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Genf, 1959: Rolex-Gründer Hans Wilsdorf bereitet sich auf ein Fernsehinterview vor. Das Einzige, das er je gab. Seine Gedanken schweifen ab. Er blickt auf den Weg zurück, der ihn hierhergebracht hat - von der Kindheit im fränkischen Kulmbach über seine ersten Berufsjahre in der Schweiz bis hin zu den prägenden Erfahrungen in London, wo sich seine Vision von präziser Zeitmessung formte. Es ist die Geschichte eines Mannes, der Hindernisse in Chancen verwandelte und damit ein Vermächtnis für die Ewigkeit erschuf – selbst wenn vielen sein Name unbekannt bleibt. Der Roman verwebt biografische Elemente mit packender Fiktion und entfaltet das Bild eines Mannes, dessen Uhrenmodelle heute wie kaum etwas anderes auf der Welt für Eleganz, Luxus und Präzision stehen. Von Wilsdorfs außergewöhnlichem Marketingtalent bis zur Gründung der einzigartigen Stiftung, die sein Erbe bis heute bewahrt, erzählt "Rolex: Der Traum des Hans Wilsdorf" die Geschichte eines visionären und innovativen Gründers, der seiner Zeit voraus war und dessen Unternehmergeist der berühmten Krone bis heute ihren ganz eigenen Glanz verleiht.
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Seitenzahl: 514
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Christian Rupprecht
Christian Rupprecht
Der Traum des Hans Wilsdorf
Roman
Copyright 2025:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Coverfoto: Altstadtpanorama von Kulmbach, GettyImages/Bildagentur-online
Coverzeichnungen: ChatGPT AI
Gestaltung Cover: Daniela Freitag
Gestaltung, Satz und Herstellung: Daniela Freitag
Lektorat: Sabine Runge
Korrektorat: Claus Rosenkranz
Druck: CPI books GmbH, Leck, Germany
ISBN 978-3-68932-029-4
eISBN 978-3-68932-028-7
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Genf, September 1959
Kulmbach, Dezember 1891
Kulmbach, März 1892
Genf, September 1959
Bayreuth, Oktober 1893
Bayreuth, März 1894
Genf, September 1959
Kulmbach, Dezember 1900
Genf, Januar 1901
La Chaux-de-Fonds, Januar 1901
Genf, September 1959
Auf dem Weg ins
Empire
, Juli 1903
London, Juli 1903
London, Oktober 1903
Genf, September 1959
London, Mai 1905
London, Juni 1905
Genf, September 1959
London, Juni 1908
Genf, September 1959
London, April 1911
Biel, Mai 1913
Genf, September 1959
Biel, Juni 1926
Kreidefelsen von Dover, Oktober 1927
Paris, September 1959
Genf, September 1931
Genf, September 1959
Rom, März 1956
Genf, März 1956
Genf, September 1959
Genf, Juni 1960
Wiesn für Insider
O’zapft is
Über die Geschichte von Hans Wilsdorf bin ich zufällig gestolpert. An einem lauen Samstagabend schlenderte ich über den Marktplatz von Kulmbach und entdeckte eine steinerne Gedenktafel. „Geburtshaus von Hans Wilsdorf, geboren 1881, Gründer der Firma Rolex“, stand da schlicht und ich dachte mir: „Was Rolex und Oberfranken miteinander zu tun haben, diese 64.000-Euro-Frage hättest du bei ‚Wer wird Millionär?‘ nicht beantworten können.“ Dass der Gründer der weltbekannten Marke aus Oberfranken stammte, war mir völlig neu, und dass er gemeinhin so unbekannt ist, inspirierte mich zu diesem Roman.
Er erzählt Hans Wilsdorfs Geschichte, wie ich sie recherchiert und rekonstruiert habe. Viel ist über den Rolex-Gründer nicht bekannt, außer einigen Daten, Kalendereinträgen, Notizen. Doch wer sucht, findet. Wer fragt, bekommt Antworten. Es gibt historische Unterlagen und Dokumente. Ich bin nach Kulmbach, in die Schweiz und nach London gereist, um die Orte zu besuchen, die ich hier beschreibe. Ich habe Fachleute befragt, um mir ein Bild von der Uhrenbranche zu machen. Und ich habe mich auf mein journalistisches Gespür verlassen.
Dabei bin ich auf einen Menschen gestoßen, der mit unglaublichem Fleiß, mit einer schier grenzenlosen Gewissenhaftigkeit, die oft auch an Eigensinn grenzte, und mit einer lebenslangen Ausdauer etwas Großes geschaffen hat.
Ein Mann, der aus denkbar ungünstigen Umständen das Beste gemacht hat, vom Waisenkind zum Superstar.
Hans Wilsdorf war das Gegenteil eines typischen Uhrenpioniers. Er war Kaufmann und kein Uhrmacher. Er setzte auf Partnerschaften und betrieb exzellentes Marketing, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab.
Seine konsequente Fokussierung auf Qualität und Präzision gepaart mit der Vision, dass Markenbotschafter von unschätzbarem Vorteil für das Gelingen einer Unternehmung sind, sind beispielgebend. Annähernd 100 Jahre, bevor es Social Media mit all seinen Möglichkeiten gab, setzte Hans Wilsdorf auf Influencer-Marketing. Er machte Sportler und Rekordhalter, Schauspieler und Politiker zu Botschaftern seiner Marke.
Mit der Unbefangenheit eines Außenstehenden erkannte Hans Wilsdorf die größte Schwachstelle der Uhrenindustrie seiner Zeit und setzte fortan auf höchste Qualität. Die Vision eines präzisen Chronografen hat ihn sein Leben lang angetrieben.
Nicht jede Geschichte hat sich genauso abgespielt, wie sie hier beschrieben ist. Aber es könnte so gewesen sein und sicher liegt die Wahrheit nicht allzu weit davon entfernt. Letztlich ist es ein historischer Roman, der auf den Fakten über Hans Wilsdorf, seine Zeit, seine Unternehmungen und die Orte seines Lebens und Wirkens basiert.
Zahlreiche Ereignisse und handelnde Personen wurden so verändert und ausgeschmückt, dass Fakten und Fiktion eine künstlerische Einheit bilden, um die Geschichte dieses Mannes auf unterhaltsame Weise zu erzählen.
So enthält dieses Buch die Wahrheit, wie ich sie über Hans Wilsdorf und seinen Lebensweg als den „Mann hinter der Krone“ erzählen konnte.
Dr. Christian Rupprecht
Allez!“ Unüberhörbar laut und irgendwie vulgär drang der Ruf von hinten in sein Ohr. „Na los! Mach schon!“
Hans Wilsdorf hatte nur einen Moment in eine andere Richtung gesehen, hatte nicht auf das nun grün leuchtende Ampelsignal auf der gegenüberliegenden Straßenseite reagiert. Na und? Hatte der Passant hinter ihm ihn tatsächlich leicht angeschoben, ihn gar gedrängt, loszugehen?
Die Leute in der Stadt waren so unhöflich geworden, früher war das anders gewesen. Aber was galt schon das Früher? Nun hieß es: Los, los! Nicht verweilen. Keine Zeit verlieren. Immer weiter, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Immer weiter. Wie ein Uhrwerk.
Wie auch das präzise Werk seiner Uhr. Ach was, seiner Uhren! Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Warum sollte Hans sich diesen schönen Tag von einem Rüpel verderben lassen. Schließlich hatte er sich extra von seinem Chauffeur nur bis zum Place de Bel-Air fahren lassen, um die letzte Etappe zu Fuß zu gehen. Da musste man so etwas auch aushalten.
Ob er sich sicher sei, hatte Bernard ungläubig gefragt und ihn überrascht im Rückspiegel angesehen. Zu Fuß? Er?
„Ja, natürlich.“ Hans hatte die Augenbrauen hochgezogen und Bernard via Rückspiegel entgegengelächelt. „Was sollte denn Ihrer Meinung nach dagegensprechen?“
Bernard Duvillard, sein treuer Fahrer seit einigen Jahrzehnten, in seiner schicken Uniform – schwarzer Anzug, weißes Hemd, Krawatte und Chauffeur-Mütze –, hatte nur mit den Schultern gezuckt. Die silbernen Epauletten hatten dabei einen leichten Bogen geschlagen. Es sah etwas albern aus.
Wahrscheinlich dachte Bernard, dass der Weg zu anstrengend für ihn sei, wenn die Hüftarthrose wieder schlimm zuschlug. Doch heute ging es ihm gut. Die Schmerzen blieben im erträglichen Rahmen. Und er hatte seinen Gehstock. Also!
„Sehen Sie, Bernard, es ist ein schöner Tag und ich möchte ihn genießen. Holen Sie mich bitte um eins wieder ab.“
„Oui Monsieur.“ Beflissentlich, aber auch ein wenig besorgt.
„An der Boutique Genève.“
„Oui Monsieur.“ Statt Sorge nun ein Lächeln. Geht doch! Hans wartete, bis Bernard ihm die Tür öffnete, und stieg aus dem schwarzen Mercedes aus. Ein wenig tat die Hüfte doch weh. Aber gesagt ist gesagt. Alles andere wäre jetzt peinlich. Hans nickte seinem Fahrer noch einmal zu, bevor der sich wieder in den Wagen setzte und davonfuhr.
„Na siehst du, geht doch.“ Es klang, als wollte Hans sich Mut zusprechen.
