Roadtrip mit Gott - Mira Ungewitter - E-Book

Roadtrip mit Gott E-Book

Mira Ungewitter

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Beschreibung

Mitten im Nirgendwo, irgendwo als Backpackerin in Honduras, tausende Kilometer von ihrem Zuhause und dem alten Leben weg, überlegt Mira Ungewitter das erste Mal ernsthaft, was sie mit ihrem Leben anstellen will. Sie will mehr als nur ein bisschen Konvention, Durchschnitt und Alltagstrott. Schluss mit einem Leben, das einengt, Kreativität nimmt, alles grau und langweilig sein lässt. Sie liebt Festivals und Parties und entscheidet sich, Eventmanagerin zu werden. Doch etwas fehlt. Wofür sie wirklich brennt, ist Beten, Feiern und Lieben, Bibel und Kirche, neu und aufregend erlebt. Und Mira beschließt: Ich werde Pastorin. Heute rüttelt sie an alten Klischees, ruft den Menschen zu: "Lasst doch den kleinkarierten Regel-Jesus sein!" In ihrem Buch erzählt sie von diesem Glauben, der Abenteuer ist, das sie immer wieder neu herausfordert, an ihre Grenzen bringt, aber auch vor Freude sprachlos macht. Sie nimmt mit in dieses Abenteuer und wie alles begann: Wie Zweifel und die Angst zu scheitern ihre Schulzeit auf einem katholischen Mädchengymnasium prägten, wie sie in Honduras ihre Leben ändert und wie sie heute ihren Glauben leidenschaftlich lebt – ob als surfende Pastorin am Strand, als Barkeeperin in ihrer Pop-up-Bar oder beim spontanen Picknick mit Freunden aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen. Ihre Botschaft ist klar: Glaube ist Freiheit und jeden Tag ein Abenteuer! "Pastorin. Feministin. Und Surfergirl!" (WOMAN) "Die junge Theologin widerspricht allen Erwartungen an eine fromme Bibel-Jüngerin." (ZEIT)

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Kathrinschroeder

Nicht schlecht

Mira Ungewitter "Roadtrip mit Gott" gelesen dank Netgalley im März 2020 Mira Ungewitter wächst heran, geht zur Schule, reist gern und findet auf dem Weg die Arbeit als Pastorin als idealen Lebensweg. Mira Ungewitter ist mir im Buch als eine positive und gewinnende Person begegnet, die einen tiefen und mir sehr angenehmen Glauben lebt und eine interessante Gemeinde mit ihrer Arbeit belebt. Doch eine Rezension dreht sich nicht um die Autorin oder die Sympathie zur Protagonistin. So sehr mir diese gefällt, so wenig hat mir das Buch gefallen. Die Geschichte wird sehr unstrukturiert erzählt, springt aus der Jetztzeit in die Erzählzeit, von einem Gedanken zum nächsten und nur wenige werden ausformuliert. Schön wenn Frau Ungewitter zahlreiche Bekannte nennt, diese aber sofort aus meiner Erinnerung verschwinden, weil die Begebenheit zu kurz anerzählt wird. Da mir die Person gefällt und ich manche der Geschichten bei einem Früchtetee im persönlichen Gespräch hätte genießen können, habe ich ...
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Mira Ungewitter

Roadtrip mit Gott

Leben ist Freiheit und jeden Tag ein Abenteuer

Meinen Eltern

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,

vollständige durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016

Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart, Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Network! Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: Valere Schramm

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book 978-3-451-81802-8

ISBN Print 978-3-451-38366-3

Inhalt

Kapitel 1neugierig und frei

Kapitel 2scheiternd und frei

Kapitel 3wagemutig und frei

Kapitel 4lernend und frei

Kapitel 5gemeinsam und frei

Kapitel 6verletzlich und frei

Kapitel 7feiernd und frei

Kapitel 8gelassen und frei

Kapitel 9mutig und frei

Bildteil

Danke

Über die Autorin

Auf Dein Wort hin das Unmögliche wagen

Kapitel 1 neugierig und frei

»Ich kann das alleine!«

Gesagt, getan. Ich nehme einen halben Schritt Anlauf und springe einfach drauflos. Eine Sekunde später durchzieht mich ein brennender Schmerz. Ich lande auf dem gegenüberliegenden Felsen. Allerdings nicht auf meinen Füßen, sondern auf meinem Brustkorb. Der Stein im Meer ist rau und messerscharf. Mir wird ein bisschen schwindelig. Mein Vater, dessen ausgetreckte Hand ich gerade noch selbstsicher ignoriert habe, hebt mich sofort auf. Direkt unter meinem Hals zieht sich ein tiefer, langer Schnitt inmitten einer handtellergroßen Schürfwunde. Keine Ahnung, wem es in dieser Sekunde schlechter geht. Ich vermute aber meinem Vater. Er nimmt mich auf den Arm und sprintet über die schroffen Felsen in Richtung Ferienwohnung.

