Road of Bones – Straße des Todes - Christopher Golden - E-Book

Road of Bones – Straße des Todes E-Book

Christopher Golden

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  • Herausgeber: Cross Cult
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Umgeben von kahlen Bäumen in einer schneebedeckten Wildnis und unter einem trüben, düsteren Himmel erstreckt sich die Kolyma in Sibirien, eine 1.200 Meilen lange Straße geschotterten Permafrostbodens in der Nähe des Polarkreises. Ein schmaler Pfad, auf dem Autofahrer mit schwierigen Bedingungen wie vereisten Oberflächen, eingeschränkter Sicht und einer Durchschnittstemperatur von sechzig Grad unter null konfrontiert sind. Tödliche Autounfälle sind an der Tagesordnung. Doch die Autofahrer sind nicht die einzigen Opfer dieser Straße. Die als "Straße der Knochen" bekannte Strecke ist ein riesiger Friedhof für die Gulag-Häftlinge der ehemaligen Sowjetunion. Hunderttausende von Menschen schufteten sich hier zu Tode und ihre Leichen von den eisigen Elementen verschlungen und unter die Permafroststraße gepflügt. Der Dokumentarfilmer Felix "Teig" Teigland ist fasziniert von der Geschichte der Straße und plant eine neue Serie über Leben und Tod auf der Straße der Knochen. Er besucht die Stadt Akhust, den "kältesten Ort der Welt", um dort Geistergeschichten und lokale Legenden zu sammeln. Doch als Teig und sein Team ihr Ziel erreichen, finden sie eine verlassene Stadt vor – bis auf ein katatonisches neunjähriges Mädchen – und ein Rudel räuberischer Wölfe, die schneller und schlauer sind, als es wilde Tiere sein sollten. Verfolgt von den jenseitigen Bestien, sehen sich Teigs Gefährten entlang der Straße der Knochen mit noch unheimlicheren und unerklärlicheren Phänomenen konfrontiert, als würden die Geister von Stalins Opfern sie heimsuchen. Es ist eine erschütternde Reise, die Teig an seine Grenzen bringt und ihn zwingt, sich den Sünden seiner Vergangenheit zu stellen.

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Für John McIlveen und Tony Tremblay,die nettesten Jungs im Horror-Genre.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Teig wachte hinter dem Steuer auf und trat auf die Bremse, aber die Reifen trafen nur Eis. Prentiss schrie auf, als sie über den zerfurchten Dauerfrost rutschten. Teig riss das Lenkrad herum und drückte auf das Gaspedal. Sein Herz klopfte wie verrückt, als er versuchte, die Reifen auf die Straße zu bekommen. Hinter der Leitplanke waren schneebedeckte Baumkronen und in der Ferne Berge zu sehen. Der Sturz von der Kante würde sie umbringen. Zumindest wäre das schneller, als auf der Kolyma-Fernstraße zu erfrieren.

Die Reifen griffen wieder. Teig kurbelte das Lenkrad sanft herum und steuerte sie von dem Abgrund weg, aber der Schwung schleuderte sie gegen die Leitplanke. Mit einem lauten, metallischen Knirschen brach der Jeep durch, kippte auf den Abgrund zu und Teig brüllte vor Angst, als er aufsetzte. Metall kreischte, als sich die zerbrochene Leitplanke in die Seitenwand des UAZ grub. Der Geländewagen machte einen Satz nach vorn.

Die Adern an seinen Schläfen pulsierten, als er auf die Bremse trat. Er stellte den UAZ in den Parkmodus, schaltete den Motor ab und stolperte so voller Adrenalin, dass er am liebsten losgebrüllt hätte, aus dem Fahrzeug. Stattdessen ließ er sich bloß auf die Knie fallen, lehnte sich über die Leitplanke und atmete immer wieder die eiskalte Luft ein. Die Aussicht wäre vielleicht spektakulär gewesen, aber der Sturz hätte sie umgebracht. Zehn Meter weiter links hatten sie ein kleines Stück der Leitplanke durchschlagen und noch vier Meter Leitplanke waren nun verbogen und zerfetzt, allein durch den Aufprall des Jeeps. Wie er sie auf der Straße gehalten hatte, wusste er nicht. Teig holte noch einmal tief Luft, um vor allem zu verhindern, dass er den Sugudai, den er zu Mittag gegessen hatte, wieder auskotzte.

Eine Tür schlug zu. Stiefel knirschten auf dem Schnee. Teig hörte, wie sein Name gerufen wurde. Er hatte seine Übelkeit noch nicht ganz überwunden, doch die Kälte half. Die eisige Luft brannte in seiner Lunge und bohrte sich in seine ungeschützte Haut. Sein Atem dampfte. Die einzigen Geräusche waren der Wind, sein pochendes Herz und das Ticken des schnell abkühlenden Motors.

Und diese Stimme. Prentiss.

»Verdammt, was machst du da?«, hörte er nur.

Prentiss stieß ihn mit einem Stiefel an und rief seinen Namen. Teig hielt sich am Geländer fest, um nicht seitlich in den Schnee zu fallen, und sein Kopf wurde wieder klar. Er drehte sich zu Prentiss um, sah die Wut und die Angst im Gesicht seines Freundes und wusste, dass er auf die Beine kommen musste.

»Den Schlüssel, Teig!«, raunzte Prentiss. »Gib mir den verdammten Schlüssel!«

Direkt hinter ihm sah Teig die Seite des ehemals orangefarbenen UAZ Expedition, die nun verbeult und zerkratzt war. Das Blech war an zwei Stellen durchlöchert, als hätte sich die kaputte Leitplanke in den Jeep gekrallt. Der Wagen war zwar nur ein einfaches Modell, hatte ihnen aber trotzdem das Leben gerettet.

»Teig!«, bellte Prentiss. Er streckte seine Hand offen aus.

Das Wort Schlüssel löste in seinem Gehirn eine Reaktion aus. Teig sprang auf und eilte zur offenen Fahrertür. Prentiss nahm freilich an, er habe den Schlüssel bei sich, aber er hatte ihn in der Zündung stecken lassen. Teig griff ins Auto, drehte den Schlüssel und der Motor stotterte, ächzte und stöhnte. Er versuchte zu starten.

Die Kälte hatte sich bereits eingenistet.

»Scheiße!«

Prentiss packte Teig von hinten an der Jacke und schob ihn zur Seite. Er kletterte auf den Fahrersitz, trat mit den Füßen auf Gaspedal und Bremse und versuchte selbst, die Zündung einzuschalten. Der Motor hustete, sprang jedoch nicht an.