Die Hüfte schmerzte schon seit fast zehn Jahren. Erst hatte er es noch verheimlichen können, aber dann musste er reagieren. Der Gehstock verschaffte Linderung, zweimal im Jahr eine Kur im warmen Süden auch. Auf das eine hätte er gern verzichtet. Er lächelte in den Sonnenschein, atmete tief ein und war froh gelaunt.
Der Passant, der ihm das muffige „Allez!“ zugeraunt hatte, war inzwischen verschwunden – verschwunden im Meer all der anderen Menschen, die an diesem Vormittag über die Trottoire hasteten. Der hatte sich wohl geärgert, dass der Senior nicht so schnell über den Zebrastreifen geeilt war wie die anderen Passanten um ihn herum.
„Ach Genf, was hast du dich verändert!“
Als Hans das erste Mal in die Stadt gekommen war – fast 60 Jahre war das nun her –, da fuhren nur vereinzelt Automobile durch die Straßen. Stattdessen klapperten noch Pferdekutschen über das Pflaster; deren Kutscher grüßten unter ihren Mützen hervor. Manche grimmig, die meisten freundlich. Die Luft vom See war überall in der Stadt zu spüren und gab ihr dieses maritime Flair, das heute im Dunst der Karossen untergegangen war. Ein halbes Jahrhundert und man erkannte die Stadt kaum wieder, obwohl der Krieg hier nicht gewütet hatte wie in Paris, München oder London.
Die Stadt am See war Hans zur Heimat geworden. Ausgerechnet Genf! Es hätte Lindau, Augsburg oder Bayreuth werden können. Oder Dortmund, wohin es seinen Bruder zwischenzeitlich verschlagen hatte. Es hätte auch London werden können. Da war er lange Zeit glücklich gewesen.
Aber es war Genf geworden. Die Stadt am See. Die Stadt der Uhren. Und was hatte er hier alles erlebt. War erfolgreich und dann wieder nicht. Hatte alles auf eine Karte gesetzt und schließlich gewonnen. Wie oft hatte er hier neu angefangen, hatte – so konnte man es fast sagen – viele Leben gehabt. Wie eine Katze. „Wie die Katze auf dem heißen Blechdach“, kam es ihm in den Sinn.
Der Vergleich hinkte. Oder doch nicht? Krisen hatte er einige gemeistert, wie die Taylor mit Paul Newman. Er lächelte, als er an den Film dachte, den er vor ein paar Monaten im Kino gesehen hatte, und verwarf den Gedanken. Warum an Krisen denken, wenn die Sonne schien?
Genf und er, sie hatten beide etwas für die Uhrmacherbranche getan. Die Geschichte besagt, dass die Goldschmiede der Stadt einst Alternativen suchen mussten, um zu überleben, weil Johannes Calvin, der strenge Reformator des 16. Jahrhunderts, in jener düsteren Zeit das Tragen von Schmuck verbieten ließ. So machten sie aus der Not eine Tugend, verlegten sich auf die Uhrmacherei und verzierten nun Uhren mit Edelsteinen und Edelmetallen – und Genf wurde zur Wiege der luxuriösen Uhrmacherkunst. Die Idee hätte von ihm sein können.
Oder war es gerade das, was ihn inspiriert hatte? Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Verschmitzt, verstohlen. Er war schon ein guter Kaufmann.
Hans blieb einen Moment stehen, atmete tief durch, trotz oder wegen der muffigen Luft. Die Abgase waren deutlich zu riechen und verliehen der Stadt am See ihr urbanes Aroma. Die Gemütlichkeit früherer Tage war definitiv dahin.
So stand er also da – schick gekleidet, aber nicht zu schick. Business-Outfit plus Stock. Und er sah sich um, blickte hoch in den Himmel, der azurblau sein Dach über die Stadt spannte. Ein paar Möwen segelten mit ihren breit aufgespannten Flügeln im Wind. Sie kamen noch immer vom Lac Léman bis ins Zentrum geflogen. Früher wie heute auf der Suche nach Essbarem. Genf im Spätsommer.
Er atmete tief ein. Atmete aus. Dreimal. Eine Angewohnheit, die ihn schon seit vielen Jahren begleitete.
„Wie lange eigentlich?“, fragte er sich.
Nun, schon immer, wenn er nachdachte. Wenn er sinnierte oder wenn er etwas genoss, dann atmete er tief ein. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Als würde er damit den Augenblick verewigen. Er hatte es als Kind getan, damals in seiner Heimat, in Kulmbach. In der Kirche, auf dem Marktplatz, im Wald hinter der Plassenburg beim Schneemannbauen im Winter. Er hatte es in London getan, als er zum ersten Mal an der Themse gestanden hatte, als er den Piccadilly Square überquerte und sich zum ersten Mal bewusst geworden war, dass er in London lebte. Auch vor dem wuchtigen Buckingham Palace, während er darauf wartete, einen Blick auf Edward VII. zu erhaschen, dessen Leibgarde vor dem Palast defilierte. Er hatte es auch getan in La Chauxde-Fonds oder hier in Genf, drüben am Gare de Cornavin, dem Bahnhof, als er mit gerade einmal 19 Jahren zum ersten Mal Schweizer Boden betreten hatte. Im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts. Er hatte es in Gizeh bei den Pyramiden getan, einatmen, ausatmen, in Mailand und New York, in Sydney, Bombay oder Rom. Überall dort, wo er einen Moment für die Ewigkeit bewahren wollte.
Und er tat es auch jetzt. Die Luft wich langsam über seine Lippen, kitzelte sie leicht. Dabei blickte er um sich herum.
Die Blätter der Platanen färbten sich langsam, aber sicher gelb. Der Wind von den Bergen spielte mit ihrem Laub. Es war angenehm warm. Die Schwüle des Sommers war gewichen. Der Wind vom See kühlte nun endlich die Straßen, Gassen und Alleen ab und mit ihnen auch die Wohnungen, die Büros, die Ladenlokale.
Er mochte das.
Eine Trambahn schob sich über die Gleise, klingelte, ohne dass Hans den Grund für ihren Alarm ausmachen konnte. Die Rue de la Confédération war gut befahren. An der Kreuzung zur Rue de la Cité hupte ein dunkelgrüner Opel Kapitän. Ein anderer Wagen hatte ihm den Weg versperrt, war unerlaubt in die Kreuzung eingefahren. Vier Augen suchten, fanden sich. Kommunizierten hinter Windschutzscheiben, wortlos wie tonlos, wäre da nicht das Hupen gewesen.
„Allez!“, dachte Hans. Die Zeiten waren anders geworden.
„It’s all about time“, murmelte er. Nicht auf Deutsch oder Französisch. Hans wählte die englische Variante, die er in Londoner Zeiten aufgeschnappt hatte. Dabei sah er auf seine Uhr am linken Handgelenk, wo sich der Sekundenzeiger des goldenen Chronografen aus der eigenen Herstellung mit leisem Ticken unermüdlich vorwärtsschob.
Es war noch nicht einmal Mittag. Die Hüfte schmerzte mehr als erwartet und Hans hatte das Bedürfnis sich auszuruhen. Früher wäre ihm das nicht passiert. Ausruhen gab es nicht. Nun forderte das Alter seinen Tribut. Er setzte sich im Schatten einer Platane auf eine Bank.
Hans war gesund, kerngesund, wie sein Arzt sagte. Bis auf die Hüfte. Nun ja. Er fühlte sich wohl. Bis auf den Stock. Vor ein paar Monaten war er 78 Jahre alt geworden. Ein rauschendes Fest. Betty hatte es ihm geschenkt.
Sie wusste, wie man ihn überraschen konnte. Er hatte nicht feiern wollen, aber seine Frau hatte darauf bestanden und es heimlich organisiert. Und so waren alle gekommen, die ihm etwas bedeuteten und denen er etwas bedeutete.
„Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied“, hatte er Betty gesagt, als sie gemeinsam die Gästeliste durchgegangen waren.
Auf die kleinen, feinen Unterschiede kam es an. Im Leben, in der Liebe und bei seinen Uhren. Es lag nur eine Sekunde zwischen Perfektion und Desaster. Zwischen seinen Uhren und dem Rest. Darauf war Hans stolz.
Hans Wilsdorf hatte viel erreicht für einen Waisenjungen. Er hatte Rolex erschaffen. Hatte die Marke wie die Firma dahin geführt, wo sie heute war. Ein Imperium der Zeit, das die Zeiten überdauern würde. Der Name seines Unternehmens war berühmt, bekannt. Für Präzision, für Stil, für Eleganz. In Paris wie in Wien, in Bombay und Berlin, in London und New York. Und natürlich in der Schweiz. Bei Churchill oder Eisenhower, Che Guevara oder Fidel Castro. Präzise Zeitmesser, robust und elegant. Verlässlich.
Rolex war zum Markenzeichen geworden für die höchste Uhrmacherkunst, die die Welt mit der Schweizer Produktion gleichsetzte. Obgleich er es war, der sie erschaffen hatte. Der kleine Junge aus Kulmbach. Der junge Mann, dessen Fleiß, dessen Energie, dessen Geschick es zu verdanken war, dass es so weit gekommen war.
Heute stand dieser Name unter der Krone für das alles. Für die beste Uhr, die es gab. Eine Rolex. Und er, Hans Wilsdorf, war der Mann hinter der Krone.
Seine Rast war nur kurz gewesen, aber doch lang genug, um nun vielleicht etwas zu spät zu seinem Termin zu erscheinen. Hans sah auf die Uhr, er musste sich beeilen. Zum Glück war es nicht weit.
