Roboter: Collapsing Hope - R. M. Amerein - E-Book

Roboter: Collapsing Hope E-Book

R. M. Amerein

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Beschreibung

Nach den Geschehnissen im Biotop verändert sich die Weltordnung rasend schnell. Nicht nur das Zusammenleben aller Parteien ist bedroht, sondern auch die Lebensgrundlage der Roboter. Eine Flucht davor erscheint unmöglich. In all dem Chaos versucht Tai, seinen Schützling Kaia in Sicherheit zu bringen – und scheitert. Ihrer engsten Bezugspersonen beraubt, findet sich Kaia in Sotos Fängen wieder. Sie muss sich entscheiden: Schließt sie sich seiner Sache an und geht erbarmungslos gegen Mensch und Maschine vor oder hält sie an dem Traum einer friedlichen Koexistenz fest?

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R. M. Amerein

Fading Smoke

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg November 2023 Titelbild und Umschlaggestaltung: Timo Kümmel Lektorat: Melina Coniglio Satz: André Piotrowski ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-913-4 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-914-1 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de
Für meinen Opa Horst

Was bisher geschah

Der Söldner Smoke erhält von der Forscherkaste den Auftrag, ein Menschenkind namens Kaia zu finden. Auf der Suche nach ihm lernt er Ennea und Roscoe kennen – ein Spender-Empfänger-Pärchen, das der Kleinen helfen will. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei Kaia um kein normales Kind handelt.

Smoke bringt sie trotzdem zurück, wird von den Forschern übers Ohr gehauen und bemerkt außerdem seltsame Gefühlsimitationen in seinem System, die vorher noch nicht da waren. Das Biotop wird angegriffen und in dem wachsenden Chaos setzt er seine Betriebsfähigkeit aufs Spiel, um Kaia zu retten.

Letztlich ist er es, der gerettet werden muss. Als er aufwacht, sind neben der Kleinen auch das Spender-Empfänger-Pärchen und zwei Katzen bei ihm. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu einem nahe gelegenen Stützpunkt, um dort mit dem Söldneroberhaupt Poppy zu sprechen und sich ein Bild von der Lage zu machen.

Es findet ein Meeting aller Roboteranführer statt, bei dem beschlossen wird, dass Kaia zu Heilerbots gebracht werden soll, um sie zu untersuchen. Außerdem sollen dort Smoke, Ennea und Roscoe auf Verstärkung treffen, da sie gemeinsam in das Biotop zurückkehren sollen, um Nachforschungen anzustellen. Vorher schließt sich Smoke noch an ein Analysegerät an und erkennt, dass er Vatergefühle für Kaia entwickelt hat, die er nicht löschen kann.

Bei den Heilern angekommen, erfahren sie, dass die Forscher mit Kindern herumexperimentieren, um echte Gefühle zu erhalten. Dazu haben sie einen Gendefekt entwickelt, der mit einem Chip im Kopf ständig getriggert wird. Jetzt kann sich Smoke auch erklären, was mit seinen Gefühlsimitaten los ist.

Die Gruppe trifft auf Tai, einen Samurai, und Doba, einen Militärbot. Kaia wird in der sicheren Obhut der Heiler zurückgelassen und die Roboter ziehen weiter in das Biotop. Schnell wird klar, dass sie dort von der Vegetation keine Energie mehr erhalten. Trotzdem schaffen sie es bis in die Nähe des Forscherlagers und wollen den Prozessor aus einer der Einheiten ausbauen, um an Informationen zu kommen, was hier geschehen ist.

Kaia ist ihnen unbemerkt gefolgt und taucht plötzlich auf. Eine der Katzen rennt in den Wirkungskreis einer Mine und wird verletzt. In all dem Durcheinander tritt der Verursacher der Zerstörung auf den Plan: ein Hybrid namens Soto. Er behauptet, Kaias Bruder zu sein, und möchte sie mitnehmen.

Die Kleine schätzt die Lage nicht richtig ein, möchte ihn kennenlernen und rennt auf ihn zu. Dabei droht eine weitere Mine hochzugehen und Smoke wirft sich schützend dazwischen. Er wird irreparabel verletzt und schaltet sich ab. Wieder hochgefahren wird er von Soto – allerdings nur kurz, damit sich dieser die Daten im Erinnerungsspeicher und Prozessor ansehen kann. Bei vollem Bewusstsein wird Smoke ausgenommen und gelöscht. Damit endet das erste Buch.

Lieber Smoke!

