Robinsons Tochter - Jane Gardam - E-Book

Robinsons Tochter E-Book

Jane Gardam

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Beschreibung

„In Robinsons Tochter steht alles drin, was ich zu sagen habe.“ (Jane Gardam) Über das Leben einer zutiefst ungewöhnlichen Frau. Einfühlsam, witzig und raffiniert erzählt, wie man es von der Bestseller-Autorin der britischen Trilogie um „Old Filth“ kennt.

England 1904 – Polly, mit sechs Jahren schon eine Pflegefamilien-Veteranin, kommt zu ihren frommen Tanten in das gelbe Haus am Meer. Hier gibt es kaum Unterhaltung, aber es gibt Bücher, und lesend entwickelt sich Polly unbemerkt zu einer stillen, unbeugsamen Rebellin. Ein Buch liest sie immer wieder: "Robinson Crusoe" wird zu ihrem Kompass in jeder Lebenslage. Ihre eigene einsame Insel verlässt Polly Flint nie ganz. Doch am Ende ihres fast ein Jahrhundert umspannenden Lebens wird sie Liebe und Enttäuschung, Depression und rettende Freundschaft kennengelernt und ihre Bestimmung gefunden haben. Ein großer Roman voller hinter gepolsterten Türen verborgener Geheimnisse, so raffiniert und klug, wie nur Jane Gardam sie inszenieren kann.

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Über das Buch

»In Robinsons Tochter steht alles drin, was ich zu sagen habe.« (Jane Gardam) Über das Leben einer zutiefst ungewöhnlichen Frau. Einfühlsam, witzig und raffiniert erzählt, wie man es von der Bestseller-Autorin der britischen Trilogie um »Old Filth« kennt. England 1904 — Polly, mit sechs Jahren schon eine Pflegefamilien-Veteranin, kommt zu ihren frommen Tanten in das gelbe Haus am Meer. Hier gibt es kaum Unterhaltung, aber es gibt Bücher, und lesend entwickelt sich Polly unbemerkt zu einer stillen, unbeugsamen Rebellin. Ein Buch liest sie immer wieder: »Robinson Crusoe« wird zu ihrem Kompass in jeder Lebenslage. Ihre eigene einsame Insel verlässt Polly Flint nie ganz. Doch am Ende ihres fast ein Jahrhundert umspannenden Lebens wird sie Liebe und Enttäuschung, Depression und rettende Freundschaft kennengelernt und ihre Bestimmung gefunden haben. Ein großer Roman voller hinter gepolsterten Türen verborgener Geheimnisse, so raffiniert und klug, wie nur Jane Gardam sie inszenieren kann.

Jane Gardam

Robinsons Tochter

Roman

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan

Hanser Berlin

Für meine Mutter, Kathleen Helm

»Aber die Drangsal des Lebens, wenn man sich auf einer einsamen Insel gänzlich allein durchschlagen muss, ist wirklich nicht zum Lachen. Sie ist andererseits auch nicht zum Weinen.«

Virginia Woolf, Der gewöhnliche Leser

Ich bin Polly Flint. Ich bin in das Gelbe Haus gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Ich stand auf den Stufen im Wind und im aufwirbelnden Sand, und mein Vater zog an der Messingklingel neben der großen Haustür. Gemeinsam lauschten wir dem fernen Bimmeln und den sich nähernden, tapsenden Schritten. Mein Vater vollführte ein kleines Tänzchen auf seinen kurzen Beinen und pfiff.

Es folgten knappe Szenen der Verwirrung und Bestürzung. »Tür zu. Tür zu. Der Sand, der Sand!«, und Menschen standen in der Eingangshalle auf farbigen Fliesen herum.

Wir waren nicht erwartet worden. Mein Vater brachte mich zu meinen Tanten, weil ich dort wohnen sollte — bei der spröden Miss Mary und der sanftmütigen Miss Frances. Sie waren die ältlichen Schwestern meiner jungen Mutter. Meine Mutter war tot.

Ein dickes Hausmädchen führte mich in die Küche, wo ich Tee bekam, und dann wurde ich von der sanftmütigen Tante in ein riesiges Gewölbezimmer geführt, es muss das kleine Morgenzimmer gewesen sein. Ich machte mit der sanftmütigen Tante ein Puzzle, so groß wie ein Kontinent. Ich sah nicht so weit auf, dass ich das Gesicht der Tante gesehen hätte, aber ich beobachtete unsere vier Hände, die über dem Mahagonimeer schwebten.

Dann und wann ging eine Tür auf der anderen Seite des Flurs auf und man hörte schneidende Gespräche, und einmal kam eine Frau mit einem grünen Gesicht und schwarzem Strickzeug in der Hand und gestrickter, schwarzer Kleidung und starrte mich von der Tür des Morgenzimmers aus an. Sie sagte: »Sie sieht tuberkulös aus«, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und ging.

Vielleicht ist mein Vater ein paar Tage im Gelben Haus geblieben. Ich erinnere mich an einen Nachmittagsspaziergang mit ihm am Meer, daran, den Wellen davonzuhüpfen, und wie er (schändlicherweise schon morgens) in einem Polstersessel neben dem katafalkartigen Kaminsims im Wohnzimmer saß und döste.

Und an einem Abend hat er gesungen. Ich wusste, dass er ein wirklich fürchterlicher Sänger war, aber er tanzte dazu, und ich wusste, dass er gut tanzte — ein kleiner, schwerer Mann auf leichten Füßen. Seemannsfüßen. Er drehte Pirouetten und wirbelte im Zimmer herum, und Aunt Frances spielte in einer Kaninchenfellpelerine Klavier. Es war ein Lied von der Seefahrt.

Aunt Mary saß abseits. Die gestrickte kleine Frau hatte sich ans andere Ende des Raumes zurückgezogen und beugte sich in einer Laube aus Topffarnen über ihr Strickzeug, und das Mädchen kam mit Kohlen für das Feuer herein, stellte sie ab und barg das Gesicht in seiner Schürze, als es den Gesang hörte. Das war, wie ich bald herausfand, gar nicht ihre Art, denn Charlotte war farblos und beinahe unsichtbar. Aber sie hatte mal in einem Chor gesungen.

Ich saß auf einem Hocker und wusste, dass mein Vater all diese sonderbaren Leute um den Finger wickelte.

Es war 1904, und zwei Monate später starb mein Vater auf der Brücke seines Schiffs in der Irischen See, bei einer Kohlentour nach Belfast. Man sagte mir, er hätte einen Platz im letzten Rettungsboot abgelehnt und sei auf die traditionelle Weise an Bord geblieben — strammstehend in der Kapitänsuniform der Handelsmarine — aber schwankend und eine große Steingutflasche Gin schwenkend. Er war immer ein schnurriger Typ gewesen, sagte Aunt Frances.

Die Türschwelle, die kalten Wellen, der Polstersessel waren meine einzigen Erinnerungen an meinen Vater — dies und die Reise in das Gelbe Haus, die wir zusammen unternommen hatten. Meine Mutter war kurz vor meinem ersten Geburtstag gestorben, und die folgenden fünf Jahre hatte ich bei verschiedenen Pflegemüttern in Hafenstädten verbracht, in denen der Captain möglicherweise hätte anlegen können, das aber meistens nicht tat. Diese Leute verschwammen alle, und am meisten verschwamm die letzte, obwohl sie sich hätte einprägen müssen, denn sie war eine Quartalssäuferin und verbrachte einen beträchtlichen Teil ihres Lebens unter dem Küchentisch. Auch ich verbrachte viel Zeit auf dem Küchenfußboden, zusammen mit den anderen drei oder vier — glaube ich — Kindern in ihrer Obhut. Ich lernte, nicht ins Feuer zu fallen, und wie die Schlösser zur Speisekammer funktionierten, falls ich etwas essen wollte. Manchmal nahm sie mich in den Arm.