Hinter dem Lenkrad drehte sich Prentiss um und starrte Teig mit großen Augen an. »Felix, was verflucht noch mal hast du angestellt?«

Teig hätte ihn am liebsten über die Leitplanke geworfen. An den meisten Tagen waren er und Prentiss enge Freunde, vielleicht sogar beste Freunde. Als Kollegen verbrachten sie viel Zeit buchstäblich aufeinander, oft auf engstem Raum oder in gefährlichem Gelände. Prentiss mochte ein viel größerer Kerl sein, doch Teig hatte sich noch nie einschüchtern lassen. Von niemandem.

Natürlich hätte er es meistens auch nicht verdient gehabt. Heute vielleicht schon.

»Versuch’s noch mal!«

»Er darf nicht absaufen«, sagte Prentiss. Er war zwar wütend, aber in seinen Augen leuchtete dieselbe Angst wie bei einem Hund im Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Autos.

»Start den verfickten Jeep!«

Prentiss drehte den Schlüssel. Der Motor hustete wieder, fing an zu jaulen und Teig rutschte das Herz in die Hose. Er liebte seine Arbeit, sterben wollte er allerdings nicht für sie.

Der Motor sprang an, heulte auf, und Teig und Prentiss starrten sich erleichtert, aber immer noch aufgeputscht an.

»Du bist am Steuer eingeschlafen«, sagte Prentiss, seine Stimme nur ein Rauschen über dem Rumpeln des Motors.

Erst als Teig ausatmete, merkte er, wie kalt ihm war. Trotz der vielen Schichten, die er übereinander trug, spürte er die Kälte bis in die Knochen. Sein ungeschütztes Gesicht glühte wie bei einem Sonnenbrand. Er kannte dieses Gefühl und wusste, dass es nur von der brutalen Kälte kam. Wolken verdeckten das, was in Sibirien im Winter als Tageslicht galt. Die Anzeige im Jeep zeigte dreißig Grad minus an und am Nachmittag, wenn die Sonne unterging, würde es noch viel kälter werden. Selbst jetzt würde dieses Brennen in etwa zehn Minuten zu Erfrierungen führen, jedenfalls solange sie auf der Straße blieben und er sein Gesicht unbedeckt ließ. Er erinnerte sich daran, dass er sich den Elementen nicht stellen durfte, ohne seine Balaclava aufzusetzen. Als Kind hatte er diese Dinger einfach »Skimasken« genannt und selbst heute verbesserte ihn Prentiss immer. Anscheinend hatten sich Bankräuber in den Siebzigern Skimasken übergezogen, während Geheimagenten und Attentäter Balaclavas trugen. Als ob er Jack Prentiss brauchte, um ihm beizubringen, wie man cool ist.

Okay, vielleicht brauchte er ihn doch.

»Hey«, sagte Prentiss, schob seinen Stiefel aus dem Jeep und stupste Teig damit an. »Du bist hinter dem Steuer eingeschlafen.«

Teig konnte es nicht abstreiten. Er hatte sie fast umgebracht – zweimal. Erst, indem er gegen die Leitplanke gefahren war, dann, als er den Motor abgestellt hatte.

»Jetzt bin ich hellwach«, sagte er.

»Glaubst du, ich lass dich jetzt noch fahren?«, fragte Prentiss. Er strich sich mit einem Handschuh über seinen grauen Bart. »Mein Gott, wie hast du mich überhaupt überredet hierherzukommen?«

Teig ignorierte die zweite Frage. »Guck auf die Straße und sag mir, dass du fahren willst, dann mach ich gerne auf dem Beifahrersitz ein Nickerchen.«

Prentiss atmete aus. Er drehte die Heizung hoch und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße vor ihnen. Nach einem Moment rutschte er ohne ein Wort zur Seite und Teig kletterte auf den Fahrersitz. Er zog die Tür zu, schaltete und fuhr wieder los, weiter auf der Straße des Todes.

»Schlaf ja nicht ein«, sagte Prentiss.

Teig zwang sich zu einem Lächeln. »Langweil mich nicht zu Tode und ich bleib wach.«

Sie hatten ihre Reise in Magadan begonnen, einer Hafenstadt am Ochotskischen Meer im Nordosten Sibiriens. Die Einwohnerzahl der Stadt lag bei rund neunzigtausend und sank stetig, da die älteren Leute starben und die jungen wegzogen. Die Wanderungsbewegung ging hier nur in eine Richtung, was nicht weiter verwunderlich war. Kein Mensch fasste sich ein Herz und beschloss, in Sibirien einen Neuanfang zu wagen.

Teig hatte viel über das tückische Wetter gelesen, vor allem auf der Kolyma-Straße, aber so richtig zu verstehen begann er das erst nach den ersten dreihundert Kilometern, als sein Blick immer wieder zwischen der Tankanzeige und dem Straßenrand hin- und hergewandert war. Etwa alle 250 Kilometer gab es Tankstellen, aber bei Wind und Schnee, dem Knirschen der Reifen auf dem Dauerfrostboden und der weißen Stille, die sie überall umgab, kam ihm die Vorstellung von diesen Tankstellen wie eine Fata Morgana vor. Wenn einem auf der Kolyma-Straße im Winter das Benzin ausging, konnte man gut und gern erfrieren.

Um acht Uhr morgens, eine Stunde vor Sonnenaufgang, waren sie mit vollem Tank in Magadan losgefahren und hatten etwas mehr als die Hälfte der sechzehnstündigen Fahrt hinter sich, als sie sich in der von Teig organisierten Unterkunft einquartiert hatten – einer Raststätte, deren größter Vorzug eine Garage war, in der der Motor und die Benzinleitung des Jeeps über Nacht nicht einfrieren würden. Der Ort ihres Zwischenstopps war so klein, dass sein Name ihm bereits entfallen war; es war mehr eine um eine Tankstelle herumgebaute Siedlung als ein richtiger Ort. Die Kolyma-Fernstraße zog nicht viele Touristen an, aber immerhin waren es ein paar. Trotzdem hatte sie der alte Mann, der die Raststätte betrieb, mit der Neugierde eines Anthropologen beäugt.

Beim Aufbruch am heutigen Morgen in Richtung Nordwesten war die Luft bereits tödlich kalt gewesen. Die Temperatur sank immer weiter und Teig fragte sich, ob diese Reise nicht eine beispiellose Dummheit gewesen war. Prentiss hatte er seine Sorge nicht mitgeteilt, denn der war nur aus Freundschaft – weil Teig ihm fast achttausend Dollar schuldete – auf diese Reise mitgekommen. Prentiss wusste, dass Teigs große Pläne ohne Hilfe nicht aufgehen würden, also begleitete er ihn, um seine Investition zu schützen.