Trotz dieses schmerzhaften Frontalsturzes liebe ich diesen Ort noch heute. Eine große Felsformation, die eine kleine Bucht abschließt, übersät von vielen Felsbrocken, die je nach Gezeiten höher oder tiefer aus dem Wasser ragen. Ein fantastischer Ort, nicht nur um sich saumäßig weh zu tun, sondern auch um begeistert wundersame Unterwasserwelten zu entdecken.

Je nach Wasserstand bilden sich kleine Becken an unterschiedlichen Stellen. Kleine Fische und noch kleinere Babyfische, die im Sonnenlicht regenbogenfarben schillern. Muscheln und Taschenkrebswohnungen, die langsam über den Grund wandern. Schwarze Seeigel, die man vorsichtig vom Steinrand lösen und umdrehen kann und die dann aussehen wie eine Mischung aus lila Saugnapf und Alien. Grüne Algen, kleine Korallen, rote Schwämme und verborgene Höhlen, aus denen Krebsscheren hervorschauen. Mit ganz viel Glück bekommt man auch einen Tintenfisch zu Gesicht. Als Kind konnte ich dort Stunden verbringen. Erst zusammen mit meinem Vater, später allein. Balancieren, klettern, von Stein zu Stein springen. Immer mit Eimer und Kescher bewaffnet, um eine eigene kleine Wasserwelt zu erschaffen.

Unsere Fahrt nach Spanien dauerte mindestens zwölf Stunden. Also so lang, wie 24-mal die Sesamstraße gucken. Eine Zeiteinheit, die ich mit meinen fünf Jahren zwar halbwegs verstand, die allerdings keine Begeisterungsstürme hervorrief. Das bedeutete 1990 kein Sesamstraße-streamen. Kein IPod. Von Smartphones ganz zu schweigen und bis zu meinem ersten Walkman sollten noch einige Jahre vergehen. Sämtliche Touren in dunkelblauen Kombis, ohne Klimaanlage und ohne Navi. Meine Eltern navigierten sich mit der Landkarte durch Frankreich. Obendrein vollgepackt, als ob wir auswandern wollten. Allerdings nicht nach Spanien, sondern eher nach Sibirien. Meine Mutter und ich wollten nämlich trotz 30 Grad Außentemperatur und Protesten meines Vaters nicht auf unser Federbettzeug verzichten. Die »kleine Zudecke«, rotkariert mit einem Elefanten drauf, musste mit. Nicht zu vergessen meine zehn liebsten Kuscheltiere. Federbett statt Schlafsack, eine Angewohnheit, die ich heute noch bei Roadtrips habe. Es gibt kaum etwas Gemütlicheres als im Bus zu liegen und sich in ein paar Kissen zu kuscheln, während der Regen aufs Dach trommelt. Dazu der Laptop auf dem Bauch. Ein klarer Fall für »Herr der Ringe. Die Gefährten«. Extended Version.

Das Maximum meines Kinderentertainments waren Bilderbücher und Kinderhörspielkassetten. Von meinen Kassetten favorisierte ich zu diesem Zeitpunkt zwei: eine mit klassischen Märchen der Gebrüder Grimm und eine Kinderkassette mit biblischen Geschichten und Kinderchorliedern. Da ich Schlaf in diesem Alter für Zeitverschwendung hielt, wechselten sich die ersten acht Stunden der Fahrt Schneewittchen und Jesus miteinander ab. Schneewittchen, die sieben kleine Männer, eine böse Stiefmutter und am Ende einen Schönling händeln musste, und das alles nur mit einem Apfel im Bauch. Und Jesus, der gute Hirte, der 99 Schafe zurückließ, um das eine ausgebüxte Schäfchen zu retten, das sich in den Dornen verletzt hatte. Und der das Schäfchen rettete, ohne zu schimpfen! Im Gegenteil, seine Freude über das Schäfchen war riesig groß. Als es wieder da war, feierte er sogar ein Fest. Nach der kindlichen Gleichnis-Erzählung gab der Wetzlarer Kückenchor das Lied vom »Kleinen, wilden Schäfchen« zum Besten: »Wer ist denn dieses Schäfchen? / Das Schäfchen bin ich! / Der Hirte ist Jesus, / der sucht dich und mich.«

Heute frage ich mich gelegentlich, wie mein damals agnostischer Vater diese »heilige« Dauerbeschallung ertragen hat. Zumal »der Mama«, wie ich meinen Papa damals gerne nannte, als Hausmann eine Menge Zeit mit mir verbrachte. Meine Eltern hatten damals mehr aus pragmatischen Gründen als aus reiner Überzeugung die »Rollen getauscht«: Mein Vater hatte Sport und Germanistik in Köln studiert. Sein Ziel war es gewesen, Lehrer zu werden und möglichst viel Volleyball spielen zu können.