Eines Tages tauchte Captain Flint unerwartet auf und stieg mit mir in einen Eisenbahnwaggon erster Klasse (er neigte zur Prasserei), und in einer ganzen Reihe solcher Waggons reisten wir von Wales in den Nordosten.

Ich erinnere mich an Licht und Schatten auf fahlen Feldern — schwarze Städte, kalte Moore —, Steinmauern im Regen und eine Nacht in einem Eisenbahnhotel, nehme ich an, denn unter dem Fenster war ein verrußtes Glasdach. Durch die Ritzen darin stiegen kleine Dampfsäulen auf. Es donnerte und schepperte. Angst und Freude.

Auf den weichen Polstern des vorletzten Waggons, mit den bestickten Deckchen an den Kopfstützen — die für mich viel zu hoch waren —, saßen der Captain und ich nebeneinander. In der Gepäckablage über mir lag ein sehr kleiner Koffer. Auf dem Sitz neben mir ein chinesisches Nähkästchen voller chinesischer Nähsachen — ein Mitbringsel meines Vaters, seine letzte Reise war lang gewesen —, eine kaputtgeliebte Puppe oder so, und ein Porzellanchinese.

Der Zug zuckelte zwischen pflaumenfarbenen Backsteinen hindurch, den Bahnschuppen des Nordens. Sehr edel. Dann kamen hohe Blechschornsteine, Tausendfüßler aus klapprigen Güterwagen, Schlangennester aus Rohren, dann das Watt mit weißlich schimmernden Tümpeln. Es gab feuerspuckende Hochöfen, und manchmal konnte man einen Blick auf glühende Stangen erhaschen, die von riesigen Feuerzangen mitten in die Flammen gehalten wurden.

Vor dem Fenster auf der anderen Seite des Zuges erstreckten sich Felder weit hin bis zu farblosen Hügeln, auf deren Kuppe eine Reihe Bäume stand. Das Licht, das durch sie hindurchfiel, ließ sie aussehen wie Strickmaschen, die von den Nadeln gezogen worden waren. Der Zug schaukelte, und mein Vater pfiff durch die Zähne.

Der letzte Zug hielt an Bahnhöfen, die nur aus hölzernen Bahnsteigen bestanden. Dort stiegen Männer mit entschlossenen Gesichtern ein und aus, aber niemand kam in die Nähe der ersten Klasse. Wenn der Zug anhielt, war es still genug, dass man die Stimmen der Männer durch die Wände hören konnte, und als sie an unserem Fenster vorbeigingen, sah ich ihre markanten Gesichter und leuchtenden Augen und hörte das Quietschen ihrer verbeulten, blechernen Henkelmänner. Die Männer waren allesamt schwarz, aber nicht so schwarz wie die schwarzen Seeleute in Wales, die manchmal ins Haus der Pflegemutter kamen und die, wenn sie sich gewaschen hatten, immer noch schwarz waren. Diese Männer hier waren nur sehr schmutzig, und ihnen rann der Schweiß von der Stirn und hinterließ weiße Streifen. Die Männer in Wales hatten mich in die Luft geworfen, als ich klein war, und mich wieder aufgefangen. Große, weiße Zähne.

Nachdem die letzten Männer ausgestiegen waren, fuhr der Zug aus dem Ruß hinaus und von den Schornsteinen weg und hinauf in die Dünen. In den Dünen sah man in der Ferne das kalte Leuchten des Meeres.

Der Captain teilte eine riesige Fleischpastete. Er nahm sie aus einer fettigen Pappschachtel, riss sie mit der Hand in zwei Teile und legte die beiden Stücke ganz behutsam auf das chinesische Nähkästchen. Ich spürte interessante Widersprüche in meinem Vater. »Das«, sagte er, »ist eine herrliche Pastete. Es gibt wirklich gute Fleischpasteten. Dies ist eine herrliche Pastete.«

Es war Aunt Mary, die ältere Schwester, die mir mitteilte, dass er tot war. Sie stand sehr aufrecht an meiner Schlafzimmertür und wartete, bis Aunt Frances mir das Haar fertig gebürstet und geflochten hatte. Ich erinnere mich nicht an den Wortlaut, nur an die gestärkte weiße Schleife unter Aunt Marys Kinn. Ihr Haar unter der Haube war silbrig fahl, und die Stoppeln an ihrem Kinn waren ebenfalls silbrig. Hinter ihr im Regal stand das chinesische Nähkästchen mit dem Porzellanchinesen obendrauf. Sein Kopf steckte in einem Loch in den Porzellanschultern und nickte im Gleichtakt mit dem Auf und Ab der gestärkten Schleife. Durch das offene Schlafzimmerfenster wehte ein kalter Wind herein. Ein gläserner, blitzender, erbarmungsloser Morgen, das Meer brüllte.

Ich sagte (glaube ich): »Kann ich jetzt rausgehen zu den Hühnern?«, und rannte an Aunt Mary vorbei auf den Hof. Durch die Rauten des Hühnerzauns nickten der Chinese und die Schleife immer noch im Takt. »So ist das jetzt«, sagten sie. »Es ist passiert. Das muss man ertragen.«

Die Hühner hüpften auf ihre Stangen und wieder hinunter und unterhielten sich in langen, eingerosteten Sätzen miteinander, und ich wickelte die Finger um den Zaun. Dann kam Aunt Frances und nahm mich mit ins Haus und gab mir in der Küche Zitronengelee — mitten am Vormittag. Die grüngesichtige kleine Frau beobachtete mich vom Treppenfenster aus, als wir über den Hof gingen.

Anfangs war es das Licht, das mir Schwierigkeiten bereitete. Das Licht und der viele Platz im Gelben Haus. Das Licht kam von allen Seiten aus dem überwältigenden Himmel ins Haus. In Cardiff und Fishguard hatte es nur wenig Himmel gegeben, und das bisschen Licht war nur eine Reflexion von den verregneten Schieferdächern der gegenüberliegenden Reihenhäuser gewesen.

Hier peitschte der Wind die Wolken über die Hügel und die Marsch und die Dünen und das Meer, bis das Haus zu schwanken schien wie ein Schiff. Ich weiß noch, dass ich mich oft an irgendetwas festhielt.

Für ein Gesicht auf Türknaufhöhe lagen die Decken und Kranzgesimse weit oben in der Atmosphäre. Zwischen dem gefliesten Eingang und der Treppe erstreckte sich eine komplette Landschaft, und man musste sich gut am Treppenpfosten und am Geländer festhalten. Der Salon war ein Dschungel von Tischen und Teppichen und Hockern und Vitrinen, das Esszimmer die Hölle. Menschen saßen da, schweigend, weit voneinander entfernt, ihre Kiefer mahlten und mahlten. Meine Augen waren auf der Höhe schwerer Gabeln und Löffel. Die Messer waren für Riesen. Unheil lag im Esszimmer.

Vor und nach dem Essen wurde feierlich gebetet, so feierlich, dass die Sonne es bemerkte und nicht hereinschien, wie sie es im Rest des Hauses tat, obwohl man sie draußen sehen konnte, wie sie fröhlich Richtung Jütland winkte.

Dass ich all das empfand, als ich sechs war, weiß ich wegen der Höhe der Ligusterhecke vor dem Fenster, einem armen Ding, ganz verwittert von der salzigen Luft. Sie ist in all den Jahren nie größer geworden als einen Meter, aber damals versperrte sie mir die Sicht.

All diese frühen Mysterien sehe ich noch sehr klar vor mir — Gabeln und Liguster; durch die gläserne Obstschale gucken, und über mir klopften die Eicheln an die Fensterläden.

