Rossbreiten - Florian Naujoks - E-Book

Rossbreiten E-Book

Florian Naujoks

4,2

Beschreibung

Bastian Kramer ist gerade einunddreißig geworden – noch nicht einmal in der Mitte des Lebens angekommen, sieht er sich von Problemen umzingelt. Er sehnt sich nach einem Partner fürs Leben und bekommt stattdessen eine Zahnspange verpasst; statt als Lehrer mit Spaß zu unterrichten, nerven ihn die Eltern, die über jede Note ihrer wohlbehüteten Brut eine Diskussion anzetteln. Als es mit der Liebe wieder einmal nicht geklappt hat, setzt Kramer sich an den Küchentisch seiner WG und denkt nach. Wie war das früher mit den Eltern, den Mitschülern, der ersten Liebe? Wie konnte sein Leben derart zum Stillstand kommen? Mit trockenem Humor und erstaunlicher Beobachtungsgabe erzählt Naujoks von den Schwierigkeiten bei der Suche nach dem großen Glück. Und am Ende kommt in Kramers Leben dann doch noch eine frische Brise auf.

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ROSSBREITEN

FLORIAN NAUJOKS

Roman

Männerschwarm Verlag Hamburg 2013

BECK’S #1 (0–0,2 ‰)

Wehmütig betrachtete er seinen Arm. Der blaue Fleck war fast nicht mehr zu sehen. Drei Wochen hatte er immerhin gehalten. Erst hatte er sich dunkelrot bis blau verfärbt, dann dunkelgrün, und am Ende erinnerte seine Farbe an eine vergammelte Birne. Blaue Flecken entstehen, wenn unter der Haut Blutgefäße platzen. Das Blut verteilt sich im Gewebe, gerinnt, und das Hämoglobin wird schließlich zu bunten Gallenfarbstoffen umgewandelt. Im Grunde genommen der gleiche Vorgang wie bei der Entstehung von Knutschflecken, doch geknutscht hatten sie nie. Nicht mal in den Arm genommen hatten sie sich, stattdessen in den Schwitzkasten. Streicheln war erst recht tabu. Zu verdächtig. Zu nah. Um sich gegenseitig ihre Sympathie zu bekunden, drehten sie sich lieber die Arme auf den Rücken oder boxten sich grün und blau.

Kramer stand in der dunklen Küche. Nur aus dem Innern des Kühlschranks fiel ein wenig Licht auf den schwarz-weiß karierten PVC-Boden der Altbauwohnung, der eigentlich mal wieder gewischt werden musste. Sein Blick war auf acht Flaschen Beck’s im obersten Fach gerichtet, Überbleibsel von seinem Geburtstag. Einunddreißig war er geworden. Im kleinen Kreis hatte er das gefeiert. Wenn man von feiern sprechen konnte, denn um halb eins war bereits alles vorbei gewesen. Einunddreißig, und dabei sah er immer noch aus wie Anfang zwanzig.

Seine Versuche, sich einen Dreitagebart wachsen zu lassen, waren kläglich gescheitert. Selbst nach zwei Wochen brachte er nicht mehr zustande als ein paar vereinzelte Härchen an Kinn und Oberlippe; an den Wangen wollte gar kein Bart sprießen. Statt männlich oder lässig sah er mit den paar Stoppeln aus wie der Juniorchef eines Prostituiertenrings.

Der Zahn der Zeit hatte an ihm noch nicht zu nagen begonnen. Er alterte einfach nicht, von ein paar grauen Haaren an der rechten Schläfe einmal abgesehen, mit denen er, kurz nachdem sie sich erdreisteten, die Blicke auf sich zu ziehen, mit der Pinzette kurzen Prozess machte.

Einunddreißig Jahre lagen hinter ihm, einunddreißig Jahre, in denen er noch nie eine Affäre gehabt hatte, geschweige denn eine Beziehung oder so was von der Art. Unterm Strich ein Armutszeugnis, musste er sich eingestehen, zumal auch dieser Versuch ergebnislos verlaufen war.

Kramer griff in den Kühlschrank und nahm ein goldenes Beck’s heraus. Frauenbier, wie richtige Kerle behaupteten. Ihm war das egal. Er gehörte schließlich nicht zu denen, die es fertigbrachten, die Bierflasche mit einem Feuerzeug zu öffnen. Stattdessen griff er zum Designer-Flaschenöffner der Firma WMF, den er während eines seiner rar gewordenen Besuche bei den Eltern abgestaubt hatte. Beim Öffnen gab die Flasche ein leises Zischen von sich. Kramer nahm einen tiefen Schluck.

Wie vielen Menschen man wohl im Laufe seines Lebens begegnete, zu denen man sagen wollte, mit dir will ich für immer zusammenbleiben? Drei, vielleicht vier, oder gar nur einem einzigen? Kramer seufzte. Als Geografielehrer betrachtete er die Dinge meist nüchtern und theatralische Gedankenspiele waren ihm fremd.

Über sieben Milliarden Menschen gab es auf der Welt, wie sollte er sich da für einen entscheiden? Im Zeitalter von Globalisierung und Überbevölkerung war eine solche Hoffnung reine Utopie. Es mochte ja durchaus sein, dass es irgendwo auf der Welt, vielleicht sogar in dieser Stadt, in dieser Straße, womöglich in dem Haus, in dem er lebte, jemanden gab, der dasselbe dachte und fühlte wie er. Kramer musste aufstoßen. Möglich war es vielleicht, doch half es ihm jetzt nicht weiter. Jetzt ging es nur um diesen einen. Er war ihm im Supermarkt begegnet, und ein bisschen Theatralik war doch irgendwie im Spiel gewesen. Am Tiefkühlregal war er ihm entgegengekommen und hatte frech gegrinst. Seine Knie waren weich geworden und er hatte unbeholfen zurückgelächelt. Dann war er in die Süßwarenabteilung geflüchtet und hatte hinter einem PEZ-Ständer Zuflucht gesucht. Bevor er die Kasse schließlich erreichen konnte, hatte Christoph ihn mit seinem Einkaufswagen ausgebremst und angesprochen.

Das war vor einem halben Jahr gewesen. Seitdem war viel passiert. Sie hatten sich zunächst auf einen Kaffee verabredet und schließlich angefreundet. Kramer setzte die Flasche erneut an. Angefreundet, das klang so nach Sommerurlaub an der Nordseeküste, dachte Kramer. Als man mit Eimer und Schäufelchen am Strand umherstreifte, um für die Zeit des Aufenthalts einen Spielgefährten zu finden, mit dem man Burgen bauen und im Wasser toben konnte. Viel weiter war er mit Christoph jedenfalls nicht gekommen, egal, was für prächtige Luftschlösser Kramer in seiner Fantasie errichtete. Denn mit jedem weiteren Treffen wuchs seine Faszination für den Gleichaltrigen und das Verlangen, ihm zu zeigen, was er wirklich für ihn empfand. Doch Christoph machte keine Anstalten, ihm den entscheidenden Schritt entgegenzukommen. Es gab keine Anzeichen, dass er mehr zwischen ihnen sah als nur diese Freundschaft. Und so sagte Kramer lieber nichts. Er tröstete sich mit der Hoffnung, dass spätestens dann, wenn sein Gehirn nicht mehr von all den Neurotrophinen und Oxytocinen überschwemmt und lahmgelegt wurde, wie es laut Wikipedia geschah, der Schmerz allmählich nachlassen würde, der bitter und nach Entbehrung schmeckte.

Kramer warf einen erneuten Blick auf den bräunlichen Fleck auf seinem linken Oberarm und seufzte.