Teig redete sich ein, dass Prentiss ihm immer noch ein wenig vertraute, obwohl es sonst niemand tat. Ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost.

Der Jeep ratterte über die Straße. Teig setzte sich aufrecht hin, fest entschlossen, sich nicht wieder in den Schlaf wiegen zu lassen. Die Kolyma-Fernstraße führte über fast 2000 Kilometer mitten durch das gefrorene Herz Sibiriens, von Magadan bis zum riesigen Flusshafen Jakutsk. Da die Hafenstadt weniger als fünfhundert Kilometer vom Polarkreis entfernt war, schien die Sonne im Dezember dort nur fünf Stunden am Tag und selbst dann versteckte sie sich meistens hinter den Wolken. Bei einer durchschnittlichen Tiefsttemperatur von vierzig Grad minus im Winter, und zwar ohne die Kälte des Windes zu berücksichtigen, würde kein vernünftiger Mensch dort leben wollen. Dennoch lebten in Jakutsk etwa dreimal so viele Menschen wie in Magadan – fast dreihunderttausend. Dort gab es Museen, Theater und ein Nachtleben – die Stadt war ein Leuchtfeuer der Zivilisation in einer gefrorenen Einöde. Menschen glichen Kakerlaken. Waren sie entschlossen genug, konnten sie sich überall ausbreiten.

Teig und Prentiss wollten nicht die ganze Strecke bis nach Jakutsk fahren. Sie wollten an einen Ort, wo es weit weniger Menschen gab und noch kälter war – genauer: zum kältesten bewohnten Ort der Erde.

»Was ist verflucht noch mal eigentlich verkehrt mit uns?«, sagte Teig lachend.

Prentiss setzte sich aufrecht hin und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn freibekommen. »Du bist wach?«

Teig dehnte seine Finger über dem Lenkrad. »Einer von uns muss ja.«

Prentiss runzelte die Stirn und klang eingeschnappt. »Bei dem Himmel hier oben hab ich immer das Gefühl, ich sollte im Bett sein.«

»Wenigstens wär’s dann wärmer.«

Technisch gesehen war es Tag, aber das bedeutete hier oben im Norden nur, dass eine Art ewige Dämmerung herrschte, ein graublauer Himmel mit Mullverband. Obwohl die Heizung im Jeep auf Hochtouren lief, konnte Teig die Kälte durch seine Stiefel und zwei Paar Socken spüren. Seine Zehen taten weh. Seine Hände am Lenkrad fühlten sich taub an, trotz des Thermofutters in seinen Handschuhen.

»Noch keine Schlafenszeit«, sagte Teig. »Eigentlich Zeit für die Mittagspause.«

»Was glaubst du, wann erreichen wir die nächste Tankstelle? Wir sollen den Guide in …« Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. »… einer halben Stunde abholen.«

»Wir werden zu spät kommen«, sagte Teig. »Allerdings bloß zwanzig Minuten oder so. Auf dieser Straße dauert es ewig, bis man irgendwo ankommt.«

Prentiss brummte, aber er nistete sich auf seinem Sitz ein wie ein Bär in seiner Höhle. Der Engländer verstand wahrscheinlich nichts von American Football. Teig fand immer, er sah aus wie ein pensionierter Offensive Lineman. Er war einen Meter neunzig und verdammt kräftig, mit einer breiten Brust und einem stolzen Bierbauch. Seine Haare wie sein buschiger Bart mussten mal wieder gestutzt werden, aber um solche Sachen scherte sich Prentiss nie.

»Ich muss nicht schön sein«, pflegte er zu sagen. »Ich bin ja nicht der Mann vor der Kamera.«

Sie hatten sich vier Jahre zuvor kennengelernt. Prentiss hatte sich als mürrisch, brutal ehrlich und bei seiner Arbeit als zuverlässig erwiesen. Zu richtigen Freunden wurden sie jedoch, als Teig erkannte, dass er einen erträglichen Reisegefährten gefunden hatte. An dunklen Tagen gab sich keiner der zwei Mühe, gute Laune zu verbreiten. Beide Männer vertraten eine Philosophie, die Platz für Stimmungsschwankungen ließ, und diese Philosophie verband sie miteinander.

Noch enger verbanden sie indessen die 7842 Dollar, die Teig seinem Freund schuldete. Prentiss war nicht der Einzige, der mit einem Schuldschein von Felix Teigland herumlief, aber bei ihm hatte er sicherlich die größten Schulden. Teig redete viel und schnell und hatte immer einen Plan, den er mit unbändigem Enthusiasmus verkündete: eine Dokumentation eines vierzehnjährigen Regisseurs aus Argentinien, die Bergungsrechte an einer spanischen Galeone, eine Fernsehserie über Comiczeichner aus dem Zweiten Weltkrieg, die heimlich Spione waren, einen Mockumentary, in dem die Geschichte von Scooby-Doo und seiner Bande untersucht werden sollte, als hätte es sie wirklich gegeben.

Teig hatte sich hochgearbeitet. Im Sommer vor seinem Abschlussjahr am College fing er an, im Team von Ghost Sellers zu arbeiten, einer Reality-Doku-Serie über ein paranormales Ermittlertrio, deren Ding es war, »offiziell« Immobilien zu begutachten, die damit warben, dass es in ihnen spukte. Meistens handelte es sich um Hotels und Pensionen, die ihren Geisterruf als Lockmittel für Touristen nutzten, doch in einigen Folgen ging es auch um Häuser und andere Gebäude, die zum Verkauf standen und deren Besitzer den Spuk als Verkaufsargument nutzten. Teig, der über zwei Staffeln für das Team arbeitete, bis die Serie abgesetzt wurde, war mit den angeblichen Spukgeschichten und den sogenannten Ermittlern extrem unzufrieden. Er hatte zu Recht Geister entdecken wollen, aber noch nie einen Beweis für ihre Existenz gesehen, obwohl die Serie während seiner Arbeit dort siebenundzwanzig »offizielle« Spukerlebnisse bestätigte.

Trotzdem war die Serie sein Einstieg ins Fernsehgeschäft. Seitdem arbeitete er sich in verschiedenen Jobs hoch, war Rechercheassistent, Assistent und gelegentlich ein »Talent« vor der Kamera. Vor sieben Jahren gründete er seine eigene Firma, Teigland POV, und knüpfte nach vier wilden Jahren gute Kontakte zu den Verantwortlichen von Discovery und National Geographic. In kurzer Folge verkaufte er zwei Dokumentarfilme und zwei Serien, von denen die letzte, Public Service, die Geschichte der Sexarbeit rund um den Globus nachzeichnete.