Aber ich kann mich überhaupt nicht an den Tag erinnern, an dem mein Vater ging. Vielleicht habe ich es nie gewusst, oder vielleicht ist er nachts gegangen, als ich schon im Bett lag. Aber ich weiß noch genau, was in dem Moment passiert ist, als er weg war.

Wasserschüsseln wurden auf den Küchentisch gestellt, auf dem vorher Zeitungen gelegen hatten, es wurde ein Klumpen milchiger Seife herausgeholt, die aussah wie ranzige Butter, dazu eine schwarze Flüssigkeit in einer Flasche, und dann begann das große Haarewaschen. Ich kreischte, und Charlotte rubbelte und goss und wirbelte herum und sagte: »Na, kreischen kann sie jedenfalls«, und Mrs Woods — die gestrickte kleine Frau — stand an der Küchentür und schaute zu. Sie sagte: »Gut in die Wurzeln einmassieren.«

Dann, nach sturzbachartigem Ausspülen, musste ich mit dem Rücken zum Tisch sitzen, mein Haar wurde auf den Zeitungen ausgebreitet, und Charlotte zupfte darin herum und zerrte einen Kamm hindurch, einen Kamm mit feinen Zähnen wie die Rückengräte eines Fischs. Einer Seezunge. Ich kreischte und sagte ein paar Worte aus Cardiff. Charlotte schluckte laut, und Mrs Woods schrie auf wie ein Papagei.

»Sind da welche?«, fragte Mrs Woods.

»Nee«, sagte Charlotte.

»Sicher? Die Waliser sind ziemlich schmuddelig.«

»Keine einzige.«

»Würdest du sie erkennen, Charlotte?«

»Allerdings. Unten in den Cottages haben sie jede Menge.«

Dann ging Mrs Woods schnell weg, und ich setzte mich auf den Kaminschutz, wo Charlotte mir das Haar trockenrubbelte.

»Kein schlechtes Haar«, sagte sie. »Das muss man sagen. Als nächstes kümmern wir uns um deine Kleider.«

Ich erinnere mich an die Kleider. Sie kamen aus dunklen Geschäften weit weg in einer schwarzen Stadt, möglicherweise Middlesborough. Zwei dünne Damen änderten sie für mich, in einem Haus, das für Prinzessinnen gebaut war — es hatte eine Turmspitze und lag am Ende weißer Reihenhäuser irgendwo am Meer nach einer langsamen Fahrt in einem Einspänner.

Lange, lange Nachmittage, Aunt Frances saß in der Nähe und aß Teekuchen, während ich mich auf einem Tisch immer wieder drehte und mit Stecknadeln besteckt wurde. Eine der Näherinnen hatte kreisrunde rote Wangen aufgemalt, beide trugen Perücken. Eine streichelte mich einmal von oben bis unten und schnurrte wie eine Katze, als Aunt Frances nicht im Zimmer war, und ich schrie und trat um mich und sagte wieder die walisischen Worte, und die Dame wurde auch über die roten Kreise hinaus rot im Gesicht, und das muss der letzte Besuch dort gewesen sein.

Dann die Bündel auf dem Bett, die offenen Kommoden mit frischem Schrankpapier darin, die schweren Wollhemden, die Bauchbinden und Mieder und langen Unterhosen und Rüschenschlüpfer und Unterröcke mit Trägern und flachen, leinenbezogenen Knöpfen; die Strümpfe und Strumpfbänder und Gamaschen und Knopfhaken; die Mäntel und Hauben und Fäustlinge und Tam O’ Shanter-Mützen und der Sonntagshut mit Krempe; und die Schuhe für drinnen und Schuhe für draußen und die dicken Wollstulpen und die Galoschen und ein Paar Stiefel, das mit Blei gefüllt zu sein schien.

Charlotte sagte: »In denen fällst du besser nicht ins Moor. Da versinkst du wie ein Anker.« Die Stiefel waren schwarz wie Eisen. Alle anderen Kleidungsstücke waren graubraun.

Als die Kommodenschubladen und der Schrank voll waren und ich alle Schichten anhatte wie eine dicke Zwiebel, sagte Charlotte: »Das ist doch was!«

»Ich finde, sie sieht sehr hübsch aus«, sagte Aunt Frances, als ich ins Wohnzimmer geschoben wurde.

»Mehr konnten wir nicht tun«, sagte Mrs Woods.

Aunt Mary sagte nichts, denn sie schien nichts wahrzunehmen. »Komisch«, sagte sie, »für Kleidung kann ich mich gar nicht begeistern.«

Das verstand ich. Ich fühlte mich unbehaglich und gedrungen, ich war plötzlich so umfangreich. Ich blickte auf eine Kugel hinunter, an der unten zwei schwere Stöcke hingen. Ich setzte mich auf den Sessel und ließ diese Gewichte baumeln.

»Humpty Dumpty sat on a wall«, sang ich.

»Baumel nicht mit den Beinen, Polly«, sagte Mrs Woods. »Nicht in diesen schönen Stiefeln.«

»Ich habe fast gar keinen Hals, oder?«, fragte ich Charlotte, als ich vor dem Zubettgehen in den Spiegel sah. Auf dem Bett wartete ein neuer Haufen Kleider, in denen ich für die Nacht fertiggemacht wurde.

Charlotte sagte: »Vielleicht kommt das noch.«

Nicht ein Mal, kein einziges Mal nach den kurzen Überraschungsschreien am allerersten Morgen kam es meinen Tanten in den Sinn — sie hießen Miss Younghusbands —, dass ich nicht für immer da sein könnte.

Es war gar keine Frage. Ich gehörte ihnen. Ich war angekommen und würde bleiben. Sie haben in all den Jahren nie angedeutet, dass sie gut zu mir waren oder dass ich auch nur den geringsten Grund zur Dankbarkeit hätte oder dass ich auf irgendeine Weise in ihr Leben eingedrungen sei.

Tatsächlich war mir recht bald selbst nicht mehr ganz klar, ob ich jemals anderswo gelebt hatte, und die Zeit, bevor ich auf den sandigen Stufen angekommen war, versank im Nebel. Es kam mir vor, als wäre ich im Gelben Haus geboren worden, dort abgeliefert ohne die ganzen Peinlichkeiten und Zumutungen von Zeugung und Geburt.

Diese absolute Gewissheit von Aunt Mary und Aunt Frances war so großartig und so still, dass sie sich im ganzen Gelben Haus auszubreiten schien, und nicht einmal Mrs Woods erhob Einwände, nicht einmal, wenn wir allein waren, was ich tunlichst vermied. Charlotte schien ohnehin alles zu akzeptieren, was ihr begegnete. Das Leben ging einfach weiter.

Es war natürlich keine Rede davon, mich liebzuhaben, noch gab es sonstige Zuneigungsbekundungen, aber das machte nichts, denn ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mit Liebe hätte umgehen sollen. »Sie ist wirklich ein braves Kind«, sagten sie. »Was für ein braves kleines Mädchen sie ist.« Das sagten sie sogar vor mir, was ich wirklich nett fand. Nach den dunklen, heruntergekommenen Jahren war es schön, mit Güte bedacht zu werden. Es war, wie ins Bett gebracht und zugedeckt zu werden, was Aunt Frances manchmal tat, und dann setzte sie sich noch ans Fußende und lächelte mich an und erzählte mir fromme Geschichten über irgendwelche Apostel und die Heiligen, während ich meine Milch trank. »Kein besonders offenes Kind«, sagten sie manchmal, und auch das durchaus vor mir. »Überhaupt nicht wie ihre Mutter. Aber vielleicht ist das ganz gut. Mit noch einer Emma wären wir nicht zurechtgekommen. So ein stures Ding. Aber sie ist gut. Und wenn man bedenkt …«

Ich hörte zu und beobachtete und gestattete es mir nach und nach, dass man sich um mich kümmern durfte, und ich war etwas verärgert, als ich sehr schnell feststellte, dass Gutsein zwar ein Geschenk Gottes war, ich mich aber dennoch darum bemühen musste. Denn anscheinend konnte ich es auch wieder verlieren. Ich musste es festhalten. Ich musste mich daran klammern wie an den Treppenpfosten, wie an die Schnur eines Drachens. Ich musste es im Auge behalten wie meine neuen Kleider. Sobald ich Anzeichen von Verschleiß und Abnutzung entdeckte, sollte ich es berichten.

