Rogers große Freundin - Edna Meare - E-Book

Rogers große Freundin E-Book

Edna Meare

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Das Drehbuch mußte in vierzehn Tagen auf dem Tisch des Produktionschefs liegen. Aber bei dem Lärm, den die Handwerker veranstalteten, konnte Wilma unmöglich arbeiten. Vielleicht hätte sie sich für die Zeit der Renovierung doch ein kleines Appartement in der Stadt mieten sollen? Kopfschmerzen bekam sie auch. Sie mußte unbedingt raus, an die frische Luft und ihren Ohren eine kleine Erholungspause gönnen. Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie die Sicherungsdiskette ins Laufwerk, speicherte die erstellten Kapitel und legte die Schutzhülle über das Keyboard. Der Computer schaltete sich nach fünf Minuten von selbst aus, darum mußte sie sich nicht kümmern. Mit einem Seufzer erhob sie sich und pfiff nach Droste, ihrer Schäferhündin, die sich wegen des Lärms in ihren Korb verzogen hatte. Droste hieß eigentlich mit vollem Namen »Gräfin Droste-Hülshoff«, aber so nannte sie kein Mensch. Ebensowenig wie »Freya von der Beißburgischen Landgrafenkastellin«, ihrem Zuchtregisternamen. »Droste« reichte vollkommen aus, da hegte die adelige Hündin keinerlei Dünkel. Droste kam sofort angetrabt. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie zu, wie Frauchen ein paar Dehn- und Lockerungsübungen vollführte, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Als Frauchen »Komm, Gassi, Gassi«, sagte, sauste die Hündin begeistert zur Haustür und wartete hechelnd, daß Wilma ihr folgte. Gemeinsam verließen sie den Garten und folgten der Straße bis zur nächsten Biegung. Dort ging es links ab, und dann waren es nur noch ein paar Meter bis zum freien Feld. Nein, dachte Wilma, während sie die Häuser hinter sich ließ, es war doch kein Fehler, hier heraus zu ziehen. Mag zwar sein, daß ich hier nicht gerade in

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Seitenzahl: 113

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Mami – 1908 –Rogers große Freundin

Ein Junge hat wieder Mut

Edna Meare

Das Drehbuch mußte in vierzehn Tagen auf dem Tisch des Produktionschefs liegen. Aber bei dem Lärm, den die Handwerker veranstalteten, konnte Wilma unmöglich arbeiten. Vielleicht hätte sie sich für die Zeit der Renovierung doch ein kleines Appartement in der Stadt mieten sollen?

Kopfschmerzen bekam sie auch. Sie mußte unbedingt raus, an die frische Luft und ihren Ohren eine kleine Erholungspause gönnen.

Mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie die Sicherungsdiskette ins Laufwerk, speicherte die erstellten Kapitel und legte die Schutzhülle über das Keyboard. Der Computer schaltete sich nach fünf Minuten von selbst aus, darum mußte sie sich nicht kümmern.

Mit einem Seufzer erhob sie sich und pfiff nach Droste, ihrer Schäferhündin, die sich wegen des Lärms in ihren Korb verzogen hatte. Droste hieß eigentlich mit vollem Namen »Gräfin Droste-Hülshoff«, aber so nannte sie kein Mensch. Ebensowenig wie »Freya von der Beißburgischen Landgrafenkastellin«, ihrem Zuchtregisternamen. »Droste« reichte vollkommen aus, da hegte die adelige Hündin keinerlei Dünkel.

Droste kam sofort angetrabt. Mit schiefgelegtem Kopf sah sie zu, wie Frauchen ein paar Dehn- und Lockerungsübungen vollführte, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Als Frauchen »Komm, Gassi, Gassi«, sagte, sauste die Hündin begeistert zur Haustür und wartete hechelnd, daß Wilma ihr folgte.

