Rotarier unterm Hakenkreuz - Paul Erdmann - E-Book

Rotarier unterm Hakenkreuz E-Book

Paul Erdmann

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Beschreibung

Vor 85 Jahren wurden alle deutschen Rotary Clubs aufgelöst. Eine Schlingerfahrt durch die ersten viereinhalb Jahre Naziherrschaft fand damit ihr Ende. Nach den hoffnungsvollen Aufbruchsjahren von Rotary in Europa begann der Niedergang: 1936 in Franco-Spanien (Beginn des Bürgerkrieges), 1937 in Hitler-Deutschland, 1938 in Mussolini-Italien, 1939 im besetzten Polen, in den Folgejahren in allen von deutschen Truppen eroberten und besetzten Staaten. Anders noch 1929: Rotary sei bestimmt vom Ideenkomplex bürgerlicher Humanität, beseelt von der Ideeneinheit von Freiheit und Bildung, Menschlichkeit und Duldsamkeit, Hilfsbereitschaft und Sympathie. Kein anderer als Thomas Mann, Gründungsmitglied des RC München, hatte diese Worte gesprochen. Doch bereits im April 1933 schloss sein Club ihn, den Literatur-Nobelpreisträger, aus. Zahlreiche andere rotarische Freunde – Juden, Sozialisten, der NSDAP-Missliebige – mussten Rotary verlassen. Warum? Gab es keine Alternativen? Paul Erdmann, Rotarier im RC Stuttgart, ist diesen und vielen weiteren Fragen zu jener Zeit am Beispiel der RCs Stuttgart und München nachgegangen. Über viele Jahre hinweg wertete er Archive und Quellen aus. Sein Buch „Rotarier unterm Hakenkreuz. Anpassung und Widerstand in Stuttgart und München“ ist mit über 800 Seiten die bislang umfassendste, gründlichste und farbigste Untersuchung dieses schwierigen Teils der Rotary-Geschichte in Europa. Wie sah das Umfeld aus? Welche Bildungshintergründe hatten die Mitglieder? Welche Rolle spielte in Stuttgart die starke Verankerung im schwäbischen Liberalismus und in der Bekennenden Kirche? Welche Rolle hatten Rotarier in führenden Stellungen bei Bosch oder bei der Deutschen Bank? Welche Anteile hatten Rotarier in Stuttgart und München am Widerstand gegen Hitler? Welche Bedeutung hatte der Protest der Richard-Wagner-Stadt München gegen Thomas Mann, wie stark waren auch Rotarier daran beteiligt? Worin lag es begründet, dass Stuttgarter Rotarier eher „standhaft“ in ihrem Verhalten blieben?

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Seitenzahl: 1631

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ROTARIER UNTERM HAKENKREUZ

ANPASSUNG UND WIDERSTAND IN STUTTGART UND MÜNCHEN

PAUL ERDMANN

Salier Verlag · Leipzig

Diese Publikation erscheint mit freundlicher Unterstützung der Karl Schlecht Stiftung, der Stihl-Stiftung und der Rotary Stiftung Stuttgart

Print: ISBN 978-3-943539-89-9

eBook EPUB: ISBN 978-3-96285-155-2

2. durchgesehene und korrigierte Auflage 2022

Copyright © 2018 by Salier Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved.

Einbandgestaltung: Christine Friedrich-Leye, Leipzig

Lektorat: Peter Michel († 2020)

Edition: Prof. Dr. Kurt-Jürgen Maaß

Satz: InDesign im Verlag

Printed in the EU

www.salierverlag.de

INHALT

Vorwort

I. Standfest?

Rotary in Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft

1. Visitation – Paul Harris, der Gründer Rotarys, 1932 in Berlin und Hannover

2. Rotary in den USA – Betonung von Fellowship und Service

2.1 Gründung

2.2 Herkunft der Idee

2.3 Ziele

2.4 Die Vier-Fragen-Probe

3. Rotary in Deutschland – Betonung von Freundschaft und Völkerverständigung

4. Rotary unter nationalsozialistischer Herrschaft – Sich anpassen, sich auflösen?

5. Rotarische Scheinblüte? – Leitgesichtspunkte unserer historischen Erkundungen

II. Der Rotary Club Stuttgart vor, unter und nach der nationalsozialistischen Diktatur

Erster Ermittlungsgang

1. Freundschaft überdauert KZ – Rückblick im Jubiläumsjahr 2003

Vorbemerkung

2. Was gewann die Gründerväter für Rotary?

3. Wie reagierte der Club auf die Machtergreifung Hitlers?

4. Welche Stellung bezog der RC Stuttgart in der Frage der Mitgliedschaft von Bürgern jüdischer Herkunft?

5. Wie versuchte sich der Club in den Jahren nach Hindenburgs Tod bis zu seiner Selbstauflösung im September 1937 zu behaupten?