Als das letzte hohe Tier, mit dem Teig befreundet war, Discovery verließ und nur noch ein Mitstreiter bei National Geographic übrig blieb, kam er ins Schwitzen. Er brauchte etwas Großartiges, eine Sendung, die er jedem verkaufen konnte, nicht nur denen, die ihm bereits wohlgesinnt waren. Was er wollte, war sein eigenes Wicked Tuna oder Ice Road Jeepers oder, Gott bewahre, Duck Dynasty. Eine bahnbrechende Show, etwas Schräges, aber Kommerzielles. Etwas, das jahrelang laufen und sein Unternehmen über Wasser halten würde. Ohne einen richtigen Knaller würde seine Karriere beim Fernsehen in wenigen Monaten zu Bruch gehen.

Teigs Erfolge hatten ihm genug eingebracht, um die Firma am Laufen zu halten und die meisten Leute auszuzahlen, die ihm vertraut und nun ihr Geld verloren hatten. Er stotterte seine Schulden der Reihe nach ab. Aber einigen Leuten schuldete er immer noch Geld und es sah immer magerer aus: Teig machte sich allmählich ernsthaft Sorgen.

Er dachte, er hätte mit der Kolyma-Fernstraße die zündende Idee gefunden, doch er wollte sie nicht ohne ein Proof-of-Concept-Video verkaufen, etwas, das er zu Pitch-Meetings mitbringen konnte, um zu zeigen, dass er dort gewesen war, um zu erzählen, wie es sich anfühlte, an einem Ort zu leben, der so kalt war, dass ein einziger Fehler oder eine unglückliche Wendung des Schicksals einen umbringen konnte.

Da waren sie also. Teig und Prentiss auf der Straße des Todes. Wozu waren Freunde da, wenn sie nicht gemeinsam ihr Leben riskierten?

Weder die Trostlosigkeit noch die Dunkelheit oder gar das Klima hatten ihn dazu bewogen, in diese Reise zu investieren, sondern der Name: Straße des Todes. Auf den offiziellen Karten wurde sie als R504 bezeichnet. Es war nicht wirklich eine Straße. Sie war an beiden Enden asphaltiert, doch wich schon bald einer Schotterpiste: Auf der längsten Strecke der Kolyma-Fernstraße war der Dauerfrostboden einfach mit Steinen aufgeschüttet worden. An vielen Stellen war die Straße kaum so breit, dass zwei Autos aneinander vorbeifahren konnten, ohne einander den Lack abzukratzen. Die Landschaft bot nur Schnee, Baumskelette und Berge sowie hin und wieder eine Leitplanke und Ortschaften, die als »Siedlung städtischen Typs« galten, von denen viele aber nur aus ein paar Ansammlungen von Häusern und den hartgesottenen Seelen bestanden, die darin wohnten.

Bei Stalins Aufbau der Sowjetunion waren riesige Gold- und Uranvorkommen entdeckt worden, was bedeutete, dass man hier jede Menge Geld machen konnte. Teig verstand, warum die Leute damals massenhaft in die Region eingewandert waren – Geld war schon immer ein großer Antrieb –, aber Menschen gab es hier schon seit Jahrhunderten, und deren Motive waren ihm ein Rätsel. Die Jakuten zogen im dreizehnten Jahrhundert in die Gegend und zu diesem Zeitpunkt hatten bereits andere Stämme hier gelebt.

Teig konnte die Siedler verstehen, die im Sommer hierherzogen, aber in der ersten Winternacht, wenn es so kalt wurde, dass einem die Augäpfel gefroren, überlegten sich die meisten vernünftigen Menschen doch sicher, in den Süden zu gehen.

Zumindest diejenigen, die eine Wahl hatten.

»Du grübelst schon wieder darüber nach«, sagte Prentiss.

Teig atmete aus. Normalerweise stritt er es ab, aber dieses Mal nickte er. »Ich kann nicht anders.«

»Das ist die Sendung, die du machen willst, Mann. Wenn es dir so unter die Haut geht, warum bist du dann den ganzen Weg hierhergekommen? Ich könnte irgendwo im Warmen sein, mit jemand Warmem.«

»Ich weiß. Hast recht.«

Prentiss schnaubte. »Ich hab immer recht, Felix.«

»Du weißt, dass ich den Namen hasse.«

»Es ist dein Name! Ich hab ihn dir nicht gegeben. Ruf deine Mutter an und schrei sie an, wenn du willst.«

Teig warf ihm einen Seitenblick zu. »In Ordnung, John.«

»Bloß meine Oma nennt mich John, und das auch nur, weil ich es nicht übers Herz bringe, ihr die Zähne einzuschlagen.«

»Verkauf dich nicht unter Wert, Bruder. Du kommst mir definitiv vor wie ein Typ, der nicht zögern würde, seiner Oma die Zähne einzuschlagen.«

Prentiss klimperte mit den Augen. »Du machst echt die besten Komplimente.«

Der Jeep wurde durchgerüttelt, als Teig einer Kurve folgte und die Reifen über den gefrorenen Boden schleiften. In der ersten Stunde hatte das Motorengeräusch noch wie ein Bohrer in seinem Schädel gehämmert, doch daran hatte er sich gewöhnt.

Aber an die Spurrillen auf der Straße, an die Art, wie der Jeep darüberratterte … daran würde sich Teig nie gewöhnen.

»Hast recht. Das ist alles, woran ich denken kann«, sagte er. »An die Knochen.«

Prentiss atmete aus. »Ich wusste doch, dass du schon wieder drüber nachgrübelst.«

Teig war in seinem ersten Jahr am College mit einem Mädchen namens Miranda zusammen gewesen, die nur zwei Dinge mochte: Geistergeschichten und seine Zunge, und zwar in dieser Reihenfolge.

Also hatte er keine andere Wahl, als sich gefühlt Hunderte von Sendungen über gespannt guckende Geisterjäger anzusehen, die angeblich seltsame Geräusche hörten oder in alten Häusern Temperaturveränderungen spürten. Damals war er noch total skeptisch, doch eben durch die Zeit mit Miranda später zu den Ghost Sellers gekommen. Während Miranda ihn bei all diesen Sendungen fest in den Arm nahm, wobei sie sich an den richtigen Stellen abwechselnd die Augen zuhielt und aufsprang, behielt Teig seine Zweifel für sich. Er sprach seine Meinung nie laut aus, zum Teil, um sie nicht zu verletzen, doch vor allem, weil er den brennenden Groll, den er gegen diese schamlosen Heuchler hegte, nicht erklären wollte.

Was hätte er denn auch sagen sollen?

Ich habe auf den Geist meiner Schwester gewartet, aber er ist nie gekommen.