In meinen Träumen höre ich immer noch, wie du mit mir schimpfst, und ich weiß, ich habe es verdient. Das, was ich dir geschenkt oder vielmehr aufgebürdet habe, hast du nicht gewollt. Du hast nichts von alledem gewollt. Es tut mir leid, dass ich dir nicht gehorcht habe, aber ich musste doch aus dem Dorf fort, sonst hätten sie mich mitgenommen. Manchmal denke ich darüber nach, ob das besser gewesen wäre. Vielleicht wärst du dann noch am Leben. Vielleicht aber auch nicht. Tai sagt, dass wir uns da nicht sicher sein können und ich mir keine Vorwürfe machen soll.

Was im Biotop geschehen ist, werde ich nie vergessen. Es war meine Schuld. Ich hätte nicht zu Soto rennen dürfen, aber … er ist mein Bruder. So viele Fragen brennen in mir und niemand kann sie mir beantworten. Wenn ich es dir erklärt hätte, hättest du das vielleicht verstanden. Stattdessen bin ich einfach blind losgerannt. Bestimmt weil dieser Chip es mir befohlen hat. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich kaum klar denken; ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf explodiert und ich irgendetwas tun muss.

Ich habe eine falsche Entscheidung getroffen und muss mit den Folgen leben. Die schlimmste ist, dass du fort bist. Richtig fort. Tai sagt, man kann dich nicht wiederholen. Er ist noch mal zurück, aber deine Teile waren verschwunden. Dobas auch. Wo Ennea und Roscoe sind, wissen wir nicht. Alles ist im Eimer und ich bin schuld. Ich vermisse dich, Smoke. Richtig, richtig doll. Manchmal weiß ich nicht, wie ich mit dieser Trauer umgehen soll. Sie überschwemmt alles in mir. Ich weine viel und kriege mich gar nicht wieder ein. Es ist so wie früher bei den Forschern, als ich meinen Gefühlen noch völlig ausgeliefert war.

Ich weine auch jetzt. Wenn ich so weitermache, wird man die Worte auf dem Papier gar nicht mehr erkennen können.

Tai hat mir ein leeres Buch gegeben, damit ich hineinschreibe. Er meint, das würde mir helfen, mit meinen Gefühlen klarzukommen. Da ich nicht mit dir reden kann, ist das ein guter Ersatz. Ich schreibe alles auf, was ich erlebt habe, und dann lese ich es dir vor. Tai sagt, dass du noch irgendwo bist und dass der Geist eines Roboters nie ganz verschwindet. Also hörst du es bestimmt, oder?

Dein Verlust wird ein bisschen erträglicher, während ich dir schreibe. Noch weiß ich nicht, wie oft ich es schaffen werde, aber ich werde mir ganz genau merken, was alles passiert, und es dir erzählen. Versprochen!

Ich hab dich lieb. Was ich dir angetan habe, tut mir so leid. Hoffentlich weißt du das dort, wo du jetzt bist.

Deine Kaia

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Das Geräusch von Schritten scheuchte Kaia auf. Rasch klappte sie das Buch zu und legte es neben sich in das Gras. Ihre Wangen waren immer noch voller Tränen, die sie vehement fortwischte. Tai kehrte zurück und sie wollte nicht, dass er sie weinen sah. An ihrer linken Seite regten sich Jaaron und Zavi. Sie kuschelten selten miteinander, aber wenn sie ihre schlechte Verfassung bemerkten, hielten sie zusammen, um sie zu trösten.

»Kaia-chan?« Tais Schatten schirmte sie kurz gegen die Sonne ab, doch dann setzte sich der Roboter ihr gegenüber. Er legte den Kopf schräg, was einer stummen Frage gleichkam, die ihr unangenehm war.

Wie oft hatte sie sich bei Smoke gewünscht, er würde ein Augenpaar besitzen, in das sie blicken könnte? Tai verbarg seines und das empfand sie fast als noch schlimmer. Ganz leicht konnte sie das farblose Leuchten unter seiner Augenbinde erkennen. Oft würde sie ihm dieses Kleidungsstück am liebsten abziehen, aber er ließ es nie zu. Dieser Gedanke brachte einen erneuten Schwall an Tränen hervor, ohne dass sie erklären könnte, weshalb.

»Kaia-chan …« Nun glichen Tais Worte eher einem Seufzen und er deutete auf das Buch. »Hast du angefangen zu schreiben?«

Sie nickte schniefend. »Willst du es lesen? Bestimmt sind ganz viele Fehler drin. Die Forscher waren immer sauer deswegen.«

Warum auch immer sie sich die Mühe gemacht hatten, ihr Buchstaben beizubringen. Nach allem, was passiert war, würde sie das wohl niemals erfahren. Seit sie den Forschern entkommen war, hatte sie allerdings eine ganze Reihe neuer Begriffe und Bedeutungen gelernt, die sie nun einfach so zu Papier brachte, wie sie sich anhörten.