6. Wie fanden die Freunde nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wieder zueinander?

7. Folgerungen

8. Prägende Persönlichkeiten des RC Stuttgart

Conrad Bareiß (1880–1958)

Hermann Binder (1877–1957 )

Hermann Fellmeth (1880–1948)

Otto Fischer (1858–1947)

Robert Haußmann (1881–1978)

Richard Heilner (1876–1964)

Gustav Kilpper (1879–1958)

Paul Sakmann (1864–1936)

Carl Schippert (1874–1968)

Karl Schmoll von Eisenwerth (1879–1948)

Fritz Wertheimer (1884–1968)

III. Erweiterung des Quellenfeldes und der Methodik

1. Wovon die Club-Akten nicht sprechen

2. Erweiterung des Quellenfeldes

2.1 Akten anderer Clubs, zu denen rege Beziehungen bestanden

2.2 Mitgliederkarteien der NSDAP und der ihr zugeordneten Verbände

2.3 Fundstellen von Auskünften zur politischen Einstellung

2.3.6 Nachlässe: Äußerungen in privater Korrespondenz

2.4 Mitteilungen in Todesanzeigen und Nachrufen

2.5 Mitteilungen über Kontakte zur Bekennenden Kirche

2.6 Mitteilungen über Widerstandsaktivitäten

2.7 Mitteilungen von Zeitzeugen

3. Reichweite und Grenzen der Methoden, Gesinnungen und Einstellungen zu erkunden

IV. Der Rotary Club Stuttgart vor, unter und nach der nationalsozialistischen Herrschaft.

Zweiter Ermittlungsgang

1. Begründung

2. Das politische Umfeld des RC Stuttgart vor 1933

2.1 Die politische Lage in Stuttgart nach 1918

2.2 Das Wahlverhalten der Stuttgarter vor 1933

3. Parteimitgliedschaften der Mitglieder des RC Stuttgart

3.1 Parteimitgliedschaften vor 1933

3.2 NSDAP-Mitgliedschaften

4. Das kulturelle Umfeld des RC Stuttgart vor 1933

5. Berufliche Klassifikationen der Mitglieder des RC Stuttgart

6. Religionszugehörigkeit der Mitglieder des RC Stuttgart

6.1 Mitglieder christlicher Konfessionen

6.2 Konfessionslose Mitglieder

6.3 Freimaurer

7. Der Bildungshintergrund der Mitglieder

8. Die liberal-konservative Orientierung der Unternehmer

9. Verbotsabwehrstrategie: Verhandeln, Dienste anbieten, Loyalität zusichern!

9.1 Verhandeln! – Ein Strategievorschlag des RC Stuttgart

9.2 Der Verhandlungsverlauf

9.3 Wandlungen der Einschätzung Hitlers und seiner ersten Regierung

9.4 Dienstleistungen für das Regime im Ausland

9.5 Loyalitätsbekundungen im Club

9.6 Loyalitätsbekundungen bei internationalen Treffen

10. Abwehrmaßnahmen – Innere Emigration?

10.1 Schutzmaßnahmen

10.2 Der Verständigungs- und Friedensappell Rudolf L. Mehmkes

10.3 Festhalten an der Pflege rotarischer Internationalität

10.4 Nizza 1937: Wahl eines französischen Weltpräsidenten auf Vorschlag Fischers

10.5 Aufnahme des Selbstauflösungsbeschlusses im RC Stuttgart

10.6 Keine engagierten Nationalsozialisten im Club

11. Haltung und Einstellung gegenüber Juden

11.1 Unter den Stuttgarter Rotariern Antisemiten?

11.2 P. Schmitthenners Aufkündigung der Freundschaft mit F. Wertheimer

11.3 Mitgliedschaft Stuttgarter Rotarier im Verein zur Abwehr des Antisemitismus

11.4 Beistand Stuttgarter Rotarier für jüdische Mitbürger

11.5 Hilfe für einen nach der „Kristallnacht“ verhafteten jüdischen Jugendlichen

12. Widerstandsaktivitäten Stuttgarter Rotarier

12.1 Der Kreis Stuttgarter Freunde von 1927

12.2 Mitteilungen in Spruchkammerverfahren

12.3 Widerstandshandlungen vor und während des Zweiten Weltkrieges

12.4 Widerstandshandlungen bei Kriegsende

13. Resümee: Folgerungen aus dem Einblick in die Geschichte des RC Stuttgart

V. Der Rotary Club München vor und unter der nationalsozialistischen Diktatur: Ein historischer Vergleich mit dem RC Stuttgart