Vorige Woche hatte Christoph im gleichen Supermarkt einen anderen Mann getroffen. Es sei zu früh, von ihm als dem Neuen zu sprechen, erzählte Christoph am Telefon, aber Gefühle wären schon im Spiel. Kramer erinnerte sich, dass ihm das Herz bei diesen Worten bis zum Hals geschlagen hatte. Seine Hände zitterten und ihm war schlecht geworden. Ein Gefühl, als hätte ihm jemand mit der Faust in die Magengrube geschlagen. Unwillkürlich musste er an eine Folge der Simpsons denken, als Bart sich in das neue Nachbarmädchen Laura verliebte, die jedoch zum Leidwesen des gelben Jungen von dem lässigen Schul-Rowdy Jimbo Jones wesentlich mehr angetan war und Bart schließlich höhnisch lachend das blutende Herz aus der Brust riss. Eat my shorts, dachte Kramer.

Da fiel sein Blick auf eine Urkunde an der Wand. Sie hing genau neben der Ernennungsurkunde zum Beamten auf Widerruf im Staatsdienst der Bundesrepublik Deutschland. Vor Kurzem war er zum schönsten Lehrer seiner Schule gekürt worden. Und das, obwohl er seit ein paar Wochen eine Zahnspange trug. Allerdings waren die Stimmzettel bereits vor Monaten verteilt worden, zu einem Zeitpunkt, als Kramer noch ohne diesen glänzenden Maulverhau über den Schulhof schritt.

Die Korrektur seiner Zähne sei unbedingt notwendig, hatte ihm die Zahnärztin versichert, zumindest dann, wenn er auch in ein paar Jahren noch in der Lage sein wollte, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Kramer hatte ganz entspannt im eierschalenfarbenen, wildlederbezogenen Behandlungsstuhl der Zahnarzteinheit gelegen, als er durch seine halb geschlossenen Augen erkannte, wie Frau Doktor Thielmann die akkurat gezupften Augenbrauen hochzog und die Stirn in sorgenvolle Runzeln legte. «Oh … oh … oh … da müssen wir ran», seufzte sie. «Da geht gar kein Weg dran vorbei, Sie werden sehen, Herr Kramer. Ganz viele Erwachsene in Ihrem Alter tragen jetzt eine Multibracket-Apparatur. Kein Grund, sich zu schämen. Reine Gewohnheitssache.»

Kramer erinnerte sich, dass sie bei diesen Worten sanft seine Handflächen getätschelt und ihn dann im Behandlungsstuhl liegen gelassen hatte. Er wusste nicht, ob es die schockierende Nachricht oder das intensive Licht der Kavo-Leuchte war, doch er hatte Tränen in den Augen gehabt und ein paar Tage gebraucht, um den Schock zu überwinden. Schließlich war er zu der Einsicht gelangt, dass es für ihn ohnehin nichts mehr zu verlieren gab und die Korrektur seiner Zähne das kleinste Übel in einem Leben war, das in Schieflage zu geraten drohte. Also rief er am nächsten Morgen in der Praxis an und vereinbarte einen Termin.

Vorsichtig entfernte Kramer die Reißnadel und nahm die Urkunde in die Hände. «Schönschter Lehrer», murmelte er und ein Spuckebläschen landete durch die Spange hindurch auf der marmorierten Urkunde. Eigentlich war er noch gar kein richtiger Lehrer. Er war Referendar und seit knapp anderthalb Jahren als Beamter auf Widerruf angestellt. Ein wenig stolz machte ihn diese Auszeichnung schon. Gut, die Konkurrenz war relativ überschaubar, sie ging aufgrund des Altersunterschieds und der Klamottenauswahl der meisten Kollegen ehrlich gesagt gegen null, aber das wusste ja keiner von den Leuten, denen er die Urkunde bereits prahlend unter die Nase gehalten hatte.

Vielleicht hatte seine Klammer in gewisser Weise sogar die Wahl beeinflusst, denn seit er sie trug, hatte sich der Draht vor allem zu den Schülern und Schülerinnen der unteren Klassenstufen noch einmal verbessert. Er war nun Leidensgenosse, der um die Unvereinbarkeit von Teigwaren und Zahnspange ebenso wusste wie um das Problem einer zu feuchten Aussprache.

In der Schule war er nicht nur der schönste Lehrer, einige Schüler bezeichneten ihn auch als ihren Meister, hielten ihm die Türen auf und fanden ihn irgendwie cool. Dass er damals, als er in ihrem Alter war, zu denen gehörte, die sich auf Klassenausflügen im Bus ganz nach vorne setzten und im Etagenbett der Jugendherbergen unten schliefen, ahnten seine Schüler nicht. Sie wussten nicht, dass er im Alter von neun Jahren damit begonnen hatte, in grünen, von seiner Mutter selbst gestrickten Stulpen und schwarzer Saunahose als einziger Junge unter vierzehn Mädchen zu Michael Jacksons Billy Jean dramatisch mit den Armen fuchtelnd in miefigen Turnhallen Jazzdance zu tanzen. Und es blieb ihnen glücklicherweise auch verborgen, dass er im gleichen Alter El condor pasa auf dem elterlichen Dual-Plattenspieler rauf und runter gespielt hatte und sowohl ein großer Fan von Nicki als auch der Ersten Allgemeinen Verunsicherung gewesen war.

Seine Kindheit und auch seine Jugend waren von großer Furcht geprägt gewesen. Er war ein Schisser und hatte Angst vor fast allem. Vor Graf Zahl aus der Sesamstraße, der höhnisch lachend die Zahlen hinter sich warf, während im Hintergrund die Kulisse bebte und Blitze zuckten. Oder vor den Zwillingen bei Hallo Spencer, die mit den bunten Köpfen wackelten und so laut herumkrakeelten, dass Kramer lieber das Weite suchte. Wenn der böse Zauberer Gargamel wieder einmal den Schlümpfen nachstellte, nahm er schreiend Reißaus.

Es war ihm nicht geheuer gewesen, dass im Kindergarten der evangelisch-lutherischen Gemeinde immer mittwochs behinderte Kinder zu Besuch kamen – eine der vielen integrativen Maßnahmen der Kindergartenleitung, damit die Kleinen möglichst früh lernten, was Rücksichtnahme und Toleranz bedeuteten. Kramer indes wollte das gar nicht lernen und flehte seine Mutter jeden Mittwochmorgen an, sie möge ihn doch bitte zu Hause behalten, er würde auch ganz leise sein und oben für sich alleine spielen. Er könne ihr aber auch zur Hand gehen oder so. Alles würde er tun, wenn sie ihn nur zu Hause bleiben ließe. Seine Mutter jedoch winkte ab, mit der Begründung, dass sie zur Arbeit müsse und es ja wohl nicht so schlimm sein könne. Und so verstummte er, und sie brachte ihn in den Kindergarten, wo sie bereits schreiend auf ihn warteten, befremdliche Kreaturen, mit wirren Haaren und großen Köpfen, von denen einer sogar zwei besaß.

Als er zwölf wurde, waren es vor allem Verlustängste, die ihn verfolgten und ihren Ausdruck in der fixen Idee fanden, dass seine Eltern sich scheiden ließen und ihn ins örtliche Kinderheim abschoben, wo sie ihn nur ab und an am Wochenende mit ihren neuen Partnern besuchen kamen. Auslöser dieser Furcht waren die herzlichen Umarmungen und Küsschen, die seine Mutter auf der Feier ihres fünfundvierzigsten Geburtstags von vielen Männern erhielt, die Kramer nicht kannte. Sie waren ihm eindeutig zu eng, einige Küsse bekam die Mutter sogar auf den Mund, wie Kramer zunächst angewidert, dann mit Herzklopfen durch den Türspalt seines Kinderzimmers beobachtete.