Dafür waren die Samstage da, nachdem die drei Damen selbst zur Beichte in der Kirche gewesen waren. Ich wurde zu Aunt Mary gebeten, saß mit ihr am Fenster ihres Arbeitszimmers, und wir sprachen über Sünden. Ich wusste von Anfang an, dass diese Gelegenheiten die einzigen waren, bei denen sie von mir enttäuscht war, und von sich selbst, denn sie sah ihr eigenes Versagen darin. Ich fürchtete mich vor den Samstagen.

»Also, Polly, ist das alles?«

»Ja, Aunt Mary.«

»Du hast wirklich nichts vergessen?«

»Nein, Aunt Mary.«

»Tritt nicht gegen die Fensterbank, Polly. Wollen wir einen Moment schweigen?«

Wenn wir schweigend dasaßen, kam alles Mögliche aus der Vergangenheit in mir hoch, aber ich wusste nicht, ob es da wirklich um Sünde ging.

»Was denkst du, Polly?«

»Nichts, Aunt Mary.«

Aber ich hatte die Quartalssäuferin an der alten, schmutzigen Spüle stehen sehen, wie sie plötzlich die Röcke hochraffte und in eine Schüssel pinkelte.

»Wollen wir ein Gebet sprechen, Polly?«

»Ja, Aunt Mary.«

Und dann war da noch der Mann, der nachmittags kam und mit ihr in der Küche Dinge tat. Auf dem durchgesessenen Sofa liegen und sich auf sie rollen und ihre Beine spreizen und Geräusche machen und grausam zu ihr sein, aber es machte ihr nichts aus.

»Ich möchte gern über Engel sprechen«, sagte Aunt Mary. »Du weißt doch, dass es Engel gibt, oder? Glaubst du an Engel?«

»Ja, Aunt Mary.«

»Wenn du sehr brav bist, siehst du vielleicht einen. Meistens sind sie unsichtbar, aber wenn du sehr brav bist — in einem Zustand der Gnade, so nennen wir das —, dann kannst du vielleicht einen sehen. Man erkennt sie an ihrem strahlenden Gewand. Was bedeutet Gewand, Polly?«

»Kleidung.«

»Du hast Gewänder, Polly.«

Ich dachte an meine Gewänder. Die Berge von Unterhemden.

»Und wenn du die strahlend hältst …?«

Ich dachte an die Bauchbinden. Ich dachte an die Männerhosen auf dem Küchenfußboden.

»Wenn du dein Gewand strahlend hältst, Polly — das Gewand deiner Seele —, dann kannst du womöglich deinen eigenen Schutzengel sehen. Vielleicht erhaschst du einen Blick auf eine schimmernde Feder.«

»Wo denn, Aunt Mary?«

»Irgendwo, wo auch immer du bist.«

Ich sah mich selbst in verschiedenen unangemessenen Situationen — wie ich mich zum Beispiel an die riesige hölzerne Rundung der Klobrille klammerte, ganz fest, vor lauter Angst zu verschwinden und ins Meer gespült zu werden. Auf der Toilette konnte man sich wirklich keinen Engel vorstellen. Aber selbst da hätte ich gern einen gesehen. Draußen in der Marsch war es wohl wahrscheinlicher.

Während meine Tante über Heilige und Sünder sprach, ließ ich den Blick wandern. Die Regale im Arbeitszimmer waren voller Bücher. Bis ganz oben hin. Hoch oben verschwanden sie im Schatten. Die hölzernen Fensterläden waren fast immer verschlossen, um die Bücher vor Meereslicht und Sonne zu schützen, und sie wurden zweimal die Woche abgestaubt, wenn auch selten gelesen, denn sie waren wertvoll. Die Regale waren dunkelrot gestrichen und die Böden auf unterschiedlichen Höhen angebracht, damit die Bücher es bequem hatten, denn die Regale waren die Diener der Bücher, nicht umgekehrt. Jeder Titel war zu lesen. Nichts wurde hineingequetscht oder stand schräg oder war umgefallen oder lag auf der Nase, die Bindungen waren alt und dunkel. Wenn man eins herauszog, waren die Deckel heller als die Rücken und changierten in Rosé und Blau und Kastanienbraun und Grün wie Dachblei. Sie wirkten wie Bücher, die einmal sehr geliebt und benutzt worden waren, und wenn meine Sünden in der Woche nicht zu schlimm gewesen waren und ich mir ein paar zusätzliche ausgedacht hatte, die ich loswerden konnte, dann las Aunt Mary mir ein bisschen daraus vor.

Aunt Mary unterrichtete mich jeden Morgen im Arbeitszimmer, und nachmittags gab Aunt Frances mir Klavierstunden. Mrs Woods machte eine furchterregende halbe Stunde Französisch mit mir, und später auch ein bisschen Deutsch, im Morgenzimmer, das zur Teazeit bereits keine Sonne mehr hatte. Nach dem Tea saß ich normalerweise mit Charlotte in der Küche. Charlotte brachte mir nichts bei, sondern schälte einfach weiter Kartoffeln oder knetete Teig, als wäre sie allein. Aber ich beobachtete sie.

Ich beobachtete alle. Wenn Aunt Mary merkte, dass ich sie beobachtete, sah sie streng zurück. Aunt Frances lächelte mich sofort an und nickte. Mrs Woods wandte sich ab.

Charlotte glotzte nur. Das heißt, ihr Gesicht veränderte sich überhaupt nicht, sie behielt immer etwas darin, das wie ein Lächeln aussah — bis man noch einmal hinsah und feststellte, dass sie nur die roten Lippen hochzog, die einmal rosig gewesen sein mussten, und das Ergebnis war ein Ausdruck zielloser Unterwürfigkeit.

Aus der Ferne sah das Gesicht hübsch aus, und Charlotte stand in dem Ruf, gutmütig zu sein, aber ich glaube, mir war sehr bald klar, dass das, was sie zwischen Nase und Kinn herumtrug, etwas anderes war. Es war kein echtes Zähnefletschen — aber etwas in die Richtung. Eine Art Verkleidung. Eine Maske. Wenn das Lächeln verschwand, stellte es sich als Fälschung heraus.

Ich entdeckte bald, dass es noch ein weiteres Rätsel um Charlotte gab. Eines Tages, vielleicht in meinem zweiten Jahr im Gelben Haus, ging ich auf den Dachboden hinauf in Charlottes Zimmer, als sie ihre Schwester in den Cottages am Fisherman’s Square besuchte, und unter ihrem eisernen Bettgestell fand ich einen Sack Brotkrusten. Brot ohne Kruste war Aunt Marys einzige Extravaganz, und in diesem Papierbeutel steckten abertausende Brotrinden, die obersten wurden grünlich und rollten sich auf. Ich sagte niemandem etwas davon und sorgte dafür, dass ich in Zukunft nicht mehr daran dachte.

Charlotte selbst war permanent am Waschen und Schrubben und Scheuern — sie nahm Vorhänge ab, zog Tischdecken vom Tisch, hängte schwere Teppiche an Seilen im Hof auf und bearbeitete sie mit Teppichklopfern. Dreimal die Woche wurde genügend Kleidung für eine ganze Anstalt vom Wind schranktrocken geblasen, eine furchteinflößende Armee aus Bannern, wenn man ans Bügeln dachte. »Eine wie Charlotte bekommen wir nie wieder«, sagten meine Tanten manchmal. »Was haben wir für ein Glück mit ihr«, und Charlotte zog die roten Lippen zu ihrem Nichtlächeln hoch.

