Weit weg von Verona - Jane Gardam - E-Book
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Weit weg von Verona E-Book

Jane Gardam

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Beschreibung

Jessica sagt bedingungslos und in den unmöglichsten Momenten die Wahrheit. Ihr Widerwille gegen Anpassung bringt sie in dem kleinen englischen Badeort ständig in verquere Situationen. Sie hat genau eine Freundin – der Rest ihrer kleinen kriegsüberschatteten Welt begegnet ihr mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Aber das ist ihr egal, denn eigentlich braucht sie all ihre explosive Kraft, um Schriftstellerin zu werden. Oder ist sie das schon? „Weit weg von Verona“ ist Jane Gardams erster Roman. Doch er enthält bereits all das, wofür sie bewundert wird – die atmosphärische Stärke, den Mut zum Geheimnis und ihren besonderen Witz. Mit Jessica Vye hat sie eine der hinreißendsten Figuren überhaupt geschaffen.

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Über das Buch

Hat es je eine entwaffnendere Ich-Erzählerin gegeben? Jessica sagt bedingungslos und in den unmöglichsten Momenten die Wahrheit. Ihr Widerwillen gegen jegliche Form der Anpassung bringt sie in dem kleinen Badeort an der Nordostküste Englands ständig in verquere bis gefährliche Situationen. Sie hat genau eine Freundin – der Rest ihrer kleinen kriegsüberschatteten Welt begegnet ihrem spektakulären Eigensinn mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Bis Christian, ein versnobter junger Salonsozialist, ihr Avancen macht. Das erste Rendezvous ist ein Desaster und wird von einem Fliegerangriff beendet, den sie nur durch Glück überleben. Es wird auch erst mal das letzte sein, denn Jessica braucht ihre explosive Kraft, um Schriftstellerin zu werden. Oder ist sie das schon?

Weit weg von Verona ist nicht einfach nur Jane Gardams erster Roman. Diese Geschichte eines Abschieds von der Kindheit sprudelt vor Frische und Energie und enthält doch bereits all das, wofür Gardam bewundert wird – die atmosphärische Stärke, den Mut zum Geheimnis und ihren besonderen Witz.

Hanser Berlin E-Book

Jane Gardam

Weit weg von Verona

Roman

Aus dem Englischen von Isabel Bogdan

Hanser Berlin Verlag

Die Sonne schien das Meer entlang,

sie schien mit aller Macht

und scheuerte die Wellen blank

zu heller Glitzerpracht.

Und das war wirklich sonderbar,

so mitten in der Nacht.

Lewis Carroll, Alice im Spiegelland

Teil IDer Verrückte

1

Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht ganz normal bin, denn im Alter von neun Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Das sage ich lieber gleich, denn mir ist aufgefallen, dass man beim Lesen, wenn etwas erst so langsam im Laufe eines Buches durchsickert, irgendwann enttäuscht ist oder sich ausgetrickst fühlt, wenn es dann klar wird.

Ich bin allerdings zum Glück nicht verrückt, und soweit ich weiß, gibt es da auch in meiner Familie keine erbliche Vorbelastung. Was mich von anderen Mädchen meines Alters – dreizehn Jahre – unterscheidet, ist Folgendes: Als ich neun war, kam ein Mann in unsere Schule – eine Art private Kinderaufbewahrung, wo man ab fünf Jahren hingehen konnte, und die meisten Mädchen verließen die Schule wieder, wenn sie elf waren, außer sie waren wirklich sehr dumm –, um uns zu erzählen, wie man Schriftsteller wird. Nicht viele von uns hatten wirklich schon darüber nachgedacht – über Schriftsteller im Allgemeinen, ganz zu schweigen davon, selbst eine zu werden. Ich am allerwenigsten, jedenfalls hatte ich es nicht wirklich in Erwägung gezogen. Ich hatte aber schon seit einigen Jahren geschrieben. Bei uns zu Hause lag immer jede Menge Papier herum, mein Vater war Housemaster an einer Schule; ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht Stifte in die Hand genommen und Dinge aufgeschrieben hätte. Komisch, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, Papier zu kaufen. Es kommt mir vor, als müsste es das kostenlos geben. Wie bei Pastorenkindern mit der Kollekte. Manchmal stehle ich Papier, wenn ich mit den Gedanken woanders bin.

Dieser Mann kam also. Wir waren alle im größten Klassenraum, die Kleinen saßen im Schneidersitz auf dem Boden, die Großen lümmelten sich auf Stühlen dahinter herum, und man sagte uns, wir sollten still sein. Die Tür ging auf, und hinter der Direktorin kam dieser entsetzlich müde aussehende Mann herein. »Liebe Mädchen«, sagte sie, »das ist Mr Arnold Hanger. Er kommt von sehr, sehr weit her, um euch zu erzählen, wie man Schriftsteller wird. Sie brauche ich gar nicht groß vorzustellen, Mr Hanger, denn wir alle lieben Ihre Bücher so sehr (strahl, strahl), dass wir das Gefühl haben, Sie schon gut zu kennen.«

Dann sagte sie noch einmal recht scharf »Mr Hanger«, denn ihm war das Kinn auf die Brust gesunken, als würde er gleich wegnicken. »Mr Hanger«, sagte sie, »für uns sind Sie fast wie ein alter Freund.«

Alle applaudierten wie verrückt und klatschten den anderen auf die Knie und stießen einander in die Seite und schnaubten und versuchten sich nichts anmerken zu lassen, denn natürlich hatte NIEMAND je von dem Mann gehört, außer vielleicht der Direktorin. Ich bin sicher, dass keine der anderen Lehrerinnen ihn kannte, denn die waren entweder zu alt, um überhaupt noch irgendwas zu lesen, oder sie hatten es gar nicht gelernt. Es war eine ziemlich eigenartige Schule.