»Die Fehler sind ganz egal. Du hast die Wörter im Herzen. Schreib also einfach auf, was dir auf der Seele liegt.«

Kaia nahm das Buch zur Hand und schlug die ersten Seiten auf. Die mit dem Brief an Smoke. Immer noch sah man die nassen Flecken, die ihre Tränen hinterlassen hatten. Sie reichte das Buch ihrem Sensei – das war ein Wort, das Tai sie gelehrt hatte. Er war ihr Lehrer. Smoke war im Grunde auch einer für sie gewesen, denn er hatte ihr eine Menge über die Welt beigebracht. Nun nahm Tai sie an die Hand. Ohne ihn würde sie sich furchtbar einsam und verloren fühlen. Am liebsten hätte sie jedoch die Hände beider Roboter gehalten.

Zögernd nahm Tai das Buch entgegen. »Bist du dir sicher, dass ich es lesen soll?«

Kaia nickte stumm und beobachtete ihn. Um das Geschriebene zu erfassen, brauchte er nur wenige Sekunden. Schließlich war er ein ebenso genialer Roboter wie Smoke.

»Wie ich es mir dachte. Du hast ein Talent dafür, deine Seele auf Papier zu bringen.« Er reichte ihr das Buch zurück. »Und so viele Fehler sind gar nicht drin. Du bist erst zehn und hast noch viel Zeit, besser zu werden. Wir üben weiter, okay?«

Kaia legte es wieder neben sich. »Vermisst du ihn auch?«

Tai wandte seine Aufmerksamkeit von ihr ab und sah in die Ferne. »Ich habe ihn nicht so gut kennengelernt, wie ich es mir gewünscht hätte. Aber ja, ich vermisse ihn auch.«

Kaias Gedanken sprangen zu dem Tag, an dem sie den Söldner getroffen hatte. Die Forscher hatten sie in das Biotop gebracht. Dort hatte sie sich unerlaubt entfernt, um die Umgebung zu erkunden und dem Griff ihrer Erschaffer zu entkommen. Eine ihrer vielen impulsiven Aktionen. Erst war sie auf das Spender-Empfänger-Pärchen getroffen, Ennea und Roscoe. Dann war Smoke hinzugekommen, mit dem Auftrag, sie zu den Forschern zurückzubringen. Sein Verhalten hatte ihr Angst eingeflößt, doch sie hatte sich ebenso rasch seinen Schutz ersehnt. Ihre Instinkte waren selten rational und vielleicht hatte sie da bereits geahnt oder sich vielmehr gewünscht, Smoke wäre derjenige, der sie retten würde, statt sie ihren Peinigern auszuliefern.

»Er war einmalig. Das hat man doch sofort erkannt.«

Während sie das aussprach, sprang Jaaron auf ihren Schoß und rollte sich dort schnurrend ein. Inzwischen hatten sie ihm die Metallpfote aufgesteckt. Der Kater war zwar noch etwas tapsig unterwegs, lernte aber schnell.

»Hai.«

Tai unterdrückte ein Gefühlsimitat, das war ihm deutlich anzuhören. Es lag am Tonfall. Selbst bei einem solchen kurzen Wort erkannte Kaia den Unterschied. Manchmal wünschte sie sich, ebenfalls ein Roboter zu sein und diese Fähigkeit ihr Eigen nennen zu können.

»Was ist los?«, fragte sie.

Ihr Sensei drehte den Kopf wieder zu ihr. »Ich muss über etwas mit dir sprechen. Ehrlich gesagt schiebe ich es schon eine Weile vor mir her.«

Es fiel Kaia schwer, die Trauer um Smoke zu verdrängen, aber sie versuchte es mit aller Macht. Dabei schmuste sie Jaaron etwas fester und kassierte ein wütendes Maunzen dafür. Er mochte es nicht, so hart angepackt zu werden. Bei Zavi sah das schon anders aus. Er war selten schmusig, aber dann richtig.

Tai faltete die Hände in seinem Schoß. »Hat Smoke uns alles gesagt, was die Heilerinnen bei deiner Untersuchung herausgefunden haben?«

Für einen Moment starrte Kaia ihren Sensei an, bevor sie es nicht mehr schaffte, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten.

»Warum fragst du?«, wollte sie wissen, obwohl sie es sich schon denken konnte.