1. Der Weg der historischen Erkundung

1.1 Der Grund vergleichender Betrachtung

1.2 Der historische Brennpunkt

1.3 Voraussetzungen und Methodik

1.4 Der Schwerpunkt

2. Der RC München in der Zeit der Weimarer Republik

2.1 Die Gründung des Clubs

2.2 Der Vorstand 1932/1933

2.3 Die Mitglieder und deren Klassifikationen

2.4 Biografische Anmerkungen

2.5 Kritik an Thomas Mann 1927

2.6 Das Spektrum der politischen Einstellungen

3. Das kulturelle Umfeld

4. Das politische Klima

4.1 Die Nachwirkungen der Niederschlagung der Münchner Räterepublik

4.2 Rotary im Strom des politischen Umbruchs 1933

5. Rotary im Strom der Säuberungswelle des Frühjahrs 1933

5.1 Literarisch tätige Rotarier in Bedrängnis

5.2 In Medien-Berufen tätige Rotarier in Bedrängnis

5.3 Jüdische Rotarier in Bedrängnis

5.4 Ausschluss von Mitgliedern brutal erzwungen?

6. Die Distriktskonferenz am 4. April 1933

6.1 Der Verlauf

6.2 Die Beschlüsse

6.3 Die Verdienste des Pastgovernors Fischer und der Clubführung des RC Stuttgart

6.4 Das fragwürdige Verdienst der Clubführung des RC München

6.5. Das Ergebnis der sich anschließenden Verhandlungen mit dem Staat

6.6. Der Verhandlungserfolg in der Einschätzung von Rotary International

6.7 Einschätzung Fritz Wertheimers im Rückblick

7. Münchner Rotarier gegen Thomas Mann – Brennpunkte der Clubgeschichte

7.1 Gegen den Sozialisten und Wagner-Interpreten

7.2 Was es zu klären gilt

8. Der „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ gegen Thomas Mann – von rotarischen Freunden angezettelt?

8.1 Thomas Manns aufregend neue Sicht Richard Wagners

8.2 Der Wortlaut des Protestes

8.3 Veröffentlichung des Protestes

8.4 Erläuterung der Veranlassung und Aussagen des Protestes

8.5 Die Sprache des Protestes

8.6 Die politische Ausrichtung des Protestes

8.7 Die dramatische kulturpolitische Entwicklung jener Zeit

8.8 Die Vorlage des Protestes

8.9 Das Anschreiben Hans Knappertsbuschs

8.10 Der Beraterkreis des Protestes

8.11 Die Unterzeichner des Protestes

8.12 Verzögerung, Auslösung und Auswirkung des Protestes

9. Der RC München 1933 bis 1937 – nach böser Krise auf gutem Wege ?

9.1. Der RC München „arisch“ – davon abgesehen, ein Freundeskreis wie ehedem?

9.2. Veränderungen im Freundeskreis – Rechtsruck?

9.3 Vortragskultur – Anpassung an den Zeitgeist?

9.4 Bekundungen regimekonformer Einstellungen in den Meetings

9.5 Reaktionen auf situative politische Herausforderungen

10. Rückzug in innere Emigration?

11. Münchner Rotarier im Widerstand

11.1 Zum strittigen Begriff Widerstand

11.2 Beistand für jüdische Mitbürger

11.3 Aktiver Widerstand

11.4 Anpassung und Widerstand – Rechtfertigungsversuche

VI. Rotarischer Anspruch – rotarisches Versagen. Aspekte ethischer Urteilsbildung

1. Möglichkeiten und Grenzen ethischer Urteilsbildung

2. Schwierigkeiten ethischer Beurteilung politischen Verhaltens

2.1 Der Reichstagsbrand – Eine moralisch vertretbare Widerstandshandlung?

2.2 Der Tag von Potsdam – Verantwortlich auch die Getäuschten?

2.3 Thomas Mann sah klarer! – Verblendet, die im Reich verblieben?

3. Verführte Idealisten, Patrioten – Nachsicht walten lassen?

4. Politische Verantwortung – moralische Schuld

4.1 Fragen der Standhaftigkeit

4.2 Fragen des moralischen Kompasses

5. Nachweisbare politische Verhaltensmaximen von Rotariern

6. Verantwortungsethische Reflexionsimpulse

7. Was die Abwehr schwächte

8. Moralische Fehlurteile

VII. Rotarier unterm Hakenkreuz – Worüber nachzudenken ist

VIII. Als plötzlich rotarische Freundschaft nichts mehr galt.