Der Mann sah aus, als sei ihm das auch klar. Er öffnete langsam die Augen, als die Direktorin sich hinsetzte und auf ihrem Stuhl zurechtrutschte, ganz pudrig, mit ihrer züchtigen Bluse unter dem tief ausgeschnittenen, losen Oberteil, und hoffnungsvoll zu ihm aufsah. Aus irgendeinem Grund war das wahnsinnig lustig, und das Mädchen neben mir und ich brachen fast zusammen, beinahe hätte ich rausgehen müssen. Ich nehme an, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ich das getan hätte.

Jedenfalls.

Arnold Hanger stand mit einem tiefen Seufzer auf und betrachtete uns, dann breitete sich ein wundervolles Lächeln auf seinem ganzen Gesicht aus, und er fing an zu sprechen. Er war absolut umwerfend. Sogar die aus der obersten Klasse, die wirklich Garstigen, die den ganzen Tag nur rumsaßen und gähnten und nach der Schulzeit einfach genauso weitermachen würden – es war eine ziemlich vornehme Schule –, selbst die setzten sich auf und hörten zu.

Er hatte eine sehr schöne Stimme, und er hatte jede Menge Bücher dabei, in denen Zettel steckten, mit denen er sich bestimmte Stellen markiert hatte, und er nahm erst ein Buch zur Hand, dann das nächste, und las uns Stellen vor – lange, lange Stücke, und manchmal ganz kurze. Gedichte und alles Mögliche.

Na ja, ich war erst neun und fast noch im Märchen-Alter. Tatsächlich war es nicht so einfach gewesen, mich überhaupt ans Lesen zu kriegen, denn ich stromerte immer umher und kritzelte auf dem Schreibpapier meines Vaters herum, drückte das Gesicht ans Fenster und so weiter; ich VERPLEMPERTE ZEIT, sagten sie immer. Er fuhr fort – Buch um Buch um Buch, von dem ich noch nie gehört hatte. Gedichte und Geschichten und Dialoge und Teile aus Theaterstücken, alles mit verschiedenen Stimmen vorgetragen. Ich saß so still, dass ich gar nicht aufstehen konnte, als er fertig war, so steif war ich.

Die Direktorin bedankte sich bei ihm (strahl, strahl, STRAHL), und er sah plötzlich wieder traurig und müde aus und trottete mit gesenktem Kopf hinter ihr her zur Tür, während wir klatschten und klatschten. Er blieb mit dem Rücken zu uns einen Augenblick lang in der Tür stehen, dann drehte er sich um und starrte uns an; plötzlich hob er die Hand, und wir wurden still.

»Danke«, sagte er. »Freut mich, dass es euch gefallen hat. Falls ich hier heute irgendwen überzeugt habe, dass Bücher Spaß machen sollten, dass Englisch nichts mit Pflichterfüllung zu tun hat, dass es nichts mit der Schule zu tun hat – mit Arbeitsblättern und Hausaufgaben und Ankreuzen und Durchstreichen –, dann bin ich glücklich.« Er wandte sich um, aber dann drehte er sich noch einmal zu uns und rief, er brüllte: »Zur Hölle mit der Schule!«, schrie er. »Zur Hölle mit der Schule! Es geht um die Sprache. DIE SPRACHE IST DAS LEBEN.« Die Direktorin packte ihn und führte ihn zum Tee in ihr Arbeitszimmer. Sie sah nicht gerade begeistert aus, und wir wurden entlassen, und ich rannte nach Hause.

Ich holte alles, was ich je geschrieben hatte, aus meinem Schreibtisch und raste zurück in die Schule – meilenweit entfernt –, aber als ich ankam, sah ich das Taxi zum Bahnhof gerade losfahren und Mr Hangers Hut durch die Rückscheibe. Ich drehte mich um und flog wieder nach Hause, durch unseren Garten und hinten wieder raus in Richtung der Gleise, ich sah nach rechts und links und überquerte die Gleise und lief durch die Schrebergärten an den Gleisen entlang bis zu dem Hang, der zum Bahnsteig hinaufführt, und dann den Bahnsteig hinunter.

Ich war vor ihm da und musste warten, bis er über die Brücke kam.

Er kam sehr langsam. Er trug einen flachen, braunen Hut und einen langen, schon etwas älteren Tweedmantel. Mitten auf der Brücke blieb er stehen, beobachtete den Zug beim Einfahren, sah ihm in den Schornstein und ließ sich vom Qualm einhüllen, wie mein Vater und ich früher, als ich noch klein war, bevor mein Bruder geboren wurde. Und dann trottete er ganz langsam, als wäre es ihm egal, ob er den Zug erwischt oder nicht, die Holzstufen der Fußgängerbrücke hinunter. »Nun machen Sie schon«, rief der Schaffner und hielt ihm eine Tür zur dritten Klasse auf. »Machen Sie hin!«, und ich lief zu ihm, als er gerade einstieg.

»Würden Sie sich das mal angucken?«, fragte ich. Ich schob mich vor den Schaffner und warf Mr Hanger meine ganzen Zettel zu. »Jetzt aber«, sagte der Schaffner. Es wurde gewinkt und gepfiffen, und ich sah Arnold Hanger drinnen auf dem Boden herumkriechen und dann mit dem Lederriemen kämpfen, mit dem sich das Fenster öffnen ließ. Er bekam den Kopf erst heraus, als der Zug schon am Ende des Bahnsteigs war, aber ich folgte ihm noch ein Stück den Hang hinunter, und er nahm den Hut ab und winkte sehr galant damit und verpasste das Signal nur um Haaresbreite. »Das mache ich! Und wohin soll ich es zurückschicken?«, rief er, und ich rief zurück: »Ich habe meinen Namen und meine Adresse draufgeschrieben!« (Tatsächlich neigte ich damals dazu, meinen Namen und meine Adresse auf alles zu kritzeln, was ich schrieb. Und auch auf alle möglichen anderen Sachen, vor allem auf meine Arme und Oberschenkel. Ich habe festgestellt, dass das typisch für Kinder in dem Alter ist.)