Charlotte selbst allerdings wirkte nie sauber. Ihre Kleider waren zerdrückt, ihr Haar immer fettig, die Haube mit speckigen Klämmerchen festgesteckt. Ihre Füße wirkten irgendwie matschig, und sie roch zwar nicht gerade, aber irgendetwas war da.

Ich hatte nie das Gefühl, dass sie mich mochte — wie ich es auch bei Mrs Woods nie hatte, auch wenn sie beide in Moll ein Loblied auf mich sangen —, und Mrs Woods war manchmal etwas erregt, wenn ich nicht ganz auf dem Damm war, denn in ihrer Religion spielte Krankheit irgendeine mystische Rolle. Unser Herr hatte gelitten. Wir sollen es Ihm nachtun. Eo ipso war für Mrs Woods eine Krankheit etwas Heiliges. Vielleicht fünf oder sechs Jahre lang — vielleicht auch viele mehr — dachte ich, dass »lasst die Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reich Gottes« bedeutete, dass Jesus für Masern und Mumps und all das war, weil man davon sterben und in den Himmel kommen konnte, und das machte mich nachdenklich. Trotz aller Fürsorge und Großzügigkeit und Geborgenheit und allem Zuspruch, die das heimelige Gelbe Haus atmete, wurde ich Gott gegenüber misstrauisch. Sehr misstrauisch.

Die Zeit verging im Gelben Haus. Eins nach dem anderen müssen die Jahre gekommen und gegangen sein, Sommer blitzten über die Marsch und Winter bedeckten sie mit Schnee. Das Haus — es hieß Oversands — war sehr hoch und groß und fremdländisch mit seinen flach abfallenden Dächern und zwei Giebeln, die nach Zypressen verlangten. Es erinnerte an die Flitterwochen meines Großvaters Younghusband in Siena, denn er hatte es gleich nach seiner Rückkehr erbauen lassen und die Anbringung Medici-artiger Gitter an den Speisekammerfenstern und die Vertäfelung der großen Haustür angeordnet, die er immer zu einem Majolika-Nachbau der florentiner Baptisteriumstüren machen wollte. »Ein vergnügter Mann«, nannte Aunt Frances ihn. Jeden Morgen, sagte sie, stürmte er aus dem Gelben Haus und rannte ins Meer, nur im halben Ornat — Kollar und ein altmodischer schwarzer Tellerhut, den er beim Rennen abwarf. Sein waren die Bücher und sein war die riesige Fotografie von einer Donnerwurz, die im Arbeitszimmer über dem Kamin hing. Er war ein großer Sänger von Kirchenliedern gewesen und wusste alles über alte Steine.

Oversands blickte auf das Deutsche Meer hinaus, die Rückseite ging ins Binnenland. »Grandfather war ein Möwenmann«, sagte Aunt Mary, und das war rätselhaft, bis ich verstand, dass er viel Zeit damit verbrachte, aufs Meer zu starren und nach Lachmöwen Ausschau zu halten, denn die waren sein Spezialgebiet. Zwischen der Hintertür und den Cleveland Hills lag nur die Marsch.

In der Marsch lagen, weit voneinander entfernt, ein paar wenige, aber überraschende Gebäude: eine Kirche, ein Nonnenkloster, ein unfertiger Prunkbau und weit weg, über die Hügel, in einem Hain, lag ein langes, edles Bauwerk — The Hall. Daneben stand ein kleiner Kuppelbau, der bei Sonnenlicht golden schimmerte.

Auf der anderen Seite der weiten Bucht lag ein Nest von Fischer-Cottages, die nahezu im Sand versanken, und etwas weiter landeinwärts plötzlich einige Reihenhäuser, wo die Schneiderinnen lebten — eine Häuserreihe, die aussah, als wäre sie in ihrer Blütezeit irgendwo anders rausgetrennt worden und würde am liebsten nach Bath verschwinden.

Am nördlichen Horizont hatte der Himmel eine Art blauen Fleck, dort lagen die Eisenhütten, die Teufelsküche, durch die mein Vater und ich im Zug geklappert waren, und wenn der Wind von Norden kam, hörte man manchmal ein beunruhigendes Brüllen von dort, ein lautes Branden wie von der Flut; aber normalerweise waren die Marsch und alle, die dort lebten, sehr ruhig.

Nur der Nordostwind war verstörend, und der blies fast täglich. Er schob Sand vor dem Fisherman’s Square zu einem Barriereriff zusammen, das weggeschaufelt werden musste, was ebenso ein Teil des Lebens war wie der Waschtag. Er wehte Sand auf die Frühstückstische in den weißen Reihenhäusern und in die feinen Ritzen im Marmor der Bewohner der goldenen Kuppel, die glücklicherweise tot waren, denn es war ein Mausoleum. In stürmischen Nächten heulte und tobte er um das Nonnenkloster, das teilweise als Genesungsheim für die Armen aus den Eisenhüttendörfern jenseits der Dünen diente, und machte ihnen Kopfschmerzen, wenn sie auf den heilsamen Balkonen lagen; am heftigsten blies er in und auf und um und durch das Gelbe Haus, das am nächsten von allen am Meer stand, er rüttelte an den Schiebefenstern, riss Pfannendeckel von Charlottes Regalbrettern und zerrte und zog an Aunt Marys ungewöhnlichen Kleidern. Aunt Mary trug einen Florence-Nightingale-Schleier — die alte Schwesternuniform aus dem Arbeiterkrankenhaus — und sah aus wie eine schwarze Braut. Dieser Aufzug war eine Deklaration und ihr ganzer Stolz, er zeigte, dass sie nicht nur die Tochter eines Erzdiakons war, sondern auch einmal für Verbrennungen zuständig gewesen war. Bei Wind schüttelte Mrs Woods den Kopf und griff nach ihrem Einreibemittel. Er jaulte und knurrte in den Dachsparren des unvollendeten Prachtbaus, des Hauses, das der millionenschwere Besitzer der Eisenhütte über Jahre als Wochenendhaus am Meer hatte bauen lassen.

Aber wenn der Wind nachließ, war die Marsch komplett still, bis auf die Vögel und die Glocken. Die Vögel kreisten und schrien, sie beobachteten das Meer und das Land und die wenigen Menschen, die sich darauf bewegten. Die Glocken zählten die Zeit — die Kirchenglocke mit einem düsteren Schlag, der jede Stunde zu einer Beerdigung machte (sie war die wichtigste), die Glocken des Klosters kanonisch und komplex, und die Stallglocke von The Hall weit weg und ungewiss — klar und dünn, alt und bezaubernd.

Manchmal blendete die Marsch geradezu. Manchmal war sie so blass und unscheinbar, dass sie nur die Fortsetzung des Meeres zu sein schien. Die Fischer sagten, wenn man hundert Meter vom Land entfernt war, verschwand sie komplett, die Wellen türmten sich darüber und schienen direkt die Hügel zu umspülen. Der Kirchturm guckte aus dem Wasser heraus, und die Glocken schlugen schaurig aus dem Nichts.

Aber wenn man in der Marsch lebte, war sie gut zu sehen und von großer Schönheit. Blaugrüne Salzschwadengräser, schemenhafte Strandfliederfelder spiegelten den Himmel und wurden in ihm gespiegelt, und die Gebäude zwischen Salz- und Süßwasser und dem dräuenden Himmel sorgten für Tiefenschärfe und Verbindlichkeit in einer Umgebung, die sonst im Ungefähren verblieben wäre. Nonnen und Fischer gingen ihren Geschäften nach — die Fischer zogen ihre Boote auf Rädern über den Sand, die Nonnen flackerten in Schwarzweiß auf ihren Balkonen auf, zwischen den scharlachroten Decken der Kranken, oder dann und wann am Strand, wo sie manchmal lachten und ganz verrucht ihre Sandalen in den Händen hielten. Sie schubsten einander und quietschten wie die Bauernjungs, aber nur an den ganz flachen Stellen.