Es ist meiner Mutter hoch anzurechnen, dass sie sogar ihre Hochzeit um ein Volleyballturnier legten. Erst Standesamt, danach das Turnier und im Anschluss die Hochzeitsfeier.

Die gelassene Stärke meiner Mutter war damals schon legendär. Als kaufmännische Angestellte bekam sie einen lukrativeren Job im Personalwesen bei einem großen Verlag. Es war ihrer harten Arbeit in einer reinen Männerdomäne zu verdanken, dass wir uns diesen teuren Urlaub überhaupt leisten konnten. Diese Freiheit war hart erkämpft.

Als sie 1985 drei Monate nach Berufsantritt schwanger wurde, nahm sie das Minimum der ihr zustehenden Schutzzeiten in Anspruch und mein Vater blieb zu Hause.

Windeln wechseln, später Brote schmieren, Zöpfe flechten und heimlich hinter mir hergehen, um auf mich aufzupassen, wenn ich erklärte, ich könne alleine in den Kindergarten gehen. Was ich dann auch tat. Mein Drang nach Freiheit war schon als Kindergartenkind groß.

Der erste Halt kurz vor dem lang ersehnten Strand war aber einer der riesigen mediterranen Supermärkte. Auch wenn meine Trips heute meist eher an den Atlantik und seltener ans Mittelmeer gehen, liebe ich das Einkaufen auf Reisen noch immer. Die fremden Gerüche, die Auswahl an Meeresfrüchten und die endlosen Regale der Weinabteilung. Eine Handvoll Scampis, Knoblauch, Ziegenkäse, ein paar Tomaten und Baguette. Dazu Rosé und ein großer Karton mit den kleinen grünen Kronenbourger-Fläschchen – Bier für die Menschen, die einem noch unbekannt waren, aber in denen man in der kommenden Zeit begegnen würde. Das kölsche »Drink doch ene met«, egal ob wir uns kennen oder nicht, ist Teil meiner DNA.

Nicht direkt ans Meer, sondern erst mal einkaufen. Meine Freude darüber hielt sich mit fünf Jahren in Grenzen. Was meine Laune allerdings sofort verbesserte, war die Aussicht auf die Spielzeugabteilung. Ein roter Eimer mit gelbem Griff, bunte Förmchen, eine Gießkanne und eine kleine blaue Schaufel. Zusätzlich eine große Schippe, für Standlöcher und Sandburgen. Das Aufregendste war der Kescher mit dem feinmaschigen grünen Netz. Sandspielzeug bekam ich auch zu Hause. Aber einen Kescher, mit dem man stundenlang neugierig nach Algen, Muscheln und Treibholz fischen konnte – den gab es nur in Spanien.

Ein weiteres Highlight war der Streifzug durch die Süßwarenabteilung: dicke schokoglasierte Donuts, erstaunlich bunte Gummibärchen und Fanta Zitrone. Kurz gesagt, alles, wofür mein Vater, der mittlerweile als Waldkindergärtner arbeitet, heute wahrscheinlich ein Disziplinargespräch führen müsste.

Meine Ausbeute war diesmal besonders groß, denn meine Oma war dabei. Was meinen Eltern dann doch zu viel des Guten war, erlaubte Oma. Auch wenn Oma Ruths Laune etwas gedämpft war. Sie hatte sich beim Einsteigen vor der Abfahrt in Köln den Kopf ziemlich heftig an der Heckklappe gestoßen. Ihrer Auffassung nach war dies die Strafe Gottes dafür, dass sie sich einen Urlaub im Ausland gönnte – ihren ersten Auslandsurlaub nach 25 Jahren. Ihre Frömmigkeit stammte aus einer anderen Zeit, zu der einige weitere merkwürdige religiöse Überzeugungen gehörten. Sie war zum Beispiel fest davon überzeugt, dass Kartenspiele Teufelszeug sind. Meiner Leidenschaft für Mau-Mau konnte das allerdings nicht viel anhaben.

