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Ritwas Geschichte beginnt in diesem Buch während ihres Aufenthaltes in einer Klinik zur Langzeittherapie für Suchterkrankungen. Hier beginnt ihre Reise zu sich selbst. Schonungslos ehrlich begibt sie sich auf die Suche nach Antworten auf die Frage, wer sie ist, was sie ausmacht und warum ihr Leben scheinbar in einer Endlosschleife aus Konflikten, aus Ablehnung, aus Versagen, aus traumatischen Erlebnissen, aus der Gier nach Alkohol und aus Krankheiten verläuft. Mit gnadenloser Ehrlichkeit zu sich selbst, zuweilen gespickt mit recht trockenem Humor, einem Hang zum Sarkasmus aber auch ernsten Worten bei der Schilderung bitterernster Episoden reflektiert sie ihr Leben ab ihrer Geburt, den daraus entstanden Dynamiken durch Aktion und Reaktion sowie ihre Sicht auf die sogenannte "Corona-Pandemie". Ritwa nimmt ihre Leser mit auf eine Reise in die Tiefen ihres Un(ter)bewusstseins und beschreibt ihren eigenen Weg aus Selbstzerstörung und "der Arschkarte des Lebens" heraus, hin zu Selbstbewusstsein, Selbstliebe und ihrer Verantwortung, sich für ein Leben in Freude, innerem Frieden, Gesundheit und Dankbarkeit zu entscheiden.
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Seitenzahl: 342
Veröffentlichungsjahr: 2022
Kerstin Teifke
– RITWA –
mit 45 geboren
Und Corona war der Booster
Über die Autorin:
Kerstin Teifke wurde am 22. März 1973 in der DDR geboren. Als Offizierstochter aufgewachsen, absolvierte sie auf der Suche nach Erfolg, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe viele verschiedene Ausbildungen und wurde im ständigen Bemühen, den Erwartungen ihrer Mitmenschen gerecht zu werden, physisch und psychisch krank. Nach einer langjährigen Odyssee durch mehrere Psychiatrische Kliniken als Patientin fand sie endlich den Ausgang aus der Opferspirale und ist seit 2019 ausgebildete Psychologische Beraterin. Sie veröffentlichte 2019 einen Fachartikel in der Fachzeitschrift „Freie Psychotherapie“ und ihr erstes Buch „Glücklichsein kostet… NÜSCHT! Oder: Wessen Leben lebst Du?“
Die Story in diesem Buch orientiert sich an echten Geschehnissen. Die Namen wurden geändert und Ähnlichkeiten mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.
Kerstin Teifke
– RITWA –
mit geboren
Und Corona war der Booster
Kerstin Teifke
© 2022 Kerstin Teifke
Illustration:
lizenzfreie Bilder von Pixabay.com und
eigene Grafiken © Kerstin Teifke
ISBN: 978-3-347-63687-3
(Erstveröffentlichung)
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Teil 1
Die Reise beginnt
1 Ja, ich hab getrunken
1.1 Frühjahr 2016 in der Klinik
1.2 (M)ein Umgang mit Suchtdruck
1.3 Ich halte nichts von Ablenkung
2 Die Vorbilder der Kindheit
2.1 Wir lernen durch Beobachten
2.2 Frauen erziehen nicht nur Kinder
2.3 Mama, Oma und die Männer
2.4 Ehrlichkeit: Worte vs. Realität
2.5 Du suchst den Knopf? Abspaltung!
2.6 Verdrängen ist nicht Vergessen
2.7 Mein Dad als Angehöriger
2.8 Ich bin doch Dein Kind!
2.9 Es ist nichts geklärt
3 Rückfall Silvester 2012/13
3.1 Ich war ja schon mal trocken!
3.2 Ich, das „arme Opfer“
3.3 Wein vom Chef
3.4 Wer ist denn nun eigentlich Ritwa?
3.5 Es geht ihr nicht gut – 4. Januar 2013
3.6 Tod – 6. Januar 2013
3.7 Am Totenbett
3.8 Anschiss beim Abschied
3.9 Zwei Wochen müssen reichen
4 Erinnerungen an Verlust
4.1 Morle
4.2 Kinder können grausam sein
4.3 Und es gab Luisa
4.4 Warum wehrte ich mich nicht?
4.5 Asthma – Angst vorm Leben
4.6 Lichtblicke
4.7 Das letzte Schuljahr
4.8 „Wer hatte Schuld?!“
5 Reset drücken!
5.1 Und noch einmal von vorn
6 Kontaktabbruch im Finale
6.1 Geburtstag
6.2 Letzte Ausbildung – nur für mich
6.3 … rufen wir also Opa an
6.4 … an einer Kunsthochschule
6.5 Verliebt bei zukünftigen Malern
6.6 Nur einmal noch, dann bist du mich los!
6.7 Ich ertrage es nicht mehr
6.8 Ein langer Brief mit Folgen
6.9 Ein wirklich langer Brief
6.10 Antwort von Daddy
6.11 Die Familienwand
6.12 Einmal Rechtsberatung und zurück
7 (Dir) Selbst→bewusst!
7.1 Frieden vs. Frieden
7.2 Familienaufstellung
7.3 Es gibt keine Zufälle
7.4 „The Work“ (Byron Katie)
Teil 2
Mit anderen Augen
8 Meine neue Welt
8.1 Und wie ist es heute?
8.2 Mein Weltbild und ich
8.3 Das ist doch nur ein Video
8.4 Genau wie meine Mutter!
8.5 Ich und der Esel
8.6 Keine Angst vor dem Dunklen
8.7 Danke für den Fußbruch
8.8 Ich will bei Papa bleiben!
8.9 Und plötzlich bin ich „rääächts?
9 Gott heißt jetzt „Corona“!
9.1 Staatlich verordnete Psychosen
9.2 MASKE!!! Und alle knien nieder
9.3 Angstpsychose oder Dekadenz?
9.4 Naturgesetze sind nicht verhandelbar!
9.5 Zum Gehorsam erzogen
9.6 Das X ist das Opium
9.7 Schlusswort
Vorwort
„Schreibe ein Buch! Schreibe deine Geschichte auf und erzähle sie all den anderen Menschen da draußen, die ähnliches erlebt haben und erleben wie du!“
Und Du, lieber Leser, liebe Leserin, hältst nun dieses Buch, nach ca. drei Jahren Schreiben und Wachsen, in den Händen. Herzlich Willkommen in meiner Lebensgeschichte, die sich an echten Geschehnissen orientiert. Du wirst keine Chronologie finden. Ich habe meine Erinnerungen lediglich so aufgeschrieben, wie sie sich in meinem Kopf präsentiert haben.