Hans ging angemessen flott. So wie er nun die Rue de la Confédération entlangschlenderte, drehten sich einige Passanten nach ihm um. Ob sie ihn erkannt hatten? Ob sie ahnten, wer er war? Er wusste es nicht. Aber der elegant gekleidete Senior mit dem Gehstock machte Eindruck. Das gefiel ihm.
Hans hatte heute, das wurde ihm in diesem Moment bewusst, dasselbe Outfit gewählt, das er bei seiner Geburtstagsfeier getragen hatte. Betty hatte ihm damals dazu geraten, ihn bei den Anproben begleitet. Das Sakko trug er offen, die Flanken flatterten im Wind auf und gaben den Blick frei auf sein blütenweißes Hemd mit der versteckten Knopfleiste, hochgeschlossen und mit einer fein gebundenen dunklen Fliege. Die umgeschlagenen Manschetten wurden von silbernen Knöpfen gehalten, die im Sonnenlicht blitzten. Die beige Hose aus feinem Leinen, wie das Hemd eine Maßanfertigung, hatte einen hohen Bund, sodass er keinen Gürtel brauchte.
„Irgendwie ungewohnt“, hatte er Betty gesagt, als er die Hose zum ersten Mal probierte. „Aber gut.“
Natürlich trug er dunkle Schuhe, passend zur Fliege. Sein Haar war sauber frisiert, nur nicht so kurz, wie Betty es gern gesehen hätte. Das war seine persönliche Note, die er sich wie auch die Auswahl seines Eau de Parfum nicht nehmen lassen wollte. Ansonsten war Hans eher unprätentiös und Betty scherzte oft, dass sie es faszinierend fand, dass ein Mann, der so präzise Uhren herstellte, in anderen Bereichen seines Lebens, bei den Haaren zum Beispiel, so ganz und gar nicht präzise war.
„Nur bei den Haaren nicht, im Bad schon“, hatte er gesagt und gelacht.
Heute nun trug er dieses Outfit, für das er seine Betty irgendwie verantwortlich machte, im positiven Sinne, nicht weil er es nicht mochte, sondern weil es ungewohnt war.
Betty war gut zu ihm, immer. Was für ein Glück er mit ihr hatte! Dass sie vor bald zehn Jahren in sein Leben getreten war. Er würde sie gleich treffen, sie hatte noch einen Termin beim Friseur in der Nähe.
Treffen vor der Boutique Genève oder gemeinsam vom Friseur aus hingehen? Hans Wilsdorf grübelte, was sie ausgemacht hatten. „Ach egal“, sagte er sich nach einem kurzen Moment des Innehaltens. Wir werden uns schon finden, meine Betty und ich, um dann gemeinsam die Vernissage zu besuchen, die das Ziel seines Spaziergangs durch das Genfer Treiben war. Der Besuch war mehr ein Lust- denn ein Pflichttermin.
Jacques Arnaud, Besitzer der Boutique Genève, hatte Hans gebeten, zu der Veranstaltung zu kommen. Sie kannten sich seit vielen Jahren und so er tat es gern. Es würde bestimmt ein Schlückchen zu trinken geben, was ihm Betty vor allen Gästen nicht verwehren würde. Zu Hause, wenn er an die kleine Bar im Wohnzimmer ging, um sich ganz spontan etwas Prickelndes zu holen, war das nicht so einfach.
„Pass auf dich auf, mon chou“, riet sie dann oftmals. „Du trinkst zu viel.“
Er ließ es dann bleiben, ihr zuliebe. Solange sie es sah.
Betty Wilsdorf erwartete ihren Mann vor dem Eingang zur Boutique Genève. Sie winkte ihm fröhlich zu, während er die letzten Meter zu ihr eilte. Ein Küsschen auf die Lippen, gespitzt und kurz, zeigte ihm, dass sie nicht verstimmt darüber war, dass er sich ein paar Minuten verspätet hatte.
„Gut siehst du aus, mon chou!“ Sie lächelte und zupfte an seinem Kragen. Frauen zupften immer am Kragen, wenn sie einem klarmachen wollten, dass das Outfit perfekt war. Warum das so war, wusste er nicht. Aber es war ihm aufgefallen, auch bei Betty.
„Richtig modern!“ Betty strahlte ihn an. „Ich freue mich, dass dir der Anzug gefällt. Ich war wirklich unsicher, als ich ihn dir ausgesucht habe. Aber das helle Beige steht dir wirklich gut.“
„Danke, mon amour. Lass uns reingehen. Man erwartet uns schon.“ Er schob die schwere Glastür auf. Ein Stimmengewirr drang ihnen entgegen.
„Hans, welche Freude, dich zu sehen! Und natürlich deine liebreizende Frau. Madame Wilsdorf, ich freue mich sehr, dass Sie sich die Zeit nehmen konnten!“ Jacques Arnaud wirkte angespannt, aber herzlich. Ein Gastgeber durch und durch, der wusste, wie man ein Event veranstaltete, und erpicht darauf war, dass alles bis ins letzte Detail stimmte.
„Alte Schule“, sinnierte Hans und freute sich, dass es auch andere gab, die die Perfektion in den Details schätzten. Er ließ seinen Blick durch das Geschäft schweifen und war überrascht, wie perfekt alles aufgebaut war und wie viele Gäste anwesend waren. „Läuft ja bestens!“
Jacques und er kannten sich zwar schon einige Jahre: ein Juwelier und sein Lieferant, beide nicht unbedingt Freunde der Genfer Société. Aber Jacques war eine Institution in Genf, Hans ebenso. Deswegen war es gut, dass sie sich nähergekommen waren. Waren sogar per Du, einem guten Essen mit einem sehr guten Château Mouton Rothschild sei Dank. Und Betty. Betty hatte ihn gedrängt, Jacques einfach anzusprechen; dessen Frau Marlène hatte ihr den Tipp gegeben, dass es sicherlich von beiderseitigem Vorteil wäre.
In den Auslagen funkelten unzählige Diamanten: Colliers, Ringe und Armreife, Ohrringe und andere Preziosen. In Gold und in Silber, mit und ohne Diamanten. Dazwischen hochwertige Uhren, natürlich auch Exemplare aus seiner Manufaktur. Einzeln in gläsernen Kassetten, beleuchtet und auf blauem Samt, sodass sie wie Kronjuwelen dalagen. Insignien des Luxus und der Exzellenz.
Hans flanierte an der Seite von Jacques durch die Gästeschar, ihnen zur Linken und Rechten die Ehefrauen. Ihm fiel auf, dass die Gäste zurückwichen, wenn sie kamen. „Der Maestro“, flüsterte ein Mann.
Als sie an einem besonders herausragenden Exponat aus seinem Haus stehen blieben, applaudierte eine ältere Dame und rief: „Bravo!“ In der Vitrine neben ihr die Rolex Day-Date President Diamonds. Ein wahrlich strahlender Beleg höchster Präzision der Rolex-Familie, für den man einen deutlich fünfstelligen Betrag hinblättern musste.
Ein Fotograf machte Aufnahmen, während Hans und Jacques sich neben der Vitrine unterhielten. Das Blitzlicht flammte auf und reflektierte zigfach in den Diamanten der präsentierten Uhr.
„Du hast eigens für heute umgebaut, ich sehe das sofort“, bemerkte Hans.
„Aber natürlich, Hans. Es ist mir eine Ehre, dass du heute mit uns bist.“ Jacques freute sich. Hans sah es ihm an.
„Das freut mich sehr. Danke. Für deinen Einsatz.“
„Sieh nur, mon chou, wie Jacques deine Uhren platziert hat! Sie wirken in diesen Vitrinen wie die Kronjuwelen der Queen.“ Betty war begeistert.
Sie lächelten, machten weitere Fotos mit Gästen, unterhielten sich. Natürlich gab es Häppchen, winzig kleine Appetitanreger feinster Herkunft, die wie von selbst auf der Zunge zergingen.
„Hier, mon chou.“ Betty war für einen Moment verschwunden gewesen, aber nun stand sie wie aus dem Nichts vor ihm und reichte ihm ein Glas Champagner. „Den hast du dir verdient.“ Sie strahlte wie die Diamanten.
Er strahlte auch. Wie ein glücklicher Ehemann eben nur strahlen konnte.
Hans nippte an seinem Glas, spürte das perlende Nass an seinen Lippen, auf der Zunge, wie es kitzelnd den Gaumen entlangrann. Das war schon gut.
„Herr Wilsdorf, eine Frage!“
Hans sah erstaunt nach links. Er hatte den Mann nicht herantreten gehört, nicht gesehen, war zu beschäftigt mit dem Genuss seines kalten Getränks.
„Ja?“ Er räusperte sich.
„Präsident Eisenhower trifft tatsächlich Chruschtschow. Was sagen Sie dazu?“ Unschuldiger Blick. Gar kein unschuldiger Versuch. Hans hatte sofort eine Ahnung.