Nach einem kleinen Geplänkel mit dem Schaffner und nachdem ich durch den Gepäckraum hinausgescheucht worden war, beruhigte ich mich ein bisschen, und dann war es mir peinlich. Ich erzählte niemandem, was ich getan hatte, und komischerweise sprach auch in der Schule niemand über den Vortrag, auch ich nicht. Ich behielt für ein paar Tage die Post im Auge, aber dann vergaß ich es, was auch typisch ist, wenn man acht oder neun ist. Das war auch ganz gut so, denn ich hörte erst Monate später wieder davon, mitten im Winter. Tatsächlich war es genau an dem Tag, als wir unser Haus verließen und auf die andere Seite Englands zogen – »in die abscheulichste Gegend des Landes«, wie meine Mutter sagte –, weil mein Vater nicht mehr Lehrer sein wollte, sondern Hilfsgeistlicher.

Wir saßen im Taxi zum Bahnhof, meine Mutter weinte, und Rowley, mein Bruder, weinte auch – er war noch sehr klein und tat selten etwas anderes –, und mein Vater sprach mit dem Taxifahrer darüber, ob es Krieg geben würde oder nicht, und versuchte, nicht zu unserem Haus zurückzuschauen, in dem noch unsere Vorhänge in den Fenstern hingen und unsere Gartenstühle auf dem Rasen standen. Selbst die Schaukel hing noch im Birnbaum, denn das Haus gehörte der Schule, und das meiste darin mussten wir für den nächsten Housemaster und seine Familie dalassen.

Ich sagte: »Wir hätten die Schaukel abnehmen sollen. Sie wird morsch, wenn sie den ganzen Winter draußen bleibt.« Und mein Vater sagte: »Ach, die Eaves werden sie morgen abnehmen. Guter Mann, Eaves. Er wird sie streichen und ölen und sie über den Winter auf den Dachboden bringen. Ich würde mich nicht wundern, wenn er im Frühjahr die Gartenmöbel streichen lässt.«

»Ich mag es, wenn die Gartenmöbel so abblättern«, sagte ich, und dann musste ich auch weinen, und mein Vater rief: »Meine Güte! Was ist denn mit euch allen los? Willy« (er kennt immer alle mit Namen), »Willy, leg dich in die Riemen. Lass das Taxi in See stechen.« Dann zückte er sein Taschentuch und putzte sich sehr laut die Nase und schnaubte geräuschvoll und ausgiebig, bis ihm die Augen tränten.

Als er das Taschentuch wegsteckte, sagte er: »Hier, Jessica, ich habe ganz vergessen, dir das zu geben. Heute ist ein Brief für dich gekommen.« Und als das Taxi hielt, überreichte er mir einen langen, dicken Umschlag, der in leuchtend blauer Schreibmaschinenschrift an mich adressiert war.

Ich öffnete ihn sofort in dem kleinen Gang, in dem wir für die Fahrkarten anstehen mussten, und ließ die ganzen Sachen fallen, die ich hätte tragen sollen, weil meine Mutter Rowley und die Babytasche und eine Menge Päckchen hatte (sie ist eine sehr schlechte Packerin). »Jessica«, sagte sie, »musst du das denn jetzt lesen?« Und ich antwortete nicht, sondern guckte nur, denn in dem Umschlag steckte alles, was ich je geschrieben hatte, und obendrauf hatte Mr Hanger einen Zettel geheftet, auf dem stand ebenfalls in leuchtend blauer Schreibmaschinenschrift:

JESSICA VYE, DU BIST OHNE JEDEN ZWEIFELEINE ECHTE SCHRIFTSTELLERIN!

2

Diese Erfahrung hat mich grundlegend verändert, wie im Himmel, »in einem Augenblick«, und ich glaube, es ist der Grund für die nächste Sache, die ich klarstellen muss. Nämlich: Ich bin nicht besonders beliebt. Manche mögen mich sogar ausdrücklich nicht. Also, um es ganz ehrlich zu sagen, ziemlich viele Leute können mich absolut nicht leiden.

Das sage ich nicht nur so, um Mitleid zu erregen, wie älteste Geschwister es angeblich tun, wenn sie in der Zuneigung ihrer Eltern einen neuen Platz zugewiesen bekommen, weil ein zweites Kind geboren wird. Ich bin überhaupt nicht eifersüchtig auf Rowley. Man kann gar nicht eifersüchtig auf ihn sein. Er ist wirklich süß, nur entsetzlich verwöhnt, und man lässt ihm alles Mögliche durchgehen, für das man mich gewiss hätt’ ausgeschimpft (ich spreche, wie übrigens auch Shakespeare, gern in Blankversen).