Als sein Vater fünfzig wurde, gratulierte ihm seine Mutter mit dem Satz, dass nun laut Apotheken Umschau die gefährlichste Phase in seinem Leben begänne. Er müsse ganz genau auf die Signale seines Körpers horchen, denn sein Herzinfarktrisiko sei jetzt besonders hoch. Kramer stand ängstlich daneben, stotterte irgendetwas von «Herzlichen Glückwunsch» und ließ die Packung Pfeifentabak, eine Sonderedition, die er von seinem Taschengeld gekauft hatte, zurück in die Hosentasche gleiten.

Das besondere Risiko, dem sein Vater nun ausgesetzt war, wurde Kramer immer dann ins Bewusstsein gerufen, wenn er den Kühlschrank öffnete, um eine Milchschnitte oder einen Fruchtjoghurt zu essen. Denn seine Mutter hatte einen roten Zettel an der Kühlschranktür angebracht, auf der die Nummer des Notarztes stand, die Kramer und sein Bruder sofort anrufen sollten, falls sie ihren Vater japsend auf dem Rücken liegend in Haus oder Garten vorfanden.

Kramer bangte fortan jeden Tag um das Leben seines Vaters. Ließen die Eltern ihn allein zu Hause, erwartete er bei jedem Telefonklingeln die Hiobsbotschaft seiner Mutter, sein Vater sei nach einer Herzattacke auf dem Tennisplatz tot zusammengebrochen und er nun Halbwaise.

Als er mit dreizehn seltsame Knötchen unter den Brustwarzen ertastete, die wehtaten, wenn man darauf herumdrückte, fürchtete er, er habe Brustkrebs, und forderte die Mutter auf, mit ihm sofort zu Doktor Petersen, ihrem Hausarzt, zu fahren. Doch es war keine heimtückische Krankheit, die ihn heimsuchte, sondern die Pubertät, die ihn nicht minder hinterlistig übermannte und sein Leben fortan unerträglich machte.

Schon als Zehnjähriger war er pummelig, weich und klopsig gewesen. Als Elf-, Zwölf-, Dreizehn-, Vierzehnjähriger auch, daran änderte die Pubertät erst einmal nichts. Er war relativ klein für sein Alter und hatte einen kugelförmigen Bauch, vergleichbar dem eines hungernden Kindes aus der Sahelzone. Dieser bemitleidenswerte Oberkörper stand auf zwei noch bemitleidenswerteren Beinchen, die nur unwesentlich dicker waren als die hageren Ärmchen, die vom oberen Ende des Torsos schlaff hinunterhingen. Eine gewisse Ähnlichkeit zu E. T. ließ sich nicht verleugnen, zumal er eigentlich immer nach Hause wollte, wenn er irgendwo eingeladen war und sich unwohl fühlte.

Erst mit fünfzehn verschwand der Speck. Dafür kamen Stimmbruch, Pickel und Mischhaut. Kein geiler Deal, aber es traf ja die anderen genauso. Doch obwohl alle an den Begleiterscheinungen der Pubertät laborierten, war trotzdem er es, der auf Klassenfahrten ein Einzelzimmer bezog, war immer er es, der im Sportunterricht als Letzter in die Mannschaft gewählt wurde. Während sich links und rechts von ihm die Holzbank nach und nach leerte, blieb er sitzen und tat so, als würde ihm der Selektionsprozess, den sein Sportlehrer immer mit den Worten «die Spreu vom Weizen trennen» umschrieb, nichts ausmachen.

Insgesamt eine harte Zeit, sein Teenageralter. Ein pummelig-verpickelter Haufen Elend in karierten Cordhosen, Rodeo-Polo-Shirts von C&A und Strickpullovern aus Polyester. Ein Siegerurkundentyp, zu langsam und zu kurz für die Ehrenurkunde, den nicht nur bei 800-Meter-Läufen hohlkreuzbedingte Rückenschmerzen verfolgten, sondern auch die Angst, seine Eltern könnten ihn aus ästhetischen Gründen abschieben und zur Adoption freigeben.

Fraglich blieb, welche Mitschuld seine Eltern, vor allem seine Mutter, an der vorpubertären Misere und dem leidigen Außenseiterdasein trugen. Als engagierte Lehrerin war sie eine große Verfechterin innerer Werte und pragmatischer Normen; äußeres Auftreten dagegen und ästhetische Bedürfnisse im weiteren Sinne waren ihrer Meinung nach zweitrangig. Hauptsache, alles war praktisch und günstig. Mit dieser Einstellung hatte sie, da war sich Kramer mittlerweile sicher, eine nicht unbedeutende Rolle in dieser würdelosen Zeit gespielt.

Stand wieder mal ein Klassenausflug an, konnte er damit rechnen, der Einzige zu sein, der um den Hals einen Brustbeutel aus beigem Schweineleder und weißen Kordeln trug. Und während andere Kinder mit den neusten Nike-Air-Modellen in die Schule kamen, lief er in Turnschuhen der Marke Victory, die in den Augen seiner Mutter ihrer Bestimmung durchaus noch Genüge taten, ihnen mal hinterher und mal vor ihnen davon. Behindert durch ihre silberglänzenden Maulverhaue, schrien sie ihm nach: «Paff auf, du Fluchtel! Diff machen wir fertig.»

«Ich weiß gar nicht, was du hast, solange du keine nassen Füße bekommst, ist doch alles prima», waren die weisen Worte seiner Mutter. Und als die Klettverschlüsse nicht mehr funktionierten, brachte sie die Schuhe kurzerhand zum Schuster und ließ auf jeden Verschluss einen Druckknopf anbringen, insgesamt sechs an der Zahl, die silbern in der Sonne glänzten und Kramer dazu veranlassten, eine Zeit lang lieber barfuß zu gehen.

Auch im Tennisklub, in dem ihn seine Eltern nach den Wimbledon-Siegen von Boris Becker 1985 angemeldet hatten, fiel er durch seine eigenwillige Garderobe auf, die aus ausgelatschten Puma-Turnschuhen, einer blauen Satin-Turnhose und Kniestrumpfhosen im Rautenmuster bestand und nach oben durch ein verwaschenes Polohemd der Marke Rodeo abgeschlossen wurde. Ein Loser-Outfit, mit dem Kramer zweifelsohne Altkleidermeister geworden wäre oder den Worst-Dress-Award der Gala gewinnen konnte, nicht aber den Titel um die Bezirksmeisterschaft. Den holten zwar auch seine Mannschaftskameraden nicht, aber die machten in den kurzen Jeans-Pants und neonfarbenen Radlerhosen von Nike einfach eine bessere Figur.

Kramer war bereits vierzehn, als er seine Hartz-IV-Kleidung im Schrank hängen und seine Mutter stehen ließ, als sie wieder einmal darauf hinweisen wollte, dass Äußerlichkeiten nicht alles im Leben seien. Und mit Blick auf die Kleidung, die sie einst eingekauft hatte und die er nun schmählich zurückwies, fügte sie hinzu: «Das willst du wegschmeißen? Das ist doch nun wirklich tipptopp in Ordnung!? Warte mal ab, in vier, fünf Jahren kommt das alles wieder!» Schließlich ließ sie sich jedoch darauf ein, Kramer ab jetzt ein monatliches Klamottengeld zu zahlen.

