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Risikodemokratie E-Book

Jenni Brichzin

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Beschreibung

Die rechtsradikalen Ausschreitungen 2018 in Chemnitz werfen grundlegende demokratietheoretische Fragen auf: Welche Gefahren drohen von Rechts? Wie wird eine ganze Stadt zum politischen Risikogebiet? Und was bedeutet die Präsenz riskanter Politisierung und Entpolitisierung für unsere Demokratie? Die Autor*innen illustrieren entlang ethnografischer Streifzüge, wie eine apolitische Mitte der radikalen Rechten immer wieder den öffentlichen Raum überlässt. Die Rechtsextremen breiten sich in diesem Vakuum aus und reklamieren demokratische Grundrechte für sich, um sie gleichzeitig abzuschaffen. Als Kulturhauptstadt 2025 muss sich Chemnitz im Umgang mit diesem demokratischen Risiko bewähren.

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Seitenzahl: 386

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Jenni Brichzin, geb. 1983, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Praxis der Demokratie, politische Epistemologie und anti-essenzialistische Theoriebildung.

Henning Laux, geb. 1979, ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte sind: politische Ethnografie, Strategien der Theoriebildung und Künstliche Intelligenz.

Ulf Bohmann, geb. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte sind: politische Soziologie, Kritische Theorie und Demokratietheorien.

Jenni Brichzin, Henning Laux, Ulf Bohmann

Risikodemokratie

Chemnitz zwischen rechtsradikalem Brennpunkt und europäischer Kulturhauptstadt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.(Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Jenni Brichzin, Henning Laux, Ulf Bohmann

Covergestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Print-ISBN 978-3-8376-6226-9

PDF-ISBN 978-3-8394-6226-3

EPUB-ISBN 978-3-7328-6226-9

https://doi.org/10.14361/9783839462263

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

1.Einleitung

1.1»Die Ereignisse« von 2018 soziologisch deuten: Chemnitz als Risikogebiet

1.2Risikogebiete genauer erforschen: Anti-Essenzialismus

1.3Demokratie neu denken: Riskante Politisierungen

1.4Soziologie anders vermitteln: Analytische Geschichten

2.Eine apolitische Stadt?

2.1Funktionierende Fassaden

2.2Lauern auf dem Weihnachtsmarkt

2.3Die Banalität des radikal Rechten, oder: mit Nazis im Döner-Lokal

2.4Karl-Marx-Stadt a.D.

2.5Die Sehnsucht nach einer Normalität jenseits jeder Politik

2.6Unter der Wahrnehmungsschwelle

3.Im Chemnitzer Fußballstadion

3.1Eine kleine Chronik der Politisierung

3.2»Man wird ja wohl noch trauern dürfen« – Versuche der Entpolitisierung

3.3Chemnitzer Lektionen in Sachen Normalisierung des Rechtsradikalismus

3.4Reflexive Demokratisierung am Platz

4.Auf den Spuren der radikalen Rechten

4.1Rechtsradikale Strukturen in Sachsen und Chemnitz

4.2Wie Rechtsradikalismus meist erklärt wird

4.3In den Schuhen der anderen: eine rechtschaffene Gemeinschaft

4.4Der schmale Grat nach »Merkeldeutschland«

4.5Das Wunder des qualitativen Sprungs: »Rheuma ist auch nicht schön!«

4.6Das Wahre im Falschen

5.Gegenbewegungen – eine dialektische Betrachtung

5.1Ungeliebte Nachbarschaften

5.2In der Polarisierungsspirale: »Wir sind noch mehr«

5.3Vom Versuch, einen essenzialisierten Konflikt zu überwinden

5.4Nicht intendierte Nebenfolgen

6.Im Streiflicht: Migration in Chemnitz

6.1»Die Ereignisse« aus der Sicht von Migrant*innen

6.2Sichtbares und Unsichtbares

6.3Drei disparate Perspektiven auf die Stadt

6.4Im (Stadt-)Zentrum: die Selbstproduktion von Risiken

7.Nach der Krise – wie weiter?

7.1Kritische Bestandsaufnahmen

7.2Eine Stadt im Schwebezustand

7.3Chemnitz als Kulturhauptstadt, oder: vom Versuch, einen neuen Anfang zu machen

8.Fazit: Leben in der Risikodemokratie

8.1Der Fall Chemnitz: Wie eine ganze Stadt zum politischen Risikogebiet werden konnte

8.2Risikodemokratie statt Todesfall

Literatur

Vorwort

Die Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden.«

(Beck 1986: 31)

Noch während wir dieses Buch schreiben, bricht tatsächlich der Ausnahmezustand über uns herein. Und zwar nicht nur über die Stadt, die wir zwischen 2018 und 2020 ethnografisch erkundet haben, nicht nur über Chemnitz also, sondern über die ganze Welt. Auch als wir in den ersten Tagen des Januar 2022 ein letztes Mal prüfend und korrigierend Hand an unser Manuskript anlegen, ist die Corona-Pandemie noch nicht überwunden. Dafür gerät jedoch Sachsen (und damit nicht zuletzt auch Chemnitz1) wieder einmal in den Fokus der bundesweiten Aufmerksamkeit. Denn das östliche Bundesland sticht durch hohe Infektionszahlen, eine ausnehmend niedrige Impfquote und ausgesprochen gewaltaffine Kritik an staatlichen Corona-Maßnahmen hervor.2 Sachsen – ohnehin häufig in der Diskussion wegen starker rechtsradikaler Strukturen – scheint im Hinblick auf die Corona-Proteste eine regressive Vorreiterrolle einzunehmen.

Wie lässt sich damit umgehen, wie soll man darauf reagieren? Die Ratlosigkeit, die angesichts solcher Fragen entsteht, verweist auf die Diagnose, die wir in diesem Buch entlang des Musterfalls Chemnitz und im Anschluss an Ulrich Beck erarbeiten: Wir leben in einem neuen Zeitalter der Demokratie, dem Zeitalter der Risikodemokratie. Unter Bedingungen der Risikodemokratie treten demokratische Gefährdungen nicht hauptsächlich von außen an unsere Gesellschaft heran, vielmehr sind es gerade die enormen Erfolge von Demokratie, die nun ihre eigenen Grundlagen zu gefährden drohen. Entsprechend lassen sich die Corona-Proteste in Sachsen (und weit darüber hinaus), lässt sich also der Zulauf, den solche Protestformen erhalten, gerade nicht als schlicht antidemokratische Bewegung begreifen. Sicherlich treiben sich dort explizit antidemokratisch gesinnte Akteur*innen herum (wozu Vertreter*innen rechtsextremer Weltanschauungen unbedingt zu zählen sind), und ebenso sicher lässt sich der Bezug auf demokratische Normen höchst strategisch einsetzen. Das ändert aber nichts daran, dass es eben genau die Bezugnahme auf zentrale demokratische Normen und Werte ist, die den Menschen plausibel ist, sie aufschreckt und effektiv zum Protest mobilisiert:3 Freiheit, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit stehen unter Bedingungen der Corona-Pandemie ja tatsächlich vor erheblichen Herausforderungen. Bei den sächsischen Protesten lässt sich allerdings beobachten, was passiert, wenn es nicht gelingt, den schmalen Grat zwischen einer dem Katastrophenfall angemessenen und einer zum Autoritären tendierenden Einschränkung von Rechten produktiv abzuschreiten: der an demokratischen Mitteln geschulte Widerstand wendet sich mitunter gegen die Demokratie selbst. Hier also liegt das Problem, vor dem wir heute stehen: Was tun angesichts von demokratiegefährdender Kritik und Protesten, die dieselbe normativ-demokratische Basis für sich in Anspruch nehmen, auf der man sich auch selbst bewegt? Unter Bedingungen der Risikodemokratie müssen wir Antworten auf diese neue und drängende Frage finden.