„Wenn es dem Frieden nützt, warum nicht?“ Hans überlegte, ob man sich kannte, während er weitersprach. Wahrscheinlich nicht. „In Berlin hat Eisenhower im letzten Monat viel erreicht. Warum jetzt nicht auch? So eine Reise kann doch ihr Gutes haben. Der russische Präsident bleibt, soweit ich weiß, 14 Tage in den Staaten. Das ist ausreichend Zeit, um sich näherzukommen. Vor allem, weil ja auf Kuba, quasi vor der US-amerikanischen Haustür, mit Fidel Castro auch nicht alles zum Besten steht, wie man hört.“
Nicken. Überlegen. Nach dem sinnvollen Fortgang der Konversation suchen. Dann der eigentliche Grund der Frage. „Haben Sie eigentlich noch Kontakt zu ihm? Bestimmt, oder?“ Der Fragende nickte, ohne auf die Antwort zu warten.
„Ich gehe einmal davon aus, dass Sie Journalist sind, Herr …? Wie heißen Sie noch gleich?“ Hans fühlte sich bestätigt, sein Instinkt für Reporter funktionierte.
„Krüger, Franz Krüger. Von der Neuen Zürcher.“ Ein Zeitungsschreiber!
„Gut, Sie sind also Journalist. Hab ich mir gedacht.“ Hans Wilsdorf nickte, nahm einen Schluck vom Champagner. „Wie war nochmal Ihre Frage?“
„Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“ Verdutzter Blick.
„Nun, wen meinen Sie? Castro oder Eisenhower?“
Der Reporter sah Hans verwundert an.
„Beide tragen eine Rolex. Ich wollte nur sichergehen, dass ich Sie richtig verstanden habe.“ Ein süffisantes Lächeln. Hans genoss.
Krüger genoss nicht. Sagte nichts.
„Nun, junger Mann, ich bin Präsident Eisenhower bis heute dankbar, dass er die Uhr, die ich ihm habe zukommen lassen, stets trägt. Er hat dazu beigetragen, Rolex in der Welt noch bekannter zu machen. Das ist das Entscheidende. Und so wie er sich jetzt gerade gemeinsam mit Nikita Chruschtschow um die Politik unserer Welt kümmert, wie zuletzt auch in Berlin, so bin ich mir sicher, dass die Herren es schon ganz gut machen.“
„Aber haben Sie denn noch Kontakt …?“
„Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Krüger.“ Hans nickte einmal höflich und gab seinem Gegenüber zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Der Journalist sah auf seinen Notizblock und zog ab.
Hans grübelte, ob die Frage dieses Reporters Grund genug war, um schlecht gelaunt zu sein. Er mochte es nicht, ungefragt ausgefragt zu werden, was immer wieder bei derartigen Veranstaltungen geschah. Deswegen hatte er in den vergangenen Jahren nur selten eine Einladung angenommen. Das Aufsehen um seine Person und um seine Kontakte, die er zweifelsohne hatte, lag ihm nicht. Sagte er zumindest. Es stimmte nicht ganz. Hans genoss es schon, im Rampenlicht zu stehen. Er hatte ja viel erreicht – aber er mochte nicht in der Öffentlichkeit darüber reden. Eine Feier hier, ein Fest, eine Ehrung da. Das taugte ihm. Nicht aber ein Bericht in der Zeitung. Schon gar nicht im Fernsehen. Das lag ihm nicht. Und so war es eben stets ein Spagat, wenn er einer Einladung nachkam, wo er die Fäden nicht in der Hand hielt.
Dennoch wollte er es sich nicht nehmen lassen, persönlich da zu sein. Die Rolle des geheimen, unsichtbaren Firmengründers war nicht sein Ding. Er wollte nahbar sein, sichtbar. It’s all about visibility and personality, sein zweiter Grundsatz, den er gern auf Englisch formulierte. Das war der Weg, der ihn und seine Uhren erfolgreich gemacht hatte. Wer sich selbst nicht einbrachte, wer nicht kreativ war, wer nichts wagte, der verlor. Und das hatte er nie gewollt. Aufgeben war nicht sein Ding.
Hans hatte es nicht ohne Grund so weit gebracht. Seine Uhren waren eine Revolution. Sie waren die Uhren schlechthin, ganggenau, wasserdicht, präzise. Aber das waren sie auch schon, als sie noch keiner kannte. Es waren Meisterwerke. Und sein unnachgiebiger Einsatz hatte diesen Meisterwerken den Weltruhm eingebracht, den sie heute genossen. Sie waren das Kapital des Unternehmens, nicht er. Sie waren die Geschichte. Es ging immer um seine Uhren, ihre Qualität, und es ging um das Unternehmen. Es ging nicht um ihn. Für Außenstehende war dies bisweilen schwierig nachzuvollziehen.
Das leise Klirren eines Rings an den Rand eines Glases holte ihn aus seiner Gedankenreise zurück. Jacques Arnaud ergriff das Wort: „Wie Sie alle wissen, hat unser großartiger Gast heute, also du, lieber Hans, eine beeindruckende Geschichte. Er ist ein Multitalent, wenn ich das so sagen darf. Erfinder, Visionär, mutiger Wegbereiter. Wer sonst als er, mein Freund Hans Wilsdorf, hätte so großartige Ideen haben können, wie wir sie alle kennen. Ich sage nur: Ärmelkanal oder Eisenhower.“
„Oh“, sagte ein Gast. Er hielt ein Glas Champagner in die Höhe, als wollte er einen Toast aussprechen. An seinem Arm erkannte Hans eine Explorer in ihrer schlichten Eleganz. „Rolex hat Weltklasse!“
Hans spürte die Blicke der Anwesenden, die jetzt zu ihm sahen und eine Reaktion erwarteten. Es behagte ihm nicht, aber er wusste, dass das nun einmal dazugehörte. „Ach, Jacques, wir wollen doch nicht in alten Geschichten schwelgen. Lass uns lieber …“
„Doch, doch, Hans. Wir wollen.“ Jacques unterbrach ihn. Charmant, direkt, ein wenig plump. Hans fokussierte seinen Gastgeber, als wollte er dessen Gedanken lesen, während dieser weiterredete. „Ja, es gibt unzählige Anekdoten zu den vielen Modellen. Jede Rolex erzählt eine einzigartige Geschichte. Deswegen nehmen deine Uhren, lieber Hans, unter allen Luxusuhren eine besondere Stellung ein. Sie überzeugen mit Einzigartigkeit, mit Beständigkeit, mit Tradition und mit Präzision. Pure Qualität, kein Schnickschnack, sondern Eleganz. Und das schon seit Jahrzehnten.“ Einige Gäste nickten, nippten am Glas und sahen zu Hans hinüber. Er nickte zurück.
„Wussten Sie, dass die meisten der heutigen Modelle schon etliche Jahre im Angebot sind und sich in Optik, Materialwahl und Funktionalität nur ganz behutsam verändert haben? Lieber Hans, das muss man erst einmal schaffen, als Pionier einer Branche, als Vorläufer zum Vorbild zu werden! Auf dich!“
Seinem Toast folgte fast schon reflexartig die Werbebotschaft. „Wer sich heute hier von der großartigen Vielfältigkeit dieser Uhren überzeugen möchte, meine Mitarbeiter stehen Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Wir haben alle Highlights ausreichend im Angebot.“
Man applaudierte höflich, sah sich um und redete wieder untereinander. Umgeben vom sanften Licht der Vitrinen, das die edlen Uhren und Juwelen in warmem Glanz erstrahlen ließ.
Hans stand entspannt inmitten seiner Produkte und wurde als der Meister seiner Zunft gefeiert. Neben ihm Jacques. Sie hatten schon viele gemeinsame Momente erlebt und heute, bei einem Glas Champagner in der erlesenen Atmosphäre seines Geschäfts, war es Jacques, der Hans eine Frage stellte, die ihm schon lange auf der Seele brannte.
„Hans“, begann Jacques, „wir kennen uns jetzt schon so lange. Ich habe dir oft zugeschaut, wie du dich mit so viel Leidenschaft um deine Uhren kümmerst. Was ist das Geheimnis deines Erfolgs?“
Hans lächelte und nahm einen Schluck Wein. „Ach, Jacques, es sind eigentlich nur ein paar einfache Prinzipien, die mich immer geleitet haben.“
Jacques sah ihn neugierig an und nickte. „Erzähl mir davon.“
„Nicht jedes Rad muss neu erfunden werden, ich habe oft Bekanntes mit Neuem kombiniert. Ein kleiner neuer Aspekt, der alles verändert. Denk an die Oyster: Es war nicht die erste wasserdichte Uhr, aber wir haben sie perfektioniert und Elemente hinzugefügt, zum Beispiel die Perpetual-Technologie. Es war diese Kombination, die die Oyster revolutionär gemacht hat.“
Jacques nickte nachdenklich. „Es ist oft nur der eine Schritt weiter.“
„Genau“, fuhr Hans fort. „Ich habe immer auf meinen Instinkt gehört. Wenn du an dein Produkt glaubst, dann geh deinen Weg, auch wenn dir Gegenwind ins Gesicht bläst. Ich habe 1905 in London angefangen und kann dir sagen, es war nicht immer leicht. Aber ich wusste, dass ich etwas Besonderes hatte, also bin ich meinen Weg gegangen und habe mich nicht beirren lassen.“
Jacques nickte voller Wertschätzung für Hans’ visionäre Einsatzfreude. „Du warst immer hartnäckig. Das bewundere ich an dir.“
„Hartnäckig, ja. Aber auch flexibel“, entgegnete Hans. „Denn am Ende geht es immer um ein Gefühl. Du verkaufst kein Produkt, sondern ein Gefühl. Die Menschen kaufen keine Uhr, sie kaufen das, was die Uhr für sie bedeutet. Eine Rolex ist mehr als nur ein Zeitmesser. Sie steht für Präzision, für Zuverlässigkeit, für Abenteuer, Eleganz. Wenn ich eines gelernt habe, dann dies: Gefühle bleiben viel länger in den Köpfen der Menschen als irgendein technisches Detail.“
Jacques lachte leise. „Das stimmt. Wenn ich eine Rolex sehe, denke ich an viel mehr als nur an die Uhrzeit.“
„Genau darum geht es, Jacques. Das Gefühl, das du verkaufst, bleibt für immer im Gedächtnis deiner Kunden. Das ist das Geheimnis.“
„So wie du das sagst, klingt es so einfach und simpel. Aber in Wirklichkeit steckt da so viel Weisheit drin.“ Die Anerkennung war Jacques deutlich anzumerken.