Gemeinsam verließen sie den Garten und folgten der Straße bis zur nächsten Biegung. Dort ging es links ab, und dann waren es nur noch ein paar Meter bis zum freien Feld.

Nein, dachte Wilma, während sie die Häuser hinter sich ließ, es war doch kein Fehler, hier heraus zu ziehen. Mag zwar sein, daß ich hier nicht gerade in der Metropole der Welt lebe, aber dafür haben wir beide unsere Ruhe und brauchen nicht stundenlang mit dem Auto herumfahren, ehe wir etwas Grün sehen dürfen.

Droste war der gleichen Meinung. Ihr hatte es auf Anhieb in der Kleinstadt gefallen. Und das tollste war, daß sie hier einen Garten hatte und rund herum freie Natur, in der sie laufen, spielen und toben konnte.

Ja, und Bauernhöfe mit vielen Hühnern gab es auch. Leider mußte sie aber immer an die Leine, wenn Frauchen mit ihr zum Milch- und Eierholen ging, denn Droste hatte Hühner zum Fressen gern. Na ja, aber mit dieser winzigen Einschränkung konnte die Hündin leben.

Das einzige, das momentan noch ungemein störte, waren diese lärmenden Handwerker. Droste mochte den Krach nicht, den die Männer veranstalteten. Aber Frauchen hatte gesagt, daß dies nun einmal nicht zu ändern sei. Sie könnten sich glücklich schätzen, daß sie überhaupt ein so schönes Dach über dem Kopf hätten.

Droste und Wilma waren nämlich erst vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt. Wilma hatte dort ein Jahr mit einem bekannten Drehbuch- und Bühnenautor zusammengearbeitet und sich von ihm alle Tricks und Kniffe der Branche abgeguckt, die sie jetzt wunderbar anwenden konnte.

Das Haus, in dem sie jetzt lebten, hatte früher Wilmas Tante gehört. Tante Dorothée war ins Seniorenheim gezogen und hatte Wilma, kurz vor deren Rückkehr, die schöne alte Villa geschenkt. Das war wirklich ein Glück gewesen, denn sie hätten sonst beide erst einmal in eine Pension oder in ein Hotel ziehen müssen.

So waren Droste und Wilma statt dessen in die Villa gezogen. Natürlich waren umfangreiche Renovierungsarbeiten nötig gewesen, die ziemlich störten. Aber inzwischen waren die Arbeiten beinahe abgeschlossen. Nur das Bad im Erdgeschoß mußte noch modernisiert werden. Ende der Woche, hatten die Handwerker versprochen, würde auch dies abgeschlossen sein, und dann kehrte endlich Ruhe in das wunderschöne, alte Haus ein.

»Komm, Droste!« Wilma hatte einen dicken Stock gefunden, den sie der Hündin vor die Nase hielt. Droste war begeisterte Stöckchensucherin und wollte sofort danach schnappen. Aber Wilma zog den Stock blitzschnell weg und warf ihn im hohen Bogen ins Feld. Droste jagte umgehend hinterher.

Mit diesem Spiel vertrieben sich Frauchen und Hund eine ganze Weile die Zeit, dann pfiff Wilma die Hündin wieder heran.

»Es nützt alles nichts, Süße«, erklärte sie Droste. »Wir müssen zurück an die Arbeit. Sonst gibt’s nächsten Monat kein Crunchy Dog.«

Bei dem Wort »Crunchy Dog« spitzte Droste die Ohren. Schon machte sie kehrt und eilte Wilma voran den Feldweg zurück zur Stadtgrenze.

Wie immer, wenn Wilma sich ihrem Grund und Boden näherte, so erfüllte sie auch jetzt ein Gefühl von Freude und auch ein wenig Stolz, wenn sie die wunderschöne Stuckfassade der Villa sah. Das Haus war wirklich ein Schmuckstück, gut erhalten und gepflegt. Ebenso der Garten, den Tante Dorothée mit aller Liebe gehegt und gepflegt hatte.