Erinnerung an Clemens von Franckenstein und Karl Wolfskehl

Editorische Notiz

Abkürzungen

Anmerkungen

Literatur

Dank

Der Autor

Ich widme diese Arbeit mit tiefem Dank meiner lieben Frau Angelika Erdmann, die mit großem Interesse meine Untersuchungen begleitete, viel Verständnis für meine zeitliche Beanspruchung zeigte, mir gute Ratschläge gab, und der die ethischen Fragestellungen Anliegen waren, wie mir.

Paul Erdmann

VORWORT

Wie geht ein Rotary Club mit einer Regierung um, die eine Diktatur errichtet, demokratische Rechte mit Füßen tritt und humanistische Prinzipien diskreditiert? Das ist die zentrale Frage dieses Buches. Sie wird am Beispiel der Rotary Clubs Stuttgart und München in den Jahren 1933 bis 1937 untersucht. Die Arbeit wurde initiiert durch das 75-jährige Jubiläum der beiden Clubs im Jahr 2002. Sie machte eine jahrelange Archivarbeit notwendig. Im Oktober 2015 wurde dann durch einen Artikel im Rotary-Magazin angeregt, die Rotary-Geschichte der NS-Zeit endlich deutschlandweit aufzuarbeiten. Der Aufruf führte zur Gründung einer Forschungsgruppe von über 50 Rotarierinnen und Rotariern, überwiegend Wissenschaftler, die die Geschichte von Mitte der zwanziger Jahre bis zu den fünfziger Jahren untersucht, geleitet und koordiniert von Carl-Hans Hauptmeyer (Leibniz-Universität Hannover). Diese Forschungsgruppe hat angeregt, dass der Autor sein Buchmanuskript nun dringend finalisiert und veröffentlicht. Das geschah Ende 2016 und Anfang 2017. Die jetzt vorliegende Publikation wurde möglich durch freundliche finanzielle Hilfen seitens der Karl Schlecht Stiftung, der Stihl-Stiftung und der Rotary-Stiftung Stuttgart. Kurt-Jürgen Maaß (Universität Tübingen) hat den Autor freundschaftlich und geduldig bei allen Fragen der Edition unterstützt und zusammen mit Peter Michel das Lektorat umgesetzt. Karsten Wick hat die Subskription zum Erfolg geführt. Der Autor ist ihnen allen zu großem Dank verpflichtet.

Rotary ist keine Geheimorganisation, wie Außenstehende bisweilen annehmen. Rotary ist eine weltweite Vereinigung berufstätiger Männer und seit der Jahrhundertwende auch Frauen, die in regionalen oder lokalen Clubs einander freundschaftlich verbunden und bestrebt sind, auf der Basis eines vertrauensvollen Miteinanders in ihrer Lebensführung einem hohen Ethos zu folgen, Toleranz zu fördern, der Gesellschaft Dienste zu leisten und zur Verständigung und Frieden unter den Völkern beizutragen. Um Mitgliedschaft bewerben kann man sich nicht. In einem Rotary Club Aufnahme findet auf dem Wege möglichst einstimmiger Zuwahl je ein erfolgreicher und gesellschaftlich geachteter Vertreter eines Berufsstandes. Die politische und religiöse oder weltanschauliche Bindung und Einstellung eines Kandidaten sind keine Kriterien der Zuwahl. Auf politische, religiöse und weltanschauliche Pluralität wird Wert gelegt. In wöchentlichen, mit einem Essen verbundenen Treffen wird Gedankenaustausch über berufsbezogene Fragen und Themen von gesellschaftlichem, kulturellem und allgemeinem Interesse gepflegt. Die Ziele, auf die sich die Rotarier zu verpflichten haben, sind, sich im persönlichen wie beruflichen Leben an hohen ethischen Maßstäben zu orientieren, einander Einblick in die berufliche Arbeit zu geben, Toleranz zu pflegen, Engagement für das gesellschaftliche Wohl anzuregen, gemeinsam finanzielle und praktische Nothilfe zu leisten oder zu organisieren, Jugend und Kultur zu fördern und durch Pflege internationaler rotarischer Kontakte zur Verständigung und zu friedlichen Beziehungen zwischen den Völkern und Nationen beizutragen.