Ich widme dieses Buch all den Menschen da draußen, die sich in einer schier endlosen Schleife der Selbstablehnung, des Selbsthasses und der Selbstverleugnung befinden. Menschen, die von klein auf gelernt haben, dass sie so, wie sie sind, nicht richtig sind. Menschen im ständigen Kampf einer wahnwitzigen Selbstoptimierung auf der Suche nach Anerkennung, Wertschätzung und Liebe. Menschen, die auf der Flucht vor dem, was sie fühlen, durch die Psychiatrien dieser Welt tingeln. Die scheinbar nicht ins System passen. Ich widme dieses Buch den „schwarzen Schafen der Familie“ und denen, die augenscheinlich nirgendwo dazugehören. Menschen, die in der Spirale von Konflikt und Krankheit hilflos nach dem Ausgang suchen und dabei täglich das gleiche Murmeltier begrüßen.
Dieses Buch widme ich aber auch jenen Menschen, die mein Leben mit den Geschichten gefüllt haben, wie sie im wahrsten Sinne des Wortes im Buche stehen. All die Storys und Begegnungen der letzten 49 Jahre haben mich nicht nur zu dem Menschen geformt, der ich heute bin, sondern eben auch maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Buch entstehen durfte. Somit gilt selbstverständlich mein Dank auch meinen Eltern, die sich auf das Abenteuer „Eltern werden“ eingelassen haben und alles gegeben haben, was ihnen möglich war zu geben.
Ich danke meinen Kindern, die mich so wundervoll an mich selbst erinnern, mir immer wieder furchtlos den Spiegel vor die Nase halten, die ich so sehr liebe, dass es fast schon wehtut und ich mich immer wieder zurückhalten muss, um sie nicht zu erdrücken *lach*. Danke, dass Ihr mich als Eure Mutter so schonungslos liebt. Ihr seid meine persönlichen Wunder. Durch Eure Stärke lernte ich – und lerne immer noch – Vertrauen in den Weg anderer Menschen, auch wenn er in andere Richtungen führt. Lasst Euch von niemandem da draußen erzählen, was Ihr könnt und was nicht, wie Ihr sein sollt, was Ihr denken sollt, wie Ihr handeln sollt. Von niemandem!
Und ich danke den Vätern, die mir diese wundervollen Kinder geschenkt haben. Ihr seid so unglaublich wichtig! Nicht nur im Leben unserer Kinder, sondern auch in meinem. Jeder von Euch hat mich ausgewählt, um die Mutter Eures Kindes zu sein. Danke für Euer Vertrauen, für Eure Liebe und für Eure Begleitung auf meinem Lebensweg.
Ich danke meinen Peinigern und ich danke meinen Befürwortern, ich danke den Ablehnenden und den Anerkennenden. Danke den Verhinderern und Förderern, den Naserümpfenden und den Neugierigen. Ich danke den Engeln in meinem Leben, die in mir stets das Potential, das Licht gesehen haben, das ich aus Angst mein Leben lang verleugnet habe. Die dies heute noch tun. Die an mich glauben und mit mir einen gemeinsamen Weg gehen. Die in mir niemals den schwer aushaltbaren Klotz am Bein, die Komische, die Anstrengende gesehen haben, sondern einen interessanten Menschen, der in keinen „normalen“ Rahmen zu passen scheint.
Und ich danke den „Arschengeln“ (Der Begriff wurde von Robert Betz geprägt, Psychologe und Autor), die mich ungebremst auf jede verfügbare Palme jagen, die scheinbar „mit Links und 40°C Fieber“ zielsicher ihren Finger in jede Wunde legen, sei sie auch noch so tief vergraben. Die dadurch Begegnungen mit mir selbst an den Stellen ermöglichen, welche in den tiefen Kellern meines Un(ter)bewusstseins in verstaubten Regalen auf ihren Einsatz warten, um von mir endlich gesehen und losgelassen zu werden. Vor allem Euch verdanke ich zu lernen, was Demut, Dankbarkeit und wahre (Selbst)Liebe bedeutet. Damit fällt der von mir hinzugefügte „Arsch“ ab. Und übrig bleiben wundervolle „Engel der Heilung“.
Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle auch Dir, liebe Doreen. Du begleitest mich nun schon so viele Jahre durch sämtliche Höhen und Tiefen meines Lebens und kannst ohne Zögern selbst nach drei Jahren der Auszeit den Faden der Verbundenheit wieder aufnehmen. Dafür, für Dein Sein und für Deine Bereitschaft, dieses Buch Korrektur zu lesen, bin ich Dir unglaublich dankbar.
Viele Menschen, die mir heute unendlich wichtig sind, finden in diesem Buch keine Erwähnung. Da wären zum Beispiel Julia, Claudia, Barbara, Janine, der Klaus und viele andere mehr. Auch Ihr gehört zu meiner Lebensge- schichte dazu, habt sie maßgebend geprägt und bereichert sie heute noch. Danke, dass Ihr mich begleitet. Ich weiß, dass ich manchmal echt anstrengend sein kann *lach*. Da gibt es auf jeden Fall genug „Stoff“ für mindestens ein weiteres Buch.
Habt Euch alle lieb.
Ich tu es auch
Teil 1
Die Reise beginnt
1 Ja, ich hab getrunken
1.1 Frühjahr 2016 in der Klinik
Ich glaub das gerade nicht! Hat er das jetzt wirklich gesagt?! Ja, er hat! Und zwar vor versammelter Mannschaft! Ich bin sprachlos. Und ich schäme mich. Und es macht mich wütend. Doch ich lächle, was sich eher wie ein hilfloses Grinsen anfühlt. Ich lächel nach außen, doch in mir drin schreit es.
Ich befinde mich in einer Reha-Klinik zur Langzeitentwöhnung und Behandlung alkohol-, drogen-, medikamenten- und/oder mehrfach abhängiger Frauen und Männer ab einem Alter von 18 Jahren. Im Augenblick bilden ca. 20 Leute eine „Seminar-Gruppe“. Da sitzen die erst seit wenigen Wochen trockenen AlkoholikerInnen sowie ihre Angehörigen zusammen an einem Tisch während eines sogenannten „Angehörigenseminars“. Hier soll den Angehörigen das „Krankheitsbild“ des Alkoholabhängigen näher gebracht werden.
Es ging gerade um den „Notfallkoffer“. Jeder bereits einmal therapierte Suchtmensch kennt ihn und weiß, wovon ich rede. Wenn Du davon noch nie etwas gehört oder gelesen hast, will ich es mit wenigen Sätzen erklären: Der Notfallkoffer ist kein Koffer in dem Sinne, wie wir ihn zum Beispiel bei Urlaubsreisen mit uns herumtragen.