Wilma wollte alles so belassen wie es die Tante vor Jahren angelegt hatte. Nur einen Teich mit vielen Sumpfpflanzen und mehreren, unterschiedlich hohen Sprudelsteinen plante sie demnächst von einer Gartenbaufirma einrichten zu lassen. Die Steine lagen bereits auf der Terrasse. Schlanke Basaltsäulen, die Wilma extra aus einem Steinwerk aus der Eifel geholt hatte.

Renée Chartas, eine befreundete Bildhauerin, war gerade dabei, zwei Skulpturen anzufertigen, die Wilma unter den alten Bäumen aufstellen wollte. So würde aus dem schönen, etwas verträumt wirkenden Garten mit dem herrlichen alten Baumbestand nach und nach eine kleine Insel aus Kunst und Natur werden, auf der Wilma hoffte, die nötige Ruhe zu finden, die sie brauchte, um neue Ideen für ihre Romane und Drehbücher zu entwickeln.

*

Der Nachbarsjunge stand am Zaun und sah mit großen Augen auf Droste, die sich schwanzwedelnd näherte. Man sah dem Kleinen an, daß er sich vor der großen Schäferhündin fürchtete. Obwohl der hohe Zaun zwischen ihm und dem Tier stand, wich der Knabe angstvoll zurück, als Droste stehenblieb und ihn ansah.

Wilma versuchte, den starren Blick des Kindes zu ignorieren.

»Hallo Nachbar«, grüßte sie den Jungen betont fröhlich. »Heute keine Schule?«

Der Knabe schüttelte nur stumm den Kopf, ohne den Hund aus den Augen zu lassen.

»Beißt der?« fragte er schließlich mit hoher, dünner Stimme, in der die nackte Panik schwang.

Wilma seufzte unterdrückt.

»Aber Schatz, das habe ich dir doch schon x-mal gesagt«, begann sie vorsichtig. »Droste hat noch nie jemanden gebissen. Sie ist froh, wenn du ihr nichts tust.«

Der Junge machte einen zögernden Schritt vorwärts, stockte jedoch in der Bewegung und wich erneut zurück. Und dann fuhr er herum und floh ins Haus, so schnell ihn seine Beine trugen.

Wilma sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Der Junge tat ihr leid. Sie schätzte ihn auf ungefähr sieben, acht Jahre, wobei sie sich allerdings auch täuschen konnte, denn er war ein dürres, blasses Kerlchen, das nach Wilmas Meinung für mindestens sechs Wochen an die See geschickt und aufgepäppelt werden sollte.

Er sprach selten, und wenn er sich einmal im Garten aufhielt, dann saß er am liebsten unter dem großen Kirschbaum an der Terrasse und träumte vor sich hin.

Eine Mutter schien er nicht zu haben. Oder anders ausgedrückt, sie schien nicht in der Nachbarvilla zu leben. Vielleicht war sie verstorben, oder die Eltern des Jungen waren geschieden.

Auch Freunde, die ihn besuchten, sah sie nie. Als Wilma den Knaben bei ihrem Einzug am Zaun stehen sah, hatte sie erwartet, jeden Nachmittag kreischende Kinderhorden durch den Nachbarsgarten toben zu sehen. Aber das Gegenteil war der Fall.

Die benachbarte Villa stand wie ausgestorben in dem gepflegten Garten. Keine Stimmen, keine Musik und leider auch niemals ein fröhliches Kinderlachen schallten aus dem Haus. Nur unnatürliche Stille, die Wilmas Mißtrauen weckte.

Ja, es schien ihr zuweilen sogar, daß die Vögel, die sonst überall in den Bäumen hockten und ihre fröhlichen Lieder piepsten, das Nachbargrundstück mieden. Aber das war natürlich nur eine Täuschung – trotzdem – irgend etwas stimmte nicht dort drüben.

Ich muß unbedingt versuchen, mit dem Jungen Kontakt zu knüpfen, dachte Wilma, während sie ihr eigenes Grundstück betrat.