Mit unserem Buch möchten wir genau dazu beitragen, denn hier gehen wir dem Leben unter risikodemokratischen Bedingungen am Beispiel Chemnitz nach. Die Idee zu der Untersuchung, auf der das Buch basiert, ist allerdings während eines ganz anderen Ausnahmezustands entstanden. In diesen Zustand gerät Chemnitz im August 2018 in der Folge dramatischer Ereignisse: Ein Chemnitzer wird nachts am Rande des Stadtfests erstochen, und noch bevor die Täter gesichert als Geflüchtete identifiziert sind, brechen in der Stadt rechtsgerichtete Demonstrationen und rechtsradikale Ausschreitungen los; die Medien stürzen sich auf die Vorfälle und berichten sowohl deutschlandweit als auch international. Während wir unsere liebgewonnene Arbeitsheimat Chemnitz – wir sind oder waren alle an der TU Chemnitz als Soziolog*innen beschäftigt – bisher als weitgehend unauffälligen und an der Oberfläche eher ziemlich verschlafenen Ort kennengelernt hatten, avanciert die Stadt nun in der Öffentlichkeit zu einem besorgniserregenden Symbol für die Ausbreitung rechtsradikaler Einstellungen in (Ost-)Deutschland. Wir standen plötzlich vor einem Rätsel, das den Ausgangspunkt für dieses Buchprojekt bilden sollte: Wie kann es sein, dass es in einer Stadt, die (uns) in vielerlei Hinsicht so unspektakulär erscheint, zu einer derart explosionsartigen (und aus demokratienormativer Sicht problematischen) Politisierung kommen konnte? Um dieses Rätsel zu lösen, haben wir Chemnitz für zwei Jahre zu unserem ethnografischen Forschungslabor gemacht. Wir haben an Bürgerdialogen und Stadtteilversammlungen teilgenommen, Gottesdienste besucht, in Fankurven gejubelt, mit Rechtsextremen gesungen, mit Linken demonstriert, mit Polizistinnen gesprochen, Einwohnern zugehört, Journalisten begleitet, in Nazi-Läden eingekauft, Stadträte befragt, Studierende begleitet, die Kneipenszene getestet, Graffitis untersucht, rechtsradikale Symbole entziffert, städtische Randgebiete erkundet, an Kunstaktionen teilgenommen und auf Weihnachtsmärkten gefroren. Wir haben aktiv an der (politischen) Praxis teilgenommen, wir haben beobachtet, diskutiert und mit Akteuren aus verschiedenen Milieus, Organisationen und Funktionsbereichen gesprochen. Vieles von dem, was wir dabei herausfinden, ist nicht spezifisch für Chemnitz, es kann und soll vielmehr dabei helfen, auch über Chemnitz hinaus der Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Destabilisierung demokratischer Institutionen durch ein besseres Problemverständnis aktiv entgegenzuwirken.

In gewissem Sinne war die Durchführung dieser Studie allerdings auch für uns selbst, als Autor*innen, ein Risiko. Nicht nur, weil wir uns dafür gelegentlich in die Hitze des politischen Gefechts begeben mussten, und auch nicht nur, weil wir für dieses Projekt, das sich uns in seiner Notwendigkeit zur damaligen Zeit aufgedrängt hat, andere akademische Arbeiten zwangsläufig vernachlässigen mussten. Sondern auch, weil wir – drei im »Westen« sozialisierte, weiße, deutsche Wissenschaftler*innen – uns damit auf das Glatteis immer auch positionsgebundener Deutungen begeben. Können wir von unserer Position aus angemessen etwas über Phänomene sagen, die in der Wahrnehmung vieler Menschen mit dem »Osten« Deutschlands verbunden sind, zu dem wir doch nie ganz gehören, mit dem wir vielleicht nie ausreichend vertraut sind? Hätten wir also nicht doch lieber auf jene hören sollen, die uns von diesem Forschungsprojekt und von unserer Forschungsperspektive abgeraten haben? Darf man, dem entgegengesetzt, jenen glauben, die meinen, aus einer gewissen Distanz vermeintlich »objektiver« auf die Geschehnisse blicken zu können? Oder ist nicht vielleicht auch eine dritte Möglichkeit denkbar, nach der eine kleinteilige ethnografische Analyse schlicht einen konkreten Erkenntnisbeitrag leistet (ohne deshalb den Anspruch auf letztgültige und eindeutige Wahrheit behaupten zu müssen)? Die Einschätzung muss letztlich der Rezeption überlassen bleiben. Was uns selbst betrifft steht jedenfalls fest, dass wir im Laufe des Projekts viel gelernt haben – über die Stadt, über das Politische, aber auch über unser eigenes Arbeiten. Deshalb sind wir froh, im Herbst 2018 (ohne lange strategisch darüber nachgedacht zu haben) einfach dem Impuls gefolgt zu sein: Wer sollte sich denn mit den akuten Verwerfungen des Chemnitzer Zusammenlebens auseinandersetzen, wenn nicht Soziolog*innen in Chemnitz?

Doch natürlich haben wir diese Untersuchung nicht allein bewältigt. Wir danken einer Reihe von Personen, die uns im Laufe dieses zweijährigen Forschungsprojektes in verschiedenen Phasen fachlich begleitet und unterstützt haben. Matthias Sommer, Dilara Yazıcıoğlu und Marlene Hartmann haben wichtige Beiträge zur Erhebung, Deutung und Verschriftlichung einzelner ethnografischer Szenen geleistet. Sandra Matthäus, Hans Pongratz, Barbara Schultes und Michael Wüst haben vorab einzelne Kapitel gelesen und gründlich kommentiert. Bei der Erstellung und formalen Korrektur des Manuskripts halfen uns Sandra Förster, Nico Höflich und Anna-Sophia Küster. Die Teilnehmer*innen des Workshops »Chemnitz: Politische Ethnografie einer Stadt« im Dezember 2018 haben mit ihren explorativen Streifzügen durch die Stadt und der anschließenden Diskussion wertvolle Impulse zur späteren Fallauswahl gegeben. Unser besonderer Dank geht an Thomas Scheffer, der uns mit seiner Expertise zu Beginn des Projektes in methodischer und konzeptioneller Hinsicht eine enorme Hilfe gewesen ist. Schließlich danken wir für die zahlreichen konstruktiven und kritischen Rückmeldungen bei der Vorstellung einzelner Themen, Ausschnitte und Ideen des Buches, etwa bei folgenden Gelegenheiten: auf der Gründungskonferenz des »Center for Right-Wing Studies« der University of California in Berkeley 04/2019, im Kolloquium »Politische Soziologie« (Boris Holzer) 01/2020 in Konstanz, im Kolloquium »Allgemeine Soziologie« (Heike Ohlbrecht) und dem Seminar »Solidaritätsbrüche« (Stefanie Börner) 06/2019 in Magdeburg, sowie auf dem Soziologiekongress 09/2020 im Plenum »Städte als Räume gesellschaftlicher Spannungen«, auf der Abschlusskonferenz des BMBF-Projekts »Populismus – Demokratie – Stadt« (PODESTA, Jena) 10/2020, bei der Abschlusskonferenz des BMBF-Projekts »Fremde im eigenen Land?« (PoliLab, Leipzig) 02/2021 und auf der »Build Peace Conference« (Build Up, Kapstadt) 10/2021. Besonderer Dank gebührt darüber hinaus unseren anonymen Interview- und den vielen Gesprächspartner*innen, ohne die das Buch nicht möglich gewesen wäre.