Das Wort „Koffer“ ist mehr als eine Art Sinnbild zu verstehen, ein „Tool“ für den „Notfall“, auf den zugegriffen werden kann, bevor ein bereits aufkeimendes Verlangen nach Alkohol zu einem nicht aufhaltbaren Rückfall wird. Er besteht unter anderem aus einer Liste von verschiedenen, sogenannter Ressourcen. Sie sind so etwas wie Skills bzw. „Werkzeuge“ und sollen helfen, einem drohenden Rückfall einigermaßen adäquat zu begegnen. Also Möglichkeiten zur Intervention, zur Ablenkung und Ent → Spannung, wenn das Verlangen nach dem Suchtmittel – in unserem Fall eben Alkohol – droht, aus dem Ruder zu laufen. So befinden sich eben auch diverse Telefonnummern von Freunden, Bekannten, Verwandten in diesem Koffer, die im Notfall angerufen werden dürfen, bevor der trockene Alkoholiker wieder zur Flasche greift.
Quasi eine Anlaufstelle für: „Hilfe, mir geht’s nicht gut. Und ich hab Angst, rückfällig zu werden. Ich habe Suchtdruck und wünsche mir von Dir Hilfe.
1.2 (M)ein Umgang mit Suchtdruck
Kleine Warnung: Ich beschreibe hier jetzt meinen Umgang mit Suchtdruck. An dieser Stelle übernehme ich keinerlei Verantwortung für missglückte Selbstversuche des geneigten Lesers mit ähnlicher „Problematik“. Ihr seid erwachsen und könnt Euch selbst am besten einschätzen. Denn …
… diese „Methode“ setzt ein gewisses Maß an "Vorarbeit" und Erfahrung voraus. Und zwar die Erfahrung, dass durch bewusstes Fühlen und Zulassen von Emotionen, die wir als schwierig oder sogar zum Weglaufen furchtein-flößend erleben, die wir sonst stets weggedrückt haben, dass diese Emotionen dann ihre Power, ihren Schrecken verlieren. Sie können sich schlussendlich sogar komplett auflösen. Auch hier war es Robert Betz, der mir diese Tür öffnete, als er davon sprach, wie wichtig es ist, unsere Gefühle zu durchfühlen, statt sie weghaben zu wollen.
Daher bitte ich an dieser Stelle darum, sich gegebenenfalls in kompetente Begleitung zu begeben. Es ist Deine Aufgabe, gut für Dich selbst zu sorgen. Dazu gehört unter anderem eben auch, bei Bedarf Hilfe zu beanspruchen.
Wenn ich also Suchtdruck verspüre, schaffe ich mir möglichst sofort eine Möglichkeit, in der ich für etwa fünf Minuten ungestört bin und auch die Augen schließen kann. Das kann durchaus auf dem Stillen Örtchen sein. Oft ist das der einzige Rückzugsort, der auch als solcher respektiert wird.
Ich beginne einen inneren Monolog:
"Ok. Ich habe jetzt gerade Appetit auf Alkohol. Das darfsein! Es ist völlig in Ordnung. Dieser „Druck“ will mich vor Schmerz bewahren, vor meiner Unsicherheit beschützen, meiner Angst, vor dem Gefühl „nicht richtig“ zu sein. Dafür bin ich dankbar. Ja, ich fühle Dich (Suchtdruck). Du darfst da sein."
Dabei stelle ich mir den Suchtdruck als eine Art kleines, quängelndes Wesen vor, dass mich am Hosenbein oder Rockzipfel zupft, die Ärmchen nach mir ausstreckt und einfach nur umarmt, einfach nur geliebt werden will. Und genau das tu ich dann auch. Vor meinem inneren Auge nehme ich dieses Wesen liebevoll in die Arme und wiege es wie ein Baby. Mein „Baby“, meine Konstruktion, meine für so lange Zeit einzige Strategie, um scheinbar Unaushaltbares aushaltbar zu machen.
Indem ich hinschaue, es annehme, es sogar als meine eigene Schöpfung liebevoll in die Arme nehme, erlebe ich eine Befriedung (nicht Befriedigung). Der Suchtdruck verliert seine Power, weil er mir keine Angst mehr macht und verschwindet letztlich sogar.
Und heute, fünfeinhalb Jahre nach dem letzten Schluck, ist Suchtdruck für mich Geschichte. Ich gelte sogar als „geheilt“ und muss tatsächlich keinen Bogen mehr um Pralinen, einen Eisbecher „mit Schuss“, oder um leckere Schwarzwälder Kirschtorte machen.
Ich gebe zu, diese „Methode“ ist ungewöhnlich. Zumindest ist sie nicht das, was die alkoholabhängigen Patienten in den Kliniken und Therapien lernen. Denn auch ich habe hier gelernt, dass wir uns bei Suchtdruck ablenken sollen. Da gibt es so einige Möglichkeiten, die angeboten werden. Zum Beispiel ein Glas Wasser in einem Zug austrinken. Oder Malen, Spazieren gehen, Arbeiten, sich mit etwas beschäftigen, was Spaß macht und gut tut. Na ja, und eben auch ein Zurückgreifen auf den „Notfallkoffer“. Wir bekommen ein relativ umfangreiches Portfolio an sogenannten Skills an die Hand, um den Suchtdruck „zu vergessen“. Doch wenn das so ein effektives Mittel ist, warum wird dann von einer Rückfallquote zwischen 60% und 90% gesprochen?
Für diese immens hohe Rückfallquote sind sicherlich nicht nur die bisher bekannten und offiziell zugelassenen Therapieansätze ein Zeichen der Unwirksamkeit. Nein, sicherlich nicht. Ich halte es aber für ineffektiv genug, um sich endlich mal Gedanken über andere Möglichkeiten zu machen. Tatsache ist doch, dass Alkoholkonsum nur hinterfragt wird, wenn der alkoholtrinkende Mensch unangenehm wird. Wenn er auffällt. Wenn er in seinem Verhalten unter Alkohol zu einer Belastung für andere wird. Und wenn sein Körper so massiv darunter leidet, dass er zum Dauergast in Kliniken und Arztpraxen wird. Bis dahin scheint es sogar zum guten Ruf zu gehören, sich eben hin und wieder mal ein Gläschen zu gönnen. Oder eine Flasche. Es ist mittlerweile so gesellschaftsfähig geworden, dass der einzelne Nichttrinker spätestens bei irgendwelchen Firmen-, Familienfeiern oder sonstigen Partys im besten Fall misstrauisch beäugt wird. Oft kassiert er aber auch doofe Sprüche, die ihm klarmachen wollen, dass er „nicht richtig“ ist, 'ne Spaßbremse, einfach jemand, der den anderen Leuten die Laune verdirbt. Doch unterm Strich soll mit diesen Sprüchen ein Alibi für das eigene Verhalten geschaffen werden. Jeder der mittrinkt sorgt für eine Erleichterung des schlechten Gewissens, das sich eventuell hin und wieder meldet. Denn tief drin weiß ja der gesunde Menschenverstand, dass Alkohol nicht unbedingt gut ist, vielleicht für einen heftigen Kater und Filmriss am nächsten Morgen sorgt. Na ja, und der letzte Kontrollverlust war vielleicht auch nicht wirklich amüsant. Die Verdrängung solcher „partyfeindlichen“ und „spaßbremsenden“ Gedanken funktioniert nun mal am besten, wenn alle mitmachen.