Er hätte alles dafür gegeben, wenigstens einen Blick auf Olivias Geist werfen zu können, nur um zu wissen, dass ihr Lachen irgendwie und irgendwo weiterlebte.

Teig war zwölf gewesen, als der silberne Minivan um die Ecke gebogen kam, vor ihrem Haus hielt und ein aufgeregter Welpe mit zimtfarbenen Fell fröhlich am halb geöffneten Fahrerfenster kläffte. Die achtjährige Olivia klatschte aufgeregt in die Hände und rannte freudestrahlend auf den Van zu. Der Fahrer, der einen dunklen Kapuzenpulli und eine Sonnenbrille trug, ließ den Motor laufen, während er nach hinten ging und die Seitentür mit dem Welpen in den Händen aufriss.

Dieser verdammte Welpe.

An diesem Tag sollte Teig auf sie aufpassen. Ihre Mutter war im Krankenhaus und ihr Vater arbeitete im Homeoffice. Olivia zog ihn immer an den Haaren und versuchte, ihn herumzukommandieren, aber sie brachte ihn auch wie sonst keiner zum Lachen. Sie war ein übermütiges kleines Kind gewesen, war von Schaukeln gesprungen und hatte immer Ausschau gehalten, wo sie mit ihrem Roller dagegenfahren konnte. Jedes Mal, wenn ein Elternteil sagte: »Irgendwann wirst du dich noch umbringen«, kniff Olivia ihre Augen zusammen und grinste verschmitzt. »Wenn das passiert, komme ich als Geist zurück und verfolge Felix jeden Tag und für immer!«

Der Van wurde hinter einem verlassenen Einkaufszentrum gefunden, ausgebrannt und vom Feuer vollkommen demoliert.

Zwei Monate später wurde Olivia in demselben Zustand aufgefunden.

Teig wartete jahrelang darauf, dass wie versprochen ihr Geist auftauchte, aber er kam nie. Als er auf Mirandas Bett im Studentenwohnheim und ihre Besessenheit von Geisterjägern traf, war all seine Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod bereits verbrannt.

Nach einem ganzen Jahr am College mit Miranda und all den Sendungen stellte er doch Nachforschungen über Spuk und Geister an und begann zu zweifeln. Teig redete sich ein, dass er nicht darauf hoffte und kein bisschen damit rechnete, dass Olivias Geist plötzlich in seinem Schlafsaal oder in einer Folge von Haunting America auftauchen würde, aber ein kleiner Funke kehrte in diesem Jahr zu ihm zurück und verschwand nie ganz. Eines Tages, als er bei Ghost Sellers arbeitete, sollte er Deja Madison, einen Star der Sendung, zum neuesten »Spuk« fahren. Teig nutzte die Gelegenheit und fragte sie ganz unverblümt, ob sie an irgendetwas in der Show glaubte. Er dachte, sie würde wütend werden und ihn vielleicht sogar feuern oder ihm im Vertrauen gestehen, dass alles nur Schwindel war. Doch damit hatte Teig ganz und gar nicht gerechnet: Ihre Augen leuchteten auf und inbrünstig bejahte sie die Frage. Ja, sagte sie, mindestens neunzig Prozent im Fernsehen war reines Theater, alles Quatsch, um die Zuschauer und den Sender glücklich zu machen.

»Aber die anderen zehn Prozent«, sagte Deja. »Genau um die geht es.«

Sie erzählte ihm Geschichten über Orte, an denen sie gewesen war, über Dinge, die sie gesehen, gehört und gefühlt hatte, die so beunruhigend waren, dass Teig ein paarmal der Atem stockte. Sie verbrachten zwei Stunden im Auto und Deja wurde nicht müde, seine Fragen zu beantworten und leidenschaftlich von den Geistern zu erzählen, die sie todsicher gesehen haben wollte. Teig war am Ende des Tages zwar nicht ganz überzeugt, aber auch nicht mehr restlos skeptisch.

Er wollte glauben.

Er hatte immer glauben wollen.

Wenn man heimgesucht werden konnte, wenn Geister erscheinen konnten, dann würde Olivia eines Tages vielleicht ihr Versprechen einhalten und zu ihm zurückkommen und Teig ihr endlich sagen können, wie leid es ihm tat, was ihr passiert war. Endlich würde er sie um Vergebung bitten können.

Die Jahre vergingen und seine Geschäfte fuhren Achterbahn. Der rasche Wechsel von Erfolgen und Misserfolgen zermürbte ihn und er wollte aussteigen. Die Suche nach Geistern hatte er zwar schon vor Jahren aufgegeben, doch wenn er ehrlich zu sich war, hatte er nie ganz aufgegeben. Als er das erste Mal von der Straße des Todes las, rührte das etwas in ihm auf, schon ein wenig Angst und Schrecken. Er war noch nie an einem Ort mit einer so dunklen und traurigen Geschichte gewesen.

Trotz seiner Zeit mit sogenannten paranormalen Ermittlern war er noch nie an einem Ort gewesen, der ihm so gruselig vorkam wie dieser.

Teig zitterte, aber nicht vor Kälte.

Er rieb sich die Augen. »Es sollte nicht mehr weit sein. Wenn wir unseren Guide abgeholt haben, solltest vielleicht du eine Weile fahren.«

Prentiss rutschte auf dem knarrenden Sitz hin und her. »Alles okay?«

»Ist ganz schön viel. Dieser Ort …«, gab Teig zu. »Darüber zu lesen, ist eine Sache. Wenn man das Wort ›Gulag‹ in der Zeitung liest, hat man eine vage Vorstellung davon, doch dann kommt man hierher und stellt fest: Diese Gefangenenlager waren hier.«

Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah die toten Bäume vorbeiziehen; die Landschaft war so trostlos, dass sie sich genauso gut auf einem anderen Planeten hätten befinden können. Aber sie waren nun mal hier auf der Erde, der Welt der Menschen, deren Grausamkeit keine Grenzen kannte.

»Ich denk nicht gerne drüber nach«, sagte Prentiss und blickte aus seinem Fenster. »Aber weißt du, wenn du dieses Projekt auf die Beine stellst, werden wir über lange Zeit nichts anderes tun, als darüber nachzudenken.«

Teig atmete aus. »Die Leute sollten davon erfahren. Die schlimmsten Kapitel der Geschichte sind gerade die, an die man sich erinnern sollte.«

Prentiss nickte und die beiden ließen den Motor eine Weile allein vor sich hin rumpeln. Teig meinte, was er gesagt hatte. Die Schrecken dieses Ortes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, war ihm wichtig. Vom Bau der Kolyma-Straße hatten bis vor Kurzem weder er noch seine engsten Freunde gehört, die er befragt hatte.