Wir gehen davon aus, dass dieses Buch auch negative Reaktionen hervorrufen wird. Ein Kollege hat uns unverblümt prophezeit: Ihr werdet es niemandem Recht machen können. Den städtischen Institutionen nicht, weil in der Analyse auch und gerade die unschönen Seiten der Stadt zutage treten. Der Extremismusforschung nicht, da ihre zentralen Erklärungsansätze in unserer materialreichen Studie lediglich punktuell auftauchen. Den Gegenbewegungen nicht, weil auch die Mechanismen und Methoden ihres politischen Protests hinterfragt werden. Der Bevölkerung mit Migrationshintergrund nicht, weil die Komplexität ihrer Lage nur unzureichend erfasst wird. Und natürlich der radikalen Rechten nicht, weil die von ihr artikulierte Weltanschauung und die Mechanismen ihrer Verbreitung analytisch aufgespießt werden. Wir hoffen, dass es uns trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen?) gelungen ist, einen kleinen, anregenden Beitrag zur vielstimmigen Debatte um das Schicksal der Demokratie in der Gegenwart zu leisten. Und wir sind sehr gespannt, wie sich die ehemalige Karl-Marx-Stadt als europäische Kulturhauptstadt bewähren wird: Ob und wie es ihr gelingt, das Potenzial ihrer offenen Räume, interessanten Menschen und kreativen Ideen zu nutzen. Denn gelingt dies tatsächlich, stünde die Stadt nicht nur beispielhaft für die risikodemokratische Gegenwart – Chemnitz könnte dann auch zum Musterfall der effektiven Demokratisierung unter Bedingungen der Risikodemokratie werden.

1Harsche Kritik und Aktionen gegen die Corona-Politik von Bund und Ländern gehen in Sachsen zentral von der 2021 neu gegründeten Organisation bzw. Partei »Freie Sachsen« aus. Zum Vorstand dieser Organisation – als Vorsitzender und als Schatzmeister – gehören zwei Politiker aus Chemnitz, die der rechtsextremen Szene zuzurechnen sind.

2Besonders drastisch fällt dabei die Bedrohung politischer Amtsträger*innen aus, darunter auch des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (https://www.zeit.de/2021/53/corona-proteste-sachsen-rechtsextremismus/komplettansicht; letzter Abruf: 03.01.2022; https://www.freiepresse.de/nachrichten/sachsen/warnung-vor-hass-und-gewalt-bei-den-corona-protesten-artikel11872728; zuletzt abgerufen am 03.01.2022).

3Vgl. Manow 2020: 140.

1.Einleitung

Im Jahr 2018 sind in Chemnitz kurz hintereinander zwei Menschen gewaltsam zu Tode gekommen: Am 26. August wird ein Mann am Rande des Stadtfests niedergestochen – vermutlich nach einem Streit, doch der genaue Hergang der Tat bleibt bis heute unklar.1 Einen guten Monat darauf, am 8. Oktober, wird eine junge Frau von ihrem Ex-Freund im Schlaf erstochen, die Presse nennt das eine »Beziehungstat«.2 Die Täter waren jeweils junge Männer, als Tatwaffen dienten Messer. Doch nur das erste Verbrechen wird zum Auslöser einer Empörungswelle, die ganz Chemnitz erfasst, die Stadt ins Wanken bringt, die deutsche Öffentlichkeit erschüttert und die Medien weltweit aufschreckt. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Verbrechen? Nur im ersten Fall waren die Täter Migranten, genauer: Asylbewerber.

Bei diesen Ereignissen nimmt unsere Studie über die Stadt Chemnitz ihren Ausgangspunkt. Wir haben in ihrem Verlauf mit vielen Bewohner*innen der Stadt, mit lokalen Expert*innen, Politiker*innen und Journalist*innen gesprochen. Was uns dabei auffällt: Offenbar hatte niemand das, was im Anschluss an den Totschlag geschehen ist, erwartet. Niemand hatte also mit den politischen Unruhen und Verwerfungen gerechnet, die geradezu explosionsartig die Stadt erfassen. Und doch hält sich – bei aller Fassungslosigkeit ob des Geschehenen – die Überraschung in Grenzen. Denn hier realisiert sich ein Risiko, dessen Existenz vielen Menschen in dieser Stadt offenbar nicht ganz unbekannt war. Was jedoch zuvor allenfalls als vage Vorahnung einer denkbaren, aber unwahrscheinlichen künftigen Entwicklung am Horizont des Möglichen stand, ist Wirklichkeit geworden: 2018 drängt sich in Chemnitz die radikale politische Rechte mit einer Vehemenz und einem Selbstbewusstsein auf die taghelle Bühne der Öffentlichkeit, wie das in Deutschland nun schon lange nicht mehr der Fall gewesen ist. In diesem Moment hat Demokratie für viele, wie sich in den nachfolgenden Debatten erahnen lässt, wieder ein Stück ihrer Selbstverständlichkeit verloren.

Wie wird eine ganze Stadt zum politischen Risikogebiet, warum ist gerade dieses Verbrechen der Auslöser dafür? Und was bedeutet die Präsenz solcher Risiken für die Demokratie, in der wir gegenwärtig leben? So lauten die Leitfragen unserer Studie. Dabei lehnen wir uns an Ulrich Becks visionäre Analyse von 1986 an, in der er die Gesellschaft seiner Zeit als »Risikogesellschaft« vorstellt.3 Seine zentrale These: Unsere heutige (moderne) Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur ständig Risiken (und das Bewusstsein solcher Risiken) produziert, sondern dann auch noch fortlaufend damit beschäftigt ist, diese Risiken zu bearbeiten, zu verarbeiten und wegzuarbeiten. Beck hatte bei dieser Diagnose insbesondere die Nebenfolgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen im Blick, die ein naiver, ökonomisch orientierter Fortschrittsglaube mit sich bringt – etwa Umweltzerstörung, industrielle Giftrückstände und Gefahren der Atomenergie. Im Folgenden wird es uns demgegenüber vor allem um die Frage der demokratischen Risikoproduktion gehen. Die von uns beschriebene »Risikodemokratie« lässt sich dabei keinesfalls als weiterer Abgesang4 auf die Gegenwart lesen, im Gegenteil: Wir vertreten mit Beck den Standpunkt, dass die Moderne erst im bewussten Umgang mit den selbstproduzierten Nebenfolgen, in der reflektierten Handhabung von Risiken, ganz zu sich selbst kommt.

Nun wollen wir uns mit dieser Studie nicht zu einer neuen Modernitätsdiagnose aufschwingen. Es geht uns vielmehr darum, an Becks Überlegungen zur Stellung des Politischen in der Risikogesellschaft anzuschließen. Zentral scheint uns hierbei seine – auch dem heutigen Tenor öffentlicher Meinung widersprechende – Einsicht zu sein, dass die gegenwärtigen politischen Verwerfungen »nicht [auf] das Versagen, sondern [auf den] Erfolg der Politik« zurückzuführen sind.5 Gerade weil sich also der Anspruch auf demokratische Mitsprache so sehr ins Bewusstsein der Menschen eingegraben hat, weil ein kollektiver Bruch mit blauäugiger Obrigkeitshörigkeit zu konstatieren ist, begegnen wir nun systematisch dem Risiko der Infragestellung auch demokratischer Errungenschaften. Auch der Erfolg der Demokratie bleibt, so lässt sich aus diesen Überlegungen schließen, nicht ohne Nebenfolgen, die potenziell die Demokratie selbst gefährden. Mit Beck lässt sich daraus jedoch nicht schließen, dass man deshalb die klassischen politischen Institutionen und liebgewonnenen Traditionen des politischen Systems unbedingt in ihrer hergebrachten Form verteidigen muss. Die Suche nach einem Umgang mit diesen riskanten Nebenfolgen kann vielmehr zur Verwirklichung einer demokratischeren Demokratie führen. Diese Grundgedanken bilden den Rahmen unseres Buches.