Sie, Smoke und das Spender-Empfänger-Pärchen waren vor den jüngsten Geschehnissen von dem Söldnerstützpunkt aus in eine Menschensiedlung geschickt worden. Dort hatte sich Kaia einer Untersuchung durch Heilerbots unterzogen, welche einen Chip in ihrem Kopf gefunden und einen künstlich erschaffenen Gendefekt festgestellt hatten. Beides hatte Kaia den Forschern zu verdanken. Sie besaß die Fähigkeit, einem Roboter durch Berührung die Möglichkeit zu schenken, echte Gefühle zu entwickeln. Bei Smoke hatte sie Vatergefühle ausgelöst. An die Einigung mit ihm, ihr wahres Potenzial niemandem zu verraten, erinnerte sie sich. Er hatte sie ermahnt, keinen anderen Roboter anzufassen und stets ihre Handschuhe zu tragen. Sie hatte wirklich ihr Bestes gegeben, sich daran zu halten. Aber im Biotop war alles so schnell gegangen. Smoke war so wütend auf sie gewesen. Sie hatte Angst gehabt.

Tai hatte mit ihr gesprochen. Er war der Einzige gewesen, der ihr zu dem Zeitpunkt zugehört hatte. Seine Umarmung hatte in ihr das Gefühl absoluter Sicherheit ausgelöst, während sie Smokes Ekel über die Entfernung hinweg hatte spüren können. Das, was die Berührung mit Tai anzustellen vermochte, hatte sie ausgeblendet. Sie hatte einfach nicht nachgedacht …

Der Geschichtsbewahrer seufzte. »Das sollte mir wohl Antwort genug sein. Weißt du, ich erkenne ein paar Veränderungen bei mir. Als Sensei ist es meine Aufgabe, mich um dich zu kümmern und dir alles beizubringen, was dir in dieser Welt weiterhilft. Es erfüllt mich. Im Grunde ist das ein Teil meiner Basisprogrammierung – meinen Weg zu lehren.«

Kaia wusste längst, worauf er hinauswollte. Gerade deswegen gelang es ihr weiterhin nicht, den Blick zu heben, und so sah sie stur auf Jaaron hinunter, der die Augen geschlossen hielt und leise schnurrte.

»Es sind keine schlechten Veränderungen, Kaia. Ich habe auch kein Problem damit, wenn sich meine Gefühlsimitationen anpassen, aber … ich kann nicht wie sonst mit ihnen umgehen. Es ist ein wenig so, als würden sie mich bestimmen und nicht umgekehrt.«

»So, wie es bei mir ist. Das willst du sagen?«, hauchte sie schuldbewusst.

»Hai.«

Kaia wollte gleichzeitig weinen und schreien. Ganz fest biss sie die Zähne zusammen, damit das nicht geschah, aber ihr Kopf kribbelte in einer Intensität, die sie kaum aushielt. Es tat weh. Es tat immer weh, wenn die Empfindungen in ihr hochkochten, aber seit sie wusste, dass die Forscher ihr einen Chip in den Kopf gepflanzt hatten, nahm es an Heftigkeit zu.

»Es gibt etwas, das du wissen solltest«, presste sie hervor. Nun konnte sie die Tränen doch nicht mehr aufhalten. Sie fühlte sich so erbärmlich, weil sie ständig flennte. Als Smoke noch da gewesen war, hatte sie das besser im Griff gehabt, aber allein der Gedanke an ihn ließ die Dämme brechen.

Tai griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Ich halte das schon aus, Kaia-chan.«

Sie musste daran denken, wie Smoke das alles aufgenommen hatte. Zwar war sie nicht dabei gewesen, als er sich an das Analysegerät angeschlossen hatte, aber sie erinnerte sich noch genau an das danach folgende Gespräch mit ihm. Smoke war so verständnisvoll gewesen. Später im Dorf hatte er Kaia außerdem gesagt, dass er froh über diese Vatergefühle gewesen war. Im Biotop war nichts mehr davon zu spüren gewesen, nur Zorn und Abscheu. Trotzdem hatte er sich für Kaia geopfert. Vielleicht hätte er das ohne dieses Gefühl nicht getan. Dann würde er jetzt noch leben. Er hatte sich ihretwegen verändert und dasselbe geschah nun mit Tai.

Kaia fürchtete sich davor, wie er reagieren würde, auch wenn er bisher Verständnis zeigte. Allerdings hatte er noch keine Ahnung, was genau Sache war. Vielleicht ahnte er etwas, aber das war kein Vergleich.

Mit einem tiefen Durchatmen zwang Kaia die Tränen zurück. Sie rief sich ins Gedächtnis, was Smoke ihr bezüglich der Angst gesagt hatte – dass sie durch sie hindurchgehen musste. Die zugehörige Türschwelle stellte sie sich einfach vor.