Mit dem Geld in der Tasche machte Kramer sich auf in Richtung Fußgängerzone, fest entschlossen, jeden einzelnen Pfennig in die Erneuerung seines Klamottenfundus zu stecken. Noch nie hatte er eine Jeans getragen, geschweige denn einen Jeans-Laden von innen gesehen, und so betrat er skeptisch den Jeans-2000-Shop und lief ziellos zwischen den Regalen hin und her, bis ihm eine etwa fünfzigjährige Verkäuferin ihre Hilfe anbot. Er entschied sich nach einigem Zögern für eine Levi’s 501. Unsicher warf er einen Blick in den Spiegel an der Umkleidetür. Er sah aus wie ein Cowboy auf der Suche nach Krawall und auch irgendwie zu maskulin. Am liebsten hätte er seine vertraute Cordhose genommen und den Laden verlassen, doch als hinter ihm die Verkäuferin ungefragt den Kopf in die Kabine steckte und ein euphorisches «Flott» hineinrief, vertraute er ihr schließlich und verließ mit der ersten Jeans seines Lebens den Laden. Um die textile Metamorphose komplett zu machen, kaufte er sich noch einen Oxbow-Pullover und marineblaue Chucks und kam erschöpft und mit einer seltsamen Mischung aus Verunsicherung und Zufriedenheit nach Hause.

Im Bestreben, sein Äußeres in jeder Hinsicht zu revolutionieren und die Mimikry zu vollenden, die der einzige Ausweg aus der Misere zu sein schien, ließ er an sein Gesicht von nun an außer Wasser nur noch Clearasil. Er kaufte sich das Reinigungswaschgel aus dem Anti-Pickel-Programm des Herstellers, der in der Werbung nicht nur ein porentief reines Gesicht, sondern auch eine Menge neuer Freunde und Freundinnen versprach. Schließlich war er einer der Ersten seiner Klasse, die Eau de Toilette benutzten. Fasziniert von dem blauen Flakon und den Sternen, die ihn verzierten, und nach einem kurzen Beratungsgespräch mit der Parfumeuse der örtlichen Drogerie gab er sein letztes Taschengeld für eine 30-ml-Version von Wolfgang Joops Night Flight aus.

Es war ein Montagmorgen, als er den Klassenraum betrat, eingehüllt in Levi’s-Jeans, Oxbow-Pullover und eine Night- Flight-Dunstwolke von Joop. Vielleicht hätte er nicht so verschwenderisch mit dem Parfum umgehen sollen, vielleicht lag es an dem kompletten Wandel seines äußeren Erscheinungsbildes, jedenfalls hatte er kaum den Klassenraum betreten, da ertönten auch schon die ersten Willkommensgrüße: «Ey, da kommt der Schwuli. Schaut mal, was der jetzt trägt. Meint wohl, er ist was Besseres, he? Und er geht wie ein Mädchen!» Als er an ihnen vorbeiging, verzog er keine Miene, eine Leistung, die nicht nur seinem starken Willen, sondern auch der Tatsache geschuldet war, dass er sich morgens gleich mehrfach hintereinander das Gesicht mit dem neuen Reinigungsgel gewaschen hatte. Das Ergebnis bestand darin, dass nicht nur allen Pickeln der Garaus gemacht wurde, sondern die Haut vollkommen austrocknete und das ganze Gesicht mit einer Spannung überzogen war, die mehrere Stunden anhielt und Kramers Mimik zum Erliegen brachte.

Als die Zurufe kein Ende nahmen und er schließlich sah, wie der doofe Lars ihn nachäffte, hielt Kramer es nicht mehr aus. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, rannte, so weit ihn seine krummen Beinchen trugen, eine Wolke Night Flight immer dicht auf den Fersen. Wirklich weit kam er allerdings nicht, seine Puste reichte gerade bis zur nächsten Straßenecke. Von dort schlurfte er japsend weiter bis nach Hause, warf seinen türkisen McNeill-Ranzen in die Ecke und sich selbst schluchzend aufs Bett. Er drehte die Schneider-Kompaktanlage bis zum Anschlag auf, dass die 20-Watt-Boxen Nino de Angelos Samuraj brummten und ächzten, und er schwor sich, nie wieder in die Schule zu gehen.

Sie hatten ja nicht ganz unrecht. Aufgrund einer anatomischen Anomalie hatte sein Gang in der Tat etwas Feminines. Infolge einer abnormen Verkürzung des Hüftbeugers war er im Beckenbereich relativ unbeweglich, und sobald er die Beine auch nur ein wenig anwinkelte, wie es beim Laufen nun einmal nicht zu vermeiden war, fühlte sich seine Rückenmuskulatur verpflichtet mitzuarbeiten. Sie spannte sich an und verlieh ihm den erhabenen Gang einer rumänischen Kunstturnerin auf dem Weg zum Schwebebalken. Etwas später plagten ihn dann hartnäckige Rückenschmerzen.

Seine Eltern kauften ihm einen orthopädischen Stuhl und schickten ihn zwei Mal die Woche zur Physiotherapie, die damals noch Krankengymnastik hieß, doch all das half nichts. Kramer hatte einfach keine Lust, all die Übungen, die so seltsame Bezeichnungen trugen wie Katzenbuckel oder Giraffenhals, zu Hause nachzuturnen. Und seine Hausaufgaben, wenn er sie überhaupt anfertigte, machte er auch lieber im Liegen auf dem Fußboden, als sich am Schreibtisch in den Kniehocker zu zwängen, bei dem man niemals sicher sein konnte, ob man ohne fremde Hilfe wieder herauskommen würde.

Also verliefen Schulterpartie, Hohlkreuz und Hintern weiterhin in Form eines S, und seine Art der Fortbewegung war nicht wirklich als Gehen zu bezeichnen, es war mehr ein eigen- und entenartiges Trippeln, das ihn veranlasste, nach Möglichkeit Rad zu fahren. Dass es sich dabei um ein weißes Mädchenfahrrad mit rosa Körbchen handelte, das seine Mutter günstig bei einer städtischen Versteigerung erworben hatte, war Ironie des Schicksals.

Es wäre falsch zu behaupten, dass er zu jener Zeit gar keine Freunde besaß. Zwar konnte er sie an seiner kleinen Kinderhand abzählen, und es hätte gereicht, wenn er nur drei Finger gehabt hätte, wie eines der Kinder aus dem Behindertenkindergarten, aber immerhin, er hatte Freunde. Ihre Zahl reichte zwar nicht für eine richtige Geburtstagsfeier, aber man konnte auch mal als Gruppe vor den Rowdys der Klasse davonlaufen oder sich gegenseitig Deckung geben, wenn man den Schulhof überquerte.

Als er sich bei seiner Mutter darüber beklagte, ermahnte sie ihn, dass es nichts bringe, sich immer zu verkriechen. «Du musst dich den anderen stellen und dich mit deinen Problemen auseinandersetzen!», sagte sie mehr als einmal und Kramer wurde klar: Er musste da irgendwie alleine durch. Er blieb ein mädchenhaft-spastisch-schwuler Außenseiter, allerdings ein Außenseiter in schickem Oxbow-Pullover und Levi’s-Jeans, umgeben von einer Wolke teuren Eau de Toilettes und mit nigelnagelneuen Chucks an den Füßen, die cool aussahen, auch wenn sie nicht imstande waren, seinem Gang einen männlicheren Touch zu verleihen.

Seine Mutter sollte schließlich recht behalten. Er hielt die Hänseleien aus, stellte sich den Anfeindungen und irgendwann, Kramer wusste nicht mehr genau, wann es war, hatte die Angst nachgelassen, bis sie ganz verschwunden war. Sie machte einem ausgeprägten Zynismus Platz, der Kramer bis heute innewohnte und aus ihm einen spöttischen Sarkasten gemacht hatte, lebensunfroh und von einer dicken Schutzhülle umgeben, die aus Ironie und Gleichgültigkeit bestand und alles an sich abprallen ließ. Erst jetzt, bei der Sache mit Christoph, schien diese Hülle ihn im Stich zu lassen.

In wen man sich verliebe, das könne man sich doch nicht aussuchen, hatte ihm Christoph erklärt. Er mochte ihn, das wüsste er ja ohnehin, doch leider kribbele es nicht, kein Zittern in den Knien, keine Schmetterlinge im Bauch. Christoph verhielt sich fair. Lügen oder Ausflüchte gab es nicht, stattdessen spielte er mit offenen Karten ein Spiel, das Kramer von Anfang an verloren hatte.