„Vielleicht.“ Hans hob sein Glas. „Aber das Wichtigste ist, dass du alles mit Leidenschaft machst. Das war immer mein Weg.“ Die beiden Freunde stießen an. „Mein Onkel Ebbe, Gott hab ihn selig, hat vor vielen, vielen Jahren einmal zu mir gesagt: ‚Es gibt Situationen im Leben, da geht man geradeaus und macht keine Umwege! Keine Kompromisse. Qualität und Exzellenz kennen kein Pardon.‘ Ich habe es damals, da war ich noch ein junger Schulbub, nicht wirklich in seiner ganzen Tragweite verstanden. Aber er hat mir da einen wahren Schatz mit auf den Weg gegeben. Ich habe die Worte nie vergessen.“
Jacques antwortete erst nach einigen Momenten des Schweigens: „Sehr inspirierend, Hans. Danke.“
Der Vormittag verging wie im Flug. Hans stieß mal hier, mal dort mit seinem Glas auf den Erfolg, auf den Tag, auf den Sommer oder die hier gezeigte Kollektion an, nippte lustvoll an seinem Champagner und vergewisserte sich stets, ob seine Gesprächspartner nicht der schreibenden Zunft angehörten.
Schließlich sah er sich nach seiner Frau um. „Betty, mon amour, wollen wir …? Ich habe noch im Büro zu tun.“
„Aber natürlich, Hans. Ich verabschiede mich noch kurz von Madame Bardot, eine reizende Person. Dann können wir. Holt Bernard uns ab?“ Sie schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln. Seine Betty, was war sie nur für eine großartige Partnerin.
„Ja, er ist um eins da.“
Bernard Duvillard war pünktlich. Natürlich. „Ein Duvillard ist immer pünktlich“, so sein Motto. Fast lautlos glitt nun der Mercedes neuester Bauart durch die Straßen von Genf, Betty und Hans auf der Rückbank im Gespräch. Auf die Trennscheibe hatte Hans bei der Bestellung verzichtet, er wollte mit Bernard in Kontakt sein. Geheimnisse gab es nicht. Die extragroßen Aschenbecher für die Zigarren hatte er aber selbstverständlich gewählt. Sie glänzten bei jeder Fahrt, als wären sie nie benutzt worden. Bernard schätzte die erstklassige Ausstattung der Limousine und pflegte sie mit Hingabe.
Hans plauderte mit Betty über das Event, die Gäste, den Journalisten und dessen so unpassende wie hartnäckige Frage. „Ja, unpassend, so würde ich es bezeichnen. Wirklich!“ Hans zog an seiner Zigarre. Er war erregt.
„Hätte er sie nicht gestellt, dann wäre er kein guter Journalist.“ Betty war, wie so oft, nüchtern, klar und besonnen. Sie zog ihre mit zarten Borten besetzten Handschuhe aus, als gäbe sie das Zeichen: Es ist jetzt Feierabend. Sie legte sie sorgsam auf ihren Schoß. Derweil fuhren sie über Straßen und Avenuen, ließen das Zentrum hinter sich und erreichten die Firma.
„Hast du viel zu erledigen?“ Betty fragte, ohne zuvor überhaupt nach dem „Ob“ zu fragen. Dass ihr Mann ins Büro fuhr, war klar. Er tat es immer. Jeden Tag. Auch sonntags. Sie hatte es einmal, ach was, etliche Male versucht, dass er kürzertrat, sich zurücknahm und das Unternehmen Unternehmen sein ließ. Aber das konnte er nicht, das wollte er nicht. Das sah sie. Und sie verstand es, weil sie wusste, was sein Lebenswerk ihm bedeutete.
„Ein paar Dinge, nur ein paar …“ Hans murmelte es, da er wusste, dass Betty es natürlich wusste. „In der Produktion gibt es ein paar Fragen.“
Betty nickte. Hans war jeden Tag im Büro. „Im Werk“, wie er sagte. Und wenn er es auf Deutsch sagte, dann klang sein fränkischer Dialekt tatsächlich noch durch. Das „R“ rollte er, wie es nur ein Franke konnte. Manchmal passierte es ihm auch, wenn er von Rolex sprach. Dann schauten die anderen ihn an und er scherzte: „Einmal Franke, immer Franke!“ Und dazu dieses unvergleichliche Lächeln, das einem Hans Wilsdorf nicht zu nehmen war. Unerschütterlich optimistisch und einem Scherz nie abgeneigt.
Dass er, der Junge aus Kulmbach in Oberfranken, einen Großteil seines Lebens Englisch und Französisch sprechen würde, das hätte er nicht gedacht, damals, als er als junger Mann die Heimat verlassen hatte. Vieles hatte sich seitdem verändert, das rollende „R“ war wie ein Andenken aus alten Tagen geblieben.
Was hatte sich seit diesem Silvestermorgen 1900 alles getan! Was hatte er alles geschafft seit diesem Wintertag, als er aufgebrochen war! Als er Kulmbach verließ, da waren die Brauereien in Kulmbach oder auch in Bayreuth, wie die der Gebrüder Maisel, seiner Familie, oder die Spinnerei am Mühlbach in seinen kindlichen Augen große, ja riesige Unternehmen. Unerreichbar für einen Jungen wie ihn.
Und heute? Jetzt war sein Unternehmen, sein Werk, jetzt war Rolex eine Weltmarke. Seine Weltmarke. Größer als alles, was er je für möglich gehalten hatte. Was für ein Erfolg, den er erreicht hatte und der ihm gewiss nicht in die Wiege gelegt worden war.
Der dunkle Mercedes erreichte die Einfahrt zum Werk. Auf den Wegen herrschte geschäftiges Treiben. Ein Lastwagen stand vor der Rampe, lieferte und holte große Kisten ab. Einige wenige Uhrmacher lehnten an der Hauswand neben dem wuchtigen Eingangsportal, redeten miteinander, rauchten ihre Zigaretten, genossen die Septembersonne. Der Pförtner grüßte ihn wie immer im Vorbeifahren, wortlos und mit einem freundlichen Nicken.
„Wir sehen uns später.“ Hans sah zu Betty hinüber. Lächelte.
„Denk an das Essen heute Abend! Wir haben Gäste.“ Betty murmelte es und wusste, sie musste ihn sowieso später daran erinnern.
„Wer kommt?“
„Emile, mon chou, mit seiner Frau. Du hast die Borers doch eingeladen.“ „Aber natürlich, ja. Ich bin pünktlich“, sagte Hans. Er stieg aus dem Wagen, sein Fahrer schloss die Autotür mit leichtem Schwung und einem vorsichtigen Andrücken, sodass es nicht knallte. Betty vertiefte sich in die Tageszeitung, die im Wagen lag, sah ihrem Mann einen Moment lang über den Rand des Papiers nach und nickte.
Auf dem Flur hinter dem Eingangsportal war es überraschend leer. Das Licht, das durch die großen Fenster fiel, spiegelte sich im Linoleum. Es quietschte leicht unter Hans’ Füßen, als er beherzten Schrittes zum Aufzug ging. Früher hatte er in den ersten Stock, wo sein Büro war, die Treppe genommen. Das schmerzte ihn mittlerweile zu sehr in der Hüfte. „Warum quälen?“, dachte er sich und fuhr mit dem eigens für ihn installierten Aufzug.
Im ersten Stock sah er in den Werkräumen die Uhrmacher ihre Arbeit verrichten. Allzugern wäre er dort eingetaucht, hätte sich informiert, wie es mit der Arbeit voranging. Hätte mit ihnen gesprochen und gefachsimpelt, wie er es sein Leben lang getan hatte. Über Genauigkeit und Präzision, über Akkuratesse und Leidenschaft. Aber heute musste er etwas anderes seiner Leidenschaft vorziehen.
In seinem Büro das übliche Bild. Mademoiselle Fournier hatte mehrere Stapel Unterlagen parat, die abzuarbeiten waren. Fein säuberlich sortiert, wie er es mochte, legte seine Sekretärin sie ihm vor. Hier ein paar Unterschriften, ein wenig aktuelle Korrespondenz, dort Einladungen und Kooperationen von Juwelieren weltweit. Und natürlich auch Reklamationen. Die mussten auf seinen Tisch. Wer nicht weiß, was schiefläuft, kennt sein Unternehmen nicht! Er sah Louise Fournier freundlich an. „Und?“
„Nichts Besonderes, alles im Fluss.“ Louise sagte das meist und das war gut. „Ach, Jean-Philippe Arm hat wieder angerufen.“
„Wer ist das?“
„Na, Sie wissen doch, der Reporter vom Schweizer Fernsehen. Er möchte Sie beim Genève Grand Prix interviewen.“
Hans Wilsdorf nickte ihr stumm zu. „Hm“, brummte er dann.