Meine Oma stammte aus einer baptistischen Bauernfamilie aus Ostpreußen. Ihre Vorstellungen von einem strafenden Gott und die düsteren Warnungen vor so ziemlich allem Neuem konnten sehr furchteinflößend sein. Aber ihr unerschütterlicher Glaube an den »Vater im Himmel« hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck.

Ihr Glaube spiegelte sich auch in ihrer grenzenlosen Großzügigkeit wider. Oma war sogar mit ihrer Schwester Edith zusammengezogen, um Miete zu sparen und das Geld in der Familie zu verteilen.

In Spanien teilte ich mir mit Oma ein Zimmer. Nicht zuletzt um möglichst lange wach bleiben zu können, wollte ich »Geschichten von Früher« hören. Meine Oma erzählte dann von dem bösen Hahn auf dem Bauernhof, auf dem sie aufwuchs, und von einer Zeit, als die Teilchen beim Bäcker fünf Pfennig kosteten. Eine ungeheure Vorstellung, wie viele Puddingteilchen man für eine D-Mark bekommen hätte?!

Ohne Teilchen für fünf Pfennig, aber definitiv mit ausreichend raffiniertem Zucker versorgt, ging die Fahrt endlich weiter Richtung Küste. Dann kam der Moment, an dem ich durch das offene Autofenster das erste Mal das tiefblaue Meer sehen konnte und es anfing, nach Urlaub zu riechen. Vorbei an dem weißen Leuchtturm und der alten Burgruine. Links und rechts weiße Ferienhäuser, an denen sich leuchtende lila Blumenmeere hochrankten, umgeben von Zedern und Zypressen. Nach einer weiteren Kurve tauchte die erste kleine Bucht auf. Auch ein hübscher Ort, aber die befahrene Straße führt direkt am Strand vorbei. In »meiner Bucht« gibt es keine Straße. Die Autos müssen weit oberhalb parken. Unser Apartment lag direkt am Strand. Zwischen dem Sand und der Terrasse lagen drei Meter Steinweg. Vom Bett zum Meer lief man in zwanzig Sekunden.

Endlich angekommen. Ich platze fast vor Aufregung. Ich wollte nur noch ins Wasser. Mein Papa suchte seine Badehose und wollte eigentlich zuerst auspacken. Ich flippte fast aus. Aber dann durfte ich loslaufen. Auch wenn das Meer kalt war, war vorsichtiges Reingehen keine Option. Laufen und Springen. Ich wäre am liebsten gar nicht mehr aus dem Wasser rausgekommen. Ich würde in den kommenden Wochen noch häufig schrumpelige Finger und blaue Lippen bekommen. Und mein schier endlos geduldiger Papa würde auch hier einen Großteil der Zeit mit mir und meinen endlosen Freizeitgestaltungsvorschlägen verbringen: »Papa – Burg bauen!«, »Papa – Wasser!«, »Papa – Toben!«, »Papa –Eis!«, »Papa – Felsen!«.

Der Urlaub hatte offiziell begonnen und ich war neugierig auf alles, was in den aufregendsten Wochen des Jahres passieren sollte.

Ob jetzt nicht erst mal ein Krankenhausaufenthalt ansteht, war sicherlich eine der Fragen, die meinem Vater durch den Kopf schossen, als er mich mit offener Wunde weiter über den Küstenpfad zum Apartment trug. Beim Blick über seine Schulter sah ich meine zurückgelassene Abenteuerausrüstung. Den roten Eimer mit dem gelben Griff, daneben der Kescher. Im Eimer ein paar Minifische und ein Krebs.

»Papa, meine Sachen!«, rief ich blutend und heulend.

»Die sind jetzt egal.«

Allerdings machte ich mir nicht nur Sorgen, dass jemand meine Ausrüstung stehlen könnte. Ich hatte vor allem Angst um die Meeresbewohner, da ich normalerweise den Eimer mitnahm, meiner Mutter und meiner Oma zeigte und danach die Expedition wiederholte, um alle Tierchen wieder zurückzubringen. Ich wollte schließlich nicht, dass irgendein Fischlein seine Eltern nicht mehr fand.

Im Apartment angekommen, spielten vermeintliche Sorgen von Fischeltern keine Rolle, dafür aber die Sorgen der Eltern der kleinen Mira. Krankenhaus, ja oder nein? Oder vielleicht zumindest zu einer Ärztin? Muss die Wunde genäht werden?