In gewissem Sinne befinden wir uns in einer besseren Ausgangslage als Beck, wenn es um die Untersuchung des Verhältnisses von Demokratie und Risiko geht. Zwar konnte bereits Beck die »Verflüssigung«6 und »Entgrenzung«7 des Politischen beobachten. Doch diese Phänomene resultierten gerade nicht aus der internen Veränderungsdynamik des politischen Feldes, sondern aus den nicht intendierten Nebenfolgen wissenschaftlich-technischer Innovationen und wirtschaftlicher Globalisierung. Erst heute, im digitalen Zeitalter,8 wird voll ersichtlich, wie sehr es (auch) die Politisierung der Gesellschaft selbst ist – jenseits ökonomisch-technischer Verursachung –, welche gesellschaftliche Entwicklungen vorantreibt und neue Unsicherheiten produziert. Soll heißen: Es braucht keine atomaren Explosionen oder finanzökonomischen Krisen, um gesellschaftliche Umwälzungen einzuleiten, und das wird heute so sichtbar wie vielleicht selten zuvor. Und selten wird es so sichtbar wie in Chemnitz, denn hier ist das Risiko des an demokratischen Mitteln geschulten anti-demokratischen Aufstands permanent präsent. Das macht die Stadt zu einem Musterfall für das Leben in der Risikodemokratie.

Zunächst rekapitulieren wir im weiteren Verlauf der Einleitung in aller Kürze, was im Sommer 2018 eigentlich genau in Chemnitz passiert ist und welche Fragen – oder auch soziologischen Rätsel – sich aus diesem Geschehen ergeben (1.1). Anschließend skizzieren wir den anti-essenzialistischen Forschungszugang, der die Basis unserer Studie bildet und die systematische Analyse sozialer Risikoproduktion erst möglich macht (1.2). Dann werfen wir einen genaueren Blick auf den konkreten Gegenstand, für den wir uns bei unseren ethnografischen Streifzügen durch die Stadt maßgeblich interessiert haben, nämlich Phänomene der Politisierung (bzw. Entpolitisierungen) und klären, was genau wir darunter verstehen (1.3). Schließlich stellen wir noch unseren methodischen Zugang vor – eine Form der politischen Ethnografie –, um das Zustandekommen unserer Ergebnisse transparent werden zu lassen (1.4).

1.1»Die Ereignisse« von 2018 soziologisch deuten: Chemnitz als Risikogebiet

Totschlag, Ausschreitungen, Regierungskrise – im Nachhinein setzt sich in Chemnitz ein vielleicht etwas überraschender Ausdruck für jene Geschehnisse im Sommer 2018 durch: meist ist schlicht die Rede von »denEreignissen«. Das Bemerkenswerte an diesem Begriff ist seine Offenheit, seine vermeintliche Neutralität. Denn in ihm klingt zwar an, dass hier etwas Außeralltägliches stattgefunden hat. Er lässt jedoch die Bewertung jenes Außeralltäglichen komplett offen, ein Ereignis kann schließlich gut oder schlecht sein, freudig oder traurig, schrecklich oder festlich. Doch die vermeintliche Neutralität täuscht, der Ausdruck »die Ereignisse« ist so wenig neutral, wie Begriffe im Allgemeinen unschuldig sind – denken wir nur an öffentliche Debatten rund um Formulierungen wie »Flüchtlingswelle«, »Messermigranten« oder »Kopftuchmädchen«.9 Sie kann als Symptom des Zustands einer Stadt gedeutet werden, die im Nachgang jener Geschehnisse in kollektive Unsicherheit, Ambivalenz, vielleicht Ratlosigkeit eingetaucht ist.10 Gefragt nach »den Ereignissen«, versteht dann im Gespräch vor Ort auch jede/r etwas anderes darunter: Für die einen verweist der Ausdruck hauptsächlich auf das schändliche Verbrechen, für andere auf die sich anschließenden rechtsradikalen Aufmärsche, wieder andere meinen damit vor allem die mediale Aufregung, die sich deutschlandweit um Chemnitz aufbaut. »Die Ereignisse« werden damit zugleich zur alltagstauglichen Formel, die hilft, das jederzeit präsente Risiko des Hervorbrechens politischer Kämpfe zu verringern. Schließlich können sich alle politischen Positionen recht unproblematisch hinter diesem offenen Ausdruck versammeln, er verschließt den schmalen Korridor der Kommunikation zwischen ihnen nicht, bezieht aber eben auch keine Position, verharrt in Ambivalenz. Für eine wissenschaftliche Untersuchung jedenfalls ist bewusste Vagheit kein guter Ausgangspunkt, deshalb rekapitulieren wir kurz: Was genau hat sich im Sommer 2018 und danach in Chemnitz eigentlich ereignet, wie ist aus einer kleinen Großstadt in Sachsen ein politisches Risikogebiet geworden?

Noch bevor die sächsische Polizei am 26. August 2018 ihre erste Stellungnahme über die nächtliche Gewalttat veröffentlicht, steht in rechtsradikalen online-Netzwerken eine Sache bereits unumstößlich fest: die Täter waren »kriminelle Ausländer«.11 Das Narrativ, dass es sich bei der tödlichen Messerattacke nicht um eine singuläre Straftat, sondern um einen weiteren Beweis für die verfehlte, ja, gefährliche Migrationspolitik der Bundesregierung handele, erhält rasend schnell und von verschiedenen Seiten her Nahrung. Die sozialen Netzwerke brodeln, es geht schließlich um nichts weniger als »das deutsche Volk«, das angeblich durch kriminelle Fremde bedroht und von einer vermeintlich unfähigen Politik im Stich gelassen wird. Noch am selben Tag gelingt es einer lokalen Hooligan-Gruppierung aus der Fanszene des Chemnitzer Fußballclubs, etwa 800 Personen zu mobilisieren.12 Es beginnt ein nicht genehmigter Marsch durch die Innenstadt, dessen durchaus bemerkenswerte Bilder noch heute im Netz zu finden sind:13 In großen Pulks schiebt sich eine vornehmlich dunkel gekleidete Menschenmenge durch eine weitgehend leere Stadt, blockiert ungehindert Straßen, ergießt sich über Haltestellen. Polizei ist kaum präsent, auch sie ist überrascht worden. Die Stimmung wirkt aggressiv, lauthals werden Parolen skandiert – darunter rechtsextreme Losungen (»Ausländer raus!«, »Volksverräter!«, oder »Wir sind die Krieger, wir sind die Fans, Adolf Hitler, Hooligans!«) ebenso wie der berühmte Slogan der Bürgerbewegung in der DDR kurz vor der Wende: »Wir sind das Volk«. Verfassungsfeindliche Symbole kommen zum Einsatz, Menschen, denen ein Migrationshintergrund unterstellt wird, werden bedroht, später werden insgesamt 30 Verfahren wegen Körperverletzung eingeleitet.14 Die deutsche Öffentlichkeit gerät in den folgenden Wochen und Monaten in einen diskursiven Ausnahmezustand, sämtliche Fernsehsender, Radiostationen, Printmedien und Onlineportale diskutieren über das Geschehen in Chemnitz. Auch die internationale Presse ist sichtlich alarmiert, sie berichtet an prominenter Stelle.15

Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Stadt nach dem 26. August nicht zur Ruhe kommt. Schon einen Tag später hat sich die Zahl der Teilnehmenden an den Protesten potenziert. Zu der durch die rechtsextreme Wählervereinigung Pro Chemnitz angemeldeten Versammlung kommen etwa 6.000 Leute, ganz ähnlich am 1. September – an diesem Datum rufen radikal rechte Vereinigungen zu einem »Trauermarsch« für das Opfer des Totschlags auf. Gerade dieser Marsch wird von Expert*innen rückblickend als kaum für möglich gehaltene Demonstration der Einigkeit und Stärke der radikalen Rechten in Nachkriegsdeutschland beschrieben:

»Wir hatten in der Demonstration das ›Who is Who‹ der neonazistischen Szene – nicht nur aus Sachsen, sondern darüber hinaus – vor Ort und die haben sich dort mit eingereiht und sind mitgelaufen. Also das heißt, wir hatten einen Schulterschluss von bürgerlichen Gruppen, von Menschen, die normalerweise nicht der rechtsextremen Szene angehören, über klare Neonazis bis hin zur AfD. Und dieser Schulterschluss, diese Zusammenarbeit der einzelnen Gruppen, das ist tatsächlich eine neue Qualität, die wir in Chemnitz erlebt haben«.16

Die Stadt wird zum »Synonym für den Rechtsruck und ungehemmten Rechtsextremismus auf deutschen Straßen«.17

Immerhin: Nachdem die Polizei auch bei der Veranstaltung am 27. August (trotz bekannter und offener Mobilisierung der Veranstalter*innen im Internet) dem Ansturm der Demonstrierenden nicht gewachsen war – den 6.000 Teilnehmenden stehen lediglich 600 Polizeibeamte gegenüber – hat sie die Lage ab dem 1. September zunehmend wieder im Griff. Mithilfe von Verstärkung aus anderen Teilen der Bundesrepublik kann sie nun auch Übergriffe etwa auf Gegendemonstrant*innen oder als »Lügenpresse« beschimpfte Journalist*innen weitgehend verhindern.