In Sibirien hatte es zwar bereits ein Netz von Konzentrationslagern gegeben – die sogenannten Gulags –, aber als die Sowjets Gold- und Uranvorkommen entdeckten, wollte Stalin zwischen Magadan und Jakutsk eine Straße bauen lassen. Entlang der Strecke wurden mindestens achtzig neue Lager errichtet, um schnell verfügbare Arbeitskräfte heranzuziehen. Politische Gefangene, Kriminelle, unglückliche Unschuldige, Männer, die es gewagt hatten, die Ehefrauen hoher sowjetischer Beamter nur anzusehen – sie alle füllten die Gulags. Hunderttausende wurden beim Bau der Kolyma-Straße eingesetzt. Im Laufe der Jahre starben hier über einhunderttausend Menschen, die meisten erfroren.

Sie wurden dort begraben, wo sie zusammengebrochen waren, einfach unter den Schotter gepflügt.

Zehntausende gefrorener Leichen lagen unter der Straße des Todes. Sie fuhren über löchrige, zerfurchte und vereiste Gräber – schon seit Beginn ihrer Reise – und es lagen noch Hunderte Kilometer vor ihnen.

Die Tankstelle hatte kein Schild, doch wer hier vorbeikam, brauchte auch keines. Drei rostige Zapfsäulen neben einem Maschendrahtzaun, dahinter ein Quartett massiver Benzintanks. Anderenorts befanden sich solche Tanks unter der Erde, aber der Besitzer dieses fahlen Fixsterns am Ende der Welt hatte sich dagegen entschieden, sie im Dauerfrostboden zu vergraben.

Teig runzelte die Stirn, als er den Jeep an die Zapfsäule heranfuhr, und starrte auf ein kleines, gedrungenes Gebäude, das einmal das Kassenhäuschen gewesen sein musste. Es sah eher wie ein alter Luftschutzbunker aus, gebaut wohl für irgendeinen Krieg vor hundert Jahren. Jemand hatte ein paar kyrillische Buchstaben aufgesprüht, angesichts derer Teig noch einmal überdachte, ob die Tankstelle wirklich kein Schild besaß. Er konnte nicht sagen, ob dort »Tankstelle« oder »Nur Bargeld« oder vielleicht »Biogefährdung« stand, aber für irgendjemanden musste es eine Bedeutung haben.

Er stellte den Jeep auf Parken. Der Motor tickte und rumpelte. Prentiss sah aus, als schliefe er, und tat wohl auch nicht nur so, denn der Mann schnarchte wie ein Grizzlybär mit einer verkrümmten Nasenscheidewand und wirkte im Moment vollkommen friedlich.

»Lass den Quatsch«, sagte Teig. »Geh rein und hol unseren Guide. Und guck, ob wir selbst tanken müssen.«

Prentiss schlug die Augen auf und machte ein bemitleidenswertes Gesicht. »Es ist furchtbar kalt da draußen.«

»Ich muss den Motor am Laufen halten. Außerdem wissen wir doch beide, dass du pissen musst. Du musst immer pissen.«

Mit einem schweren Seufzer stieß Prentiss seine Tür auf. Die Kälte schwappte plötzlich und brutal herein. »Du weißt, dass ich keine neuen Leute mag, Teig. Deshalb bist du der Produzent und ich der Mann hinter der Kamera. Du wolltest doch sowieso, dass ich das Steuer übernehme, also mach ich das jetzt. Du kannst dich um unsere Begegnungen mit den Einheimischen kümmern.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, hievte sich Prentiss aus dem Jeep und klappte die Tür zu. Er marschierte im Scheinwerferlicht nach vorn, wobei die eisige Luft seine Silhouette in ein seltsames Licht tauchte. Das Letzte hatte er in seiner typisch griesgrämigen Gutmütigkeit gesagt, doch Teig wusste, dass er es ernst meinte. Um ein guter Freund zu sein, brauchte man bestimmte Eigenschaften, wie vor allem Loyalität, eine gemeinsame Philosophie und Opferbereitschaft. Teig hatte jedoch mit den Jahren herausgefunden, dass die beste Eigenschaft eines Freundes darin bestand zu wissen, wann man reden und wann man schweigen sollte. In dieser Hinsicht versagte Teig häufiger, aber er gab sich Mühe, was auch etwas wert war.

Er trat leicht aufs Gas, horchte auf das Aufheulen des Motors und stieg dann aus, damit sich Prentiss auf den Fahrersitz werfen konnte.

Prentiss grinste ihn verschmitzt an. »Wenn sie Snacks verkaufen, bring welche mit.«

Teig lachte bellend los. »Guck dir diesen Ort an. Hier sieht’s aus, als wär die Zombie-Apokalypse schon durch. Ich bezweifle, dass sie deine heiß geliebten Flamin’ Hot Cheetos haben.«

»Wenn sie irgendetwas haben, das an einen Cheeto bloß rankommt, bin ich schon glücklich. Wer bettelt, darf nicht wählerisch sein.«

Teig trottete zum Bunker und betrachtete stirnrunzelnd die Graffiti. Das einzige Fenster war von jahrzehntealtem Dreck verkrustet. Jemand hatte mit dem Finger auf Englisch OPEN hineingeritzt und Teig fragte sich, ob das für ihn bestimmt war.

Er schob sich durch die Tür und trat in eine beißende Wolke aus Tabakqualm. Die meisten Deckenlampen waren ausgebrannt, aber vier Glühbirnen spendeten immerhin genug Licht, um die beiden Menschen in dem quadratischen Raum zu sehen. Eine korpulente Frau in einer Strickhose und einem dicken, fleckigen Pullover lümmelte in einem lilafarbenen Plüschsessel und streichelte das glatte Fell eines Russischen Spaniels. Der Hund schnüffelte in Teigs Richtung und schaute dann weg, elegant und unnahbar wie ein Prinz, der ausgesetzt worden war und nun unter Bauern leben musste. Die Frau, die eine stinkende Orient-Zigarette paffte, hob eine Augenbraue in seine Richtung und wandte sich dann an ihren menschlichen Begleiter.

»Das muss dein Amerikaner sein«, sagte sie in verstümmeltem Englisch und grinste, als würde sie ihre Verachtung für Teig allein durch das Sprechen seiner Muttersprache zeigen, als ob sie wüsste, dass er den Gefallen nicht erwidern konnte, und ihn daran erinnern wollte. Sie hatte recht.