Im Grunde war Christoph nichts vorzuwerfen. Genau das machte es ja so schlimm. Keine Möglichkeit, eine Szene zu machen. Kein Kratzen, Beißen, Haareziehen. Diese Ehrlichkeit machte ihn sogar noch attraktiver, als er es ohnehin schon war. Sie stand ihm genauso gut wie seine dunklen Haare, die hellgrauen Augen und das gewinnende Lächeln, an das Kramer immer wieder denken musste.

Gelacht hatten sie viel. Vielleicht sogar zu häufig. Kramer spielte seine Rolle gut, der humorvolle, lockere Kumpel, der für jeden Spaß zu haben und sich für nichts zu schade war. Er scheute nicht mal davor zurück, in einer Karaokebar auf die Bühne zu steigen, und das, obwohl Kramer Karaokebars nicht ausstehen konnte. Trostlose Orte für trostlose Menschen. Menschen, die Briefmarken sammelten oder Bowling nicht als Freizeitvergnügen, sondern als Sport betrieben. In Karaokebars wimmelte es von armseligen Gestalten, die sich nach ein bisschen Ruhm sehnten und nach drei oder vier Weinbrand-Cola auf die Bühne stolperten, um mit dem Mikrofon in den zitternden Händen nach den Sternen zu greifen. Die standen nämlich zeit ihres Lebens ungünstig für diese Gebeutelten, Missachteten und Unterschätzten, und das brachten sie anklagend in Form von gefühlsschwangeren Balladen zum Ausdruck.

Kramer war einer von ihnen und hatte sich Michael Boltons How am I supposed to live without you ausgesucht. Zitternd war er unter dem Gegröl der anwesenden Gäste auf die Bühne hinauf- und nach dreieinhalb Minuten wieder hinuntergestiegen. Applaus bekam er, das Herz von Christoph blieb für ihn jedoch ebenso unerreichbar wie der höchste Ton, den er wenige Minuten vorher lauthals verfehlt hatte.

Er dachte, wenn er jeden Tag etwas mit Christoph unternähme, würde sich das Gefühl des Verliebtseins abnutzen, die Zuneigung verschleißen, wie die Vorliebe für einen bestimmten Song auf einem Album, das man sich gerade downgeloadet hatte und immer und immer wieder auf dem iPod abspielte. Zwar löscht man manche Lieder irgendwann aus der Playlist, weil man sie nicht mehr hören kann, doch bei anderen entdeckt man bei jedem Hören etwas Neues und kann nicht genug davon bekommen. So war es auch bei Christoph. Ihm zuzuhören, das funktionierte stundenlang. Doch auf ein Wort der Zuneigung wartete Kramer vergebens. Dabei schien Christoph nicht nur gefühlsbedingt zu einem «Ich liebe dich» außerstande, auch phonetisch betrachtet gab es Probleme. Denn Christoph kam aus Trier. Also durfte Kramer sich hin und wieder ein «Isch mag disch» anhören. Im Grunde genommen ja eine nette Sache, aber nicht ganz das Richtige, wenn man sich Hoffnung auf etwas anderes machte. Schließlich lagen ganze Welten zwischen Lieben und Mögen, und Kramer wusste als Deutschlehrer, dass ein anderer gerade das Akkusativ-Objekt von Christophs Begierde war. Er musste sich damit abfinden und brachte die leere Flasche in die Küsche.

BECK’S #2 (0,2–0,4 ‰)

Drei mickrige Übereinstimmungen. S, t und i. Das hätte Kramer sich ja gleich denken können und er zerknüllte enttäuscht den Zettel, auf den er ihre beiden Namen geschrieben hatte. Der Lovecalculator brachte Erbärmliches zutage. Ein Liebes-Index von gerade mal dreißig Prozent! Ein desolates Resultat, mit dem kein Blumentopf und erst recht kein Christoph zu gewinnen war. Hätten ihn seine Eltern statt Bastian doch nur Christian genannt, oder besser noch Christopherus!

Er wusste ja eigentlich schon lange, wie es um sie beide stand. Wie das klang: sie beide. Streng genommen hatte es das nie gegeben. Mehr so ein ihn und mich, dachte Kramer und schüttelte den Kopf. Es tat weh, Christoph um sich zu haben, ihn zu sehen, wenn er lachte, wo es bei ihm im Grunde doch nichts mehr zu lachen gab. Er könne das nicht mehr, sagte Kramer eines Tages zu Christoph, er brauche Abstand. Vielleicht ginge es in ein paar Wochen wieder. Die Zeit heile ja bekanntlich alle Wunden und so weiter, das ganze Gelaber. Und Christoph? Der zeigte dafür natürlich Verständnis, drückte ihn und wünschte ihm viel Glück.

Heilte die Zeit wirklich alle Wunden? Funktionierte das mit dem Vergessen so einfach? Kramer war sich da nicht so sicher. Sein Kopf war voll von unnützem Wissen, das sich irgendwann einmal Zugang zu seinem Hirn verschafft hatte und das er bis heute nicht losgeworden war. Wollte jemand wissen, was das Lieblingsgericht von Boris Becker war, zur Zeit, als er mit siebzehn in Wimbledon gewann, dann musste er nur Kramer fragen und bekam zu hören, dass es mit Hackfleisch gefüllte Paprika von Mutter Elvira waren. Noch heute wusste er, dass der Silas-Darsteller Patrick Bach mit achtzehn Jahren einen Alfa Romeo gefahren hatte und dass Franziska van Almsick nicht gern in Seen schwamm, weil da der Grund nicht zu sehen war und sie Angst vor Fischen hatte, oder zumindest so ähnlich. Die Information, dass Wesley Snipes als Tänzer im Bad-Video von Michael Jackson mittanzte, konnte er hin und wieder auf Partys zum Besten geben und erntete ein ungläubiges «Echt?» oder «Ach was …».

Noch heute konnte er sich an den Wortlaut so mancher seiner Hörspielkassetten erinnern, die er – auf dem Boden seines Kinderzimmers liegend – als Kind so gern gehört hatte. Bibi Blocksberg gehörte dazu, und Benjamin Blümchen, aber auch TKKG und Fünf Freunde.

Da gab es zum Beispiel die Folge, in der sich Bibi Blocksberg in Joachim, einen älteren Schüler ihrer Schule, verliebte und eine ganze Reihe dummer Ideen ausprobierte, um den Angebeteten für sich zu gewinnen. Dabei hatte alles so harmlos angefangen, denn Joachim tauchte zu Beginn der Folge mir nichts, dir nichts auf dem Schulhof auf und fragte ganz ungeniert, ob er mal von Bibis Pausenbrot abbeißen dürfe. Kramer war genau wie Bibi von Joachims sonorer Stimme entzückt, die durch den Lautsprecher seines tragbaren Kassettenrekorders direkt in sein Ohr gelangte.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Kramer sich eigentlich sicher gewesen, dass er niemanden, der ihm einfach so von hinten auf die Schulter tippte, in sein Negerkussbrötchen beißen ließe, doch im Falle von Joachim wäre vielleicht auch er schwach geworden. Bei Christoph sowieso, das war klar. Bei Bibi jedenfalls hatte der Blitz eingeschlagen und so ließ sie Joachim kurzerhand mal ran an die Teigware.

Dass Bibi schließlich ebenso einen Korb bekam wie Kramer von Christoph, lag wohl weniger daran, dass das Pausenbrot mit Spinnenbeinen belegt war, als an Bibis aufdringlichen Anmachversuchen. Und so sah sie am Ende keinen anderen Ausweg, als Joachim zu verhexen.