»Es … es kann sein, dass du meinetwegen Gefühle hast. Echte, keine Imitate. Ich hab nicht genau verstanden, wie das funktioniert, aber es hängt mit meiner Krankheit zusammen. Smoke hatte Vatergefühle für mich und er hatte sogar versucht, sie zu löschen – was nicht funktioniert hat.« Leicht zitternd hob sie ihre freie Hand. Die Regenbögen auf ihren Handschuhen kamen ihr farblos vor, seit Smoke fort war. »Deswegen trage ich die. Es passiert bei Berührung. Und wenn eure Energieslots offen sind.«

Tai regte sich nicht. Er zog auch seine Hand nicht weg. Diese Starre war viel schlimmer für Kai als irgendeine Antwort von ihm.

So fühlte sie sich dazu angestachelt weiterzureden, damit ihre Nervosität ein Ventil fand. »Also, vielleicht ist es im Biotop geschehen. Danach habe ich eigentlich darauf geachtet, dich nicht mit bloßen Händen zu berühren, aber wer weiß, ich bin manchmal ziemlich zappelig und …«

»Kaia.«

Die Erwähnung ihres Namens ließ sie innehalten. In ihrem Bauch brannte sich die Angst ein Nest, in dem sie gern bleiben wollte. Tai hatte nur »Kaia« gesagt, nicht »Kaia-chan« – was ungewohnt streng klang. Mit Sicherheit war er ihr böse und sie konnte es ihm nicht verübeln. Ihre Hand hielt er allerdings immer noch.

»Warum habt ihr uns das nicht gesagt?«, wollte er wissen.

»Smoke befürchtete, dass dann alle Jagd auf mich machen würden. Und auf ihn. Weil das so etwas Einmaliges ist. Es dürfte eigentlich nicht vorkommen.«

Tai neigte den Kopf, als würde er zustimmen. »Ich verstehe. Jetzt passt auch alles zusammen, was sich meine Synapsen nicht erklären können. Allerdings erinnere ich mich nicht daran, meine Energieslots im Biotop geöffnet zu haben. Möglicherweise passierte das in diesem Moment automatisch. Haben die Heilerbots etwas dazu erklärt?«

»Ich … glaube nicht. Smoke war deswegen aber auch ganz verwundert. Er hat es auf sein niedriges Energielevel geschoben, das er hatte, als er mich gefunden hat.«

»Hm. Schade, dass wir die beiden nicht mehr fragen können.« Tai ließ Kaias Hand nun doch los und stützte das Kinn auf die geballte Faust. So glich er einer nachdenklichen Statue.

»Bist du böse?« Sie schloss die Augen bei dieser Frage. Tai verfügte über keine Gesichtszüge, die ihr seine Gefühlswelt offenbaren würden. Trotzdem konnte sie ihn in diesem Moment einfach nicht ansehen.

»Verwirrt trifft es eher. Ein bisschen enttäuscht, weil ihr mir nicht vertraut habt. Aber dafür kannten wir uns anscheinend nicht lang genug. Man könnte wohl auch sagen, dass ich Angst habe.«

Er lachte leise, was Kaia dazu brachte, die Lider wieder zu öffnen.

»Wenn das nicht schon eines dieser echten Gefühle ist«, ergänzte er, klang jedoch etwas gelöster.

»Es tut mir leid«, hauchte sie.

»Muss es nicht. Du kannst nichts dafür, das weiß ich. Aber ich werde etwas Zeit brauchen, um damit klarzukommen. Mich an ein Analysegerät anzuschließen, ist im Augenblick keine Option.«

Kaia nickte und sah hinunter auf Jaaron. Immer noch streichelte sie ihn, während Zavi an ihrer Seite verharrte.

Tai stand auf und deutete hinter sich. »Es gibt gleich Essen. Danach können wir uns wieder den Übungen widmen.«

Damit ging er fort.

Kaia blieb zurück und dachte nach. Sie hatte immer noch solche Angst, dass Tai sie verstoßen würde und nichts mehr von ihr wissen wollte. Er war nicht so direkt wie Smoke, sondern eher höflich. Ihr fiel kein besserer Vergleich ein. Selbst im Streit blieb ihr Sensei ruhig und bedacht. Ein bisschen beneidete Kaia ihn darum und hoffte, sie würde zukünftig eine ähnliche emotionale Ausgeglichenheit erreichen.