Der angesprochene Mann saß auf einem Hocker hinter einem kleinen Tresen, der unter der Last der Kasse durchhing. In einem Regal hinter ihm standen verschiedene Tüten mit Chips und anderen Snacks, aber es hätte sich genauso gut auch um getrockneten, gehobelten Fisch oder Nachos handeln können. Kein einziger Cheeto in Sicht. Das unterste Regal war mit Coca-Cola-Dosen befüllt. Prentiss würde sich freuen.

»Sie sind spät dran, Mr. Teigland«, sagte der Mann hinter dem Tresen.

»Ein Grund mehr, warum ich einen Guide brauche. Ich nehme an, du bist Kaskil?«

Der Guide neigte den Kopf in einer Art Verbeugung, rutschte vom Hocker und trat hinter dem Tresen hervor. Teig hatte sich schon per E-Mail mit ihm verständigt und einmal über Zoom mit ihm gesprochen, aber hier wirkte er völlig fehl am Platz. Kaskils dicke Rentierstiefel waren alt und abgewetzt und hatten schon viele Jahre auf dem Buckel, sein schwerer, rot leuchtender Pullover allerdings war brandneu. Auch seine Hose sah nigelnagelneu aus und sein Mantel wie sein langer dicker Schal, nach denen er griff, wirkten nicht nur wie frisch von der Stange, sondern sogar elegant. An der Kolyma-Straße gab es keine Boutiquen oder Kaufhäuser, aber Kaskil kleidete sich wie ein Mann mit Geld und Geschmack. Er war groß und schlank und hatte seine Haare und seinen Schnurrbart so gestutzt, dass er wie ein Hollywood-Schauspieler aus den Vierzigerjahren aussah – oder zumindest so ausgesehen hätte, wäre da nicht die schwarze Spinne auf seinem Hals gewesen, die so aussah, als würde sie nach unten krabbeln. Teig wusste, dass die Tätowierung etwas bedeutete, vielleicht mit kriminellen Machenschaften oder sogar dem Gefängnis zu tun hatte.

Kaskil bemerkte seinen Blick. »Du hast eine Frage?«

»Ich hab jede Menge Fragen, aber nicht die, an die du denkst.«

Der Guide nickte einmal. »Wir kommen bestimmt gut miteinander aus.« Kaskil machte eine Geste in Richtung Tür. »Ich nehme an, du brauchst Benzin.«

»Und ein Klo«, sagte Teig. »Und ein paar von diesen Snacks für meinen Kameramann.«

Kaskil rasselte der großen Frau Anweisungen in einer anderen Sprache als Russisch entgegen – Teig vermutete Jakutisch –, nahm ihr dann die Orient-Zigarette aus den Fingern und führte sie an seine Lippen. Er inhalierte tief und gab sie der Frau zurück, woraufhin diese aufstand, ihn auf die Wange küsste und hinter dem Tresen ein paar Snacks einpackte.

Teig blinzelte überrascht.

Kaskil lächelte. »Meine Großmutter.« Er zog den Reißverschluss seines Mantels zu und wickelte sich den Schal um den Hals, sodass die Spinne verschwand. »Komm mit. Ich fülle deinen Tank auf und zeige dir, wo du die Toilette findest. Dann bringe ich dich an den kältesten Ort der Welt.«

Eine Stunde später wirkte Kaskil weniger freundlich als noch an der Tankstelle. Prentiss, der jetzt am Lenkrad saß, hatte ihm verboten, seine stinkenden braunen Zigaretten im Jeep zu rauchen. Teig war das zwar egal, aber da er sich in ein, zwei Tagen zumindest vorübergehend von Kaskil verabschieden würde und mit Prentiss noch viele Jahre zusammenarbeiten wollte, wusste er, auf wessen Seite er stand.

Über die Boxen ließ Prentiss die Dead Kennedys laufen. Er hatte die Lautstärke niedrig eingestellt, was leider dazu führte, dass die Musik zu einem tiefen, hämmernden Dröhnen wurde, eine Strafe für den Kopf. Kaskil auf dem Rücksitz seufzte dramatisch. Teig unterdrückte ein Lachen. Der Guide pfiff wohl darauf, ein guter Begleiter zu sein, solange Prentiss ihn nicht umbrachte.

»Das war wegen mir, oder nicht?«, sagte Prentiss und drehte sich um, um Teig stechend anzusehen.

»Wär möglich. Du bringst die Leute leicht auf die Palme.«

»Fick dich, Felix.«

Auf dem Rücksitz murmelte Kaskil etwas in seiner eigenen Sprache, aber es verschmolz mit dem leisen Hämmern der Musik.

Prentiss schoss einen flammenden Blick in den Rückspiegel. »Wenn du mal anhalten willst, um eine Zigarettenpause zu machen, sag Bescheid, dann fahr ich rechts ran.«

Kaskil bleckte seine Zähne, Teig bezweifelte allerdings, dass irgendjemand diesen Blick als Lächeln gedeutet hätte. Im grauen Licht des Autos saß er wie in einer Blase aus Möglichkeiten – man sah ihm an, dass er zwischen Aggression und Heiterkeit schwankte. Teig musste an seinen Onkel Frank denken, der für ihn als Kind immer einen unaufgeforderten Ratschlag parat hatte. »Was immer die Leute dir geben, gib es ihnen zehnfach zurück«, sagte er. »Sei immer bereit, die Latte noch höher zu legen. Wenn jemand nett zu dir ist, nimm dir vor, ihm den Tag zu verschönern, ihn zum Lachen zu bringen oder ihm auf die Schulter zu klopfen. Wenn dir aber jemand Ärger macht oder Streit sucht, machst du ihm die Hölle heiß. So oder so, sei bereit, jeden Tag.«

Die Energie, die von Kaskil ausging, erinnerte Teig an das, was er als »Onkel-Frank-Energie« bezeichnete. Hätte Teig es nicht besser gewusst, er hätte gedacht, Kaskil wäre sein verloren geglaubter Cousin.

Im Schatten des Rücksitzes rührte sich ihr Guide jetzt leise.

»Mr. Teigland«, sagte Kaskil, »dein Freund ist weniger charmant, als er denkt.«

Prentiss schnaubte vergnügt. »Keine Sorge, Kumpel, ich weiß genau, wie wenig Charme ich habe. Stört mich nicht.«

Teig drehte sich um und lächelte Kaskil an. »Tja, da sagt er die reine Wahrheit. Wenn du auf dieser Reise Charme suchst, bin ich leider das Beste, was du dir erhoffen kannst.«

»Ich lebe in Achust, mein Freund. Charme ist da Mangelware.«

Teig blinzelte überrascht. »Warte, du wohnst in Achust?«

»Meine Familie sind Rentierhirten. Ich bin damit aufgewachsen, mich um die Tiere zu kümmern.«

»Du siehst nicht aus wie ein Rentierhirte«, bemerkte Prentiss.