Auf der eine Seite mein verweinter Papa, der im Zweifel auf Nummer sicher gehen wollte. Auf der anderen Seite meine Mutter, die ganz die Ruhe bewahrte. Und entschied, dass eine Runde Schlaf als Erste-Hilfe-Maßnahme ausreichen würde. Bis heute hält meine Mutter Schlaf und das Tragen eines Unterhemdes für ein patentes Allheilmittel.

Ein Unterhemd war nicht nötig. Aber Trost. Trost sowohl für mich als auch für meinen Papa. So lag ich in dem kühlen, spartanisch eingerichteten Apartment auf dem weißen Sofa. Den Kopf auf dem Schoß meiner Mutter, die über meine verschwitzen blonden Haare streichelte und sang:

Wie ein Strom von oben aus der Herrlichkeitfließt der Friede Gottes durch das Land der Zeit.Tiefer, reicher, klarer strömt er Tag und Nachtmit unwiderstehlich wunderbarer Macht.Friede meines Gottes, stille, tiefe Ruh’,alle meine Sorgen, alles deckst Du zu.

Irgendwann schlief ich ein.

Singen und beten, bevor ich ins Bett musste, das tat meine Mutter auch zu Hause. Egal, wie lang ihr Arbeitstag war, zumal mein Vater mindestens drei Abende die Woche Volleyball spielte. »So, Zeit zum Zähneputzen«, war für mich wie eine Kampfansage. Ab jetzt hieß es das Unvermeidliche möglichst weit hinausziehen. Nachdem alle Kunstpausen ausgereizt waren, bestand ich zumindest noch auf Beten und Singen. »Händchen falten, Äugelein zu und ein Lied noch, Mama. Nur eins noch!«

Meine Mutter ist nach wie vor eine wandelnde Jukebox mit einem Repertoire von Kirchenchorälen bis hin zu schmutzigen Gassenhauern. Eine tiefgläubige Frau, die sich in ihrer Jugend bereits gegen kirchliche Moralitäten und »Das war schon immer so«-Argumente aufgelehnt hat. Eine Beziehung zu Gott zu haben, bedeutete für sie nicht automatisch auch jedes kirchliche oder religiöse System zu befürworten. Im Gegenteil. Nicht zuletzt waren auch ihre Hochzeit mit einem Sportstudenten, der Agnostiker war und für den es keine Rolle spielte, ob es einen Gott gibt oder nicht, sowie ihre Entscheidung, als junge Mutter voll berufstätig zu sein, eine Absage an das klassische fromme Familienbild.

Auch der Heiratsantrag fiel eher unkonventionell aus. Nachdem meine Eltern einige Jahre zusammen waren und sich eines Abends auf der Couch die Kinderfrage stellte, lief es laut Erzählungen ungefähr so ab:

»Wenn wir ein Kind bekommen wollen, dann soll es aber auch Ungewitter mit Nachnamen heißen«, stellte mein Vater fest.

»Ist das jetzt ein Heiratsantrag?«, fragte meine Mutter verwundert zurück.

»Ja.«

»Dann kamst du etwas schneller als gedacht«, wie meine Mutter gern erzählt.

Ich werde häufig gefragt, ob ich religiös erzogen worden sei. Die Frage ist schwer zu beantworten. Natürlich hat mich der Glaube der Frauen aus der Familie beeinflusst. Vor allem die Stärke, die meine Mutter daraus gewann. Zumal ich nicht von dem Automatismus ausgehe, dass eine religiöse Erziehung auch bei den Kindern Glauben hervorbringt. Denn auch der »Nicht-Glaube« meines Vaters hat mich geprägt. Die Labels »gläubig« und »ungläubig« mag ich übrigens eher weniger.

Meine Eltern wollten, dass ich möglichst viele andere Überzeugungen kennenlerne. Auch im Bezug auf meinen Glauben sollte ich eine möglichst freie Entscheidung treffen können. Deshalb meldeten sie mich später auch auf einem katholischen Mädchengymnasium an.

Mein Vater war aus der katholischen Kirche bereits Jahre zuvor ausgetreten und auch die freikirchliche Prägung meiner Mutter hatte nichts mit Papst und Weihrauch zu tun. Aber ich sollte über den eigenen »frommen« Tellerrand schauen.

Auch ob ich zu den sonntäglichen Gottesdiensten in der Baptistengemeinde in Köln mitging, war meine Sache. Aber ich wollte hingehen. Teilweise ging es direkt vom Club in die Kirche. Mit den Tanzschuhen in der Hand und todmüde …

Meinen Vornamen habe ich verstärkt meinem Vater zu verdanken. Zur Auswahl standen Nora, was so viel bedeutet wie die Ehrenhafte. Und Mira, die Wunderbare.