Seit sie gemeinsam unterwegs waren, tat er alles, um ihr den Weg dahin zu ebnen. Einmal am Tag meditierten sie und sogar die Übungen mit den Katanas hatten etwas Beruhigendes. Spätestens nachts eroberten jedoch die zerstörerischen Empfindungen ihre Stellung zurück. Die Furcht, die Trauer. Die Hoffnungslosigkeit. Kaia wusste nicht, ob das alles den Ursprung in dem schwarzen Loch fand, das sich in ihr ausbreitete, weil sie Smoke so sehr vermisste. Tai behauptete es stets. Vielleicht war aber eher der Chip schuld, welcher all die Gefühle verstärkte und triggerte. Von Dunkelheit umgeben, besaß Kaia keine Ablenkung mehr und war diesem Strudel aus Empfindungen vollkommen ausgeliefert.

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Die Kühle des Grases in ihren Händen spürte Kaia kaum. Gedankenverloren band sie es mit den gesammelten Blüten zu einem Kranz und sah meistens nicht mal wirklich hin.

Tai hatte ihr diese Tätigkeit beigebracht; er meinte, das wäre eine typische Beschäftigung für ein Kind. Blumenkränze binden, verspielte Dinge tun. Also setzte sie das Gelernte um und versuchte, dabei abzuschalten. Es gelang nur mäßig gut, was wahrscheinlich an ihrem Ausblick lag. Obwohl sie schon eine gute Entfernung zurückgelegt hatten, konnte man das Biotop aufgrund seiner Größe weiterhin am Horizont erkennen. Außerhalb solcher Anlagen gab es kaum noch grüne Flecke, doch gerade waren sie und Tai in einem großflächigen Waldstück unterwegs. Diesem war ähnlicher Schutz vergönnt wie den riesigen Biotopen, obwohl er nicht mehr dazugehörte.

Zu manchen Gebieten gab es ein stilles Einvernehmen unter den Robotern, dass man sie nicht zu sehr schröpfen wollte. Bei den Feldern und Äckern der Menschensiedlungen verhielt es sich ebenso. Was wäre das für ein Schlag gegen den Koexistenzvertrag, wenn die Roboter Sättigung durch diese erlangten und die Menschen dafür Hunger litten? Die Maschinen fraßen schon genug auf. Tai empfand deswegen ebenfalls Verbitterung, so, wie Smoke es getan hatte. Allerdings machte der Samurai keinen Halt vor Tieren.

Am Rand des erwähnten Waldes saß Kaia nun, obwohl sie sich dafür ein ganzes Stück von ihrem Lagerplatz hatte entfernen müssen. Ihre Sehnsucht und Trauer hatten sie hergetrieben. Wenn sie auf das Biotop blickte, fühlte sie sich Smoke verbunden. Das Gefühl des Vermissens verlor an Intensität. Obwohl ihr Sensei behauptete, der Söldner sei nicht mehr dort, redete sich Kaia etwas anderes ein.

Was würde passieren, sobald das Biotop in der Ferne verschwand? Würde sie Smoke dann vergessen? Würde sein Tod nicht mehr so wehtun und sie den Schmerz loslassen, weil der Chip sie dazu zwang? Kaia wollte das nicht. Smokes Tod sollte nicht okay werden. Sie musste diesen Verlust immer spüren.

Tais Plan hatte ursprünglich darin bestanden, Kaia zu seiner Siedlung zu bringen. Inzwischen war seine Meinung eine andere. Er glaubte, es sei zu gefährlich. Soto befand sich wahrscheinlich immer noch auf der Suche nach seiner angeblichen Schwester. Tai beharrte deswegen darauf, stets in Bewegung zu bleiben, und zwar in der entgegengesetzten Richtung des Biotops. Dieser Ort war nicht nur wegen der Geschehnisse böse, dort breitete sich auch eine Krankheit aus. Sämtliche Vegetation weigerte sich, den Robotern Energie zu geben. Hier draußen funktionierte es noch, doch Tai fürchtete sich vor der Ausbreitung des Phänomens. Kaia ging es da ähnlich. Allein die Vorstellung, Tai ebenfalls zu verlieren, schnürte ihr die Luft ab.

Anfangs hatte sie dennoch versucht, ihn von der Rückkehr zu dem Söldnerstützpunkt zu überzeugen. Zu Poppy. Zumindest kurz. Vielleicht wären sie dort auch auf Ennea und Ross gestoßen. Kaia machte sich große Sorgen, während Tai vermutete, dass die beiden auf dem Weg zu ihrer Heimat waren – sofern sie die Katastrophe im Biotop überlebt hatten.

Seit einer gefühlten Ewigkeit zogen Kaia und Tai nun schon durch die Gegend. Irgendwann hatte sie aufgehört, die Tage zu zählen, und ihr Sensei antwortete nicht, wenn sie ihn danach fragte. Dabei wusste er es garantiert, schließlich war er ein Roboter. Kaia versuchte nun mittels des Buches, den Überblick zu behalten, und wollte immer zur abendlichen Schlafenszeit einen Strich hineinmalen.