Auch wenn es zunächst vielleicht so ausgesehen hatte, kann sich die radikale Rechte doch nicht widerspruchs- und widerstandslos in Chemnitz breitmachen, nach und nach formiert sich der Gegenprotest. Schon am 27. August gibt es eine Gegendemonstration, und am 1. September findet, neben vielen kleineren Veranstaltungen (an denen etwa die damalige Chemnitzer Oberbürgermeisterin und der sächsische Ministerpräsident teilnehmen), eine Kundgebung unter dem Motto »Herz statt Hetze« statt. Organisiert wird sie von der seit 2010 aktiven Initiative »Chemnitz nazifrei« – auch diese Kundgebung erreicht, mit ca. 3.500 Teilnehmenden, eine beachtliche Mobilisierung.18 Zwei Tage später, am 3. September, erreicht die Stadt schließlich den Höhepunkt der Mobilisierung im Jahr 2018:19 Hier gelingt es mit Unterstützung der wohl bekanntesten Chemnitzer Band »Kraftklub« ein Open-Air-Konzert auf die Beine zu stellen, zu dessen Besuch selbst der Bundespräsident aufruft. Unter dem Motto »Wir sind mehr« versammeln sich 65.000 Menschen, die mit ihrer Anwesenheit ein friedliches Zeichen gegen die radikale Rechte setzen möchten. Ähnlich wie beim rechten »Trauermarsch« sind die Teilnehmenden aus allen Teilen Deutschlands in die Stadt gekommen. Zum ersten Mal seit dem 26. August zeigen die antirassistischen und prodemokratischen Kräfte der Gesellschaft ihre Dominanz – wenn auch nur als Momentaufnahme.

Die Folgen des Geschehens in Chemnitz sind deutschlandweit zu spüren. Nirgendwo stärker vielleicht als innerhalb der Bundesregierung: Aufgrund von Äußerungen des damaligen Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zerbricht im Herbst 2018 beinahe die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD. In einem Interview, das am 7. September in der Bild-Zeitung erschienen ist,20 hatte er zur Verblüffung vieler Beobachter*innen die Echtheit eines millionenfach geteilten Videos (»Hase – du bleibst hier!«)21 zu Übergriffen auf Migrant*innen angezweifelt und damit eine mitunter semantische Debatte darüber entfacht, ob es in Chemnitz nun »Hetzjagden« gegeben habe oder nicht. Für seinen Vorwurf, dass das Video eine gezielte Fälschung sei, kann Maaßen auch auf Nachfrage keine Beweise vorbringen. Er wird ob seiner Äußerungen aus verschiedenen politischen Richtungen massiv kritisiert.22 Obwohl ihm der Innenminister zunächst den Rücken stärkt, wird schließlich seine Versetzung beschlossen.23 Dazu kommt es jedoch nicht mehr, denn in seiner Abschiedsrede vor den europäischen Geheimdienstchefs macht er sich mit Verschwörungstheorien über die Geschehnisse in Chemnitz (sowie Attacken auf den sozialdemokratischen Koalitionspartner) endgültig untragbar.24 Kurz darauf wird er in den einstweiligen Ruhestand versetzt, die Regierungskoalition bleibt bestehen.

Auch die Folgen für die Stadt selbst sind gravierend. Chemnitz hat sich innerhalb von einer einzigen Woche von einer für viele unscheinbaren und eher unbemerkten Stadt im Osten Deutschlands in ein politisches Risikogebiet verwandelt – bejubelt von der radikalen Rechten, gefürchtet von den meisten anderen politischen Kräften. Wie sehr sich die radikale Rechte von diesen Ereignissen gestärkt fühlt und einen Umsturz herbeisehnt, wird nur kurze Zeit später sichtbar. Denn am 14. September wird eine rechtsterroristische Gruppe namens »Revolution Chemnitz« ausgehoben, die bereits in den Tagen zuvor im nordwestlich des Zentrums gelegenen Schlosspark Menschen mit Migrationshintergrund attackiert und verletzt hat. Ihr erklärtes Ziel: Terror in einem Ausmaß zu verbreiten, das auch die Taten des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in den Schatten hätte stellen können.25 Bescheidener im Auftreten und zivilisierter in ihren Mitteln ist die Wählervereinigung Pro Chemnitz, die von nun an bis in den Dezember hinein jeden Freitag Kundgebungen mit meistens mehreren hundert Teilnehmenden unter anderem am berühmten Karl-Marx-Monument organisiert. Im Laufe der Zeit sinkt hier zwar die Zahl der Teilnehmenden, der anfängliche Schwung erlahmt. Doch bis zuletzt – also bis die Kundgebungen kurz vor Weihnachten 2018 eingestellt werden26 – gelingt es der Zivilgesellschaft nicht, diesen Machtdemonstrationen regelmäßig eine Antwort in ähnlicher Größenordnung entgegenzusetzen. Erst nach und nach beruhigt sich die Stimmung in der Stadt, ebben radikal rechter Aktivismus und sichtbare radikal rechte Dominanz etwas ab.

Dies also sind die sogenannten Chemnitzer »Ereignisse«, wie sie sich in der verkürzten chronologischen Schilderung darstellen, und die mittlerweile sogar Eingang in literarische Werke gefunden haben.27 In ihnen verbergen sich mehrere soziologische Rätsel, die uns im Laufe unserer Studie umtreiben werden. Allen voran betrifft das natürlich die Frage: Warum hat sich ausgerechnet hier, in Chemnitz, das in Demokratien ständig latent vorhandene (aber meist eben doch latent bleibende) Risiko der massiven Systemstörung realisiert? Wie konnte das Tötungsdelikt ausgerechnet in einer Stadt, die wir – wohlgemerkt: drei weiße Deutsche – in unserem Arbeitsalltag bisher als ziemlich unscheinbar und sehr unaufgeregt wahrgenommen haben, so hohe Wellen schlagen? Wie und warum wurde überhaupt gerade dieses Tötungsdelikt zu einer öffentlichen Angelegenheit? Wie konnte sich die radikale Rechte so tief und stabil in der Stadt einnisten, dass ihre Mobilisierung derart mühelos und anscheinend jederzeit vonstattengehen konnte, und welche Rolle spielt der Chemnitzer Fußball dabei? Wie kommt es zu der großen Kluft zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung, die sich immer wieder in der ehrlichen Entrüstung der Chemnitzer*innen äußert, wenn es um die Berichterstattung über ihre Stadt geht? Wie sehen eigentlich Chemnitzer*innen mit Migrationshintergrund die Geschehnisse? Und schließlich: Welche Folgen hatte das, was geschehen ist, langfristig für die Stadt? Wie wird, wie kann in Demokratien mit dem Risiko derartiger »Ereignisse« umgegangen werden? Diesen und ähnlichen Rätseln setzen wir uns im Folgenden auf die Spur.