Kramer lächelte. Das alles kam ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen. Und so ganz falsch war das auch nicht, denn als er neulich zu Hause bei seinen Eltern war, hatte er die Kassette hervorgekramt und sie zum Einschlafen in den alten Rekorder geschoben. Kurz nach der schwülstig-überladenen Liebes-Tirade, die der schöne, nunmehr verhexte Joachim am Ende vortrug, war er eingeschlafen. Dabei konnte sich Kramer genau an den Wortlaut erinnern, und er begann vor sich hin zu murmeln:

«Bibi, Geliebte! Hach, hab ich mich nach dir gesehnt! Ohne dich kann ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen! Ich kann nicht mehr schlafen, nicht mehr essen. Ich muss nur noch in deiner Nähe sein! Hier! Tausend rote Rosen hab ich dir mitgebracht! Alle selbst geklaut aus dem Stadtpark! Komm, lass mich deine Hände küssen – schmatz schmatz –, deine entzückenden kleinen Hände! Lass mich in deinen Haaren wühlen und deine reizenden Bäckchen streicheln! Nie wieder will ich ein anderes Mädchen nur ansehen! Oh, liebste Eltern meiner Angebeteten! Ich muss heute Nacht Ihre reizende Tochter entführen. Denn ohne sie kann ich nicht mehr atmen. Meine Liebe ist so stark, es ist einfach nicht auszuhalten!

Ich hole dir den Mond vom Himmel und alles, was du willst! Hinfort fliegt die Nacht, meine Geliebte, und ich mit ihr. Auf einem weißen Schimmel werden wir reiten und deine entzückenden Arme werden meine Taille umschlingen, wenn wir den Himmel durchfliegen …!»

Kramer nahm einen tiefen Schluck Bier. All das waren Erinnerungen, die sich wie Parasiten in seinem Gehirn festgebissen hatten. Zu nichts zu gebrauchen, Ballast, mit einer Halbwertszeit wie eine Tonne Atommüll, der den Speicherplatz für sinnvolleres Gedankengut versperrte. Wissensinhalte, die Areale in seinem Kopf belegten, wo nach Kramers Überzeugung eigentlich viel wichtigere Dinge Platz finden sollten, wie zum Beispiel Einsteins Relativitätstheorie, die Formel für den Weltfrieden oder eben der Schlüssel zum Geheimnis der Liebe, den er einfach nur umdrehen musste, damit Christoph ihn endlich liebte. Denn wenn er es mit Joachims Liebes-Tirade versuchte, da war sich Kramer sicher, wäre Christoph schon nach den ersten Sätzen auf und davon.

Eine Defragmentierung wäre eine gute Sache, um den ganzen Müll, von dem Kramer annahm, dass er drei Viertel seiner Gehirnkapazität be- und lahmlegte, loszuwerden. Proaktive Interferenz nannte die Psychologie den Zustand, in dem früher Gelerntes die Aufnahme des später zu Lernenden irgendwie behinderte. Das hatte er zumindest einmal nachgeschlagen, als er sich mal wieder über die geringe Aufnahmefähigkeit seines Gehirns ärgerte und heulend vor Wut auf dem Boden lag und mit den Fäusten auf den Dielenfußboden hämmerte. Da lernte er gerade für die Psychologieprüfung und es wollte ihm partout nicht gelingen, wesentliche Merkmale der drei Gedächtnissysteme zu behalten, die ganz sicher in der bevorstehenden Examensprüfung abgefragt werden würden. Ob der Begriff wirklich stimmte, wusste er allerdings nicht mehr so genau. Er hatte es vergessen.

Wie sollte er die Sache mit Christoph aus dem Kopf kriegen? Ihm war zum Heulen zumute, aber nicht einmal das bekam er hin. Er konnte nicht weinen, hatte es noch nie gekonnt, und mit zunehmendem Alter fiel es ihm immer schwerer. Zwar bekam er hin und wieder im Kino feuchte Augen, was bewies, dass seine Tränendrüsen einwandfrei funktionierten, aber richtige Tränen waren das nicht. Das letzte Mal, dass er echte Tränen geweint hatte, war Jahre her. Und so richtig zählte das auch nicht, denn die Tränen waren Folgen eines Verkehrsunfalls. Er war Zivildienstleistender beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und erst zwei Monate dabei gewesen, als in einer 30-Stundenkilometer-Zone ein grüner Mazda 626 seine Essen-auf-Rädern-Tour jäh beendete. Der weiße Polo, in dem er saß, hatte Totalschaden. Um ihn herum lagen aufgesprungene Essensboxen, Joghurtbecher und tiefgekühlte Menüs für das Wochenende. Die Luft im Wagen war barschfiletgeschwängert, denn es war Freitag, und aus den Radioboxen gellte leiernd Kylie Minogues I should be so lucky. Er saß nur da und weinte. Erst war es ein leises, vornehmes Schluchzen. Doch als die ersten Passanten an die Scheibe klopften, entwickelte sich daraus ein nicht enden wollendes, jämmerliches Heulen, das nur zum Luftholen kurz unterbrochen wurde. Mit verrotzter Nase und zitternder Stimme versuchte er den inzwischen herbeigeeilten Polizisten den Unfallhergang zu schildern, doch denen schien es sichtlich schwerzufallen, ihm zu folgen. Sie reagierten genervt, als er keine Anstalten machte, sich zu beruhigen. Tief durchatmen solle er. Doch das war leichter gesagt als getan. Nachdem er schon am Vortag mit einem Seat Cordoba zusammengestoßen war, befürchtete er nämlich, dass er die restlichen zehn Monate seines Zivildienstes nun doch in einem Altersheim ableisten musste.

Im Krankenhaus hieß es später, er habe einen Schock. Ansonsten war nicht viel passiert.

Und sosehr er es sich wünschte, viel geschah auch jetzt nicht. Nicht eine Träne rollte ihm filmreif über die Wange. Vielleicht war es auch nur eine Frage der Inszenierung. Was fehlte, war wahrscheinlich ein wenig Musik, dachte Kramer. Mit passender musikalischer Untermalung saßen die Tränen bestimmt lockerer. Das Hollywood-Prinzip funktionierte auch bei Nachrichten. Das hatte er durch Zufall herausgefunden, als er während der Tagesschau im Hintergrund klassische Musik hatte laufen lassen. Selbstmordattentat im Hindukusch, Angriff auf eine ISAF-Schutztruppeneinheit in Afghanistan – wo sich sonst nur Abstumpfung und Überdruss bei Kramer meldeten und ihn zum Umschalten bewegten, war plötzlich Betroffenheit und Mitgefühl. Rachmaninows Opus 21 Nr. 7 sei Dank.

Also klappte er seinen Laptop auf und durchforstete den Musikordner, der mittlerweile aus 1.897, meist illegal downgeloadeten Titeln bestand. Von Celine über Mariah bis zu Whitney, es war eigentlich alles dabei, was das gebrochene Herz begehrte. Zum Teil sehr schlicht, das wusste Kramer. Doch was sollte er machen? Als Kind der Achtziger- und Neunzigerjahre war er an Belanglosigkeit gewöhnt, eine seichte Zeit, ohne große Probleme und Konflikte, es sei denn, man machte sich selber welche. Er jedoch hatte weder heroische Ideale noch heldenhafte Visionen, wusste nicht, wogegen er war, und erst recht nicht, wofür, mal abgesehen von coolen Klamotten, rumhängen und in den Sommerferien an die Nordsee fahren.

Er war ein politischer Abstinenzler, mit einem ausgesprochen indifferenten Meinungsbild zu politischen Fragestellungen. Kramer genoss lieber hedonistische Freuden, setzte sich vor den Fernseher oder an seinen alten Supernintendo und kämpfte gegen Donkey Kong und Zelda statt gegen Apartheid, Walfang oder Atomkraft.