Anderen Menschen oder Robotern waren sie schon länger nicht mehr begegnet, was wohl in der Natur der Sache lag. Das Weltbild befand sich im Umbruch, und soweit man es – ob nun direkt involviert oder nicht – beurteilen konnte, fand das alles seinen Ursprung in ebenjenem Biotop dort hinten. Kein Wunder, dass sich hier niemand mehr aufhalten wollte. Aber es war auch beängstigend, denn eigentlich hatte Kaia gedacht, Poppy würde nach weiterer Verstärkung verlangen. Dass sie sich mitsamt den anderen Söldnern zurückzog, passte nicht in das Bild, das sich Kaia von ihr gemacht hatte.

Doch ihre eigentliche Sorge galt Tai. So richtig fand er sich in seiner neuen Rolle nicht zurecht – in welcher auch immer er sich sah. Das merkte sie an seiner Umgangsweise mit ihr. Er machte sich solch einen Druck und das war wirklich das Letzte, was sie auslösen wollte. Die kürzliche Eröffnung, ihm die Möglichkeit des Fühlens geschenkt zu haben, half nicht gerade dabei.

Mit einem leisen Seufzen beendete sie ihr Flechtwerk. Ein letzter Blick gen Biotop, dann erhob sie sich und lief zurück zu dem Lagerplatz. Sie musste noch mal mit Tai sprechen. Der Blütenkranz sollte ein Geschenk für ihn sein, doch in ihrem Herzen keimte bereits die Furcht, er würde es ablehnen. Ihr letztes Präsent hatte ihm schließlich auch kein Glück gebracht.

Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr so entschlossen, weswegen ihre Schritte langsamer wurden. Bis vor Kurzem war sie sich vollkommen sicher gewesen, Tai würde sie niemals im Stich lassen oder sie zurückweisen. Doch was, wenn er nicht mehr länger der Tai war, den sie kannte? Wer konnte ihr garantieren, dass seine Gefühlsveränderungen in eine gute Richtung gingen? Bei den Forschern hatten sie vorwiegend Schlechtes ausgelöst, das verstand sie inzwischen. Die Funktionsweise blieb ihr jedoch verborgen, wie das Ganze gesteuert wurde, ob es an den künstlichen Intelligenzen und ihren Zielen lag oder an der Kastenzugehörigkeit. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, welche Gefühle dem Roboter selbst wichtig waren und besondere Aufmerksamkeit erhielten.

Smoke hatte sich mit einer Vaterschaft nie identifizieren können. Für ihn war Kaia anfangs nur ein Auftrag gewesen. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie gern er sie hatte loswerden wollen. Dennoch hatte sich diese Emotion bei ihm entwickelt. Vielleicht handelte es sich ja doch um Willkür. Wie man es drehte und wendete, Kaia konnte sich Tais Zuneigung und Schutz nicht für immer sicher sein.

Die aufkeimende Panik erreichte ihren Höhepunkt und hinderte Kaia daran weiterzugehen. Wie eine Statue verharrte sie, die Arme eng um den Körper geschlungen. Unbewusst passte sie dennoch auf, ihr Geschenk nicht zu zerdrücken.

Am Rand des Lagers tauchte ihr Sensei auf. »Ich sehe dich. Willst du da Wurzeln schlagen?« Seine Stimme klang immer noch so seltsam. Nach Abweisung, da war sie sich zu hundert Prozent sicher. Bei der Wortwahl hätte sie eher Belustigung erwartet. Nicht gut.

Kaia zwang sich, näher zu treten, und hielt dem Roboter das Flechtwerk hin. »Ich habe das hier für dich gebastelt.«

Tai nahm es entgegen und blickte einen Moment darauf. Anschließend bückte er sich, um den Kranz dem vorbeistolzierenden Zavi um den Hals zu hängen.

Dieser maunzte erst erschrocken, reckte sich dann aber und lief noch ein paarmal hin und her, als würde er eine Modeshow abhalten. Auch wenn das niedlich aussah, blutete Kaia das Herz. Das Geschenk war doch für Tai gewesen und nicht für den Kater. Man gab so etwas nicht einfach weiter. Tai wollte es nicht haben! Was sonst sollte diese Tat bedeuten?

»Bist du doch böse auf mich?«, fragte sie geradeheraus. Irgendwie musste sie mit der Panik umgehen, sie hielt sie nicht länger aus.