Was ich allerdings am Unbeliebtsein nicht verstehe, ist, dass die Leute mich am Anfang oft sehr mögen. Das merkt man. Zum Beispiel, als wir von Vaters Schule hierhergezogen sind, nach Cleveland Sands, und ich auf die Highschool nach Cleveland Spa geschickt wurde, war ich am Anfang wahnsinnig beliebt. Ich wurde im allerersten Trimester gleich zur Klassensprecherin gewählt, und sogar zum Schlagball-Captain, obwohl ich da hoffnungslos schlecht bin, und alle wollten mich in ihren Teams und mit mir seilspringen und für Zugtickets anstehen. Dann wurde es langsam immer weniger, und irgendwann hassten mich alle genauso sehr, wie sie mich vorher geliebt hatten. Es war schrecklich. Ich sah sie die Lippen kräuseln und sich abwenden und kichern. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich besorgte mir drei Tüten Karamellbonbons – das war noch vor der Rationierung – und reichte sie herum und sagte: »Nimm ruhig zwei, ich habe jede Menge«, aber sie sahen mich alle nur an, als wäre ich verrückt, und sagten »Danke« und starrten mich weiter an, während sie die Hände in die Tüte steckten, und hinterher hörte ich sie darüber lachen. Florence Bone – meine Freundin – fragte: »Warum tust du das?«, und ich antwortete nicht. Dann fragte ich: »Warum hassen mich alle so?«, und sie sagte: »Tun sie doch gar nicht. Was hast du denn? Reg dich mal ab.« Florence Bone ist selbst total unaufgeregt und ausgeglichen und wahnsinnig gut in Mathe und grundsätzlich sehr ehrlich.

Aber in diesem Moment war sie nicht ehrlich. Ich wusste, dass sie mich nicht leiden konnten, und bis auf Florence mochte ich auch niemanden so richtig, insofern hätte es mir auch egal sein können. »Was erwartest du denn?«, fragte Florence. »Wir finden dich völlig in Ordnung. Was willst du denn noch?«

Aber sie log. Ich muss noch etwas über mich erzählen, damit klar ist, dass sie log: Ich weiß immer, was die Menschen denken. Damit brüste ich mich nicht. Ehrlich, ich wurde einfach so geboren. Tatsächlich ist das gar nicht so ungewöhnlich, ich kenne noch ein oder zwei weitere Leute, die das können. Eine habe ich letztes Jahr kennengelernt, von der werde ich noch erzählen, und das wird Ihnen gefallen, denn sie war die schrecklichste Frau … Aber darum geht es jetzt nicht.

Es geht um Folgendes, in drei Punkten. Dreierlei. Also:

1. Ich bin nicht ganz normal.

2. Ich bin nicht sehr beliebt.

3. Ich weiß immer, was Leute denken.

Und ich könnte noch hinzufügen:

4. Ich kann entsetzlich schlecht die Klappe halten, wenn mir etwas durch den Kopf geht, denn

5.ICH SAGE UNWEIGERLICH IMMER UND ÜBERALL DIE WAHRHEIT.

Darauf bilde ich mir wirklich nichts ein (Nr. 5). Ich komme nicht dagegen an. Man braucht sich nichts auf etwas einzubilden, wozu man nichts kann. Es ist eher eine Art Krankheit. Florence Bone meint, ich sollte wirklich mal mit einem Psychiater darüber sprechen, ich habe sogar schon meinen Vater gefragt, ob er das auch findet. Er hat nur geschnaubt wie ein Verrückter und gesagt, er kennt niemanden, der einen Psychiater so wenig nötig hat wie ich.

Dass ich immerzu die Wahrheit sagen muss, hat übrigens überhaupt nichts damit zu tun, dass mein Vater Hilfsgeistlicher ist.

Als ich schon seit Ewigkeiten in Cleveland Spa war und zwölf Jahre alt, dachte ich, zum Abschluss des Schuljahrs wäre es doch nett, irgendetwas zu unternehmen, zum Tea ausgehen oder so was. An der Ecke Ginger Street lag ein Tea Shop, der Elsie Meeney’s hieß, an dem wir jeden Tag auf dem Weg zum Bahnhof vorbeikamen (Cleveland Spa liegt zehn Meilen von Cleveland Sands entfernt). Es war ein düsterer Laden mit einem gläsernen Vordach über dem Gehweg, das von Pfeilern gehalten wurde. Vor dem Krieg hatten Blumenkörbe zwischen den Pfeilern gehangen und dem Laden Atmosphäre verliehen. Die Metallkörbe hingen immer noch dort, aber es waren keine Blumen mehr drin, und das Glas war wegen der Bombenangriffe aus dem Vordach genommen und durch Bretter ersetzt worden.

Im Schaufenster standen schiefe Kuchenregale, in denen runde Papierdeckchen lagen, wo Kuchen hätten stehen sollen. Ein Schild pries Hochzeitstorten an, und in einer Ecke lagen zwei ältliche Teekuchen. Obwohl erst seit etwas mehr als einem Jahr Krieg war, wirkten die Cafés schon viel zu groß.

»Kriegt man hier überhaupt noch Tea?«, fragte Helen Bell. »Sieht nicht aus, als würde hier noch irgendetwas passieren.«

»Kriegt man«, sagte ich. »Ich habe mich erkundigt. Ich bin einmal zur Dinnerzeit reingegangen und habe gefragt. Ich sagte: ›Machen Sie nachmittags noch Tea?‹, und drinnen hängt tatsächlich ein Anschlag, auf dem steht: ›Tea‹.«

Die drei – es waren Helen Bell, Florence Bone und die komische Cissie Comberbach – wirkten, als würden sie es erst glauben, wenn sie es sahen, und wir drängten alle in den Laden und legten unsere Schuhbeutel und Gasmasken und Schulranzen auf den Boden und nahmen die Umschläge mit den Zeugnissen so lange in den Mund. Hinter dem Tresen stand eine dünne Frau mit einer lavendelfarbenen Schürze und las eine Zeitschrift. Hin und wieder schniefte sie lautstark und blätterte um. Florence stupste mich an. »Denn man los«, sagte sie. Ich hustete.