Auflehnung war ihm seit jeher viel zu anstrengend. Im Winter war es zu kalt und im Sommer zu heiß. Kramer ging dann lieber zum Baden und schwamm mit im Strom der Gleichgültigen. Davon gab es genug Ende der Neunziger, in einer Mir-doch-egal-Generation, die nach dem Motto «Und in China fällt ein Sack Reis um» lebte, nur unbeteiligt dasaß und nix tat. Da half es auch nicht, dass Michael Jackson vehement an ihr Gewissen appellierte. Das banale Gejammere in They don’t care about us, die Anklagen im Earth song oder auch Sandras halbherzig gecovertes Hiroshima animierten ihn eher zum Tanzen, als sich ernsthaft mit den globalen Problemen auseinanderzusetzen, die sie ihm einzusingen versuchten. In den meisten Fällen bewahrte ihn ohnehin seine Vier in Englisch davor, die Message der Songs zu entschlüsseln. So wurde ihm auch erst mit siebzehn klar, als er es in Englisch immerhin auf eine Drei minus geschafft hatte, dass Terence Trent d’Arby 1988 nicht etwa «Sergeant Major cross my heart» sang, sondern viel poetischer auszudrücken versuchte, dass sein Herz den Namen einer ganz bestimmten Frau tragen sollte.

Auch die Bravo, die Kramer mehrere Jahre im Abo bezog, hatte ihr schwarz-rotes Layout mittlerweile aufgegeben und unternahm Versuche, mit Überschriften wie «Stoppt das Robbenschlachten in der Arktis!» und «Stoppt das Delfinabschlachten in Japan» oder mehrfarbig bebilderten Reportagen zur Massentierhaltung ihre pubertierende Leserschar politisch zu sensibilisieren. Kramer fand diese Artikel langweilig und überließ dieses Feld lieber den pessimistischen Ökos der Klasse, die ebenso wie er Außenseiter waren, jedoch Doc Martens statt Chucks trugen und statt Oxbow-Pullovern schwarze Hemden mit Che-Guevara-Aufdruck. Sollten die sich doch vor einen Panzer hocken oder nachts irgendwo bei Vechta Hühner befreien. Er dagegen blätterte lieber weiter zur Foto-Lovestory oder las gebannt die Seiten, wo es um nackte Tatsachen ging, beispielsweise wenn Timo, 16, sich mit dem Selbstauslöser nackig fotografierte und im Interview steif und fest behauptete, schon mit mehr als zwanzig Frauen geschlafen zu haben.

Er erinnerte sich, dass er und seine Mitschüler 1991 auf die Straße gegangen waren, um gegen den Golfkrieg oder Saddam Hussein zu demonstrieren, oder für die Menschen im Irak? So genau wusste er das nicht mehr. Er war nur mitgegangen, weil es schulfrei gab. Die Schulleitung hatte es sogar befürwortet, und die Altachtundsechziger, damals noch stark im Kollegium vertreten und gerade von ihrer Berlinreise heimgekehrt, wo sie sich mit ihrem Hämmerchen eigenhändig ein kleines Stückchen der Berliner Mauer herausgehämmert hatten, marschierten stramm vorneweg, während eine Horde missgelaunter Schüler ihnen lustlos folgte.

Noch heute hielt sich Kramers politisches Interesse in Grenzen. Morgens vor der Schule las er keine Zeitung, sondern schaltete das ARD-Frühstücksfernsehen an, und wenn es ganz schnell gehen musste, weil sein Wecker wieder einmal versagt hatte, dann nutzte er sein neues Tagesschau-App auf dem Handy, um sich in hundert Sekunden einen Überblick über die wesentlichen Vorkommnisse zu verschaffen.

Auf diese Weise war es ihm bisher immer gelungen, bei seinen Schülern den Eindruck zu wahren, er verfüge über politischen Weitblick und sei auf dem neusten Stand. Nach wie vor war es ihm allerdings ein Graus, wenn er in eine politische Diskussion geriet, die neben fundierten Kenntnissen auch Argumente und Überzeugungen verlangte. Dies geschah zumeist dann, wenn er unbedacht in einem Nebensatz erwähnte, dass er die Welt am Sonntag las oder wieder einmal nicht zur Wahl gegangen war, weil er in der Nacht zuvor zu lange gefeiert und einfach keine Lust gehabt hatte, so früh aufzustehen, ergänzt durch Aussagen wie «Die da oben machen ja ohnehin, was sie wollen» oder «Ich als kleiner Bürger kann da ja eh nichts dran ändern», Behauptungen, die er sich aus Fernsehinterviews mit frustrierten Wählern jenseits der sechzig abgeguckt und im naiven Glauben nachgeplappert hatte, danach in Ruhe gelassen zu werden. Stattdessen fielen Sätze wie «Wer nicht wählt, wählt rechts» oder «Du bist Demokratie». Meistens waren es die Weltverbesserertypen, entweder in der coolen St.-Pauli-Variante mit Merchandising-Schal und Totenkopf-Pullover, oder aber die Klischeeversion in Fair-Trade-Strickpullovern und Jesuslatschen, die dann auf ihn einredeten, als ginge es darum, den verlorenen Sohn nach Hause zu geleiten.

Es gab viele Gründe, warum er sich nicht für Politik interessierte. Politik bestand in seinen Augen aus einem Haufen fauler Kompromisse, und diejenigen, die sie eingingen, waren einfältige, profilierungssüchtige Pappnasen in schlecht sitzenden Anzügen, denen jedes Mittel recht war, um ins Amt zu kommen oder drin zu bleiben. Seit ein paar Jahren versammelten diese Typen sich nicht mehr nur unter parteifarbenen Sonnenschirmen vor Supermärkten und Postämtern, streichelten Kinderköpfe und schüttelten Hände, sondern sie tummelten sich auf bunt geschmückten Wagen auf dem Christopher Street Day, um Volksnähe zu demonstrieren und einen mit Bonbons zu bewerfen, sofern sie diese nicht in einem unbeobachteten Moment lieber selber futterten.

Diese Gier nach Macht und Bonbons konnte Kramer nicht ausstehen, ebenso wie die Borniertheit mancher Bonzen, die anscheinend wirklich glaubten, mit dem Öffnen des obersten Knopfes ihres Drei-Knopf-Sakkos von Studio Coletti das Maß an Lässigkeit zu erreichen, das sie beim Stimmenfang so dringend benötigten. Umso besser gefielen ihm Auftritte, bei denen die einstudierte Souveränität bröckelte und aus coolen Politikern wutschnaubende Furien wurden, wie etwa am 10. Mai 1991, als Helmut Kohl vor dem Rathaus zu Halle die blühenden Landschaften des Ostens und gleichsam sich selbst vergaß und wutentbrannt mit Eiweiß im Haar auf die Menschen zuraste, die von Glück reden konnten, dass ein Absperrgitter sie vom Kanzler der Einheit trennte. Kramer liebte es, sich in trüben Stunden diesen Clip auf YouTube wieder und wieder anzusehen.