*

Die Handwerker waren gerade dabei, die Badewanne zu setzen. Droste weigerte sich, die Villa zu betreten, und verzog sich in den hinteren Teil des Gartens, um ein bißchen zwischen den Rosenstöcken zu graben, was Frauchen überhaupt nicht schätzte, aber der Hündin einen riesen Spaß machte.

»Du hast recht, Droste«, murmelte Wilma, als sie die Hündin davontrotten sah. »Das Wetter ist viel zu schön, um im Büro zu hocken.«

Sie schnappte sich ihre Unterlagen, klemmte das Notebook unter den Arm und ging auf die Terrasse hinaus, wo sie, unter dem bunten Schirm sitzend, in Ruhe arbeiten konnte.

Es dauerte eine Weile, ehe Wilma spürte, daß sie beobachtet wurde. Sie nahm die Finger von der Tastatur und wandte den Kopf. Da stand der Junge und sah starr über den Zaun zu ihr herüber.

Wilma lächelte ihn freundlich an.

»Magst du herüberkommen?«

Er zögerte. Seine Blicke suchten Droste, die zwischen den Rosenstöcken verschwunden war.

»Beißt der Hund?«

Himmel, der Junge mußte etwas zurückgeblieben sein. Wie sonst war es möglich, daß er ihr jedes Mal dieselbe Frage stellte?

»Nein, er beißt nicht«, erwiderte Wilma geduldig. Sie klappte das Notebook zu, erhob sich und ging zum Zaun. »Wie heißt du eigentlich?« wollte sie von dem Jungen wissen. »Ich heiße Wilma«, stellte sie sich vor, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. »Und ich wohne seit einigen Wochen hier. Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir beide uns gut verstehen. Ich meine, als Nachbarn sollte man ein angenehmes Verhältnis zueinander haben und sich nicht streiten. Vor allem aber sollte man wissen, wie der Nachbar heißt.«

Der Junge betrachtete sie aufmerksam. Offensichtlich überlegte er, ob er ihr trauen konnte.

»Ich heiße Roger«, gab er nach einer kleinen Ewigkeit zur Antwort. »Roger Hartmann, und ich wohne schon immer hier.« Er schwieg und musterte Wilma erneut. »Wo ist die Frau, die sonst hier gewohnt hat?«

»Du meinst Frau Bogner?« Wilma ging in die Hocke, um dem Jungen direkt ins Gesicht blicken zu können. »Das ist meine Tante, weißt du. Sie ist in das große Seniorenwohnheim gezogen, das auf der anderen Seite des Supermarktes steht. Kennst du es?«

»Das mit den bunten Balkonen?« In Rogers Augen trat Interesse.

»Ja, genau, in dieses Haus ist Tante Dorothée gezogen«, nickte Wilma. »Die Villa war ihr zu groß geworden. Sie sagt, sie hat keine Lust mehr, nur für sich alleine sieben Zimmer zu putzen und einen riesigen Garten zu versorgen. In der Wohnanlage bewohnt sie ein kleines Appartement, und wenn sie einmal nicht kochen mag, dann kann sie in den Speisesaal hinuntergehen und dort essen.«

»Aber Sie wohnen doch auch allein in dem Haus«, stellte Roger mit ernster Miener fest. »Oder kommt Ihre Familie noch nach?«

»Nein, meine Familie wohnt in einer anderen Stadt«, seufzte Wilma. Sie wurde nicht gerne an ihre »Beamtensippe«, wie sie ihre Anverwandten gerne nannte, erinnert. »Hier habe ich nur meine Tante.« Sie lachte leise. »Aber die ist wirklich sehr nett. Hast du dich gut mit ihr verstanden?«

Roger nickte, wobei der Anflug eines Lächeln über sein Gesicht huschte.