Ich bin nicht mal sicher, ob meinen Eltern die Bedeutung damals klar war. Meine Mutter wurde bereits für den Kaiserschnitt fertig gemacht, mein Vater durfte damals ohnehin nicht in den Kreißsaal. Als ich letztendlich doch noch ohne Eingriff zur Welt kam, waren bereits viele Stunden vergangen. Die Hebamme, ebenfalls eine Edith, teilte daraufhin meiner Mutter mit, dass das Mädchen schnell dem völlig aufgelösten Vater gebracht werden müsse. »Der wird sonst ohnmächtig.«

So bekam meine Mutter eine Mira Edith Ungewitter zurück in die Arme. Der Name Edith, die Kämpferin, tauchte an so vielen Stellen auf, dass dies wohl unvermeidlich war. Es war der Name meiner Großtante, der Name der Hebamme und der Name einer damals bereits verstorbenen guten Freundin meiner Mutter. Allerdings bin ich mir sicher: Wäre meine Mutter nicht einverstanden gewesen, würde ich heute anders heißen.

Obwohl ich ein »Papa-Kind« war, hat die Beziehung zu meiner Mutter eine ganz besondere Tiefe. Ein Spiel von uns war es mich zu fragen:

»Mia, wie groß bist du?«

Ich hob die Hände: »So groß.«

»Und wie stark bist du?«

Ich winkelte die Arme an: »So stark!«

»Und wie heißt du?«

»Mia Witter!«

Trotz oder gerade wegen dieser Nähe und Ähnlichkeit haben meine Mutter und ich aber auch bis heute die stärkeren Reibungspunkte. Was in der Pubertät tränenreiche Kämpfe in H&M-Umkleidekabinen waren, sind heute eher Meinungsverschiedenheiten in theologischen Fragen.

Müde war ich nicht mehr, als ich nach vielen Strophen »Wie ein Strom von oben« und meinem zweistündigen Powernap im Schoß meiner Mutter aufwachte.

Der Schock hatte bei allen nachgelassen. Mein Vater hatte Eimer und Kescher gerettet und die Fischlein in die Freiheit entlassen. Meine Eltern einigten sich darauf, eine Apotheke aufzusuchen, und meine Wunde wurde mit einer Salbe versorgt. Ich wollte sofort wieder schwimmen gehen, obwohl das Salzwasser brannte, aber der Mittagsschlaf hatte mir ohnehin genug Meer-Zeit gestohlen. Zu den Felsen ging es erst wieder am nächsten Tag, aber es gab auch so genug Neues in der Bucht zu entdecken.

In den kommenden dreizehn Jahren war über einen alternativen Urlaubsort nicht zu verhandeln. Weder mit mir noch später mit meinem kleinen Bruder Hagen. Hagen, der wohl beste kleine Bruder der Welt, wurde künftig gerne von mir bis zum Hals eingebuddelt. Auch sonst hatte er unter seiner acht Jahre älteren Schwester zu leiden.

Als mein Bruder seine Expeditionen mit Papa an der Hand zu den Felsen startete, verschoben sich meine Neugier und mein Freiheitsdrang in andere Richtungen. Lange Nächte am Strand mit neuen Freunden. Neue Abenteuer im Lichtkegel von Taschenlampen mit warmem Bier und süßem Pfirsichschnaps. Das erste Mal Knutschen und das erste Mal unter zu viel Pfirsichschnaps leiden. Höchst dramatischer Liebeskummer. Ich weiß nicht, wie viele Gebete ich damals in Zusammenhang mit meinem mehrfach gebrochenen Teenagerherz betete. Dagegen war ein Sturz auf die Felsen im wahrsten Sinne des Wortes ein Kinderspiel.

Vom Sturz am Meer ist mir bis heute eine zarte Narbe geblieben. Sie zieht sich einmal quer über mein Schlüsselbein. Als Kind hatte ich Sorge, die Narbe sei hässlich. Heute liebe ich sie. Ich sehe sie jeden Tag im Spiegel. Mal fällt sie mehr, mal weniger auf. Manchmal denke ich zurück an den Moment auf dem Felsen. Es ist eine meiner frühsten und intensivsten Kindheitserinnerungen: Der selbstbewusste Entschluss zu springen. Der Sturz. Das Gefühl, dass es wirklich etwas Schlimmeres ist und keine normale Beule. Der Blick über die Schulter zu meiner Ausrüstung. Das Getragenwerden, das Singen. Einige Erinnerungen sind deutlicher, andere blasser und sicherlich auch mit späteren Eindrücken vermischt.