Ach komm, einen kannste doch!
Jetzt hab dich nicht so!
Suche im TV nach einer Sitcom, nach einem Krimi, einer Komödie, nach irgendeinem Film oder einer Serie, wo Alkohol nicht zum guten Ton gehört. Sendungen, in denen dem Zuschauer nicht suggeriert wird, dass Alkohol zu Schönheit, Erfolg, Fitness, Intelligenz und Reichtum gehört, wie Müsli in einen Müsliriegel. Du wirst sie kaum finden. Und niemand scheint das irgendwie seltsam zu finden in Anbetracht der Tatsache, dass Alkohol ein Nervengift ist und bereits in überschaubaren Mengen für einen stetigen Zerfall der körperlichen Funktionsfähigkeit inklusive der Hirnleistung sorgen kann. Und nicht nur das. Das soziale Umfeld verabschiedet sich ja auch nach und nach. Lass zu, dass Alkohol Dein Leben bestimmt und Du kannst zuschauen, wie sich Job, Familie, Freunde, Dein Hirn und einige andere Organe Schritt für Schritt in Wohlgefallen auflösen. Nur Deine Probleme, die Du Dir wegtrinken willst, die lösen sich nicht auf. Die bleiben!
Ich kann mir vorstellen, dass mein weiter oben beschriebener Umgang mit Suchtdruck so klingt, als würde es den Druck erhöhen und direkt in den Rückfall führen. Denn es beschreibt ja alles andere als Rückfallprävention durch Ablenkung. Doch für mich ist das Gegenteil der Fall. Wenn ich vor dem Verlangen nach Alkohol weglaufe, in dem ich mich ablenke oder sonst wie versuche, dieses Gefühl loszuwerden, dann verhält sich der Druck wie ein Versicherungsvertreter oder penetranter Staubsaugerverkäufer. Ich schmeiße ihn vorne raus und er komm durch die Hintertür wieder rein. Ich kann keine Tretmiene entschärfen, in dem ich vor ihr weglaufe. An der nächsten Ecke wartet die nächste. Da liegen überall welche verstreut. Und irgendeine geht irgendwann hoch.
Also schau ich mir an, in welchen Situationen das Verlangen nach Alkohol kommt, welche Glaubenssätze meine Festplatte im Hirn dazu abgespeichert hat und welche Autostartprogramme mein System dazu auf der Hauptplatine installiert hat. Im Klartext: Welche Situationen meine ich nur bewältigen zu können, indem ich sie mir schön oder zumindest erträglich trinke? Und wo sind deren Ursprünge? Wann hat mein innerer Programmierer entsprechende Einträge vorgenommen und wie könnte ich die Situation von damals heute anders bewerten?
Und ich erkenne den Suchtdruck als mein Baby an. Als etwas, das von mir selbst erschaffen wird/wurde. Meine Kreation. Das hat ja niemand von außen in mich rein getan. Als eine selbstentworfene Strategie, mit schwierigen Situationen klarzukommen, die dann eben irgendwann im Unbewussten archiviert wurde und entsprechend per Autostart abgerufen wird. Und warum nicht den Ergebnissen der eigenen Schöpferkraft eine Form, eine Gestalt geben? Wo bleibt die Fantasie? Wie sähe das ungeliebte Gefühl aus, könntest Du ihm eine Gestalt geben? Was würde dann vor Dir stehen? Und kannst Du Dir vorstellen, dass dieses Wesen deutlich weniger rumquängelt, wenn es von Dir die Aufmerksamkeit bekommt, die es immer wieder einfordert? Und nun ersetze das Wort „Rumquängeln“ mit dem Wort Verlangen. Oder mit „Liebe“!
1.3 Ich halte nichts von Ablenkung
Durch die Strategie der Ablenkung nehmen wir dem Suchtdruck nicht den Schrecken, sondern wir verdrängen ihn einfach, versuchen wie bei einem Kochtopf voll mit Wasser auf der heißen Herdplatte den Deckel mit aller Macht auf den Topf zu drücken. Das Wasser beginnt irgendwann zu kochen, erzeugt mit dem Wasserdampf immensen Druck, der immer einen Weg sucht, zu entweichen. Das geht sanft mit Lüften des Deckels oder mit Gewalt. Wir können unser gesamtes Körpergewicht einsetzen – und bei mir ist das nicht gerade wenig – um den Deckel auf dem Topf zu halten. Irgendwann fliegt er uns gewaltig um die Ohren.
Je länger wir also verdrängen wovor wir Angst haben, umso höher wird der Druck. Und irgendwann wird er dann so überwältigend, dass der Rückfall nur noch mit unmenschlichem Zwang zu verhindern ist. Oder gar nicht, weil der Stress den Druck ständig erhöht.
"Druck erzeugt Gegendruck!" Also nehme ich den Druck weg. Ich ergebe mich der Angst, lasse zu, kämpfe nicht dagegen an – und zwar ganz bewusst. So durfte ich die Erfahrung machen, dass bewusstes „Zulassen“ und „Annehmen“ nichts mit „Ausleben“ zu tun hat, sondern das Gegenteil bewirkt. Meine Befürchtung war, dass dem „Zulassen und Annehmen“ ein „garantierter Rückfall“ folgt, weil für mich die logische Schlussfolgerung war: „Wenn ich etwas zulasse und annehme, dann gibt es ja nur das Ausleben.“
Doch das stimmt nicht. Mit Annehmen von dem was ist, ist kein Ausleben und Umsetzen gemeint, sondern ein Integrieren eines verdrängten Anteils. Ein Integrieren der Anteile, die wir an und in uns ablehnen, die wir nicht haben wollen. Es ist ein innerer Vorgang der „Heilung“, der zugegebenermaßen einiges an Mut erfordert. Wenn diese Hürde aber einmal genommen ist und der Aha-Effekt dieses „Loslassvorganges durch Integration“ spürbare Erleichterung verschafft, dann wird’s leichter.