Die Frau sah nicht mal auf. Sie blätterte um und ließ die Füße kreisen, und ich räusperte mich noch einmal.

»Entschuldigung«, sagte ich, »können wir Tea bekommen?«

»Äh?«, sagte sie.

»Tea«, sagte ich.

»Tea?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich. »Steht doch da.«

»Also, ich weiß nicht«, sagte sie. Sie starrte den Anschlag an. Er hing an einem Torbogen, hinter dem es drei Stufen hochging. Oben hingen rote Plüschvorhänge, die in der Mitte zurückgehalten wurden.

»Da steht doch Tea«, sagte Florence, allerdings nicht zu der Frau, eher zu der Luft um sie herum.

»Oh, das würde ich auch so sehen, da steht Tea«, sagte sie und schniefte. Sie blätterte weiter in ihrer Zeitschrift und ließ den Fuß kreisen und kreisen.

»Also, ich habe vorher gefragt, und da steht Tea, und wir gehen da jetzt rein«, sagte ich.

Wir stapften die Stufen hinauf, unter dem Torbogen hindurch und befanden uns in einem kleinen, runden Raum mit einem Buntglasfenster, über das netzförmig braune Papierstreifen geklebt waren, falls es einen Bombenangriff gab. Es war ein stickiger Raum mit nur zwei Tischen darin: einem großen, runden mit schmutziger Tischdecke und einem kleinen mit sauberer Decke und einem »Reserviert«-Schild. Wir setzten uns an den schmutzigen Tisch. Helen und Cissie sahen sich an, und Cissie kicherte.

»Jetzt bestellen wir«, sagte ich. »Wir bitten um die Karte.«

»Falls es eine gibt«, sagte Florence. »Die Hoffnung stirbt zuletzt.«

Es wurde sehr still.

»Also«, sagte Helen nach einer Weile, »warum wolltest du eigentlich zum Tea ausgehen? Ich verstehe gar nicht, was du willst.« Helen Bell hat schmale Hände und ein schmales Gesicht. Sie spielt gut Klavier. Ich mag Leute, die dauernd Klavier spielen, eigentlich nicht so gerne. Sie haben so gemeine kleine Münder.

»Nun ja«, sagte ich, »man unternimmt mal was. Ist doch nett. Kann man doch gut machen, zum Schuljahresende. Meine Mutter ist manchmal mit mir ausgegangen, wo wir früher gewohnt haben, zu Kuchen und Limonade. Einfach, weil es Spaß macht.«

»Wir verpassen den Zug nach Hause.«

»Dann nehmen wir halt den nächsten. Das ist sowieso netter.« Das hatten wir alles längst besprochen, geradezu stundenlang. Wir hatten die schriftliche Erlaubnis unserer Mütter dabei, wir hatten jede einen Shilling, alles. Wie sie sich an dieser Schule mit manchen Dingen anstellen! Es dauert ewig, bis sie mal irgendetwas machen. Mein Vater sagt, in diesem Teil des Landes an der Küste gibt es viel dänisches Blut, und die Dänen neigen zum Herumstehen. Da braucht man sich ja nur Hamlet anzusehen.

»Zu Hause halten sie mich für verrückt«, sagte Helen. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen mir meinen Tea warm halten.«

»Aber das hier ist doch dein Tea. Richtiger Tea. Kleine Eclairs und so. Nachmittags-Tea.«

»Wo denn?«, fragte Helen.

»In einer Minute«, sagte ich.

»Bist du irr?«, fragte Cissie Comberbach (sie sagt fast nie etwas). »Wir haben Krieg.«

»Aber noch nicht lange. Wenn es noch Tea Shops gibt, gibt es auch noch Tea. Ihr wisst hier nur nichts davon. Cafés wie dieses hier waren großartig, Leute mit bunten Hüten aßen Eis, es gab Blumen am Vordach, wundervolle, fette Schokoladenkuchen und Sonne!« Helen wandte sich ab, griff nach ihrer Gasmaske und schwenkte sie herum, als wollte sie bald gehen, und plötzlich ging sie mir fürchterlich auf die Nerven.

»ÄHEM«, rief ich. »Wir bräuchten dann BITTE DIE KARTE. Könnten wir bitte DIE KARTE HABEN?« (Ich benutzte die Stimme meiner Mutter, wenn ihr plötzlich einfällt, dass sie mal die FRAU EINES HOUSEMASTERS war.)

Zwischen den Vorhängen hindurch sah man die Frau von ihrem Barhocker herabsteigen, und sie kam und stellte sich mitten in den Durchgang. »Wir haben keine Karte«, sagte sie merkwürdigerweise. Sie ließ den Finger in der Zeitschrift stecken und sah uns an. Dann rief sie: »Alice!« Irgendwoher kam eine Antwort, und am hinteren Ende des dunklen Raumes tauchte eine dicke, schmuddelige Frau auf; soweit wir sehen konnten, durch eine Art Loch im Boden. Sie schien überrascht, uns zu sehen. »Wir haben zu«, sagte sie und wollte verschwinden.

»Haben Sie nicht«, sagte ich. »Ich habe gestern extra gefragt. Wir haben die Erlaubnis dabei. Und auf dem Tisch da liegt eine saubere Tischdecke, und es ist reserviert.«

»Für einen Stammgast. Verzieht euch.«

»Tun wir nicht. Wir haben Geld. Und wir möchten Tea.«

»Wenn ihr euch nicht verkrümelt, ruf ich die Polizei.«

»Wenn Sie uns keinen Tea bringen, rufe ich die Polizei«, sagte ich. »Weil Sie für etwas werben, was Sie gar nicht haben.«

Florence trat mich unter dem Tisch. »Halt die Klappe«, sagte sie. »Du hast einen knallroten Kopf. Wir gehen.« Die anderen standen bereits auf und hoben ihre Sachen auf. Ich sagte: »Wir bleiben.«

»Komm schon, wir gehen«, sagte Helen.