„Und?“ Sie sah ihn lächelnd an. „Geben wir ihm einen Termin?“
„Ich werde es mir überlegen. Danke für Ihre Mühe, Mademoiselle Fournier.“ Er legte sein Sakko über den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, strich einmal mit der Hand darüber, als bügelte er eine unsichtbare Falte glatt.
„Was soll ich ihm sagen?“
„Ich weiß es noch nicht. Also erstmal nichts.“ Er strich sich durch seine schlohweißen Haare. „Sonst noch was?“
Sie sah über ihre Notizen. „Nein.“
„Sagen Sie Monsieur Arm, ich werde darüber nachdenken.“ Hans sah in ihrem Blick, dass Louise diese Antwort nicht zufriedenstellte. Zu oft hatte er mit ebendiesen Worten geantwortet. Aber es entsprach nun mal der Wahrheit. Er dachte darüber nach. Und er hatte noch keine Antwort gefunden, keine abschließende. Zu viele Mosaiksteinchen lagen noch unverbunden nebeneinander, sodass er die Konsequenzen eines solchen Interviews nicht abschätzen konnte. Zu wenig war er sich darüber im Klaren, was Fernsehen und ein solches Interview bedeuteten.
Hans war immer ein Mann des direkten Wortes gewesen, nicht des übertragenen. Obgleich gerade er immer die Möglichkeiten der Zeit genutzt hatte. Warum war es diesmal anders? Er wusste es nicht. Klar war: Er musste die Folgen einschätzen können. Die neue Technik war ihm nicht geheuer. Noch nicht. Das würde schon noch kommen.
Seine Sicht auf sein Leben, mit einigen wenigen Einblicken ins Private, hatte er in seinem Vademecum vor mehr als 20 Jahren niedergeschrieben. Man konnte seine Standpunkte nachlesen, konnte seine Sicht auf den Erfolg und den Weg dorthin studieren. Warum jetzt darüber reden? Warum alte Wunden aufreißen? Als er damals seine Erinnerungen niederschrieb, hatte er gespürt, welche Herausforderung das für ihn bedeutete. Vor allem waren es die Gedanken an früher, an die Zeit in Franken, in Kulmbach, in Bayreuth und in Coburg. Die Erinnerungen an das Leben in seiner Heimat.
„Monsieur Wilsdorf“, sagte Louise Fournier, als er im Begriff war, in sein Büro zu gehen, „Sie sollten es tun. Es ist die neue Zeit … das Fernsehen. Sie haben so viel geschaffen für die Ewigkeit, dann sollten Sie auch ein Teil der Ewigkeit werden.“
„Aber Louise, ich bin es schon.“ Er lachte und ging in sein Büro. Dann drehte er sich noch einmal um. „Ich habe schon einmal alles erzählt: Ich habe es niedergeschrieben. Mehr gibt es nicht zu sagen.“
Man hätte meinen können, er wäre heute alt genug, um die Wunden aus der Kindheit und Jugend nicht mehr zu spüren. Aber dem war nicht so. Vieles aus seinen ersten Lebensjahren lastete wie ein Monolith auf ihm, als würde es genau jetzt passieren, als würde es ihn in diesem Moment beeindrucken, bedrücken.
Er hatte seine Heimat verlassen, da war er fast noch ein Kind. Er hatte sich ein Leben in der Schweiz aufgebaut, da war es alles andere als normal. Er hatte in London gelebt und zwei Weltkriege überstanden. Hatte eine geliebte Ehefrau verloren und das große Glück, mit Betty eine zweite gefunden zu haben, die er ebenso liebte. Und er hatte eine Revolution eingeleitet, indem er ein Unternehmen geschaffen hatte, das die beste Uhr der Welt herstellte.
Er war stolz auf all das, war voller Lust, darüber zu berichten. Aber er wusste, dass es eben auch immer diese eine Frage gab, die nach seinen Wurzeln suchte, nach der Geschichte vor der Geschichte. Und über die wollte er nicht reden. Nicht in aller Öffentlichkeit. Er konnte vieles, aber das konnte er nicht.
Sein Lebenswerk war Rolex. Die beste Uhr, die es gab. Das Davor war egal. Sein Erfolg hatte nichts mit seiner Kindheit zu tun. Zumindest galt das für die anderen. Für ihn galt es nicht. Für ihn hatte alles mit seiner Kindheit zu tun.
Wäre sie anders verlaufen, auch nur einen einzigen Tag, dann wäre er heute nicht hier. Die Weichen für das, was er heute war, sie wurden damals gestellt: am Marktplatz in Kulmbach und in der Oberen Stadt, am Holzmarkt und im Schatten des Weißen Turms, in der engen Bauergasse und unterhalb der mächtigen Mauern der Plassenburg. Und natürlich in Bayreuth, wo die Gebrüder Maisel ihre riesige Brauerei hatten und er die Wege erst lernen musste, die ein Kind geht, wenn sich alles verändert.
Hans sah aus dem Fenster seines Büros, sah durch die bodentiefe Glasscheibe hinaus über die Stadt, den See. In der Ferne leuchtete auf einigen Gipfeln der Alpen schon der erste Schnee. Wortlos vergingen die Minuten, während er in Gedanken reiste und seine Augen feucht wurden. Er wischte sich eine Träne mit dem Handrücken weg und sprach zu sich selbst:
„Was kann im Leben Schlimmeres passieren, als wenn die Mutter stirbt, während man noch ein Kind ist.“ Er schluckte, nickte stumm. Es konnte Schlimmeres passieren.
Es klopfte.
„Ja?“
Die Tür ging auf, Betty kam herein.
„Was …?“ Er war überrascht sie hier zu sehen. Sie war doch mit dem Wagen … Was soll’s, nun war sie da.
„Mon Chou, ich hatte noch eine Idee wegen …“ Sie hielt inne, sah in dem vertrauten Augenpaar sofort, dass Hans sich in Gedanken fern von heute aufhielt. Dass er nicht im Hier und Jetzt war, sondern in seiner Kindheit. Sie wusste es, wie es nur eine Partnerin wissen konnte, da sie es spürte, wenn er dort war oder daran dachte.
„Die Interview-Anfrage, richtig?“ Betty war gescheit.
Er nickte.
„Schatz, es wühlt dich auf. Das ist doch in Ordnung. Du hast so viel Gutes geschaffen. Ich denke, es wäre gut, wenn die Welt davon erfährt, dass es bei einem so großartigen Mann wie dir auch andere Seiten gibt. Das könnte vielen anderen Mut machen, nicht aufzugeben, egal was passiert.“ Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen an. „Erzähl es, mon chou!“
Hans sah sie an. Betty war so unglaublich klug, so weise. Wie so viele andere Frauen auch. Ein Unding, dass die Volkabstimmung zu Beginn des Jahres diesen wunderbaren Geschöpfen immer noch das Wahlrecht verweigert hatte. Es widerstrebte ihm zutiefst.
Er kramte in der obersten Schublade seines ausladenden Schreibtischs, suchte, fand aber nicht. „Der Brief von diesem Monsieur Arm muss hier sein, ich habe das Schreiben doch nicht weggelegt“, murmelte er.
„Mon chou, du wirst die richtige Antwort finden. Noch ist genügend Zeit.“ Betty verabschiedete sich und ging. „Wir sehen uns heute Abend. Vergiss nicht die Einladung, Emile und seine Frau.“
Hans nickte, dann galten seine Gedanken wieder dem geplanten Interview. Der Redakteur hatte ihn mehrfach angeschrieben. Er hatte gefragt, ja gebettelt. Und Hans hatte stets abgelehnt. Nun verspürte er den Drang, das letzte Schreiben des Mannes noch einmal zu lesen. Es musste hier irgendwo sein.
Unter einem Ordner wurde er fündig, nahm den von Hand geschriebenen Brief und sah ihn an. Leise murmelte die ersten Zeilen: „Sehr verehrter … eine große Freude, den Meister persönlich … den Menschen hinter der Weltmarke kennenzulernen … Sie haben bestimmt vieles aus Ihrem Leben zu berichten, worüber wir uns unterhalten können, sodass unsere Zuschauer …“
„Ach was“, brummte er und ließ das Blatt Papier auf die lederne Unterlage seines Schreibtisches segeln. Sein Blick wanderte über die zwei dunklen Ledersessel gegenüber, dann hinaus aus dem Fenster. Seine Gedanken begannen unwillkürlich zu wandern. Zurück in seine Kindheit, seine Heimat. Nach Kulmbach.
Hans Wilsdorf stand knöcheltief im Schnee und sah sich um. Hatte sein Bruder ihn gerufen? Wahrscheinlich. „Der brüllt immer, wenn er was will“, dachte er. Wo war Karl eigentlich? Er konnte ihn nirgends sehen. Ännchen auch nicht, seine Schwester. Er stampfte kräftig auf, um seine Füße vom Schnee zu befreien, klatschte in die Hände. Auch sie voller Schnee. Eine große weiße Kugel lag vor ihm. Es würde ein großer, ein schöner Schneemann werden. Der schönste, den er je gebaut hatte.