Wenn ich mir nun so ein Notfallkoffer-Rückfallprä-ventions-Listen-Dingens anschaue, dann weiß ich heute, warum ich da nie so den richtigen Draht dahin gefunden habe. Wenn ich richtig fiesen Suchtdruck habe, gegen den ich mich innerlich auflehne, verstärke ich den Druck bis zu dem Augenblick, wo mir dieser Notfallkoffer gepflegt den Buckel runterrutschen kann, weil er schlicht die Flasche nicht ersetzt. Und ich bewege mich wie ferngesteuert zur nächsten Anlaufstelle für „Sprit“. An Tankstellen zum Beispiel gibt’s nicht nur den Sprit fürs Auto.
Was damals nur ein ablehnendes Gefühl gegen diese Form der Rückfallprävention war, ohne genauer erklären zu können, warum es sich so „falsch“ anfühlt, so finde ich da heute durchaus (für mich) passende Worte dafür:
Weil es sich für mich einfach nach dem anfühlt, was der Hundetrainer mit Nachbars Fiffi auf dem Sportplatz macht. Es fühlt sich nach operativer Konditionierung an, nach Deckel drauf und bitte nicht genauer hinsehen sondern einfach funktionieren. Es fühlt sich nach Symptombekämpfung an, wo Ursachenforschung deutlich sinnvoller und nachhaltiger wäre. Da habe ich – wie bereits erwähnt – das Bild von einem Versicherungsvertreter, oder einem Staubsaugerverkäufer im Kopf. Schmeiß so jemanden vorne raus, er kommt hinten mit Schwung wieder rein.
Außerdem wird hier in meinen Augen einfach mal davon ausgegangen, dass ein anderer Mensch verhindern kann, dass ich (wieder) trinke und macht dies auch irgendwie zu seiner Verantwortung. Der ist natürlich auch gleich mal Schuld, wenn das mit der Rettung nicht so recht funktioniert hat, weil derjenige gerade eine Magen-Darm-Grippe hat und vom Klo nicht runterkommt. Oder gerade mit dem 5. Bier auf einer Party „Prost“ ruft. Oder sich tatsächlich ins Auto setzt, losfährt und trotzdem zu spät kommt. Oder sich am Telefon liebevoll den Mund fusselig quatscht, die hilfreichsten Worte aber am anderen Ende nirgendwo so recht andocken können, weil ein permanentes „Ich will trinken!“ zwischen den Ohren hin- und herschnippt.
Bei genauer Betrachtung ist es ein ziemlich schräger Gedanke, den dennoch eine Menge Menschen für bare Münze nehmen. Ja, drüber reden mag helfen. Manch einen mag es erleichtern und wird dann eben auch als hilfreich wahrgenommen. Vielleicht ist der Druck auch tatsächlich erst einmal weg. Doch es mag sich jeder, der solche Situationen kennt, ehrlich fragen, ob er/sie sich nicht einfach nur erfolgreich vom eigentlichen Thema abgelenkt hat und wie lange dies nun anhalten wird.
Ich glaube – und hier wiederhole ich mich – hier wird dann lediglich der Deckel ein bisschen fester auf den Topf mit kochendem Wasser gedrückt. Vielleicht noch hübsch mit bunten Blümchen verziert. Doch die Ablenkung trägt nicht dazu bei, den Ursprung des vermeintlichen „Suchtdrucks“ zu erkennen bzw. bestenfalls zu bearbeiten. Und nein, es ist nicht die schwierige Situation oder der schlecht gelaunte Chef, der für den Druck sorgt. Und es ist auch nicht die Ex, deren Existenz das Leben scheinbar zur Hölle werden lässt. Auch hier wird jeder Mensch, der mutig genug sucht, bei sich selbst fündig werden. Welche Urteile fällen wir über verschiedene Situationen? Wie bewerten wir das Verhalten anderer Menschen? Auf welchen in uns vorhandenen und abgelehnten Teil macht uns die Situation aufmerksam? Kann wirklich eine Situation oder ein anderer Mensch die Verantwortung dafür tragen, dass Du trinkst? Wer bitte geht denn los, um sich Stoff zu besorgen? Und wer schüttet dann den Stoff in sich rein? Und steht dann da ein anderer daneben und nötigt den (ehemals) Süchtigen mit einer Waffe zum Saufen? Nein!
Es geht nicht um Schuld. Es geht auch nicht um Verantwortung oder Intelligenz, Disziplin oder Vernunft. Der „Rückfallende“ mag unter der Gier nach dem Stoff irgendwie out of order sein, ja. Dennoch behaupte ich, dass nichts und niemand da draußen dafür sorgen kann, ob er Alkohol trinkt oder nicht.
Wer kennt sie nicht, die verzweifelt schweigenden Ehefrauen, die die Flaschen des Gemahls verstecken, ihm ständig „ins Gewissen reden“, für ihn lügen und eine heile Welt vorheucheln in der Hoffnung, dass er irgendwann „zur Vernunft“ kommt? So wird das nix. Das nennt sich „Co-Abhängigkeit“ und kann unterm Strich genauso als Sucht der Frau („richtig zu sein“) betrachtet werden, wie die Sucht selbst. Gegenseitig unterstützen und stärken ist was ganz anderes. Wer anderen ungefragt Probleme aus dem Weg räumt, „weil man das eben als liebender Mensch so macht“, nimmt dem anderen die Chance, in die eigene Stärke zu kommen oder einfach für sich selbst zu entscheiden, wie er (oder sie) leben möchte. Der „Helfende“ erhöht sich über den anderen und verschafft sich darüber das Gefühl, wertvoll zu sein. Das ist keine Verantwortung, sondern Missbrauch! Das sogenannte „Opfer“ wird zum „Täter“, hält den anderen klein und in seinem Leid gefangen. Und nochmal: Es geht nicht darum, wer Schuld hat am Leid eines anderen Menschen! Sondern es geht um das Verstehen von Aktion und Reaktion, um das Erkennen der eigenen destruktiven und höchst unbewussten Glaubenssätze und Prägungen, die wir vor allem in den ersten 6 Lebensjahren in uns speichern.
Wenn es also nicht um Schuld geht, worum geht es denn dann, neben dem Erkennen und Verstehen von Prägungen und Glaubenssätzen? Um die Suche nach sich selbst und gleichzeitig Angst vor dem, was da eventuell gefunden werden könnte. Es geht um nicht fühlen wollen, was es da im nüchternen Zustand so in sich fühlt. Um Verstehen und Erkennen der inneren Strukturen und Muster, die sich irgendwann vermeintlich nur noch im Suff ertragen lassen.
Alleine schon das Verständnis für sich selbst, für die eigenen Verletzungen und Traumata – womit ich nicht Selbstmitleid meine! – bringt eine erstaunliche Erleichterung mit sich. Doch diese Erkenntnis hab ich erst heute, nachdem mein Körper ca. fünf Jahre trocken gelegt ist. Und ich weiß heute (2022), dass es gut war, dass mein Vater seine Hilfe abgelehnt hat.