Aber stärker als all die Einzelheiten ist mir ein tiefes Gefühl der Unerschrockenheit in Erinnerung geblieben. Einfach machen. Einfach springen. Und letztendlich auch einfach fallen.

»Ich kann das alleine.« An diesem Tag offensichtlich nicht.

Es wäre natürlich kompletter Schwachsinn, wenn ich jetzt sagen würde, ich hätte als Fünfjährige auf einer Felskante meinen Kinderglauben reflektiert. Nach dem Motto: Da ist der gute Hirte beziehungsweise der liebe Gott, mir kann nichts passieren. Was ja auch nicht der Fall war.

Trotzdem glaube ich, dass der Glaube, den ich als Kind hatte, mir viel Selbstvertrauen gab. Manchmal vermisse ich schmerzlich dieses unerschütterliche Gefühl meiner kindlichen Gottesbeziehung.

Natürlich hat sich mein Glaube seitdem verändert. Und ich halte offene Fragen, Zweifel bis hin zum Verzweifeln am Glauben für normal und dringend notwendig. Glauben an oder besser gesagt Vertrauen auf Gottist für mich nichts Statisches. Vertrauen auf Gott ist für mich Bewegung. Vertrauen ist ein Weg, eine Reise. Ein Strom, wie es in dem Lied heißt. Ich traue niemandem, der mir erklärt, er zweifele nie an Gott oder er hadere nie mit biblischen Texten. Ich habe eine Menge Bauchschmerztexte. Texte, die ich schwer zugänglich finde, die mich verstören oder ärgern.

Der Text vom wilden Schäfchen gehört nicht zu meinen Bauchschmerztexten, auch wenn das Bild des guten Hirten zugegebenermaßen etwas romantisiert wird. In der Bibel sind es gerade mal vier Verse. Ungefähr so: Hirte und Schafe. Ein Schaf weg, Hirte sucht. Schaf gefunden, Party mit Nachbarn. Große Freude.

Egal, was passiert. Egal, was ich tue. Da ist jemand, zu dem ich nicht nur zurückkommen kann, sondern auch jemand, der mich sucht, der Interesse daran hat, wie es mir geht. Jemand, der niemals böse auf mich ist. Selbst wenn ich manchmal umgekehrt vielleicht sogar böse auf ihn bin. Was mich fasziniert, ist, dass es in der Geschichte nicht darum geht, wie der Hirte sich um die braven Schafe kümmert, sondern darum, wie er das wilde Schäfchen rettet. Die Neugier des Schäfchens, die Herde zu verlassen, wird an keiner Stelle kritisiert, aber es wird gerettet, wenn es sich verletzt. Die Verletzung ist aus meiner Sicht auch keine Strafe für ein Schäfchen, das zu neugierig war, sie gehört einfach dazu.Stürze aus allen Höhen gehören zum Leben dazu.

Glauben heißt deshalb für mich nicht, Gefahren auszublenden, sondern dass ich mir trotz der Gefahr etwas zutrauen darf. Vertrauen, nicht anstatt der Angst, sondern in der Angst und durch die Angst durch.

Und ich bin der festen Überzeugung, dass Glaube nur in Freiheit entsteht und mit Neugier beginnt. Mit der Neugier, dass da etwas Größeres sein könnte. Etwas Größeres, das mit der gewaltigen Größe des Meeres zu tun hat, aber eben auch mit jedem einzelnen wilden Schäfchen.

Ich glaube, dass Gott mir die Freiheit gibt, ein neugieriges Leben zu führen. Wenn Glaube nicht befreit, wenn er nicht den Wert der Lebensqualität steigert, wenn er nicht mutiger macht, läuft aus meiner Sicht etwas falsch.

Anders als damals meine Oma glaube ich nicht an einen Gott, der die Neugier und die Freude am Leben und der Freiheit mit Beulen am Kopf bestraft. Freiheit und Neugier sind für mich immer mit einem Risiko verbunden, sich zu verletzen. Aber Freiheit heißt für mich nicht automatisch alles allein zu schaffen.

Ich will heute gar nicht alles allein schaffen müssen. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass mein ganzes Leben von vielen Menschen geprägt ist. Menschen, die ich liebe, die mich begleitet und die mir geholfen haben, und Menschen, die mir eine Lehre waren. Von all diesen Menschen habe ich unfassbar viel gelernt.

Und ich bin dankbar, dass ich Gott vertrauen kann, nicht weil ich muss, sondern weil ich will. Nicht aus Angst, sondern aus Mut. Nicht aufgrund von Verboten, sondern aus Freiheit.

Weil ich alleine ganz viel kann, aber nicht muss. Und weil am Ende die Freude und ein Fest stehen.