Hans war mit seinen Geschwistern seit einer Weile auf dem Festungsberg. Sie spielten im Schnee, der über Nacht gefallen war. Gerade noch rechtzeitig zu Weihnachten. Die mächtigen Mauern der Plassenburg ragten hinter ihm in den Himmel, der nun wieder strahlend blau war. Die Sonne glitzerte auf den vereisten Ästen. Unter ihm die Dächer seiner Heimat. Rauch stieg aus den Schornsteinen, zeugte von Wärme und Wohligkeit, die hier im Wald fehlte. Es war eisig kalt.
„Haa-aans!“
Er hatte ihn also doch gerufen und weit konnte er nicht sein. So wie seine Stimme klang, wollte der große Bruder den kleinen Bruder ärgern – wie so oft. Deswegen ignorierte Hans ihn erst einmal, auch wenn er wusste, dass es nicht klug war. Aber er war jetzt zehn und fühlte sich alt genug, um zu wissen, was er durfte und was nicht. Auch sein Vater hatte ihm erst neulich gesagt, dass er jetzt ein großer Junge sei. Außerdem hatte er gerade andere Probleme. Ihm war heiß und auch eiskalt. „Heiß-kalt“, murmelte er und zog den Schal noch etwas enger um den Hals. Mit den Schultern ruckelte er die weiche Lodenjacke zurecht, die ihm Oma Barbara geschenkt hatte im Jahr, bevor sie starb. Zwei Jahre war das jetzt her. „Du wirst sie brauchen“, hatte sie gesagt und ihm beim Anprobieren geholfen. „Der Winter wird hart. Das spüre ich in den Gelenken.“ Wie recht sie hatte. Letztes Jahr und nun wieder.
Als er seine große Schneekugel besah, steckte er seine Handschuhe in die tiefen Taschen der dunklen Schurwollhose, seine Hände kribbelten vom kalten Schnee. Das wird der schönste Schneemann aller Zeiten!
„Hans!“ Kurz, knapp und zum Dritten. Die Stimme hallte klar durch den Wald. Und überraschend laut.
„Du musst ja nicht gleich ganz Kulmbach zusammenbrüllen“, rief er lachend in die Richtung, wo er Karl vermutete. „Was ist denn los?“
„Ich wette, mein Schneemann wird größer sein als deiner!“ Karl stand plötzlich vor ihm.
„Wird er nicht“, murmelte Hans und verbuchte den Punkt für sich. Karl war auf Krawall aus. Er war der Ältere und ließ es ihn spüren. Doch was war schon ein Jahr? Eine kleine Ewigkeit, wenn man ein Kind war. Karl war elf, er eben erst zehn. Und Karl hatte schon seine Taschenuhr bekommen. Die Auszeichnung seiner Familie, dass man nun ein großer Junge war. Hans hatte seine noch nicht.
„Willst du Streit?“ In Karls Stimme klang ein Hauch von brüderlichem Wettstreit. Hans kicherte. Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen rief er zurück: „Das werden wir sehen! Ich habe eine Geheimwaffe!“
„Na, da bin ich mal gespannt. Holst du dir die Zuchthäusler aus der Plassenburg zu Hilfe oder was?“ Karl lachte das Lachen eines Siegers, er fiel auf seine Finte nicht rein. Na klar. „Wenn ich gewinne, bekommst du heute kein Geschenk vom Christkind.“
„Das kannst du gar nicht wissen!“ Jetzt stimmte auch Ännchen mit ein. „Was das Christkind bringt, weiß nur das Christkind. Hat Mama gesagt.“
Ännchen war das jüngste der drei Wilsdorf-Kinder. Mit ihren acht Jahren war sie das Nesthäkchen. Eigentlich hieß Ännchen Anna, so wie ihre Mutter. Aber eine zweite Anna im Haus führte oft zu Verwechslungen und Hans hatte sich schon oft gefragt, warum seine Eltern auf diese wirklich blöde Idee gekommen waren, seine Schwester genauso zu nennen wie Mutter. Zweimal Anna war schon wirklich blöd. So gab es nun Ännchen und Nanni, wie Vater die Mutter rief.
Bei ihm hatten sie wenigstens statt Johann, wie Vater hieß, Hans gewählt. Er hatte auch noch Eberhard und Wilhelm als Vornamen, aber Anna war nur Anna. Nun gut, jetzt war es so und Anna also Ännchen. Außer wenn sie etwas angestellt hatte. Dann gab es den richtigen Namen. Deutlich und scharf. Auch bei Karl und ihm. Und sie wussten, dann hieß es vorsichtig sein.
Ännchen stimmte in die launige Frotzelei ihrer Brüder mit ein: „Mein Schneemann ist nicht so groß. Aber er hat das schönste Lächeln aller Zeiten. Das gefällt dem Christkind bestimmt.“ Ihre Begeisterung war ansteckend.
„Für uns bist du die Größte“, rief Hans. Er war stolz auf seine Schwester, weil sie sich nie unterkriegen ließ und trotz ihrer Rolle als Nesthäkchen nicht klein beigab.
„Wir werden sehen.“ Auch Karl gab nie klein bei.
„Werden wir!“ Hans auch nicht. Nicht mehr. Er war ja jetzt zehn.
Während sie daran arbeiteten, ihre Schneemänner zu formen, vermischte sich ihr kindliches Lachen mit dem Knacken der vom Schnee beschwerten Äste und dem Knirschen ihrer Stiefel. Sie schoben ihre eiskalten Kugeln über die Lichtung, sodass sie wuchsen und wuchsen. Als Hans’ Schneeball so groß geworden war, dass er zu schwer war, um ihn noch zu heben, blickte Karl grinsend zu ihm herüber. „Sieht so aus, als würdest du Hilfe brauchen.“
„Nö!“ Hans gab sich auch jetzt nicht geschlagen.
„Ach komm, ist doch Großer-Bruder-Ehre!“
„Hm.“ Gequältes Grinsen. Man rollte nun den immer größer werdenden Schneeball zusammen. Ihr Atem bildete Wolken in der kalten Luft, als sie den riesigen Schneeball an seinen Platz schoben und auf Karls noch größeren hoben, der dort schon thronte.
„Schau!“, rief Karl stolz.
„Hm.“ Hans wollte es nicht zugeben, aber er war auch froh. Ihr Schneemann war größer und mächtiger als alle, an die er sich erinnern konnte. Ein großer Bruder war schon toll. „Schön, unser Schneemann!“
Karl sagte nichts. Er fischte nach etwas Schnee, formte eine Kugel und warf sie mit einem schelmischen Grinsen in seine Richtung. Hans duckte sich; der Schneeball flog ins Leere.
„Daneben, daneben!“ Ännchen kicherte. Ihre Stimme war so zart wie die Schneeflocken, die ihre dunklen Wimpern schmückten. Sie klatschte vor Freude in die Hände.
„Vorsicht, sonst bekommst du den nächsten ab“, neckte Hans seine Schwester und wich einer weiteren Schneekugel aus.
„Oh, nein!“ Ännchen hielt sich die Hände vors Gesicht. „Hört auf!“
Die Jungs stoppten ihre Schneeballschlacht und ließen sich in den Schnee fallen. Still schauten sie ins Tal. Hans suchte mit seinen Augen die ihm vertraute Silhouette der Stadt ab. Er zählte die Türme, murmelte leise die Namen der Kirchtürme und blickte versonnen auf den Marktplatz, an dem sein Elternhaus stand. Hier war seine Heimat. Das Zuhause seiner Familie.
Das Haus stand an einer Ecke des Platzes. Die Wände aus robusten Ziegeln waren hellgelb getüncht, das Dach thronte über dem zweiten Stock, schneebedeckt. Im Erdgeschoss war das Geschäft seiner Eltern, in dem sie Eisen- und Haushaltswaren verkauften und in dessen Räumen und Kellern er jedes Regal, jeden Winkel kannte. Er hatte dort schon als Kind gespielt, da konnte er gerade mal laufen. Und wie toll man dort Verstecken spielen konnte! Jeder in der Stadt ging bei ihnen ein und aus, wenn man Nägel, Eimer, Schrauben oder Werkzeug brauchte. Auch große Eisenplatten oder Zäune. „Wilsdorfs haben alles“, sagte sein Vater immer.
Als die Sonne hinter den Dächern versank, erreichen sie den Marktplatz. Der große Brunnen rauschte, anders als sonst im Jahr, nicht. Sein Wasser war gefroren. Mächtige Eiszapfen hingen an seinen Rohren. Hans wischte sich die letzten Schneereste von seiner Jacke.
„Das war wunderbar“, sagte er lächelnd. Karl murrte. Er wollte noch nicht heim und lieber noch am Brunnen Fangen spielen, während Ännchen schon fröhlich über das Kopfsteinpflaster in Richtung ihres Elternhauses hüpfte.
„Kommt rein, Kinder! Es ist Heiligabend!“, rief sein Vater von der Schwelle des Hauses. Seine robuste Gestalt hob sich von dem warmen Flackern der Petroleumlampen ab, das aus ihrem Zuhause leuchtete. Sie eilten hinein und stampften den Schnee von den Stiefeln. „Wir haben Schneemänner gebaut, Papa!“ Ännchen war aufgeregt. Es war ein wunderbarerer Nachmittag gewesen. Und der Tag versprach noch so viel mehr. Es war Heiligabend. Es würde Geschenke geben. Vielleicht wie im letzten Jahr, als Hans eine Eisenbahn bekommen hatte, mit der er heute noch spielte.