In den deutschen Rotary Clubs versammelte sich vor 1933 eine international aufgeschlossene, mehrheitlich wohlhabende gehobene Bürgerschaft im Geiste gesellschaftlicher Toleranz und Hilfsbereitschaft. Bürger jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft waren in fast jedem Club vertreten. Die rotarische Offenheit für unterschiedliche Herkunft, politische Einstellungen, religiösen Bindungen empfahl jüdischen Mitbürgern eine Mitgliedschaft. Im Kreise der Rotarier sahen sie sich gleichberechtigt.

Auf der rotarischen Regionalkonferenz 1930 in Den Haag charakterisierte der Münchner Rotarier Thomas Mann in einem Vortrag zum Thema Die Geistige Situation des heutigen Schriftstellers Rotary im Zusammenhang von Ausführungen zur Gefahr der Ideologien des Faschismus und Kommunismus treffend:

Rotary kommt aus dem Westen, der klassischen Sphäre des Individualismus, wie man sagt. Aber es ist falsch, den Freiheitstrieb nur der einen, den Instinkt nur der anderen Rasse entscheidend zuzuweisen und danach die Völker einzuteilen. […] Die Aufgabe, Freiheit und Dienst zu vereinen, ist übernational, wie die der Rotary-Clubs es ist. In ihnen haben sich Männer aller Zungen und Zonen zusammengefunden, die wohl wissen, welch ewig kostbaren Werte mit der Sphäre des Ich, der Sphäre der Kunst und Kultur verbunden sind, und die entschlossen bleiben, den Vorwurf der Frivolität von ihr abzuwehren; Männer jedoch, ebenso entschlossen, sich durch keine falsche Seelenhaftigkeit beirren zu lassen im dienenden Willen zu einer vernünftig-besseren und menschenwürdigen Weltgestaltung.

Angesichts der Merkmale und Ziele Rotarys verwundert es nicht, dass die Nationalsozialisten schon vor ihrer Machtübernahme Rotary scharf angriffen. Man brachte Rotary mit den angeblichen „Machenschaften“ des „internationalen Judentums“ in Verbindung. Umso erstaunlicher, dass Rotary im Dritten Reich nicht sofort verboten wurde, sich vielmehr anerkannt bis in den Herbst 1937 halten konnte. Wie war dies möglich? Wie kam es dazu? Ohne dem nationalsozialistischen Regime Zugeständnisse zu machen, konnte sich bekanntlich keine Vereinigung halten. Fragen kommen auf.

Wie reagierten die Rotarier auf die Machtübernahme Hitlers? Ließen sie die Nationalsozialisten gewähren? Wurden sie zu Mitläufern? Versuchten sie Einfluss zu nehmen? Waren die deutschen Rotarier zu institutionellen Angleichungen und Angleichungen ihrer Zielsetzungen bereit? Gingen sie Kompromisse ein? Beugten sie sich der Herrschaft des Hakenkreuzes, dem Gefolgschaftsanspruch des Volkskanzlers und Führers Adolf Hitler? Oder schwenkten nur einzelne Rotarier auf den Nationalsozialismus ein?

Was bewog das nationalsozialistische Regime wider Erwarten Rotary anfänglich zu tolerieren? Wie gelang es dem Regime Hitlers, diese international aufgeschlossenen, politisch gebildeten, hoch reflektierten, sozial eingestellten rotarischen Freundeskreise schließlich zu spalten, zu korrumpieren, zu einem Gleichschaltungskurs zu veranlassen?