Aunt Frances und ich gingen in meinen ersten sieben Jahren im Gelben Haus fast jeden Tag in der Marsch und am Strand spazieren. Aunt Mary kam gelegentlich mit uns in die Marsch, schien sie aber nicht wahrzunehmen. »Dann haben wir das Meer ja gesehen«, sagte sie einmal. »Was machen wir jetzt?« Charlotte lief in alle Richtungen in der Marsch herum, aber so wenig wie möglich, und Mrs Woods durchquerte sie, aber nur auf dem Weg zur Kirche. Die positive Wirkung von Ozon hatte sich noch nicht zu uns herumgesprochen. »Die Marsch ist tödlich«, sagte Mrs Woods. »Ich habe in Afrika gelebt, ich verstehe etwas von stehenden Gewässern.«

Es gab nur ganz wenige Ausflüge, und sehr wenige davon waren auf Kinder zugeschnitten. Selbst Weihnachten verging nahezu unmerklich. Aber an einem Frühlingstag, als ich acht Jahre alt war, wurde ein großer Ausflug angekündigt. Aunt Mary und ich sollten zum Tea in The Hall gehen, zu Lady Vipont, Aunt Marys ehemaliger Kollegin. Nicht direkt eine Krankenschwesternkollegin, aber eine Frau, die sehr eng mit der Krankenpflege verbunden war, auf eine christliche Weise. Danach hatte Lady Vipont das sonderbare Nonnenkloster in der Marsch gegründet, The Rood, und dann das Genesungsheim. In grauer Vorzeit war sie eine junge Frau gewesen, und Aunt Mary hatte nicht weit von ihr gewohnt. Sie waren zusammen auf Ponys geritten. Lady Vipont war stark von Grandfather Younghusband beeinflusst gewesen und hatte ihm oft zugehört, wenn er über alte Steine sprach. Sie hatten zusammen Urlaube in Danby Wiske verbracht, anscheinend irgendwann vor Anbeginn der Zeit.

»Du gehst zum Tea in The Hall«, sagte Charlotte.

»Wer wohnt da?«

»Eine alte Dame. Und ein kleines Kind. Ihre Enkelin. Nicht viel älter als du. Sie ist meistens im Internat.«

»Ist sie ein Waisenkind?«

»Sie ist irgendwas. Irgendwie komisch. Ihre Großmutter — Lady Vipont — kümmert sich um sie. Du sollst ihre Ferienfreundin sein.«

»Wie heißt sie? Ist sie wie ich?«

»Ihr Name ist irgendwie besonders. Sie ist elf.«

»Ist da ein Mädchen?«, fragte ich Aunt Mary in der gemieteten Kalesche.

»Ein Mädchen? Oh, ja. Ein kleines Mädchen. Lady Viponts Enkelin Delphi.«

Wir ratterten die unkrautbewachsene Einfahrt mit überhängenden, großen Bäumen hinauf bis zu einem Torbogen und fuhren hindurch in einen Innenhof mit einem runden Gebäude und einer Kapelle dahinter. Am anderen Ende des Innenhofs lagen blasse, flache Stufen zwischen zwei Urnen auf Säulen. Dort stand ein junger Mann in einer Art Livree mit offenem Mund und pulte sich mit einem Stöckchen zwischen den Zähnen.

Als wir ausstiegen — Aunt Mary in Schwesterntracht, wie immer —, hörte er damit auf und kratzte sich stattdessen am Po, dann stolperte er in seinen Kniebundhosen vorwärts und blieb verunsichert stehen. Aunt Mary sagte: »Zu Lady Vipont? Miss Younghusband und Miss Polly«, und während er noch darüber nachdachte, was als nächstes zu tun wäre, tauchten um die Ecke der Kapelle eine große Schubkarre und zwei lachende Mädchen auf. Die Schubkarre war voller Gesangbücher. Die Mädchen blieben stehen, als sie uns sahen, ließen die Griffe der Schubkarre los und sahen einander an. Die beiden prusteten los, und ich wusste, dass sie über uns lachten.

»Kommen Sie bitte hier lang«, sagte der Zahnreiniger mit einem angedeuteten Kopfnicken, und Aunt Mary und ich wurden ins Haus geführt, wo in einem riesigen und eiskalten Marmorsalon ein paar durchscheinende, mit schwarzer Seide behängte Knochen saßen. Lady Vipont blickte auf die aschfahle Terrasse und in den aschfahlen Himmel.

»Mary, Liebes — und die Kleine. Polly, Emmas Polly!«

Aunt Mary setzte sich in einen goldenen Sessel, dessen goldener Satinbezug hier und da abgewetzt war. Aus den Löchern quoll Polsterung, die ursprünglich von Händen aus dem achtzehnten Jahrhundert dort befestigt worden war. Ich blieb hinter dem Sessel stehen.

»Kann Polly zu den Kindern gehen, Lavinia?«

»Kinder?«

»Da waren Kinder im Innenhof. Mit einer Schubkarre voller Gesangbücher.«

»Ach, liebe Mary, nein! Keine Gesangbücher!«

»Es waren unverkennbar welche.«

»Keine Gesangbücher«, sagte die aufrechte, durchscheinende kleine Dame zu den beiden Mädchen, die jetzt hereinkamen — ein bronzefarbenes und ein silbernes. Hinter ihnen schien noch der Schatten eines Jungen zu schweben. Ein Phantom.

»Delphi — was höre ich da über eine Schubkarre?«

»Zum Verfeuern. Die kann man nicht mehr brauchen, sie sind schon ganz schimmelig. Da kommen Pilzsporen rausgeflogen. Man kriegt keine Luft mehr.«

»Also, Delphi, wer hat dir gesagt, du sollst die Gesangbücher nehmen?«

»Der gesunde Menschenverstand. Wenn wir die nicht verfeuern, haben wir gar nichts. Zumindest nicht, bis die Bäume gefällt sind, und wer sollte das tun? Wir müssen warten, bis sie von allein umfallen. Diesen Winter erfrierst du. Und die Gesangbücher sind wirklich verfault. Wir benutzen sie sowieso nicht.«

»Das ist Polly. Polly Flint. Das ist Delphi und ihre beiden kleinen Freunde aus … ähm, ab mit euch, geht spielen.«

Ich ging in meinen schweren Kleidern und den Uniformgamaschen über den gewichtigen Stiefeln langsam, einen Schritt nach dem anderen, hinter den großen Mädchen her, die lachend vorausliefen.

Der Schattenjunge im Hintergrund schien eine Art Freundlichkeit zu verströmen, aber draußen rief er: »Ich muss gehen«, und verschwand. »Wir gehen dann ins Mausoleum!«, rief eins der Mädchen — das bronzefarbene mit den roten Haaren, »wenn wir noch eine Ladung geholt haben.« Sie hatte kurze, starke Arme und beugte sich über die Schubkarre, in der das silbrige Mädchen saß und sich an den Seiten festhielt. Sie rannten quietschend über das Kopfsteinpflaster, vorbei an all den Stalltüren mit den wackligen Scharnieren. »Stop!«, rief das Mädchen in der Schubkarre an den Stufen zu dem runden Gebäude, erhob sich vorsichtig und stand würdevoll auf. Sie war lang und schmal. Sie stieg gekonnt aus.

