der 12’000 befragten Männer im Alter von 18 bis 65 Jahren daran leiden.[15] Ähnliche Prävalenzen werden für andere Länder gemeldet, darunter 49% in Italien, 45% in Frankreich, 45% in Deutschland, 44% in Spanien und 42% in den USA.[16] In einer jüngeren repräsentativen Untersuchung in Deutschland berichteten 22% der Männer im Alter von 18-75 Jahren über Erektionsprobleme irgendwann in ihrem Leben, und 14% während der letzten 12 Monate. Wenn man sich auf diejenigen Männer beschränkt, die dadurch stark beeinträchtigt waren, lag die Lebenszeit-Prävalenz bei 11% und die 12-Monats-Prävalenz bei 8%.[17] Der Anteil betroffener Personen nimmt mit steigendem Alter zu.[18]

Über die Prävalenz der ED bei inhaftierten Personen in Schweizer Gefängnissen liegen keine empirischen Daten vor. Es ist aber bekannt, dass eine Reihe von Einflüssen, darunter psychische Belastungen wie Depressionen und Stress sowie somatische Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose, neurologische Störungen und auch Nebenwirkungen der chronischen Einnahme verschiedener Medikamente sowie das Älterwerden zu sexuellen Dysfunktionen bei Männern beitragen.[19] Sekundär – unabhängig von der primären Ursache – führt ein sich verstärkender Kreislauf von Dysfunktions-Erleben, Vermeidungsverhalten, Versagensängsten und Anspannung sowie erneutem Dysfunktions- bzw. Insuffizienzerleben zur Aufrechterhaltung der Erektionsstörung.[20] Angesichts der immer älter werdenden Gruppe von inhaftierten Personen[21] sowie der Tatsache, dass viele der oben genannten somatischen und psychischen Störungen in Gefängnissen weltweit[22] wie auch in Schweizer Gefängnissen[23] überrepräsentiert sind, ist davon auszugehen, dass auch ein relevanter Teil der inhaftierten Personen von ED betroffen ist.

Neben etwaigen psychotherapeutischen Interventionen (z.B. Einzel- oder Paarberatung bzw. -Psychotherapie) sind PDE-5-Hemmer die Standardmedikation für erektile Dysfunktion, sowohl solchen mit primär somatischen, als auch solchen mit primär psychischen Ursachen.[24] Der Wirkmechanismus von PDE-5-Hemmern besteht in der aktiven Hemmung des PDE-5-Enzyms und dem daraus resultierenden Anstieg des chemischen Botenstoffs zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP) und der Entspannung der glatten Muskulatur im Penis.[25] Durch die Relaxation der glatten Schwellkörpermuskulatur und der penilen Arteriolen kommt es zu einer Steigerung des arteriellen Bluteinstroms um bis zu 700 Prozent verglichen mit der Ruheperfusion. Der erhöhte Bluteinstrom führt zu einer erheblichen Volumen- und Drucksteigerung der Schwellkörper, dadurch wird der venöse Abstrom deutlich reduziert.[26]

In der Schweiz sind folgende PDE-5-Hemmer zugelassen: Avanafil, Sildenafil, Tadalafil und Vardenafil.[27] Avanafil und Vardenafil sind nur für ED zugelassen. Es gibt aber auch Substanzen mit weiteren Zulassungen: Die Wirkstoffe Sildenafil und Tadalafil sind sowohl für die ED als auch für die Behandlung der pulmonalen arteriellen Hypertonie zugelassen. Tadalafil ist ausserdem für die Therapie der funktionellen Symptome einer benignen Prostatahyperplasie zugelassen.[28] Darüber hinaus können PDE-5-Hemmer im Off-Label-Gebrauch[29] bei verschiedenen anderen Störungsbildern eingesetzt werden,[30] z.B. beim Raynaud-Syndrom.[31] Nachfolgend wird aber nur auf die Indikation der ED eingegangen. Sofern PDE-5-Hemmer zur Behandlung anderer Beschwerdebilder indiziert sind, gilt das Äquivalenzprinzip (zu diesem Prinzip nachfolgend Kap. IV).

Äquivalenz- und Normalisierungsprinzip

Nachfolgend wird aufgezeigt, dass die Zulassung von PDE-5-Hemmern im Justizvollzug aufgrund des Äquivalenzprinzips bzw. Normalisierungsprinzips grundsätzlich indiziert ist.

Äquivalenzprinzip

Grundlagen

Im Freiheitsentzug gilt für die medizinische Versorgung der Inhaftierten das verfassungs- und völkerrechtlich abgesicherte Äquivalenzprinzip.[32] Nach diesem muss intramurale Gesundheitsversorgung mit derjenigen in Freiheit vergleichbar sein. Dies bedeutet, dass inhaftierte Personen Zugang zu gleichwertigen präventiven, diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Massnahmen und Einrichtungen haben müssen wie Personen bei einer Behandlung in der Freiheit.[33]

Ausserhalb des Justizvollzugs sind Ärzte und Ärztinnen frei, einen Abklärungs- oder Behandlungsauftrag anzunehmen oder abzulehnen (Behandlungsfreiheit).[34] Vorbehalten bleiben der medizinische Beistand in dringenden Fällen und die Mitwirkung nach Massgabe der kantonalen Vorschriften in Notfalldiensten.[35] Von der Behandlungsfreiheit ausgenommen sind indes gemäss Standesordnung des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH diejenigen Fälle, in denen der Arzt oder die Ärztin im Namen oder im Auftrag eines Dritten, „z.B. einer Heilanstalt oder einer Versicherung“, tätig ist (Art. 5).[36] Ärztliche Fachpersonen einer JVA sind im Namen einer Dritten, nämlich ihrer Arbeitgeberin, tätig und unterstehen dem kantonalen Personalgesetz. Beispielsweise haben gemäss § 49 des zürcherischen Personalgesetzes Angestellte, also auch die in einer JVA tätigen Ärzte und Ärztinnen, die ihnen übertragenen Aufgaben auszuführen, und zwar „persönlich, sorgfältig, gewissenhaft und wirtschaftlich“.[37] Darüber hinaus sind ärztliche Fachpersonen aufgrund der verfassungs- und konventionsrechtlichen Fürsorgepflicht zu den gebotenen Untersuchungen oder Behandlungen bei den inhaftierten Personen verpflichtet: Ist medizinisch eine spezialärztliche Untersuchung oder Behandlung geboten, besteht bereits im Zweifelsfall eine entsprechende Pflicht.[38]