Duldung hätten die Rotarier nicht erlangt, hätten sie sich nicht mit dem Regime in manchem arrangiert. Nachgeborene tun sich schwer zu verstehen, wie man Hitler, dem widerwärtigen Despoten, dem politischen Hetzer, diesem Schauspieler mit seiner Genialitätsattitüde nachgeben, ein Stück weit auf seinen Weg einzuschwenken bereit sein, seinen politischen Visionen erliegen konnte.

Welche geschichtlichen Zusammenhänge, politischen, soziokulturellen, kirchlichen Umstände sind zu beachten, bemüht man sich darum, das Verhalten der Rotarier im Dritten Reich zu verstehen? Welche Macht- und Gewaltstrukturen machten gefügig? Welche Steuerungs- und Verhaltensmechanismen waren wirksam? Welche Interessen bewogen zur Mitläuferschaft? Was bewirkte ideologische Verblendung? Was minderte politische Urteilskraft? Welche moralischen Schwächen verhinderten Widerspruch und lähmten Widerstand?

Am Beispiel der Stuttgarter und Münchner Rotarier geht die vorliegende Arbeit diesem Fragenkomplex nach.

Weil die Verbrechen des Nazi-Regimes und die Inhumanität seiner Ideologie für jeden Menschen ethischen Urteilsvermögens heutzutage offenkundig sind, scheint das Versagen der sich hohem Ethos verpflichtenden rotarischen Elite auf den ersten Blick schwer verständlich. Wie es dazu kam und was schuldig werden ließ, ist bislang nur in groben Linien ermittelt, ethisch aber noch kaum erörtert worden. Den Gang des politischen Geschehens, die Ereignisfolge zu erheben, ist natürlich sehr viel leichter, als Verhaltensmotivationen zu erheben, Gesinnungen zu ergründen und einzuschätzen, die zu Mitläuferschaft veranlassten oder verführten.

Die Voraussetzung für historische Recherchen, die Quellenlage scheint vergleichsweise günstig. Über die wöchentlichen rotarischen Treffen, über die Vortragstätigkeit war Protokoll zu führen. Die Protokolle der Club-Sitzungen sind erhalten. Die hohe gesellschaftliche Stellung der Rotarier, ihre beruflichen Aktivitäten, ihre Karriere lässt erwarten, dass Spuren zurückblieben. In der Nazi-Diktatur war es kaum möglich, irgendetwas zu bewegen, ohne sich auf vom Regime gesetzte Bedingungen einzulassen.

Will man Haltungen, Einstellungen, Gesinnungen ermitteln, so darf man also erwarten, Daten vorzufinden, die Einblick gewähren. Erforderlich sind höchst bedachtsame Quellenanalyse und Interpretation unter Berücksichtigung der Eingrenzungen der Äußerungs- und Handlungsfelder, der auferlegten Sprachregelungen und biographisch bedingten Erfahrungshorizonte. Oft wird schnellfertig aus einzelnen, herausgegriffenen Äußerungen oder Handlungen auf die tatsächliche und durchgängige Einstellung der Person geschlossen. Eine einzelne Äußerung, eine einzelne Entscheidung genügen und das Urteil steht fest: Er war ein Nazi! Und Mitschuld an allem wird ihm angelastet, was das Regime vertrat und bewirkte! Selten wird das politische und moralische Versagen von Mitläufern des Regimes auf Ursachen und Gründe hin genau und kritisch genug befragt.

Sich auf solche Ermittlungen einzulassen, ist leider nicht ganz selbstverständlich. Abwehr ist zu beobachten, auch unter Rotariern, sich den anstehenden Fragen zu stellen. Erhebt Rotary einen hohen ethischen Anspruch, so sehen wir jedoch darin auch die Verpflichtung, sich mit der Geschichte der rotarischen Bewegung zu befassen und nach rotarischer Bewährung und rotarischem Versagen zu fragen.

Manches ist bereits erschlossen worden, so die Geschichte Rotarys im Dritten Reich in Grundzügen und manches zu einzelnen Clubs. Mit gutem Beispiel war der Münchner Club vorangegangen, seine nationalsozialistischen Verwicklungen offen zu legen. Er tat es anlässlich seines 75-jährigen Jubiläums im Jahre 2003, dem Jahr, in dem auch der RC Stuttgart sein 75-jähriges Bestehen feierte. Den Weg vorbehaltloser historischer Erschließung der Clubgeschichte, den der Münchner Club bahnte, beschreiten auch wir. Vieles bleibt noch zu ergründen. Eine umfassende Erarbeitung, wie die Rotarier sich gegenüber ihren jüdischen Freunden verhielten, fehlt beispielsweise noch immer. Einen Beitrag hierzu hoffen wir leisten zu können.