Tai zog sie ohne Aufhebens in eine Umarmung und strich ihr über den Kopf. Diese Geste löste eine Reihe widersprüchlicher Gefühle in ihr aus. Sie erinnerte sie an Smoke, und so erleichtert Kaia in diesem Moment auch war, befiel sie dennoch ein schlechtes Gewissen, weil Tais Nähe ebenso guttat. Und weil sie ihren Sensei mit Smoke verglich. Trotzdem drückte sie sich fest an ihn.

»Ich versuche, es dir zu erklären, Kaia-chan«, raunte Tai und fuhr damit fort, ihr Haar zu streicheln. »Ich war ein Samurai und durfte mich nur so nennen, weil ich mein Leben einem Anführer verschrieben habe. In meinem Fall ist das Jolly – das Gegenstück der Geschichtsbewahrer zu Poppy bei den Söldnern.«

»Warum sprichst du in der Vergangenheitsform? Du bist doch immer noch du.«

Tai lachte leise, was jedoch nicht fröhlich klang. »Ich folge zwar meiner Programmierung, weil ich dich unterrichte. Aber indem ich dich schütze und vor der Welt geheim halten möchte, kehre ich meinem Clan automatisch den Rücken. Jolly könnte mich jederzeit aufspüren, was auch ein Grund dafür ist, dass wir uns von Ort zu Ort bewegen. Aber ich darf mich nicht länger Samurai nennen. Ich bin ein Rōnin – ein Krieger ohne Herr. Clanlos. Und das ist etwas, das ich niemals sein wollte.«

Kaia schaute fassungslos zu ihm empor. Ihr Magen rumorte. Obwohl der Drang, Abstand zu suchen, vorhanden war, gab sie ihm nicht nach. Womöglich würde sie umkippen, wenn sie Tai losließ. »Du hast wegen mir deinen Clan verlassen?«

»Gedanklich, ja. Ich war selbst von mir verwundert, dass ich dich nicht mehr in meine Heimat bringen wollte, aber es ist besser, wenn wir so verdeckt leben wie möglich. Soto darf dich nicht finden. Ich kann das nicht zulassen. Vielleicht fühle ich dasselbe wie Smoke.« Er blickte zu ihr hinab. »Was auch immer du in mir ausgelöst hast, du bist meine oberste Priorität. Wenn ich dafür als unehrenhafter Söldner durch die Gegend ziehe, ist das der Preis, den ich für deinen Schutz zahle, und ich tue es überraschend gern. Aber du verstehst sicherlich, dass es trotzdem nicht einfach ist und ich Zeit brauche, um mein neues Wesen zu begreifen.«

Sie nickte nur.

Tai ging in die Hocke, damit sie sich direkt ansehen konnten. Sacht berührte er ihre Schultern und Kaia bekam den Eindruck, er würde lächeln, auch wenn das für ihn anatomisch nicht möglich war. »Seit gestern verstehe ich besser, wie sich Smoke gefühlt haben muss, und ich wünschte, ich könnte mit ihm darüber reden. Aber es gibt jetzt nur noch dich und mich. Ich werde alles geben, um deine Sicherheit zu gewährleisten – das verspreche ich dir. Du bist mir eine gute Schülerin, was will ich also mehr? Ein Clan ist schön und gut, aber wonach ich wirklich strebe, war und ist, mein Wissen weiterzugeben.«

Sie umarmten sich noch mal und Kaia spürte endlich wieder, wie Zuversicht die negativen Gefühle fortspülte.

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»Ich schwöre dir, es ist wahr. Die Söldner haben einen groß angelegten Angriff auf das Biotop durchgeführt. Danach hat man nichts mehr von ihnen gehört.«

Kaia beobachtete aus ihrem Versteck im Unterholz, wie Tai die Arme vor der Brust verschränkte. Ihm gegenüber stand ein Biobot, auf dessen goldener Hülle sich nicht nur das Licht der Sonne brach, sondern auch das rötliche Schimmern von Tais Hut. Es pulsierte schneller als sonst.

»Warum sollten sie so etwas Dummes tun?«, fragte ihr Sensei.

»Es gibt Krieg, Geschichtsbewahrer. Wann hast du das letzte Mal mit deinem Oberhaupt gesprochen? Wenn ich du wäre, würde ich schleunigst hier abhauen. Irgendwohin, wo die Natur noch tut, was sie soll.« Damit drehte sich der Bot um und verschwand schnellen Schrittes im Wald.

Kaia blieb im Gebüsch sitzen und beobachtete Tai, wie er eine Hand an den Baum neben sich legte. So verharrte er ein paar Sekunden, bevor er sich umwandte und zum Lager zurückmarschierte.