»Das ist Delphi, ich bin Rebecca. Rebecca Zeit«, sagte die Bronzene. »Hallo, Kind. Wir klauen Gesangbücher aus der Kapelle.«

»Diese grässliche Kapelle«, sagte Delphi. »Großmutters Kapelle. Voll mit toten Vögeln und Sargständern und schrecklichen Echos und kaputten Öfen.«

»Wir machen die Öfen an. Und wir gucken uns ihre toten Vorfahren an. Willst du mitkommen und dir die toten Vorfahren angucken? Delphi, können wir unseren Tea mit hier rausnehmen? Ins Mausoleum?«

»Wenn du willst.«

»Meinst du, sie erlauben das?«

»Wenn ich es ihnen sage. Ich sag ihnen Bescheid.« Und weg war sie.

»Was ist ein … was du gerade gesagt hast?«, fragte ich die rothaarige Rebecca.

»Ein Mausoleum? Das ist, wo die Toten hinkommen, wenn sie wichtig genug sind und aus derselben Familie stammen. Komm, ich zeig’s dir.«

»Ich will keine Toten sehen.«

»Das sind nur Statuen. Die Skelette sind unter dem Boden. Komm schon, das musst du dir anschauen.«

»Nein, ich gucke mich lieber draußen ein bisschen um.«

»Guck dich lieber drinnen um. Willst du nichts Neues lernen?«

»Nein.«

»Delphi — sie traut sich nicht rein. Sag ihr, sie soll reinkommen.«

Aber Delphi, die eben zurückkam, würdigte mich keines Blickes. Sie war groß, sehr schlank, weißblond, und sie lächelte nicht gerade. Ihr Haar und ihre Beine waren sehr lang, und sie hatte weder Augenbrauen noch Wimpern, aber einen üppigen Mund und breite, schimmernde Augenlider. Sie wirkte zart und spröde, als würde sie nie in die Sonne gehen. Wie eine gepresste Blüte.

Als sie mit den Händen voller Essen die Stufen zum Mausoleum hinaufging, wandte sie mir den Blick zu, mit ihren komisch leeren, riesigen Augen. Sie lachte, tat aber nichts, um mich zu bitten, ihr zu folgen.

»Warum gibt es denn keinen Tee? Nichts zu trinken?«, beschwerte sich das Rebeccamädchen, und ich sah durch die Tür hinein, dann beugte ich mich vor, unbeholfen im Türrahmen, und sah Delphi dicke Sandwiches und scheibenweise Kümmelkuchen auf einem Grabmal arrangieren. Ich dachte: »Ein Gast, der zum Tea eingeladen ist, und Sachen bestellt!« Und ich weiß noch, dass ich dachte, was für eine schreckliche Vorstellung, wenn sie je zum Tea nach Oversands kämen.

»Dauert zu lange«, sagte Delphi, »darauf können wir nicht warten. Wir trinken Wasser. Du — wie heißt du noch mal? Polly — geh mal Wasser aus dem Pferdetrog holen.«

»Wo soll ich es reintun?«

»Benutz deinen Kopf.«

»Ich kann doch nicht meinen Kopf benutzen …«

Aber die blassen, stumpfen Augen lächelten nicht, also zog ich ab und fand einen Eimer und tauchte ihn in den Trog und brachte ihn taumelnd ins Mausoleum.

»Guck, sie hat es wirklich geholt«, hörte ich Rebecca sagen, und Delphi drehte sich um und glotzte. Wieder brachen die beiden lachend zusammen. »Klares Quellwasser zum Tea!«, sagte Delphi. »Was für ein kluges, kleines Mädchen! Sollte sie damit nicht lieber den Boden wischen?«

»Nee, hör auf, Delphi«, sagte Rebecca, und ich hätte am liebsten geweint, weil ich diese Fremdsprache nicht verstand und genau wusste, wie sehr sie ihre Macht über mich genossen. »Mach schon — wisch den Boden, wisch den Boden — mal sehen, ob sie sich in den — auweia! — den Gamaschen überhaupt bewegen kann.«

Das ist von diesem Besuch alles, woran ich mich erinnern kann. Nur das — und eine verhasste Erinnerung an Feuchtigkeit und platschendes, schwarzes Wasser, das über Marmor läuft. Auf einem der Gräber erinnere ich mich an eine in Spinnweben eingehüllte Flasche Pferdesalbe vor ein paar Marmorrosen und dem Kopf eines Cherubs. Ich muss hoch über ihre Köpfe geguckt haben, denn ich hörte sie sagen: »Oh, wir sind aber hochmütig!«, und ich glaube, ich sah eine hohe Kuppel mit Wappenbildern im Putz, aus denen blaue und goldene und leuchtend rote oder zu Rosa verblasste Flocken fielen wie farbiger Schnee. Der Putz in der Kuppel war von Schwalbennestern dicht besetzt, und alles war voller Vogelkot. An einem zerborstenen Fenster blühte ein Büschel Glockenblumen, und in der Kuppel selbst klaffte ein riesiger und furchteinflößender Riss, durch den die Wurzeln des Grünzeugs baumelten, das oben auf dem Dach wuchs. Eine recht große, von Spinnweben umhüllte Weißbirke wuchs hinter einem Marmor-Märtyrer, der nur in ein paar Laken gekleidet war.

»War es nett mit den anderen Kindern?«, fragte Aunt Mary.

»Ja, danke.«

»Was für ein hübsches Mädchen, die kleine Delphi. Sie wird einmal eine große Schönheit werden. Es ist nicht so einfach für solche Schönheiten.«

»Jetzt ist sie jedenfalls keine Schönheit«, sagte ich. »Sie ist ziemlich hässlich.«

»Bitte, Liebes? Du hast natürlich auch sehr hübsch ausgesehen. Und du warst so brav.«

Eines Tages, kurz nach meinem zwölften Geburtstag, kam ich von der Salzmarsch herein und hatte die Hände voller Blumen und Gräser. Ich hatte sogar Kreuzblumen gefunden, und Aunt Mary war entzückt. Wir legten einen Hortus Siccus an, und ich glaube, in diesem Moment hielt sie mich für ihr eigenes Kind. »Oh, Polly!«, sagte sie. »Wie wundervoll! Und bald wirst du konfirmiert.«

»Nein.«

Das Wort hallte im Arbeitszimmer wider und wurde von Erzdiakon Younghusbands Gesicht zurückgeworfen. Er wirkte verdattert, ebenso wie meine Tante und ich.

»Nein?«

»Nein, Aunt Mary.«

»Aber mein liebes Kind, warum das denn nicht?«

»Ich … Einfach nein, danke.«

»Aber warum denn bloß nicht?«

Ich wusste nicht, warum denn bloß nicht, aber ich wusste, dass die Antwort nein war.

»Ist es wegen Father Pocock? Magst du Father Pocock nicht?«

Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, aber jetzt stellte ich fest, dass es tatsächlich so war. Aber es war nicht der Grund.

»Es ist nicht wegen Father Pocock«, sagte ich. »Es tut mir entsetzlich leid. Aber ich möchte nicht konfirmiert werden.«

»Sag nicht entsetzlich, Liebes, wenn du es nicht wörtlich meinst, was ich befürchte. Findest du dich zu jung? Father Pocock könnte sicher mit dir darüber sprechen. Was sagst du?«

Ich betrachtete den Teppich.

Ich sagte: »Wieso denn? Er kann es ja nicht ändern.«

»Ändern?«

»Mein Alter. Zwölf ist zwölf.«

»Fast dreizehn. Er könnte mit dir über Gnade sprechen.«

Ich starrte die Bücher an. Das Thema ruhte.

Aber alle paar Monate wurde es wieder aufgeweckt, und jedes Mal antwortete nicht ich, sondern ein anderes Mädchen: »Nein.«

»Tut mir leid, dass ich so verdorben bin«, sagte ich.