»Wir bleiben hier«, sagte ich mit der Stimme meiner Mutter, und dann stieß ich unglücklicherweise eine sehr große und schwere, algengrüne Pflanze um, die auf einem Bambusding hinter meinem Stuhl stand. Sie fiel auf den Kopf. Kaum zu glauben, was für einen Lärm das machte.

»Mein Fleißiges Lieschen!«, kreischte die mit der lavendelfarbenen Schürze.

Ich sagte: »Wir bleiben.«

»Ach du meine Güte, dann bleibt halt«, sagte die Dicke. »Aber eins sag ich euch: Es gibt nur Rumkugeln. Nichts Ausgefallenes.«

Wir warteten. Cissie Comberbach kickte die Erde herum, und Helen sagte: »Ich glaube, ich mag gar keine Rumkugeln.«

Ich sagte: »Wenn da Alkohol drin ist, dann werde ich die Polizei informieren. Sie dürfen Kindern keinen Alkohol geben.« Florence sagte: »Alkohol hin oder her – du hast gar nicht gefragt, was das kostet. Und sie hat es nicht gesagt. Das sollten wir klären. Wir haben nur jede einen Shilling. Mehr habe ich nicht dabei, und ihr?«

Ich hatte auch nicht mehr. Helen hatte noch Fourpence, Cissie Comberbach einen Penny. Für die Heimfahrt hatten wir Monatskarten.

»Wir müssen sie zurückrufen.«

»Hilfe, nein.«

»Sicher ist sicher. Sonst kriegen wir wirklich ein Problem.« Florence ging zum Kaminsims und klingelte mit einer Glocke, die aussah wie ein Metall-Muffin. Nach einer Weile rief die Frau von vorne: »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Wir wollen Tea für einen Shilling«, sagte Florence.

»Oho, das wollt ihr?«

Ich sagte: »Florence, das kannst du doch nicht machen!«

»Was?«

Ich sagte: »Das kannst du doch so nicht sagen!«

»Warum das denn nicht?«

»Es ist schrecklich. ›Tea für einen Shilling.‹ Grauenhaft. Es klingt so ungehobelt.«

»Was ist denn an Tea für einen Shilling ungehobelt?«

»Ist es einfach. Wie ›Suppe mit Fleischeinlage‹«, sagte ich.

»Ich hätte jetzt nichts gegen eine Suppe mit Fleischeinlage«, sagte sie. »Lasst uns gehen, das sind ja grässliche Leute hier.«

Die dicke Frau kam durch den Boden zu uns herauf und knallte uns ein Tablett vor die Nase. »Da habter eure Rumkugeln«, sagte sie. »Brot und Butter beziehungsweise Margarine, Ananasmarmelade, Teekuchen, Kanne Tee für vier, vier Tassen, Zucker.«

»Ist das Tea für einen Shilling?«, fragte Florence.

»Shilling! Huh!«, sagte sie und ging.

Helen seufzte und sagte: »Was machen wir jetzt? Wir haben keine Ahnung, ob es auf jeden Fall einen Shilling kostet oder ob es sich danach richtet, wie viel wir essen.«

Aber Cissie hatte schon angefangen. »Wir essen jetzt einfach«, sagte Florence. »Aber sicherheitshalber nicht alles. Ich glaube sowieso nicht, dass ich mehr als eine Rumkugel schaffe.«

Helen sagte, sie könne wahrscheinlich nur höchstens eine überhaupt vom Teller heben. Sie sagte, die seien bestimmt aus der Blumentopferde gemacht, was sie für einen Spitzenwitz hielt. Cissie lachte sogar darüber, oder jedenfalls versuchte sie es, bekam aber die Zähne nicht auseinander. Ich musste lachen und warf dabei dummerweise die Teekanne um, und der Tee lief über die Tischdecke und in die Teekuchen und dann langsam und mit einem sehr ungehörigen Plätschern auf den Boden, und plötzlich fing Florence an zu heulen wie ein Hund.

»Jesses, jetzt ist es passiert. Ich sollte wohl klingeln.«

»Nein, wisch es auf.« Helen reichte mir ihren Kittel vom Naturwissenschaften-Unterricht. »Die Tischdecke war ja schon schmutzig.«

»Ich wollte sowieso keinen Teekuchen«, sagte Florence freundlicherweise. »Aber immerhin sind sie jetzt ein bisschen weicher.«

»Zum Glück ist sonst niemand da.«

»Wenn noch jemand da wäre, hättest du nicht so ein Chaos angerichtet.« (Florence hatte sich beruhigt.) »Da hättest du besser aufgepasst.«

»Du hättest dich benommen«, sagte Cissie.

»Ich glaube, wir sind die Einzigen, die überhaupt je hier waren.«

»Gelegentlich wird sich schon irgendein komischer Vogel hier rein verirren«, sagte Florence. »Und die müssen auch komisch sein.«

Die Türglocke ertönte, und eine Stimme rief: »Kaaaeee!« Man hörte Schritte, dann kam eine Frau die Stufen herauf, eine Frau von einer ganz schrecklichen Farbe – sie war dunkelgelb und ihr Gesicht mit lauter bunten Farben angemalt. Sie hatte sich die Augenbrauen entfernt, sodass dort nur noch schimmernde Halbmonde waren, und obendrüber hatte sie andere schwarze Halbmonde gemalt. Sie hatte einen angemalten, gekräuselten Puppenmund und trug ein Stirnband wie ein Indianer. Ihre Kleider hingen ihr von den Schultern und waren mit einem Gürtel unterhalb der Taille gerafft, und sie trug altmodische, spitze Schuhe mit Knöpfen. An ihren alten Armen klimperten lauter bernsteinfarbener Armreifen. Irgendwie sah sie aus, als müsste man sie schon mal gesehen haben. Wie jemand, den deine Mutter kannte, als du noch klein warst. Sie war sehr alt. Ihre Arme waren ganz verwittert.