1.2Risikogebiete genauer erforschen: Anti-Essenzialismus

Nach dem August 2018 wird Chemnitz in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit, also von außen betrachtet, zum demokratischen Risikogebiet. Doch auch in der Stadt selbst begleitet einen das Risiko fortan auf Schritt und Tritt. Soziale Interaktionen verändern sich, eine lauernde Haltung breitet sich nach allen Seiten hin aus:28 Hat man es bei dem Gegenüber auch mit »so einer« oder »so einem« zu tun, ist die Friseurin, ist der Nachbar, ist die Arbeitskollegin etwa auch eine von diesen Hetzjagden-Leugner*innen? Oder aber eine von diesen »Gutmenschen«, die die vermeintlich von Fremden ausgehenden Gefahren nicht wahrhaben wollen? Eine unserer Gesprächspartner*innen berichtet beispielsweise, sie habe sich im unmittelbaren Nachgang der Ereignisse manchmal sogar schwergetan, die eigene Wohnung zu verlassen und Unterhaltungen jenseits des engsten Freundeskreises zu beginnen – zu unsicher sei gewesen, was bei solchen Begegnungen zum Vorschein kommt, zu unvorhersehbar und bedrohlich die auf einmal sich manifestierende, möglicherweise fundamental abweichende Meinung des Gegenübers.

Und dann ist da das neu gewonnene Bewusstsein dafür, dass etwas Ähnliches jederzeit wieder passieren, dass es zu neuen Ausschreitungen, Aufmärschen, gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könnte. Ein derartiges Kontingenzbewusstsein hält die potenziellen sozialen Gefährdungen kognitiv präsent, die ansonsten im Alltag meist erfolgreich ausgeblendet werden. Wie schon Beck mit Fokus auf die Risiken der industriellen Produktion feststellt, ist es auch hier nicht so sehr die Sache selbst (also die Stadt Chemnitz), die sich von heute auf morgen geändert hat – es ist unser Bewusstsein für, unser Wissen um Unsicherheit, Ambivalenz, gefährliche Potenzialität, das die Dinge auf einmal in neuem Licht erscheinen lässt.29 Mit dem Unterschied allerdings, dass es im Falle Chemnitz’ nun nicht etwa um riskante Technik oder bedrohliche Chemie geht, sondern um das politische Risiko, das den lokalen sozialen Prozessen selbst innewohnt.

Um aber jene Risikohaftigkeit des Sozialen erfassen zu können, braucht es einen dazu passenden Forschungszugang. Einen Zugang also, der gesellschaftliche Prozesse ganz grundsätzlich von ihrer Potenzialität, von ihrer Nicht-Determiniertheit, von ihrer Kontingenz und Uneindeutigkeit her begreift. Risiko lässt sich schließlich nur dort denken, wo auch Potenzialität gedacht werden kann. Mit dem Philosophen Richard Rorty sprechen wir in unserer Studie von einem anti-essenzialistischen Forschungszugang.30 Ein solcher Zugang zeichnet sich dadurch aus, dass er jegliches soziale Phänomen nicht aus sich selbst heraus und isoliert betrachtet, sondern es immer von seiner kontingenten, also auch anders denkbaren Einbettung in ein gesellschaftliches Bezugssystem her zu begreifen sucht:

»Unser Alltagsverstand sagt uns, dass wir einen Gegenstand kennen können, ohne seine Beziehungen zu kennen. Die anti-essenzialistische Philosophie begegnet dieser Vorstellung durch den Hinweis, dass ein zentraler Unterschied besteht: zwischen dem Gefühl der Sicherheit, das wir jenen vertrauten, für selbstverständlich gehaltenen, offensichtlichen Beziehungen entgegenbringen, die einen Gegenstand ausmachen; und dem Gefühl der Unsicherheit allen anderen Beziehungen gegenüber.«31

Für sich genommen ist ein solcher Forschungszugang dabei im Übrigen überhaupt nichts Neues – das macht ja schon ein Blick auf das Jahr deutlich, in dem Rorty den Text veröffentlicht hat, aus dem das obige Zitat stammt. Heute lässt er sich, was die soziologische Theorieentwicklung anbelangt, sogar dem Mainstream zurechnen.32 Im Kontext der Demokratieforschung bleibt er allerdings nach wie vor eher randständig.33 Nicht zuletzt wohl aufgrund des wahrgenommenen Risikos, dass der deskriptive Relativismus einer anti-essenzialistischen Analyse in einen normativen Relativismus umschlagen könnte;34 Rechtsradikalismus beispielsweise würde dann überhaupt nicht mehr als Problem benennbar. Doch auch diesem Risiko – einem Risiko auf der Ebene der Art und Weise des Denkens – möchten wir, ganz im Beck’schen Sinne, in unserer Studie nicht ausweichen. Für ein Verständnis der Chemnitzer Ereignisse seit dem Sommer 2018 halten wir es jedenfalls für notwendig, das Geschehene von der Potenzialität des Sozialen her zu denken.

Anti-essenzialistische Zugänge kennzeichnen dabei in der Regel zwei zentrale Merkmale. Zum einen ihre spezifische Erkenntnisposition, nach der sich Gegenstände nie absolut und eindeutig bestimmen, also ihrem vermeintlichen Wesen, ihrer »Essenz« nach festschreiben lassen.35 Dem läuft ein öffentlicher Tenor entgegen, der mit auffälliger Beharrlichkeit wissen möchte, ob Chemnitz, ob der Osten Deutschlands letztlich nicht doch schlicht »rechts« sei.36 Dieser Frage nach dem Sein liegt implizit die alte, Platon’sche Annahme eines eigentlichen, eines essenziellen, eines hintergründigen Seins der Dinge zugrunde.37 Aus anti-essenzialistischer Sicht verkennt sie die Uneindeutigkeit des Sozialen – und umso mehr die Unbestimmtheit eines derart komplexen Gegenstands wie etwa einer Stadt – fundamental. Erkenntnis kann demnach nicht so sehr aus dem Versuch resultieren, die Feststellung einer stärkeren Betroffenheit der ostdeutschen Bundesländer vom Problem des Rechtsradikalismus38 zu der essenzialisierenden, verabsolutierenden Aussage zu verkürzen: »der Osten ist eben rechts«.39 Erkenntnis gelingt aus anti-essenzialistischer Perspektive vielmehr in dem Ausmaß, in dem begreiflich wird: Wie sich die Vielfältigkeit unterschiedlicher Tendenzen und potenzieller Entwicklungsmöglichkeiten zur temporären Dominanz einer einzelnen Tendenz (hier also des radikal Rechten) verhält. Nicht also: Ist Chemnitz eine rechte Stadt? Sondern: Wie wird sie ab dem Spätsommer 2018 von der radikalen Rechten politisiert? So muss, aus unserer Sicht, die wirklich interessante Frage lauten.