Kramer blieb politikverdrossen, da halfen auch keine Slogans wie «Du bist Deutschland», die ihm das gute Gefühl geben sollten, er könnte mitbestimmen, in welche Richtung es weiterginge. Schließlich war nicht das Können sein Problem, er wollte nicht. «Die da oben» sollten ruhig machen. Taten sie doch ohnehin, und Kramer war’s egal. Sich aufregen, weil mal wieder irgendjemand dienstlich angesammelte Bonusmeilen für Privatreisen nutzte oder Zitate in seiner Doktorarbeit nur sehr nachlässig mit Fußnoten belegte? Wutschnauben, weil wiederum ein anderer sein Eigenheim im Speckgürtel Hannovers mithilfe eines Kredites von Freunden finanzierte? Och nö, das kam Kramer nicht in den Sinn, da konnte die Bild-Zeitung noch so lang versuchen, ihm ihre fadenscheinigen Moralvorstellungen zu oktroyieren. Wahrscheinlich würde er es ganz genauso machen. Schön mit den Bonusmeilen an die Costa Blanca fliegen und sich gleich noch den Dienstwagen hinterherschicken lassen. War doch klar, dass man einer S-Klasse mit Chauffeur den Vorzug gab, statt sich selber hinter das Steuer eines Nissan Micra von Avis zu setzen.

Sowieso hielt es Kramer nicht so sehr mit der Moral. Für ’ne schlappe Million mit jemandem in die Kiste steigen, das, so gab er des Öfteren zu verstehen, würde ihn keine großartige Überwindung kosten. Er habe nie verstanden, wie Adrian Lyne aus diesem simplen Stoff einen abendfüllenden Spielfilm machen konnte. Hallo? Wo lag denn bitte schön das Problem? Es gab nun wirklich Schlimmeres, als sich eine Nacht mit Robert Redford zu amüsieren und dafür auch noch das Haushaltsgeld ein wenig aufzubessern.

Gerade angesichts des angespannten Wohnungsmarktes und der Vorstellung, was für ein geiles Loft er sich für das viele Geld kaufen würde, ja, und vielleicht auch noch ein cooles Auto und ein bisschen Spekulation am Aktienmarkt, lief Kramer nur ein mäßiger Schauer über den Rücken, wenn er sich vorstellte, dass es vielleicht nicht Robert Redford, sondern ein SPD-Parteivorsitzender oder FDP-Politiker war, die es sich unter seiner Bettdecke gemütlich machten.

Eine nach allen Seiten offene Wertehaltung machte aus Kramer einen unbeteiligten Beobachter, der nur selten über etwas den Kopf schüttelte oder die Nase rümpfte. Im Grunde konnte er sich eine zu extrovertierte politische Haltung als Lehrer auch gar nicht leisten, denn das Gebot der politischen Neutralität war ein hohes Gut in der schulischen Erziehung und Kramers grundsätzliche Scheißegal-Haltung in diesem Sinne sogar von Nutzen. Die Schüler sollten sich schließlich unvoreingenommen eine eigene fundierte Urteilsfähigkeit aneignen und ein differenziertes sowie sach- und problemorientiertes Weltbild ausbilden, so stand es zumindest in den Rahmenrichtlinien, die irgendwo in Kramers Billy-Regal lagen und immer nur dann hervorgezogen wurden, wenn es darum ging, eine weitere Quelle für die Unterrichtsentwürfe zitieren zu können.

In Kramers Umfeld war Politik nie ein großes Thema gewesen. Bis zum 11. März 2011. Ein Einschnitt für die Welt, hatte die Kanzlerin gesagt, und einige Freunde von Kramer empfanden es genauso. Die Welle des Tsunami war bis in ihr Wohnzimmer geschwappt, und die Nachrichten von einem möglichen Supergau sowie die Gefahr, dass sie demnächst kein Nigiri, Maki und Sashimi mehr essen konnten, ließen sie politisch aktiv werden. Im Facebook-Zeitalter eine ganz einfache Sache, ohne nass zu werden und ohne Abtransport durch die Polizei. Auf die Straße gehen oder sich an Bäume ketten, das war vielleicht etwas für aufmüpfige Schwaben; sie begnügten sich damit, bei Facebook politisch motivierten Gruppen beizutreten oder sich «Atomkraft? – Nein danke!»- Apps downzuloaden, um ihr Profil zu einem Statement zu machen und ihr Gewissen zu beruhigen. «ATOMKRAFTWERKE SOFORT ABSCHALTEN», posteten sie in Großbuchstaben in ihr Profil, stellten sich aber nicht die Frage, woher denn dann der Strom für ihre zwei iPhones, den iMac und ihr i-und-alles kommen sollte.

Es waren Menschen, bei denen Kramer lange überlegen musste, um herauszufinden, warum er überhaupt mit ihnen befreundet war. Menschen, die ihr ökologisches Bewusstsein im SUV spazieren fuhren und nicht müde wurden, Kramer vorzubeten, wie wichtig doch regenerative Energiequellen seien, gerade nach Fukushima. Das Reaktorunglück hätte noch einmal gezeigt, wie wichtig das alles war, Thema Nachhaltigkeit und so. Schließlich hätten sie die Welt nicht von ihren Eltern geerbt, sondern nur von ihren Kindern geliehen, wetterten sie weiter. Warum denn er, Kramer, bei Facebook noch nicht der Gruppe «Windkraft» beigetreten sei, man müsse doch jetzt ein Zeichen setzen. Kramer war von ihrer heuchlerischen Kurzzeitbetroffenheit schließlich so angewidert, dass er sie aus seiner Freundesliste entfernte.

Ratlos durchsuchte er seine iTunes Mediathek nach einem geeigneten Song. Früher hatte er sich häufig für die Musik geschämt, die er hörte, doch heute war ihm das wie so vieles andere einfach nur egal. Überhaupt hatte so mancher Interpret, den er früher nur heimlich und ganz leise hörte und dessen CDs er sogar versteckt hatte, wenn jemand ihn besuchen kam, an Peinlichkeit verloren. Hits von Sandra oder Samantha Fox weckten nun Erinnerungen in fast allen von ihnen, wehmütige Erinnerungen an den ersten unbeholfenen Kuss im Dörfergemeinschaftshaus, die erste eigene Fahrt im Wagen der Eltern oder den ersten schwer betrunkenen Sonnenuntergang am Baggersee. Die Songs machten aus ihnen tanzende Verbündete, und einige davon waren längst zu Hymnen geworden, zu denen sie mitgrölten und sich am Ende glückselig in den Armen lagen. Es verhielt sich ähnlich wie mit der Komödie. Sie war im Grunde nichts weiter als Tragödie plus Zeit, zumindest hatte das Woody Allen mal behauptet und Kramer fand, das passte.

Er ließ den letzten warmen Tropfen Beck’s seine Kehle hinunterlaufen und drückte die Play-Taste. Tausendmal du von der Münchener Freiheit. Ein herrlich profanes Lied zu einem schrecklich banalen Leben, dachte Kramer. Er ließ den Titel im Repeat-Modus laufen, aber die Tränen kamen nicht. Das Weinen wollte ihm auch jetzt nicht gelingen. Kein Schluchzen, kein Wimmern. Es war zum Heulen.

IMPRESSUM

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Florian Naujoks Rossbreiten Roman

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2013

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter Verwendung eines Fotos von madochab / photocase.com

1. Auflage 2013 ISBN Buchausgabe: 978-3-86300-133-9 ISBN Ebook: 978-3-86300-140-7

Männerschwarm Verlag Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

http://www.maennerschwarm.de/verlag

ÜBER DEN AUTOR

Florian Naujoks, Jahrgang 1977, wuchs in der ostfriesischen Provinz auf. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften und anschließendem Referendariat zog er 2007 von Hannover nach Hamburg, wo er bis heute lebt und arbeitet. Der Roman «Rossbreiten» ist sein erstes Buch.

INHALT

Beck’s #1 (0–0,2 ‰)

Beck’s #2 (0,2–0,4 ‰)

Beck’s #3 (0,4–0,6 ‰)

Beck’s #4 (0,6–0,8 ‰)

Beck’s #5 (0,8–1,0 ‰)

Beck’s #6 (1,0–1,2 ‰)

Beck’s #7 (1,2–1,4 ‰)

Beck’s #8 (1,4–1,6 ‰)

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