Doch hier in dieser Klinik für Langzeittherapie, hier in diesem Raum mit den ungefähr 20 Leuten, vor wenigen Sekunden beim Thema „Notfallkoffer“, meldet sich mein Vater zu Wort und sagt: „Also, ich bin da außen vor! Erstens wohnen wir viel zu weit von einander entfernt (Anm.: „Zu weit“ ist sicherlich ein recht dehnbarer Begriff. Hier geht es um ungefähr 70 km). Ich kann da nicht eben mal ins Auto steigen und zu meiner Tochter fahren. Und zweitens habe ich ein Problem damit, dass sie dieses Problem überhaupt hat. Ich bin da nicht der richtige Ansprechpartner, sie muss sich da woanders Hilfe suchen!“
Wow. Ok. Sacken lassen. Schlucken. Er hat das tatsächlich gesagt. Für einen Augenblick herrscht Totenstille im Raum, niemand sagt etwas dazu. Manche gucken betreten auf ihre Hände und bevor es wirklich unangenehm wird, fahren die „Lehrkräfte“ mit ihren Erklärungen fort. Mein Kopf ist gerade beschäftigt, läuft im eigenen Film auf Hochtouren, ist nicht aufnahmefähig, versucht gerade den Adrenalinspiegel wieder herunter zu fahren und den Puls in einen annehmbaren Normbereich zu drücken.
Ja, es war erstaunlich ehrlich und sehr direkt. Aber musste das sein?! Jetzt, nach über 40 Jahren? Hier? Außerdem hat niemand davon gesprochen, dass die Angehörigen bei einem Alarm durch den Betroffenen sofort alles stehen und liegen lassen sollen, um sich auf direktem Wege als Lebensretter zu beweisen.
Es folgen Flashbacks, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Von wem bitte hab ich denn gelernt, dass Alkohol schwierige Situationen im Leben erträglicher machen kann?
2 Die Vorbilder der Kindheit
2.1 Wir lernen durch Beobachten
Ich kann mich sehr gut an die Jahre erinnern, in denen mein Vater beinah täglich Stress und Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten hatte. Er kam so oft frustriert nach Hause. Und dann trank er. Er trank sich aber nicht in Rage, wurde nicht aggressiv, sondern er trank sich in den Schlaf. Er wurde müde und „verleierte dann so seltsam die Augen“. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, hörte ihn über seinen Vorgesetzten schimpfen, sah ihn Bier trinken. Hin und wieder auch Schnaps, aber meistens Bier. Gleichzeitig erlebte ich den Frust meiner Mutter über meinen Vater, die dann so fürchterlich unglücklich aussah, ihm Vorwürfe machte und sich auch mir gegenüber darüber beschwerte, dass er schon wieder trinkt, sie das „unmöglich“ findet und sie das „nicht mehr lange aushält“.
So ging es einige Jahre. Und nein, ich hab mich nicht staunend vor meinen Vater gestellt und gesagt: „Oh geil, wenn ich groß bin, mach ich das auch so!“ Definitiv nicht. Aber es prägt. Ich lernte, dass Alkohol so’n „Erwachsenenheilmittel“ ist, wenn das Leben mal wieder so richtig schwer ist. Und leicht ist es für Erwachsene ja scheinbar eh nicht wirklich.
Als Kinder beobachten wir, orientieren uns an den Dingen, die wir im Außen vorfinden. Und wenn dann nicht offen und ehrlich kommuniziert wird, Fragen mit Ausflüchten oder mit: „Ach, das bildest du dir nur ein!“ beantwortet werden, dann ziehen wir unsere eigenen Schlüsse daraus, die schlussendlich mit der Wirklichkeit nicht wirklich viel zu tun haben.
Jedes Kind ist auf die Vorbildfunktion der Eltern angewiesen. Kinder lernen durch Beobachten. Sie haben (noch) dieses Grundvertrauen und lernen so, die Welt zu verstehen und sich in ihr zurecht zu finden. Und wenn da ein Vater ist, der sich auf seinen Vorgesetzten schimpfend regelmäßig mit Alkohol „abschießt“, dann scheint das ja die Lösung zu sein, um mit „Erwachsenenproblemen“ klarzukommen. Zumindest scheint es keine Alternative im Umgang mit „Problemen“ zu geben.
Andererseits stellte Alkoholtrinken wohl ein riesiges Problem dar, wenn es immer wieder zum Streit zwischen meinen Eltern führte. Dennoch war es normal und völlig in Ordnung, bei Feierlichkeiten Alkohol zu trinken. Die Stimmung war dann auch meist recht locker bis lustig. Da schien also dieses Alkoholtrinken gar nicht so verkehrt zu sein, um mit Problemen klar zu kommen und lustig zu sein. Der Ärger meiner Mutter über meinen Vater, dem ich mich kaum entziehen konnte, war dann zuweilen sehr irritierend und fühlte sich auch nicht wirklich lösungsorientiert an. Da gab es viele Vorwürfe und Schuldzuweisungen von meiner Mutter an meinen Vater sowie Versprechen der Besserung von meinem Vater an meine Mutter und wieder von vorn. Es verändert nichts, gar nichts! Im Gegenteil, es schien alles nur noch zu verschlimmern.
Bereits als Kind lernte ich, dass alkoholabhängige Menschen irgendwie „assi“ sind, schwach, verantwortungslos und undiszipliniert. Und als Frau geht das erst recht nicht! Mit diesen mir näher gebrachten Überzeugungen sollte vielleicht einer potentiellen „Alkoholikerkarriere“ vorgebeugt werden. Ich weiß es nicht. Vielleicht wollten sie auch nur dafür sorgen, dass ich zu einer verantwortungsbewussten, vernünftigen jungen Frau heranwachse. Oder sie wollten gar nichts bewusst damit erreichen und teilten mir lediglich ihre Meinung zu „Alkoholikern“ mit. Das ist an dieser Stelle auch nicht wichtig. Wichtig ist, zu welchen Mustern und Verhaltensweisen es in mir beigetragen hat.
So eine Sucht hat jedenfalls nichts mit Vernunft, Disziplin oder gar Intelligenz zu tun. Diese Negativbeleuchtung von eventuell regelmäßig betrunkenen Menschen in meiner Kindheit sorgte lediglich für die Potenzierung meiner unbewussten, dennoch minutiös zelebrierten Selbstablehnung später als Erwachsene. Schließlich wurde ich selbst zur Alkoholikerin.