Zum anderen verfolgen anti-essenzialistische Zugänge häufig ein ganz spezifisches Erkenntnisinteresse. Ausgehend von einer Position, die das Soziale als grundsätzlich Unbestimmtes begreift, interessieren sie sich (und wir uns mit ihnen) besonders für die Funktionen, Mechanismen, Wirkweisen und Folgen von praktischen Essenzialisierungen.40 Denn aus einer Perspektive, die die Nicht-Notwendigkeit sozialer Prozesse und Verläufe betont, stellt sich die Frage mit besonderer Dringlichkeit: Wie kommt es eigentlich, dass es im sozialen Prozess häufig so erscheint (oder auch behauptet wird), als verhielten sich die Dinge eindeutig, als verliefen bestimmte Entwicklungen der »Natur der Sache« gemäß, obwohl sich die Sache doch bei genauer Analyse als widersprüchlich, durchaus auch anders denkbar und gerade nicht schlicht »natürlich« gegeben erweist? Im Verlauf des Buches werden wir noch darauf zu sprechen kommen, welche paradoxen Nebenfolgen beispielsweise die essenzialisierende Rede von den ostdeutschen Bundesländern als »der rechte Osten« nach sich ziehen kann. Im Laufe unserer Feldforschung sind wir auf jene gestoßen, die sich in Reaktion auf solche Pauschalverurteilungen in Sarkasmus flüchten, die sich untereinander grinsend – jetzt erst recht und ungeniert – als »rechtsradikal« bezeichnen, die sich vergnügt als »Bürger von Dunkeldeutschland« vorstellen, die in ihren Reihen mit gespieltem Ernst nach »faschistischen Symbolen« fahnden oder die der Presse aus Lust an der Provokation Hitlergrüße in die Kameras zeigen. Nichtstun im Angesicht rechtsradikaler Bedrohungen ist, normativ gesprochen, keine Option. Doch auch die öffentliche Stigmatisierung einer Stadt als »Nazihochburg« kann ungewollt eine Bevölkerung miterzeugen, die sich als Schicksalsgemeinschaft begreift, die sich über verschiedene politische Lager hinweg solidarisiert und in der die Grenzen des Sag- und Machbaren noch weiter erodieren – oder aber eine Bevölkerung, die in einen Zustand der Resignation verfällt. Ein anti-essenzialistischer Zugang interessiert sich für genau diese (mitunter schmerzlichen) Zusammenhänge.

Was sich unter praktischen Essenzialisierungen verstehen lässt, wird vielleicht anhand des Begriffs der radikalen politischen Rechten, wie wir ihn im Buch verwenden, noch etwas deutlicher. Von schlicht politisch rechten Tendenzen sprechen wir – in einem ganz konventionellen, aberminimalen Sinne –, im Falle von Sichtweisen auf die Welt, welche der eigenen Gruppe systematisch Vorrang vor anderen Gruppierungen geben und die von letzteren erwarten, dass sie sich der als different erlebten Lebensform der eigenen Gruppe anpassen bzw. sich ihr unterordnen. Eine solche Haltung ist dabei zunächst durchaus mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung moderner Gesellschaften vereinbar, denn diese kann zweifellos nur stabil sein, wenn sich ihre Mitglieder an für ein bestimmtes Kollektiv verbindliche Spielregeln halten. (Die Frage ist jedoch, ob man dafür von systematischen Gruppendifferenzen ausgehen muss und welche Form die Homogenitätserwartungen annehmen.) Je mehr man sich allerdings dem rechten politischen Rand nähert, umso mehr werden aus pragmatischen Unterscheidungen zwischen Gruppierungen zu Ordnungszwecken Vorstellungen von natürlichen, von essenziellen Unterschieden zwischen homogenen Gruppen. Rassismus, Nationalismus, Klassismus und Sexismus können hier ihre Heimat finden. In radikalisierter Form, also am rechten Rand, gerät daher auch die Demokratie selbst in erhebliche Gefahr: Die Vorstellung von wesensmäßigen Unterschieden zwischen Gruppen, ja mehr noch, von ihrer Ungleichwertigkeit – in den Worten Wilhelm Heitmeyers: »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit41 – sind mit dem Gleichheitsprinzip als Basis von Demokratie nicht vereinbar. Das kann so weit gehen, dass sich diese Weltsicht mit der Überzeugung paart, dass das bestehende demokratische System nicht mehr dazu passt und daher Schritte unternommen werden müssen, um dieses System zu stürzen. In diesem Fall geht Rechtsradikalismus in Richtung dessen, was heute juristisch als Rechtsextremismus gilt. Indem wir uns also in diesem Buch immer wieder auch für die radikale Rechte interessieren, interessieren wir uns für eine radikal gruppenessenzialisierende politische Weltsicht.42

Kurz gesagt zeichnet einen anti-essenzialistischen Forschungszugang also aus: Auf der Basis einer Erkenntnisposition, die die Welt als nicht determiniert, als nicht essenziell bestimmbar begreift, konzentriert sich sein Erkenntnisinteresse auf die Frage, wie es in der sozialen Praxis trotzdem fortlaufend zu Essenzialisierungen kommen kann. Wenn die Welt doch grundsätzlich unbestimmt ist, wie kann es dann sein, dass sie uns so häufig als eindeutig bestimmt erscheint? So lautet schlicht die Leitfrage des Unternehmens. Entsprechend interessiert sich eine anti-essenzialistische Untersuchung zur Risikodemokratie für das fortlaufend drohende Hereinbrechen von (Gruppen-)Essenzialisierungen in ein freiheitlich angelegtes politisches System, das derlei für bereits weitgehend überwunden gehalten hatte.

Übrigens sprechen wir ganz bewusst von einem ›Forschungszugang‹, und nicht etwa von einer bestimmten Theorie (wie das in soziologischen Studien sonst häufig der Fall ist). Ähnlich wie Detlef Pollack in seinem thematisch nicht völlig unverwandten Buch »Das unzufriedene Volk« mobilisieren wir unterschiedliche – in unserem Falle: anti-essenzialistische – Denkfiguren, um einen komplexen Gegenstand aufzuschlüsseln.43 Die Denkfiguren, auf die wir zurückgreifen, stammen etwa von Theodor Adorno, Hannah Arendt, Pierre Bourdieu, Judith Butler, Arlie Russell Hochschild, Max Horkheimer oder Georg Simmel. Im Zusammenwirken entfalten sie aus unserer Sicht große analytische Kraft. So soll es nicht nur möglich werden, die Realisierung der dem Sozialen innewohnenden politischen Risiken greifbar zu machen. Sichtbar werden soll auch das gesellschaftliche Potenzial zur Veränderung, das sich in den vielfältigen Facetten des Sozialen verbirgt. Damit möchten wir einen Beitrag leisten, das »neue Zwielicht von Chancen und Risiken«44 der gegenwärtigen Gesellschaft aufzuhellen.

1.3Demokratie neu denken: Riskante Politisierungen

In der Risikogesellschaft sind es nicht mehr so sehr die Bedrohungen durch andere, etwa autokratisch organisierte politische Systeme, die Demokratien gefährden. Politische Instabilitäten und Verwerfungen, wie wir sie beispielsweise im Jahr 2018 in Chemnitz beobachten konnten, müssen vielmehr zunehmend als selbstproduziert begriffen werden. Und zwar als selbstproduziert nicht im Sinne von eklatanten Fehlern, Verfehlungen oder politischen Skandalen, wie sie insbesondere Politiker*innen häufig vorgeworfen werden; sondern im Gegenteil, wie wir einleitend bereits bemerkt hatten: in Form von Nebenfolgen des durchschlagenden Erfolgs demokratischer Politik.

»Insofern kann ›erfolgreiche‹ Politik in der Demokratie dazu führen, daß die Institutionen des politischen Systems an Gewicht verlieren, in ihrer Substanz ausgehöhlt werden. In diesem Sinne bedarf die durchgesetzte Demokratie, in der sich die Bürger ihrer Rechte bewußt sind und diese mit Leben füllen, eines andern Politikverständnisses und anderer politischer Institutionen als die Gesellschaft auf dem Wege dahin.«45

Den Grund für die neuen demokratischen Risiken sieht Beck daher gerade in der Entgrenzung des Politischen. Das mag etwas überraschen, da Kommentator*innen die Demokratie üblicherweise eher vonseiten einer zu unpolitischen Bevölkerung bedroht sehen.46 Doch Beck ist der Meinung, dass die klassischen Institutionen der Demokratie – er hat dabei insbesondere das Parlament vor Augen – mit der politischen Entgrenzung nicht umzugehen wissen: Die zuvor jahrzehntelang eingeübte Praxis, meist vorhersehbare politische Themen auf klar definierten und unangefochtenen Bearbeitungswegen zu prozessieren, wird nun prekär. Für Beck resultierte diese Entwicklung insbesondere aus der Politisierung der Natur als Konsequenz der für Umwelt und Leben problematischen Nebenfolgen wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Aus heutiger Sicht macht jedoch erst die Digitalisierung die totale Entgrenzung des Politischen denkbar: Erst jetzt ist es möglich, jede noch so knappe Aussage, jedes noch so beiläufig geschossene Bild (wie sie etwa auf den Kanälen sozialer online-Netzwerke zirkulieren) zu politisieren. Und erst jetzt ist es so leicht, die noch in der Tatnacht verbreitete Nachricht eines Verbrechens bereits am nächsten Tag zur massiven politischen Mobilisierung zu nutzen.