»Sag nicht verdorben, Polly. Das bedeutet, dass etwas vergammelt ist. Hast du wirklich darüber nachgedacht? Über Erlösung? Du hast so viele wunderbare Predigten gehört. Du wohnst seit sechs Jahren in diesem Haus.«

»Ja. Und ich sage nein. Es tut mir schrecklich leid.«

Jedes Mal kribbelte es mich vor Angst und Triumphgefühl. Ich war wie eine neue Tennisspielerin, die gegen einen Champion antritt und den Ball unerreichbar zurückschmettert.

»Konfirmiert, Polly …«

»Nein!«

»Nein, Aunt Mary, es tut mir kolossal …«

»Sag nicht kolossal, Liebes. Es ist unangemessen in Bezug auf die Reue, es sei denn, du benutzt es auf die griechische Weise, wo es riesig bedeutet, aber das ist obsolet. Lass uns gemeinsam ein Gebet sprechen, und dann lesen wir ein bisschen Tennyson.«

Konfirmieren würde ich mich nicht lassen.

»Ist es wegen des Geruchs?«, fragte Charlotte in der Küche. Die alten Damen waren alle das Kloster besuchen gegangen. The Rood. Es war heiß in der Küche, und ich war müde, weil ich den ganzen Nachmittag in der Marsch gewesen war. Charlotte kochte in einem großen, schwarzen Topf auf dem Feuer ihre Unterhosen aus, und ich betrachtete schläfrig den Topf und dachte »Heiliger Bimbam« und fühlte mich verwegen dabei. Über dem Gelben Haus lauerten die Schuldgefühle.

»Geruch«, sagte Charlotte. »Weihrauch. Sonntags.«

»O nein. Ich liebe Weihrauch.«

Sonntag war Prozessionstag. Die erste fand morgens um halb acht statt, wenn meine Tanten und Mrs Woods sich stumm in der Halle versammelten und dann über die Marsch zur Kirche gingen. Um neun Uhr kehrte die Prozession zurück, und es fand der Höhepunkt der Woche statt — das Frühstück, denn sonntags gab es Kaffee.

Dieser Kaffee war das einzige glamouröse Element in unserem Leben, und er war hervorragend, denn Mrs Woods’ verstorbener Mann hatte in Afrika in Kaffee gemacht, und sie war Spezialistin. Der Kaffee wurde aus London mit dem Zug an sie persönlich geschickt, und sie bezahlte ihn. Vielleicht war das ihre Miete, denn meine Tanten wären nicht auf die Idee gekommen, Geld von ihr zu verlangen, denn sie war, sagte man uns, »arm wie eine Kirchenmaus«.

Mrs Woods bereitete den Kaffee selbst zu und trug die Kanne selbst aus der Küche herein, und dann wurde gerührt und pausiert und geprüft und geschnüffelt und mit den Lippen geschmatzt, und schließlich wurden die drei anderen großen Tassen gefüllt und herumgereicht.

Ich liebte den Kaffee. Er brachte mir die Primärfarben und herrlichen Sonnenschein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, woher ich das wusste. Vermutlich hatte ich so langsam etwas gelernt, von den Globen des Erzdiakons im Arbeitszimmer, über Inseln und tropische Strände und Korallenriffe, und aus sämtlichen Seefahrtsbüchern, die ich finden konnte. Afrika klang so verlockend wild. »In Kaffee war Woods wirklich gut«, sagte seine Witwe, und wir gedachten seiner schweigend.

Farben und Hitze.

So sehr ich mich auch bemühte, konnte ich Mr Woods gedanklich nicht mit Farben und Wärme verknüpfen, oder mit sonst irgendetwas, das nicht ausdrücklich blass und kühl war. Ich stellte mir Mr Woods durchscheinend vor, eine Amöbe, eine junge Kaulquappe. Die Dunkelheit, die Mrs Woods umgab, musste ihn aufgesogen haben. Einmal hatte sie mich zu seinem Grab mitgenommen — sehr klein und einsam im besseren Teil des neuen Friedhofs an der Kirche. Es war ein besonders kleines Grab, dekoriert mit einer umgestülpten gläsernen Flammerischüssel. Unter der Schüssel war ein Kranz unverwüstlicher Rosen aus etwas, das wie Kerzenwachs aussah. »Woods«, sagte sie stoisch, zeigte auf die Schüssel, und ich sah ihn klein und hilflos vor ihrem unbeugsamen Willen, nur von seinem Kaffee getröstet, wie er sich nach dem farbenfrohen Urwald sehnte. Ich hoffte, dass es im Himmel Kaffee für ihn gab.

Nach dem Frühstück kam die zweite Prozession — Hut, Mantel, Handschuhe, Gebetbuch, Gamaschen, ernstes Gesicht. Um halb elf gingen wir los, diesmal folgte ich ihnen, denn zum Elf-Uhr-Gottesdienst war ich zugelassen, da er gesungen wurde und nur der heiligste Priester — Mr Pocock — die Kommunion bekam. Ich saß da wie alle anderen auch, und wenn man mich ansah, hätte man nicht vermutet, dass ich nicht konfirmiert war.

Elf Uhr.

Weihrauch.

Feierliche Musik, eine Stunde Predigt und eine Art Stammestanz im Wind an der Kirchentür, wo Father Pocock sich vor uns allen verbeugte und wir uns vor ihm. Lachen und Händeschütteln. Breites, dummes Grinsen. Schlechtes Gewissen wegen der Verachtung. Dann durch die Marsch nach Hause — kein schlechtes Gewissen hier. Und dann das Sonntagsessen.

Und der Duft, der durch das blaue und rote Glas der Haustür kam: nach Rind und Minzkartoffeln, schwerer Sauce, und der umwerfende Geruch nach Kohl.

Und dann der Duff. Charlotte nannte es Duff, die Tanten sagten Mehlpudding. Mrs Woods nannte es »komplett unverdaulich«. Der Duff behielt die Form, in der er gemacht war, und an den Seiten lief Marmelade und manchmal Schokoladensauce hinunter. Er kam immer mit dem gelben Krug mit den bunten Papageien drauf, in dem die Vanillesauce war. Der Krug erinnerte mich an meinen Vater. Ich habe keine Ahnung, warum. Ich liebte ihn.

Danach zogen wir uns alle in unsere Zimmer zurück, wobei ich nicht glaube, dass Aunt Mary schlief. Ich glaube, sie kniete sich auf ihr Kniebänkchen, weil ich sie einmal durch die Tür sah, als Charlotte um vier mit dem wiederbelebenden Tee herumging. Aunt Mary kniete aufrecht, ihre Haut war wächsern. Sie trug immer noch die Haube, die unter dem Kinn zusammengebunden wurde. Das Zimmer war immer so kalt, dass der Tropfen an ihrer Nasenspitze auch gut dort hätte festgefroren sein können.

Um halb sechs folgte die dritte Prozession zum Evensong, auch da ging ich mit, nachdem das Haus zeremoniell abgeschlossen worden war; denn zu dieser Andacht, der »Dienstbotenandacht«, ging auch Charlotte mit. Sie ging zehn Minuten vor uns durch die Hintertür los und saß dann mit ein paar anderen Hausmädchen auf der Empore. Sie kam auch allein zurück, nach uns anderen, denn sonntagabends hatte sie ein bisschen Freizeit, solange sie das Abendessen fertig auf dem Sideboard angerichtet hatte — kalter Braten, kalter Mehlpudding, kalte Vanillesauce. Wir bedienten uns selbst, und manchmal waren wir sogar so nett und brachten das Geschirr hinterher zum Abwaschen in die Küche.

Dann ging ich in mein Zimmer und bereitete mich auf den Unterricht bei Aunt Mary und Mrs Woods am nächsten Morgen vor. Dann ging ich zu Bett.