Und heute, nach so vielen Jahren, kann ich immer mehr die Irritation eines Kindes verstehen, das dann später mit zum Teil total verkorksten, sich widersprechenden Überzeugungen ins Erwachsenenleben geht und erst einmal eine Reihe von ordentlichen Bruchlandungen erfährt. An dieser Stelle lediglich bezogen auf Alkohol und Alkoholabhängigkeit, auch wenn es unzählbar viele Bereiche des alltäglichen Lebens betrifft.
Da ist zum Beispiel der Alkohol als „normales Getränk“ bei Partys, wie Familienfeiern. Und ohne ist es irgendwie keine „richtige Party“. Aber zu viel darf man davon auch nicht trinken, dann ist derjenige irgendwie „ein Problem“. Darüber zu schimpfen obliegt meist den Frauen. Männer halten sich da mit Schimpfen eher zurück, weil es wohl auch meist sie sind, die „zu tief ins Glas gucken“ und die Frauen das furchtbar und abstoßend finden, während sie kopfschüttelnd an ihrem Weinglas nippen.
Wenn der Erwachsene im Alltagsleben irgendeine Hürde gemeistert hat, etwas erreicht hat, irgendwas geschafft hat, worauf der Erwachsene stolz ist, dann „gönnt“ er sich ein „Gläschen/Fläschchen zur Belohnung“. Scheint die Hürde aber unüberwindbar, hat irgendetwas nicht funktioniert, oder ist da beispielsweise ein Nachbar, der „kaum noch zu ertragen ist“, ist da ein Chef, der einen „schier in den Wahnsinn treibt“, dann „gönnt“ man sich das „Gläschen/ Fläschchen“, um „runterzukommen“, um „sich zu beruhigen“, um „erst einmal zur Ruhe zu kommen“.
Alkohol scheint also ein Allround-Talent zu sein, um das Leben der Erwachsenen zu bereichern und gleichzeitig komplizierter zu machen.
Die Streitereien zwischen meinen Eltern lösten zuweilen in mir den Wunsch aus, meine Eltern mögen sich doch bitte trennen, wenn sie zusammen so unglücklich sind. Ich ergriff innerlich auch immer wieder Partei für meinen Vater, konnte es kaum ertragen, wie sie ihn anschrie, wo er doch eh schon so viele Probleme auf Arbeit hat. Er tat mir dann so unglaublich leid. Wenn sie sich anschrien, zerriss es mich innerlich beinah. Und wenn ich dann noch Wortfetzen über „Verantwortung, weil wir ein Kind haben“ und „was sollen denn die Leute denken“ hörte, fühlte sich das in meinem kindlichen Verständnis einfach nur falsch an und ich hielt mir die Ohren zu. Was hat denn das bitte mit mir zu tun?! Oder mit anderen Menschen?! Heute weiß ich, warum es sich so falsch anfühlte…
2.2 Frauen erziehen nicht nur Kinder
Da fällt mir ein: Auch bei Partys hat meine Mutter zuweilen vor versammelter Mannschaft meinen Vater daran erinnert, dass er nicht zu viel trinken solle. Gerne mit einem Ich-weiß-es-besser-Lächeln im Gesicht und einem leichten Klopfen auf seine Schulter. Wenn sie in der Öffentlichkeit wütend auf ihn war, oder ihr sein Verhalten aus oft unerfindlichen Gründen peinlich war, tätschelte sie manchmal seine Schulter – gern auch mal seinen Bauch – und sagte auch mal gern mit einem aufgesetzten Ich-mein-es-doch-nur-gut-Lächeln: „Reiß dich zusammen!“. Ja, meine Mama hatte nicht nur mich zu erziehen, sondern eben auch ihren Mann, meinen Vater. Das sie ihn damit vor aller Augen degradierte, war ihr scheinbar nicht bewusst. Mir ja auch nicht wirklich. Nur oft recht unangenehm.
Generell war es ihre Überzeugung, dass Männer erzogen werden müssen, wie kleine Kinder. Das Frau sie „an der kurzen Leine halten muss“. Aus heutiger Sicht betrachtet stelle ich so ein Männerbild echt in Frage. Doch auch sie hat es wohl lediglich übernommen, hat es so vorgelebt bekommen. Von ihrer Mutter. Ich höre heute noch meine Oma sagen: „Bevor dein Mann morgens aufsteht, musst du ihn schon drei Mal beschissen haben!“ Oder: „Vor 60 kommt beim Mann der Verstand nicht. Und danach bleibt er nicht lange!“
Es wurde darüber gelacht. „Frau“ fand das witzig und bestätigte es gern mit wissendem Kopfnicken. Ich lachte mit, fühlte aber etwas anderes. Etwas, was ich mir dann sicherlich nur wieder einbildete. Da war eine Art innerer Widerstand gegen die Vorstellung, dass augenscheinlich alles um uns herum im Chaos versinken würde, würden die Frauen nicht „für Ordnung sorgen“ und ihre Männer „bei Fuß“ halten. Mein kindlicher Verstand beschloss, sich später mal einen Mann zu suchen, der auch wirklich ein Mann ist und so eine „Arbeit“ nicht von mir abnötigte. Ohne eine Idee zu haben, wie sich dieser Mann dann verhalten sollte.
Bisher war ich also der Überzeugung, dass ich das Gedankenmuster meiner Mutter und meiner Großmutter nicht übernommen habe. So erschließt sich mir heute immer noch nicht, warum sich Frauen gelegentlich als die „besseren Menschen“ betrachten, nur weil sie weiblich sind. Ich bin der Überzeugung, dass ich gelernt habe, Männer in ihrem So-Sein zu respektieren und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
Jetzt, während ich hier sitze und darüber schreibe, wird mir klar, wie wenig ich diese Überzeugung bisher gelebt habe. Nein, ich habe keinen Mann „degradiert“ oder gar erniedrigt, indem ich herablassend in seinem Beisein über ihn gesprochen habe, oder indem ich ihn zu einem besseren Mann erziehen wollte. Nein, das nicht. Hoffe ich zumindest. Wenn, dann wird mir das auch hier an dieser Stelle nicht bewusst. Mein Credo war: Ich bin anpassungsfähig bis zur Selbstaufgabe! Damit habe ich einfach nur das gemacht, was ich als Kind gelernt habe tun zu müssen, um geliebt zu werden. Ich habe mir mit Anpassung und Selbstverrat versucht, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe zu erkaufen. Ich spielte die Rolle, von der ich glaubte, dass es mein Gegenüber zufriedenstellt und erwartete tatsächlich, dass mich mein Gegenüber dafür so liebt wie ich bin. Doch wer oder was bin ich denn gewesen?! Das wusste ich ja selbst nicht einmal! Also wen oder was hätte denn da mein Gegenüber lieben sollen?! Und wie arrogant ist es von mir, dass ich glaube zu wissen, was sich ein anderer Mensch wünscht? Und ihm dann vorzuwerfen, er würde mich nicht wirklich lieben, wenn seine Wünsche, sein Denken und Handeln mit meiner Vorstellung nicht übereinstimmen?