»Ja, sie ist sehr spaßig. Papa hat gesagt, sie ist nicht ganz richtig im Kopf, weil sie so verrückte Sachen macht. Aber ich fand, daß das nicht stimmt.«

Wilma schluckte mühsam. Die Kritik an ihrer geliebten Tante gefiel ihr gar nicht, auch wenn sie zugeben mußte, daß Dorothée auf bestimmte Menschen mit Sicherheit einen merkwürdigen Eindruck machte. Sie war das, was man einen Outlaw nennen könnte. Dorothée hatte sich stets dagegen gewehrt, in ein bestimmtes Schema gepreßt zu werden, und ihr Leben lang hauptsächlich das getan, was ihr als gut und richtig erschien, und auf die Meinung anderer Leute gepfiffen.

Wenn Rogers Vater sie als »nicht ganz richtig« bezeichnete, dann bedeutete das wohl, daß der Mann eher zu der Sorte Menschen gehörte, die Dorothée »elende Spießer« nannte.

Rogers nächste Worte bestätigten diesen heimlichen Verdacht.

»Papa hat mir verboten, mit ihr zu sprechen.« Roger flüsterte nur und trat dabei ganz dicht an den Zaun heran. Offensichtlich fürchtete er, vom Haus aus beobachtet und belauscht zu werden. »Sie haben sich einmal ganz schlimm gestritten, und danach hat Papa mir verboten, mit Ihrer Tante zu sprechen. Er hat ihr auch nicht mehr ›guten Tag‹ gesagt.«

Wilma nahm sich vor, Dorothée beim nächsten Besuch einmal genauer nach den Vorfällen zu befragen.

»Ich habe aber trotzdem mit ihr gesprochen«, fuhr Roger im Flüsterton fort. »Wenn Papa oder Frau Kleintrecht nicht aufgepaßt haben, dann bin ich schon einmal an den Zaun gehuscht und dann haben wir uns Witze erzählt.« Er schwieg einen Moment, um dann betrübt hinzuzufügen: »Frau Bogner hat gute Witze erzählen können. Wir haben viel gelacht.«

Offensichtlich gab es jetzt nichts mehr zu lachen im Leben dieses kleinen Jungen. Als wollte das Schicksal Wilmas Vermutung bestätigen, erklang in diesem Moment eine schrille, durchdringende Stimme, die Wilma und Roger gleichzeitig erschüttert zusammenfahren ließ.

»Rooooger! Roooooger!!! Komm herein, du hast noch nicht deine Klavierübungen gemacht.«

Das Gesicht des Jungen wurde lang vor Abscheu. Aber er machte sofort kehrt und kroch durch die Himbeerhecke in den Garten zurück. Bevor er sich bückte, um zwischen den Zweigen zu verschwinden, drehte er sich jedoch noch einmal um und schenkte Wilma ein kleines Lächeln, durch das eine Spur des Lausbuben hindurchschimmerte, der er eigentlich sein sollte.

Traurig und sehr, sehr nachdenklich blieb Wilma zurück. Dieser Junge hatte Probleme, große Probleme, dessen war sie sich jetzt hundertprozentig sicher. Sie würde ihm helfen.

Aber wie?

*

Marga Kleintrecht stand auf der obersten Stufe der geschwungenen Steintreppe. Ihre Fäuste in die drallen Hüften gestemmt, den Blick wie immer voll unnachgiebiger Strenge, sah sie auf den kleinen Jungen hinunter, der mißmutig die Stufen erklomm.

Als er sie endlich erreicht hatte, schnappte sie ihn am Kragen seines T-Shirtes und zerrte ihn neben sich her ins Haus.

»Wo hast du denn gesteckt?« wollte Marga wissen, während sie Roger auf die Tür des Musikzimmers zuschob. »Ich habe überall nach dir gesucht. Du weißt doch, daß dein Vater schimpft, wenn er erfährt, daß du nicht geübt hast. Und wie sieht es mit den Hausaufgaben aus? Hast du die fertig?«