Wenn wir uns in dieser Studie die Frage stellen, wie eine ganze Stadt zum politischen Risikogebiet werden konnte, so interessieren wir uns genau dafür: Chemnitz ist unser Forschungsfeld, doch unsere Forschungsgegenstände sind Politisierungen (und ihr Gegenstück, also Vorgänge der Entpolitisierung).47 Wir verfolgen also, wie das Politische – vielleicht auch ganz plötzlich, so wie im August 2018 – in der Stadt zum Vorschein kommt, und wie es wieder verschwindet (oder aktiv zum Verschwinden gebracht wird). Wir möchten wissen, wo sich gezielte Versuche der Politisierung ausmachen lassen, wann sie gelingen oder scheitern. Und uns interessiert besonders, welche Konsequenzen derartige Dynamiken der Politisierung und Entpolitisierung für die Risikodemokratie zeitigen. Aber wonach genau sucht man eigentlich, wenn man nach Politisierungen sucht? Woran erkennen wir »das Politische«, wenn wir uns nicht gerade auf Demonstrationen bewegen, den Stadtrat besuchen oder mit Politiker*innen sprechen? Wo ist »es«, während wir über öffentliche Plätze laufen, Kulturveranstaltungen besuchen, uns in Restaurants, Museen oder Kinos aufhalten? Auch unser Verständnis von Politik ist konsequent anti-essenzialistisch angelegt, das heißt: Situationen, Orte oder Gruppen sind nicht einfach von Natur aus politisch, sondern sie müssen politisch (gemacht) werden – und können ihre politische Qualität auch jederzeit wieder verlieren. Das Politische, so verstanden, kann im Parlamentsgebäude ebenso abwesend sein, wie es sich an der Supermarktkasse ganz plötzlich einstellen mag. Nicht nur das Soziale selbst begreifen wir demnach als kontingent, sondern auch die Frage, ob, wann und wie das Soziale politische Qualität annimmt.

Es ist ein hübscher Zufall, dass ausgerechnet das erfolgreichste Album der bekanntesten Chemnitzer Band Kraftklub den Titel »Mit K« trägt – auch unser Begriff von Politisierung funktioniert nämlich, sozusagen, »mit K«. Nicht durch Macht wird demnach aus einer alltäglichen Situation eine politische Situation, wie das soziologisch häufig vertreten wird.48 Wir begreifen Politisierung vielmehr als komplexen Prozess, in dem in der konkreten Situation drei Faktoren zusammenkommen müssen, um sie politisch zu machen:49 Erstens darf sie nicht nur aus der Theorieperspektive anti-essenzialistisch denkender Soziolog*innen als kontingent erscheinen, die Kontingenz der Situation muss den Beteiligten selbst vor Augen treten. Das ist dann der Fall, wenn die Beteiligten einen bestimmten gesellschaftlichen Status quo – etwa in Bezug auf die Migrationsverhältnisse in der eigenen Stadt – nicht mehr als gegeben und unveränderlich schlicht hinnehmen, sondern ihnen die Welt an dieser Stelle als gestaltbar, als auch anders möglich erscheint. Allerdings macht das bloße Bewusstsein der Gestaltbarkeit eines Sachverhalts (diese Erfahrung machen auch Expert*innen) noch keine Politik. Hinzutreten muss, zweitens, ein – offener oder latenter – sozialer Konflikt. Die Sache fängt also erst an, politisch zu werden, wenn sich Akteur*innen mit ihrer Sichtweise auf die Welt gegen andere Sichtweisen stellen, wenn sie um die Gestalt des Zusammenlebens streiten und auch darum, wer dabei die Führungsrolle übernehmen soll. Doch auch der Konflikt ist für die Politisierung noch nicht hinreichend. Eine einzelne Person zum Beispiel, die die Kontingenz der Welt streitlustig hinausposaunt, gilt ja in der Regel nicht so sehr als besonders politisch – weit eher erscheint sie uns als ein bisschen verrückt. Erst, wenn es dieser Person, drittens, gelingen würde, ein Kollektiv hinter sich zu versammeln, die eigene Sichtweise zu einer Sichtweise von vielen zu machen, würde ihr Anliegen zunehmend als politisches Anliegen wahrgenommen.50 Also: für eine erfolgreiche Politisierung sozialer Situationen, Prozesse oder Ereignisse ist das Zusammenwirken von Kontingenz, Konflikt und Kollektivität erforderlich – eine Entpolitisierung hingegen stellt sich ein, wenn diese drei Faktoren stillgelegt werden können. Mit Beck kann man davon ausgehen, dass sich die drei »K« in der Gegenwart leichter und schneller für Politisierungen aller Art mobilisieren lassen.

Warum und inwiefern kann das ein Problem für Demokratien sein? Wenn wir uns darüber Gedanken machen, was Demokratie eigentlich ausmacht, dann denken wir häufig an ihre Institutionen; also an Wahlen, Parlamente, Rechtsstaatlichkeit etc. Auf der Ebene der politischen Praxis dagegen fällt es uns – jenseits von etwa in Geschäftsordnungen festgeschriebenen Verfahrensvorschriften – sehr schwer, Kriterien für deren demokratischen Charakter anzugeben. Mit anderen Worten bleibt offen: Was unterscheidet demokratische von undemokratischen Formen der Politisierung? Warum können freie Meinungsäußerungen im Rahmen des Gesetzes – auch etwa von demokratisch gewählten Amtsträgern per Twitter – dennoch in demokratischer Hinsicht problematisch sein? Welche Arten politischer Mobilisation gefährden möglicherweise die Demokratie, unter welchen Umständen kann das geschehen, und wie lässt sich damit umgehen? Was macht also Politisierungen zu in demokratischer Hinsicht riskanten Politisierungen? Auf diese Fragen kann klassische Demokratietheorie keine Antworten geben, unter Bedingungen der Entgrenzung des Politischen werden solche Antworten – die selbstverständlich nicht in ein autoritäres Politikverständnis zurückfallen dürfen – allerdings dringend benötigt. Das ist es, was Beck meint, wenn er wie oben zitiert schreibt: wir müssten Politik (und damit auch Demokratie) in der Gegenwart neu denken.

Wenn wir also in dieser Studie auf Prozesse der Politisierung und Entpolitisierung scharf stellen, wie wir ihnen in Chemnitz begegnen, so lässt sich darin eine allgemeinere, auch demokratietheoretische Relevanz entdecken. Unsere These lautet: Politisierungen durch Essenzialisierung spielen bei den Geschehnissen in und um Chemnitz eine besondere Rolle, und gerade an diesem Verhältnis – dem Verhältnis von Politisierung und Essenzialisierung also – zeigen sich die Grenzen demokratischer Praxis.

1.4Soziologie anders vermitteln: Analytische Geschichten

Nachdem wir die Ausgangssituation in Chemnitz dargestellt, unseren Forschungszugang erläutert und unseren Gegenstand geklärt haben, kommen wir schließlich auf die Methoden zu sprechen, mit deren Hilfe wir unsere Fragestellung verfolgen. Wir schließen dabei an die Überlegungen von Thomas Scheffer und Kolleg*innen zur politischen Ethnografie an.51 Die politische Ethnografie wird dabei als Methode vorgestellt, mit deren Hilfe sich nachzeichnen lässt, wo das Politische beginnt und wo es endet, wann es auflodert und wann es verstummt. Wie beschrieben geht es uns in unserer Studie genau darum.