Kapitel 2 scheiternd und frei

»Mira, du musst Prioritäten setzen.«

Innerlich sage ich mir: Das tue ich doch. Es sind halt nur nicht ihre Prioritäten. Oder die der anderen Lehrerinnen und Lehrer. Ausgerechnet meine Religionslehrerin fühlt sich berufen, ein ernstes Gespräch mit mir zu führen. Ich mag Frau Weite. Sie ist mindestens zwei Köpfe kleiner als ich. Aber sie besitzt eine innere Größe, die ihresgleichen sucht. Wir gehen über den leeren Schulhof, vorbei an den Tischtennisplatten.

»Auf der Lehrerkonferenz wurde diskutiert, ob du die 12. Klasse nicht freiwillig wiederholen willst. Selbst in Religion sind deine Leistungen nicht mehr besonders gut.«

Ich muss trotz des Ernsts der Lage fast lachen: »Unter gar keinen Umständen.«

Wenn ich mir bei einer Sache sicher bin, dann dass eine Ehrenrunde gar nichts bringt. Freiwillig eine Klasse zu wiederholen, ist für mich die absurdeste Vorstellung überhaupt. Abgesehen davon, kenne ich niemanden, der dadurch besser geworden ist. Denjenigen, die sich davor abgemüht haben, fällt es auch in der zweiten Runde nicht leichter. Jährlich nach den Sommerferien sind die anderen »Mangelhaften« zudem erst mal stigmatisiert als die »Neuen«, die innerhalb des Klassengefüges abgeklopft werden. Schwerer haben es nur die Springerinnen, »Streberinnen«, die eine Klasse übersprungen hatten.

Von der 5. Klasse an war ich schlecht in der Schule und ab der 7. Klasse jedes einzelne Jahr bis zum Abitur versetzungsgefährdet. Mit »schlecht« meine ich nicht ab und an eine Vier. Unter meiner Schullaufbahn und somit auch unter einer langen Zeit meines bisherigen Lebens stand das Urteil »mangelhaft«, gelegentlich »ungenügend« und mit viel Arbeit und Wohlwollen »ausreichend plus«. Sieben Jahre lang Sorgenkind. Ich war es gewohnt, die Schülerin zu sein, die ihren Lehrern und Lehrerinnen Ärger, Verzweiflung oder zumindest permanent Sorge bereitete.

Noch heute bin ich gleichermaßen irritiert und fasziniert von Leuten, die mir erzählen, sie hätten nie ein »ungenügend« oder ganze zwei »mangelhaft« in ihrer Schullaufbahn erhalten. Heute frage ich mich, was das für ein Gefühl gewesen sein muss, niemals einen blauen Brief bekommen zu haben. Niemals verheult seine Eltern aus der Schule angerufen zu haben. Niemals ein wimmerndes »Mama, ich habe eine Fünf. Kannst du es Papa sagen?«.

Jedes Jahr bangten meine Eltern und ich wieder um meine Versetzung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wenn es einen Grund für mich gab, mich anzustrengen, war es der Wunsch, in meiner Klasse und bei meinen Freundinnen zu bleiben. Die düsteren Prognosen meiner Lehrer und Eltern waren zwar alles andere als schön. Aber so weit dachte ich als Zwölfjährige noch nicht. Dafür hatte meine Mutter ein sehr genaues Bild vor Augen: »Wenn du so weitermachst, putzt du im Supermarkt die Fleischtheke.« Nicht, dass dies keine ehrenhafte Tätigkeit ist, aber es rangierte nicht unter meinen Traumberufen.

Zumindest dachte meine Mutter über das Abitur hinaus. Meine Lehrer fokussierten sich primär auf das Ende der Schulzeit. »Der Stoff ist wichtig für das Abitur«, lautete ihr Mantra. Rückfragen wie: »Wofür brauche ich Kurvendiskussionen im Leben?«, blieben meist unbeantwortet. Manchmal verwiesen meine Lehrerinnen immerhin auf den Supermarkt: »Ihr habt später im Supermarkt auch nicht immer einen Taschenrechner dabei!« Oh, wie haben sie sich getäuscht.

Um der Fleischtheke zu entkommen und der Klasse erhalten zubleiben, blieb mir nur eine Möglichkeit: mündliche Mitarbeit. Mal mehr, mal weniger qualifizierte Wortbeiträge. Kombiniert mit Referaten, der Klassiker aller verzweifelten Problemschülerinnen. »Wenn ich noch ein Referat halte, bekomme ich dann mündlich noch eine Drei plus?«