»Der Regenbogen kommt und geht«, sagte sie. »In Blüte schön die Rose steht.« Sie setzte sich an den sauberen Tisch, nickte uns zu und lächelte.

»Heute Abend spricht Churchill«, sagte sie. »Winston. Für den Rest der Welt mag er Churchill sein, aber für mich ist er Winston.«

»Wirklich«, sagte ich. »Sie kennen ihn?«

Helen sagte: »Halt die Klappe, sprich nicht mit ihr. Du lieber Himmel!«

»Ob ich ihn kenne? Natürlich! Seit Jahren. Ach, ich wär so gern im guten, alten London!«

»Kannten Sie ihn schon, als er noch jung war oder so?«

»Er ist ja nicht alt«, sagte sie. »Er ist in meinem Alter!«

Die anderen steckten die Gesichter in ihre Tassen.

»Churchill für den Rest der Welt, Winston für mich«, fuhr sie fort, als die Dame vom Tresen ohne die Zeitschrift zu ihr kam und mit einer weißen Serviette über die saubere Tischdecke fegte. Die dicke Frau, Alice, tauchte auf und stellte ein Tablett vor ihr ab. »Da sind Sie ja, Mrs ’Opkins«, sagte sie mit veränderter, ganz freundlicher, strahlender Stimme. »Was fürn herrlicher Tag. Nur bisschen Verdruss. Wie immer, meine Liebe?«

»Winston für mich«, sagte sie, zündete sich eine Zigarette an und steckte sie in eine lange, grüne Spitze. »Ich kannte sie alle.«

»Guckt euch mal ihren Tea an«, sagte Helen. »Sackzement, guckt euch mal ihren Tea an.«

Auf dem Tablett lagen kleine Kresse-Sandwiches und welche mit Ei – sogar mit Ei –, drei Scheiben ofenwarmes Brot und Butter, dünn und flockig wie Cornflakes, ziemlich frisch, und ein Schokoladeneclair in blassgrünem Papier. Ein kleines Glasschälchen mit Schwarze-Johannisbeer-Marmelade. Wir saßen da und glotzten. Wir glotzten und glotzten und glotzten.

Sie ließ Asche auf Brot und Butter fallen und schenkte sich Tee ein. Sie starrte ein Loch in die Luft. »Ich kannte sie alle. Jeden Einzelnen von ihnen«, sagte sie. »Henry James …«

Helen sagte: »Wo um alles in der Welt kommt denn so ein Tea her?«

»Ich schätze, für Geld bekommt man so was«, sagte Florence.

»Was?«, sagte ich.

»Natürlich geht das. Du glaubst doch wohl nicht, dass Churchill und der König und so Rumkugeln und Dreck essen, oder?«

Ich sagte, natürlich täten sie das.

»Maaann«, sagte Cissie, »noch nie vom Schwarzmarkt gehört?«

»Da braucht man keinen Schwarzmarkt«, sagte Florence. »Als Restaurant oder Café bekommt man eine Sonderzuteilung. An vornehmen Orten bekommt man vornehme Sachen. Moorhuhn und so. Es gibt jede Menge Moorhuhn und alles Mögliche, wenn man es bezahlen kann. Jedenfalls isst der ganze Adel wohl kaum Rumkugeln.«

»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Vom König glaube ich das nicht. Der hat auch nur seine Rationen. Habe ich gelesen. Und er lässt Buckingham Palace umpflügen, um Gemüse anzubauen.« (Ich war noch recht jung.)

»Um die Köche damit zu füttern, vermutlich«, sagte Florence.

»Ich bin mir total sicher«, sagte ich, »beim König.«

»Du kennst ihn wohl«, sagte Helen.

»Ich kenne sie alle«, sagte die Frau am anderen Tisch und stierte durch den Bogendurchgang auf die stille, vernieselte Straße. Sie drückte ihre Zigarette in dem Eclair aus und schob den Teller von sich. »Ihr Mädchen wisst sicher nicht mal, wer Henry James war?«

»The Old Pretender«, sagte ich. Den Versuch war es wert.

»So ist sie immer«, sagte Florence. Cissie brach zusammen. Ich auch, ehrlich gesagt, aber Mrs Hopkins schien das nicht zu bemerken.

»Ein großer Mann. Er war mehr als ein großer Mann, er war ein großer Geist. Ein großer und kultivierter Geist. Er hat England geliebt. Er hat England verstanden. Er hat sogar in England gelebt.«

»Wir leben doch alle in England«, sagte ich.

»Klappe«, sagte Florence. »Er war bestimmt Amerikaner.«

»Der Old Pretender war Schotte.«

»Der Old Pretender war aber nicht Henry James«, sagte Florence.

»Warum das denn nicht?«, fragte ich, langsam wütend.

»Für den Rest der Welt war er Henry James«, sagte Mrs Hopkins. »Für mich war er Harry.«

»Oh, Henry Fifth«, sagte ich. »Gott mit Harry.« Das sagte mein Vater immer.