Kaskil lachte leise und die Anspannung verschwand. »Ich schätze, das stimmt. Ich bin hierhin und dorthin gereist, aber jetzt bin ich wieder zu Hause und bleibe hier.«

»Und jetzt hütest du Touristen«, sagte Teig.

»Rentiere sind einfacher«, antwortete Kaskil. »Wir haben nicht viele Touristen, die wenigen wollen allerdings jemanden haben, der sie führt. Es kommen neugierige Leute, Abenteurer, die erkunden und lernen wollen. Meistens natürlich im Sommer. Dann ist das Land manchmal schlammig und hässlich, aber wenigstens versucht es nicht, einen umzubringen.«

»Und wenn keine Touristen da sind?«, fragte Teig.

Kaskil lächelte. »Ah, na ja … die Rentiere sind wenigstens charmanter als Mr. Prentiss.«

Darüber lachte sogar Prentiss, doch Teig befasste sich immer noch mit Kaskil. Die niedrigste je in Achust gemessene Temperatur lag bei unter minus siebzig Grad. Es war ihm noch nicht gelungen, seine Vorurteile über die Menschen an der Kolyma-Straße zu überwinden. Kaskil war nicht das, was er sich vorgestellt hatte, obwohl die Großmutter des Mannes die Rolle gut ausfüllte.

»Wir wollen dich vor der Kamera interviewen«, sagte Teig. »Und deine Familie auch.«

Kaskil schien das gar nicht zu hören. Prentiss fuhr durch eine Reihe tiefer Schlaglöcher, was alle drei in ihren Sitzen durchschüttelte, aber Kaskil blinzelte nicht einmal. Teig schaute hinaus, um herauszufinden, was ihn so in seinen Bann gezogen hatte, und sah fünfzehn Meter von der Straße entfernt eine mit Stacheldraht umzäunte Betonmauer. Dahinter lagen die Dächer von Industriegebäuden, die von der jahrzehntelangen Sommersonne weiß gebleicht waren und fast mit den schneebedeckten Bergen im Hintergrund verschmolzen. Es waren hässliche Kästen mit langen Reihen kleiner Fenster und Teig spürte, wie sich Übelkeit in ihm ausbreitete, denn ihm wurde gerade klar, dass er auf einen Gulag blickte.

Die drei Männer fuhren schweigend weiter und das verlassene Gefangenenlager verschwand aus ihrem Blickfeld. Der Jeep rumpelte weiter über tiefe Spurrillen und Teig stellte sich unter den Reifen Knochen vor. Menschliche Schädel. Einige von ihnen waren vielleicht Mitglieder von Kaskils Familie vor ein paar Generationen. Eigentlich war es noch gar nicht so lange her.

Ein paar Kilometer weiter kamen sie an einer verlassenen Kirche auf der anderen Straßenseite vorbei. Die Hälfte ihrer Fassade war eingefallen und bildete einen Steinhaufen, den nur die Leitplanke davon abhielt, auf die Fahrbahn zu stürzen. Er fragte sich, ob die Kirche gebaut worden war, damit die Zwangsarbeiter um Erlösung von ihrem Leid oder ihre Vorgesetzten um Vergebung beten konnten.

Teig warf einen Blick auf den Rücksitz. Die Trübsal außerhalb der Fenster schien in den Jeep eingedrungen zu sein, die Schatten hatten sich vertieft. Nur der Schal ihres Guides wirkte in der Dunkelheit hell.

»Glaubst du, es gab Beerdigungen für die Arbeiter, die auf der Straße gestorben sind?«

Kaskils Augen leuchteten in der Finsternis. Sie funkelten. »Die Gefangenen hätten ihrer Toten gedacht. Sie hätten Gebete gesprochen oder zumindest Gedenkfeiern abgehalten.«

Er klang eher hoffnungsvoll als sicher, so als könnte er sich nichts anderes vorstellen.

Prentiss lehnte sich gegen die Scheibe und lugte auf die Straße unter den Rädern. Der Jeep schwankte ein wenig, dann packte er das Lenkrad etwas fester und richtete die Räder gerade.

»Ich hasse es, an all diese Menschen zu denken, die einfach unter die Straße geschaufelt wurden«, sagte der große Mann. »Das hier ist nicht gerade heiliger Boden.«

Teig kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu verdrehen. Wegen seiner religiösen Erziehung hatte Prentiss eine abergläubische Seite, die aber nicht oft zum Vorschein kam. So schrecklich dieser Ort auch sein mochte, Teig scherte sich nicht darum, ob die Toten auf heiligem Boden begraben worden waren. Er hatte schon genug Orte besucht, an denen es angeblich gespukt hatte, um zu wissen, dass es keine Gespenster gab. Das Leben derer, die hier gestorben waren, war schon schrecklich genug gewesen, als dass noch ein Leben nach dem Tod dazukommen musste. Aber es würde sich hervorragend für eine gruselige Fernsehsendung eignen.

»Tatsächlich ist ein Teil der Straße gesegnet«, sagte Kaskil. »Wenn man den Geschichten glauben darf.«

Teig wurde hellhörig. »Was für Geschichten?«

Kaskil, der bis dahin noch hinten in der Dunkelheit gesessen hatte, drehte sich nun um und schaute aus dem Fenster. »Du musst dich doch wenigstens ein bisschen informiert haben, bevor du hergekommen bist. Hier draußen gab es immer schon Geistergeschichten, aber seit einigen Jahren macht die Sage von Ludmillas Geist die Runde. Sie soll die Straße abwandern und für die Verstorbenen Gebete sprechen, in der Hoffnung, dass deren Geister durch diese Segnungen ihren Frieden finden. Du wirst Ludmilla sicher eine Folge deiner Sendung widmen wollen.«

Trotz der warmen Luft aus dem Gebläse der Heizung fröstelte Teig. Er glaubte nicht daran, wollte es aber. Der kleine Funke in ihm, die Hoffnung, Olivia eines Tages wiederzusehen, glühte immer noch. Teig sah, wie Prentiss sich hinter dem Lenkrad anspannte, und er konnte nicht leugnen, dass ihm kälter wurde und sich seine Nackenhärchen sträubten.

»Willst du damit sagen, dass du diese Geschichte glaubst? Du glaubst an diesen Geist?«

Kaskil beugte sich vor. Die Beleuchtung des Armaturenbretts warf einen blauen Schimmer auf seine Züge, als er lächelte. »An sie glauben? Ich habe sie gesehen, mein Freund. Es würde mich nicht wundern, wenn du sie auch siehst.«