Das Haus war erfüllt von den Vorbereitungen für den Heiligen Abend. Mutter arbeitete in der Küche. Sie schnitt und rührte, schmeckte ab und scherzte auch, als sie sich dem Braten widmete, der im Ofen brutzelte. Anna Wilsdorf hatte eine lange Schürze über ihrem dunklen Kleid an. Die große Schleife der Schürzenbänder hing locker auf ihrem Rücken und bildete eine perfekte Fortsetzung des Haarzopfes, der lang über ihren Rücken baumelte.
Bestimmt würde sie sich später die Haare hochstecken, dachte Hans, so wie seine Mutter es immer an Feiertagen machte. Aber erst, wenn das Essen zubereitet und die Unordnung in der Küche beseitigt worden war. Seine Mutter war eine sehr akkurate und ordentliche Frau; die Tante sagte immer „penibel“. Aber was hieß das schon? Sie war eben ordentlich und das war gut so. Wenn es hieß, man hatte um drei zu Hause zu sein, dann war man auch um drei zu Hause. Nicht um fünf vor und schon gar nicht um fünf nach. Wofür gab es schließlich Uhren? Die Turmuhr der Spitalkirche, an der sich Hans orientierte, wenn er unterwegs war, ging so genau, dass das auch funktionierte.
Hans beobachtete das Treiben seiner Eltern. Seine Mutter pendelte zwischen Küche und Wohnzimmer, wo sie Vater Anweisungen gab. Der hängte vorsichtig Girlanden auf und arrangierte ehrfürchtig die alte Krippe. Die Vorsicht, mit der er das tat, überraschte Hans. Sein Vater war stark und groß und ein Fels in der Brandung, wenn es um sein Geschäft ging. Anders als jetzt, wo er die kleinen Figuren der Krippe nach Ansage der Mutter anordnete und in der guten Stube ein wenig verloren wirkte. Aber zum Glück war er da. Das war in den letzten Monaten nicht immer so gewesen.
Johann Wilsdorf war oft krank, musste sogar zweimal in die Klinik nach Bayreuth und Doktor Schlederer machte sich große Sorgen, weil seine Glieder taub waren. Vater war dann sehr schwach und hatte Krämpfe. Schlimm war das. Aber jetzt war er wieder da und Mutter musste sich nicht um die Familie und den Laden kümmern. Das machte ihr sehr zu schaffen.
„Achte darauf, dass du die Weisen genauso platzierst, wie wir es immer machen, Schatz.“ Mutter kümmerte sich um alles.
„Ja, Nanni, wie immer.“ Vater war ruhig und gelassen. Ab und an kniff er die Augen zusammen, als würde er schlecht sehen.
„Alles gut, mein Schatz?“
„Passt schon.“ Dann ordnete Johann die kleinen Figuren auf dem Kaminsims und achtete darauf, dass sich jede in der richtigen Position befand. Die großen, von der harten Arbeit im Geschäft gezeichneten Hände bewegten sich sachte, während er Maria und Josef, die Hirten und das Christkind in seiner Krippe platzierte. Als Anna einmal aus der Küche hinüberkam und seinen Vater mit einem stolzen Lächeln ansah, konnte Hans ihr Glück sehen, während sie die Hingabe ihres Mannes an sein Tun bewunderte. Und doch wirkte es, als würde sie auch Sorgen haben. Hans verstand das nicht.
Schließlich standen die mit feinen Details geschnitzten Holzfiguren auf dem Kaminsims und leuchteten im warmen Schein der Kerzen. Das Papier, in dem sie das Jahr über eingewickelt im Keller gelagert waren, hatte Vater beiseitegeräumt. Obgleich die Stube noch dekoriert wurde, wirkte sie nicht wie eine Rumpelkammer, wie Hans es im letzten Jahr bei Onkel Eberhardt gesehen hatte, als der die Stube zum Weihnachtsfest dekoriert hatte. Und das, obwohl es bei Onkel Eberhardt drei Bedienstete gab! Schon ein starkes Stück! Die Verwandten waren wer, auch in Kulmbach. Aber eigentlich in Bayreuth und in Obernsees. Das war im Süden, wohin sie manchmal fuhren. Die Verwandten waren die Maisels und sie hatten eine große Brauerei, mit Kesseln und Brauhäusern und hohen Schornsteinen, die in den Himmel ragten.
Es gab Onkel Eberhardt und Onkel Hans, Onkel Andreas und wen noch alles. Die Maisels eben mit ihren Familien. Hans hatte immer ein wenig Ehrfurcht, wenn er bei ihnen eingeladen war. Auch sein Vater fühlte sich unwohl. Nur Mutter nicht, aber es waren ja auch ihre Geschwister. Vor denen hatte man keine Ehrfurcht. Warum auch?
„Gut so?“ Johann überlegte, ob er mehr aufstellen sollte. Seine Hände zitterten leicht. Hans wusste, dass das von der Krankheit kam.
„Aber natürlich.“ Anna lächelte ihn an, auch froh darüber, dass jetzt alles fertig war. Alles strahlte eine festliche Ruhe aus. Der große Tisch war ausgezogen, wie immer an Festtagen. Die dunkle Holztruhe ohne den üblichen Krimskrams auf ihrem Deckel. Selbst das große Gemälde an der Wand über dem Sofa, das eine Landschaft darstellte mit Bäumen und Wiesen und einem mächtigen Hirsch in der Mitte, mit wuchtigem Gehörn, wirkte ruhig. Ebenso ruhig wie Karl, der seit einigen Momenten in die tanzenden Flammen des Kamins starrte. Es war, als würde die Zeit stillstehen.
Anna deckte mit Umsicht den Tisch mit noch mehr Porzellan ein und dem glänzenden Silberbesteck, das sie nur zu Geburtstagen und an Weihnachten nutzten. „Und vergesst nicht, dass wir erst noch in die Kirche gehen. Ich hoffe, Pfarrer Gruber zelebriert heute. Der Vikar ist … wie soll ich sagen? Er ist lahmarschig.“ Sie lachte über ihre eigene Courage. „Wenn der liebe Gott sieht, dass ihr alle brav gewesen seid und euch freut, dass der Heiland geboren ist, dann wird er bestimmt dem Christkind Bescheid sagen, dass ihr schöne Geschenke bekommt.“
Ännchen, die ruhig und in sich versunken mit ihren Puppen in der Ecke gespielt hatte, blickte sofort auf. „Oh ja, ich kann es kaum erwarten! Ich wünsche mir so sehr eine neue Puppe. Dann bekommt Mimi eine kleine Schwester!“ Ihre Augen leuchteten vor Vorfreude. Sie hielt eine ihrer Puppen hoch. Es war wohl Mimi. Wer kannte sich schon mit den Puppen von Ännchen aus, dachte Hans. Mama vielleicht. Sie lachte liebevoll.
„Wir werden sehen“, murmelte Vater. Auch Hans hatte jetzt Lust, seinen Teil zum heiligen Trubel beizusteuern.
„Kann ich beim Christstollen helfen, Mama?“
„Natürlich, mein Schatz.“ Gemeinsam bestäubten sie den Stollen mit reichlich Puderzucker, wobei sich der süße Duft mit der nach Zirbenholz duftenden Luft vermischte. Als die letzten Verzierungen angebracht waren, stand auch schon der Weihnachtsbaum, die Äste voll mit Strängen von getrockneten Früchten und vergoldeten Walnüssen, mit Strohsternen und vielen Bändern.
„Na, das ist ja mal ein großer Baum!“ Anna schlug die Hände vor den Mund. „Was der an Nadeln abwerfen wird!“
„Aber er nadelt doch gar nicht.“
„Noch nicht, mein Schatz! Noch nicht!“ Sie sah den Baum an und überlegte. „Da ist es noch etwas leer. Häng doch hier noch einen Stern hin.“
Johann tat wie ihm geheißen.
„Jetzt ist es perfekt.“ Mutter wirkte zufrieden.
„Ja!“ Vater legte seine kräftigen Hände auf Hans’ Schultern.
Als die Kirchenglocken läuteten und ihr Ruf zum Gottesdienst durch die stillen Straßen von Kulmbach hallte, zog Familie Wilsdorf ihre Wollmäntel an. Die ersten Mondstrahlen tanzten auf dem Schnee. Hans’ Hand ruhte in der seines Vaters. Seine kleinen Finger waren von der großen Hand umgeben, die ihn führte. Die Mutter folgte, mit Ännchen an der Hand, dicht hinter ihnen. Karl auf halber Strecke zwischen ihnen, allein. Das Knirschen ihrer Schritte auf dem vereisten Boden, die Obere Stadt hinauf, vermischte sich mit dem Läuten der Glocken.
Als sie sich der Petrikirche näherten, spürte Hans, wie sein Herz vor Vorfreude flatterte. Er mochte Weihnachten und stellte sich mit jedem Schritt vor, wie der große Baum, reich geschmückt, im Altarbereich glänzen würde mit seinen vielen Kerzen. Die große Holztür der Kirche öffnete sich knarrend und gab wie erwartet den warmen Schein frei. Die Wände waren mit Zweigen geschmückt. Vorn der große Christbaum, dessen flackernde Kerzen ein warmes Licht auf die Gesichter der Versammelten warfen.
Man grüßte, wurde gegrüßt und als die Uhr vom Kirchturm schwer und voll schlug, begann der Gottesdienst. Die Melodie des Chores auf der Empore erfüllte den Raum: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Hans stand Schulter an Schulter mit seinen Geschwistern. Das vertraute Weihnachtslied erfüllte ihn mit einem besonderen Gefühl von Zufriedenheit.