Da wird mir gerade klar, dass ich Männer doch benutzt habe. Um vor mir selbst die Augen zu verschließen. Sie sollten mir geben, was ich mir als Kind von meinem Vater gewünscht habe: Präsenz! Emotional und physisch. Da sein. Und zwar für mich. Bitte mit viel Stärke und Stabilität in sich selbst. Eine Form der Stärke und Stabilität, wie sie sich der kindliche Verstand zusammenschustert, als Referenz für das, was scheinbar so schmerzlich fehlt. Sie sollten mich in meinem So-Sein bestätigen, obwohl ich schon längst vergessen habe, wer ich bin. Sie sollten mir sagen und zeigen, dass ich richtig bin, wie ich bin. Doch wen oder was denn da? Das von mir selbst abgelehnte „Falsch-Sein“ oder das antrainierte vermeintliche „Richtig-Sein“? Und wenn es dann tatsächlich mal jemanden gab, der „mich auf Händen trug“, dann war der schnell langweilig, weil er sich in meinen Augen selbst verlor und damit in meiner Wahrnehmung keinerlei Stärke und Stabilität bieten konnte. Weil ich ihm unbewusst unterstellte, dass er sich meine Liebe damit erkaufen will. Weil ich dann das Gefühl hatte, für sein Wohl oder Unwohl verantwortlich zu sein. Weil er mich dann vermeintlich „brauchte“, um glücklich zu sein. Also all die Dinge, die ich selbst mit meinem „anpassungsfähig bis zur Selbstaufgabe“ zeigte und sogar noch stolz darauf war, ließen mich einen Mann als langweilig, unterwürfig, unmännlich wahrnehmen. Fühlte ich mich jedoch dazu gezwungen, mir Liebe ständig erbetteln zu müssen, schürte es meine Verlustängste und ich griff auf meine Strategie der Anpassungsfähigkeit zurück, um dann mit Jammern, Klagen und Zedern an den offenen Rechnungsbetrag „Liebe mich – bitte bedingungslos“ zu erinnern.
Oh man! *an den Kopf klatsch*
Und ich wunderte mich, warum meine Beziehungen immer zu einem Kampf wurden, so schwer wurden, so schmerzhaft. Spätestens nach dem ersten Verknalltsein schien die Arena eröffnet, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Was natürlich nur daran liegen konnte, dass ich immer nur den „falschen“ Männern begegnete. <ironie>
Die Männer, die ich mir auserkoren hatte, sollten mich anerkennen, wertschätzen, bedingungslos lieben. Ich verliebte mich in Männer, die in meiner Wahrnehmung stabil genug waren, um bei sich selbst bleiben zu können und von denen ich erhoffte, sie mögen all ihre Stärke und Stabilität mir verschreiben. Krass! Ich verliebte mich in Männer, die meine Erwartungen an „einen Mann“ vermeintlich erfüllten, ohne zu verstehen, dass meine Erwartungen durch kindliche Rückschlüsse geprägt wurden, die mit dem wahren Leben nichts zu tun haben. Erwartungen, die niemand erfüllen kann! Ich suchte nach Stärke und Stabilität im Außen, um die in mir wirkende Unsicherheit und vermeintliche Schwäche zu heilen. Und ich begriff nicht, dass Nichts und Niemand da draußen dafür verantwortlich ist. Es ist mein Job!
Männer, die weit genug bei sich selbst waren, um sich von meiner Bedürftigkeit nach Liebe beizeiten abzugrenzen, die mit dieser Bedürftigkeit zuweilen völlig überfordert waren, emotional oder auch körperlich nicht erreichbar waren. Jetzt gerade wird mir klar, dass auch ich die Männer in meinem Leben nach meinen Vorstellungen zurecht biegen wollte. In einem völlig unbewussten Autopilotmodus. Ja, und es wird Zeit, in mir den Animus willkommen zu heißen, den ich nun fast 50 Jahre in mir versucht habe, zurecht zu biegen, damit abgelehnt und unterdrückt habe.
Wow! Buch schreiben fetzt!
2.3 Mama, Oma und die Männer
Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass meine Oma sehr schlechte Erfahrung mit Männern gemacht hat, vielleicht sogar traumatisiert wurde und das nie ver- oder aufgearbeitet hat. Vermutlich sind da sogar Kriegstraumata involviert, die sich bekanntermaßen auch über Generationen hinweg weiter „vererben“ können. Aber natürlich kann ich das nicht wirklich wissen. Auch danach fragen kann ich sie nicht mehr. Doch ich bin heute froh und dankbar, dieses Männerbild vielleicht anfangs übernommen, aber doch immer hinterfragt zu haben. Zuletzt in den letzten Absätzen des vorausgehenden Kapitels in diesem Buch. Einfach nur, weil es sich so falsch anfühlte. Aber es machte mich in Kindheit und Jugend oft wütend und ich verstand nicht, warum meinem Vater das scheinbar nichts ausmachte. Warum er das oft einfach hinnahm. Er sagte einfach: „Ja, hast Recht, mein Schatz.“
Ich sollte erst viele Jahre später begreifen (zum Beispiel während ich ein Buch schreibe *breitgrins*), welche destruktiven Strukturen sich dahinter verbargen, welches Männerbild meine Mutter sichtbar machte, warum mein Vater dies zuließ und inwiefern es mich schlussendlich auch geprägt hat. So gab es an vielen Stellen starke Spannungen zu Hause, unter denen ich litt, ohne es zu wissen. Ohne benennen zu können, was das für Spannungen sind und was das für schwer ertragbare Gefühle in mir sind. Ich schämte mich dafür, wenn ich mir wünschte, sie würden sich trennen. Und doch wünschte ich es mir gelegentlich.
Selbst später als Erwachsene, schon längst zu Hause ausgezogen, erinnere ich mich an gemeinsame Sonntagsessen, die oft mit der Auswertung des „unmöglichen“ Verhaltens meines Vaters endeten, der sich nach dem Essen zum Mittagsschlaf hingelegt hat. Weil er sich hingelegt hat. Häkelnd und strickend auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher weiß ein unangenehm verächtliches Mama-Oma-Gericht, dass es „ja mal wieder typisch“ ist, dass „der Herr“ seinen „Schönheitsschlaf“ halten muss. Und ich sitze dabei und frage mich, wo denn nun der Auslöser für die Empörung ist, die diese zwei Frauen augenscheinlich durch das Verhalten meines Vaters erleben? Gab es etwas an meinem Vater, worüber sich dieses Mama-Oma-Gespann nicht aufregte?