»Was hast du gerade gesagt?« Zum ersten Mal schien Mrs Hopkins uns zu bemerken. »Du, Kleine, was hast du gerade gesagt?«

»Ich sagte ›Gott mit Harry‹«, sagte ich befangen und fügte dann hinzu: »England und St. George.« Das hätte ich nicht tun sollen.

»Mein liebes Kind!«, rief sie. »Mein liebes Kind! Dachte ich mir doch, dass du das gesagt hast. Mein liebes Kind!« Und damit kam sie durch den Raum zu mir geflattert und küsste mich! Sie roch entsetzlich alt, wie eine alte Kommode, und ich schauderte und rutschte auf dem Stuhl zurück und hätte das Fleißige Lieschen beinahe noch einmal runtergeworfen. »Ist das denn zu glauben?«, sagte sie. »›Gott mit Harry, England und St. George!‹ Meine lieben Kinder, darf ich euch einfach die Hand geben? Das muss ich aufschreiben. Jedes Wort. Das schicke ich an die Presse. Ich schicke es Winston. Darf ich fragen, wie alt ihr seid?«

»Ungefähr zwölf«, sagte Florence wachsam.

»Und dreizehn«, sagte Helen.

»Meine Lieben! Ach, meine Lieben, wie reizend. Auf der Schwelle. Vier kleine Julias. Noch jüngre wurden oft vermählte Mütter. Meine Lieben, ich möchte euch etwas zurückgeben. Dafür, dass ihr einfach so seid, wie ihr seid. Kleine englische Julias. Die das gute alte England lieben. Das muss ich unbedingt alles Winston erzählen.« Dann entdeckte sie Helens Noten unter dem Tisch. »Was ist das denn, ihr musiziert auch noch – was ist das? Chopin? Nein! Was für ein wundervoller Nachmittag. Ach, ich wünschte, ich könnte euch reizenden Kindern dafür irgendwie danken.«

Sie schüttelte allen die Hände und verschwand. Wir hörten sie zur Serviererin sagen: »Chopin, Grace! Chopin! Für den Rest der Welt mag er Chopin gewesen sein, für mich …«

»Schnell«, sagte Florence. »Ihr Tea.«

Wir teilten Sandwiches, Eclair, Brot, Butter, Marmelade, Würfelzucker. In weniger als zwei Minuten war nichts mehr davon da.

»Kommt«, sagte Helen. »Lasst uns zahlen und gehen. Klappe zu, Affe tot. Himmel!«

Aber die dicke Frau, Alice, war schon da. »Nun?«, fragte sie.

»Wir würden gern zahlen«, sagte ich.

»Ihr würdet gern zahlen«, sagte sie und starrte intensiv auf Mrs Hopkins’ leeres Tablett. »Ihr würdet gern zahlen. Mrs ’Opkins hat heute gut gegessen, Grace!«

»Hat gezahlt wie immer«, rief Grace zurück. Alice sah uns misstrauisch an. »Vier Shilling«, sagte sie.

Florence, Helen und Cissie legten jeweils ihren Shilling auf den Tisch, und ich wühlte in meinem Ranzen.

»Vier Shilling«, sagte sie. »Das ist ein Shilling für jede.«

»Ich kann ihn nicht …«, sagte ich, »einen Moment …« Florence sagte: »Guck mal in deiner Gasmaske.« Ich sah in meiner Gasmaske nach und fand meinen Personalausweis, Süßigkeitenmarken, Steine, ein Stück Schnur, eine Zeichnung, ein Erste-Hilfe-Buch, einen Verband, einen Zweig, ein Foto, Taschentücher und so weiter, und sie stand einfach da.

»Ich weiß genau, dass ich ihn dabeihatte. Lose. Nicht in einem Portemonnaie oder so. Ich hatte ihn noch, als ich reinkam.« Sie stemmte die Arme in die Seiten und zog die Mundwinkel nach unten wie eine Schildkröte. »Jetzt haben wir ein Problem«, sagte Florence.

»Den Shilling krieg ich jedenfalls von euch.«

»Oh, Jesses«, sagte ich.

»Denen fehlt ’n Shilling, Grace.«

»Oh, macht nichts!«, rief Grace überraschenderweise.

»Was?«

»Macht nichts! Ist schon bezahlt. Sie hat bezahlt. Sie hat bezahlt. Die Verrückte Mrs ’Opkins. Hat ihr Pfund bezahlt und fünf Shilling drüber. Für die Mädchen mit, hat sie gesagt.«

Wir glotzten. »Was für ein Glück«, sagte Florence. »Das war ganz schön nett von ihr, wenn man es recht bedenkt.«

»Sie war reich«, sagte Helen.

»Es war trotzdem nett.«

»Übergeschnappt«, sagte Cissie. Es war seit Ewigkeiten das Erste, was sie sagte.

»Gott sei Dank! Sonst hätten wir wirklich ein Problem bekommen. Wir hätten zur Polizei gemusst. Die hätten uns festgenommen.«

»Hätten sie nicht«, sagte ich. »Ich hab ihn gefunden. Er war in meinem Socken.« Inzwischen waren wir draußen. »Was hat sie denn mit ›vier kleine Julias‹ gemeint und mit ›vermählte Mütter‹? Hat sie uns wirklich für vermählte Mütter gehalten? Julia war doch gar nicht verheiratet, oder?« (Ich wusste es wirklich nicht.)

Florence sagte, vielleicht sei sie eine unverheiratete Mutter gewesen, und Helen zog eine Augenbraue hoch. »Mit dem Old Pretender verheiratet«, sagte ich, und Cissie lachte tatsächlich. Plötzlich hatten wir alle sehr gute Laune, und wir rannten durch die Unterführung und kreischten ein bisschen. Cissie fiel hin.