Aufarbeitung der rotarischen Geschichte in der Nazizeit sollte über Rotary hinaus allgemeines Interesse aller beanspruchen dürfen, die die Fragen umtreibt, wie es im Lande christlicher und humanistischer Tradition zur Herrschaft des Nationalsozialismus hat kommen können und ob die Gefahr ein für alle Male gebannt ist oder sich Ähnliches wiederholen könnte.

Der Verfasser der Arbeit ist nicht Historiker, er ist Religionspädagoge – und er ist Rotarier. Dem Theologen sind historisch-kritische Fragestellungen und Methoden vertraut, ethischen Fragen nachzugehen, ein genuines Anliegen. Der Pädagoge ist brennend daran interessiert, der Frage nachzugehen, was man aus der Geschichte lernen könne. Als Rotarier fühlt sich der Verfasser der Arbeit von den Vorgängen betroffen und seine Betroffenheit will er nicht verdecken; seinen Freunden will er sich mitteilen und sie zum Nachdenken über die Tragfähigkeit, die Schwächen und Stärken der rotarischen Idee anregen. An objektiver Recherche ist ihm gelegen, nicht aber kühl distanzierter Nachzeichnung der Geschichte. Geht es um Fragen der Bewährung der Menschlichkeit, ist Parteinahme geboten.

Der Verfasser war beauftragt worden, anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Rotary Clubs Stuttgart im Jahre 2003 die Geschichte des Clubs nachzuzeichnen. Die Aufgabe versetzte ihn in Spannung, fesselte über den Jubiläumsanlass hinaus. Sie ließ anschließend nach erweiterten und vertieften Recherchen verlangen. Vergleichende Analysen erwiesen sich als unerlässlich. Einen Vergleich am Beispiel der Geschichte des RC Münchens exemplarisch durchzuführen, bot sich wegen vieler Berührungspunkte und signifikanter Besonderheiten und den eingehenden und gründlich recherchierten Darlegungen in der Jubiläumsschrift des Münchner Clubs an.

Unserem Jubiläumsaufsatz zur Geschichte des Clubs stellen wir eine einleitende Darlegung über Ursprung und Ziele von Rotary voraus. Dies als Grundlage und Maßstab unserer kritischen Untersuchung der Geschichte des Clubs vor, unter und nach der nationalsozialistischen Diktatur im zweiten Kapitel. In dem nachfolgenden dritten Kapitel erläutern wir dann, welche historisch-kritischen Einsichten uns nahe legten, die Quellengrundlage über die Clubakten hinaus zu erweitern und die Methodik zu verbessern, um unsere ersten Einblicke in die Clubgeschichte abzusichern und zu vertiefen. Unserer zweiten Erschließung der Geschichte des Stuttgarter Clubs vor, unter und nach der nationalsozialistischen Diktatur auf erweiterter Quellengrundlage im vierten Kapitel schließen wir eine ebensolche Betrachtung der Geschichte des Münchner Rotary Clubs in einem fünften Kapitel an. Dies nicht nur, weil die beiden Clubs in reger Verbindung standen, sondern auch deshalb, weil an vergleichender Betrachtung die Besonderheiten der beiden Clubs hervortreten und die Gründe, die dazu führten, unterschiedliche Wege einzuschlagen, deutlicher greifbar werden. Abschließend gehen wir auf ethische Fragen an Rotary und seine Mitglieder ein.

In den sechs Kapiteln wurden verschiedene Aufsätze und Vorträge verarbeitet. Dies bedingt einige Wiederholungen. Als Einheit wurden sie nicht konzipiert. In unserer Zusammenstellung nehmen wir die Wiederholungen in Kauf und glätten nicht. Wir belassen sie, um die schrittweise erfolgte Vertiefung der Einsichten kenntlich und nachvollziehbar zu halten, das Verfolgen des Gedankengangs nicht zu erschweren.

Die Arbeit erhebt den Anspruch wissenschaftlicher Verlässlichkeit, ist aber nicht für Fachhistoriker geschrieben, sondern für rotarische Leser und für alle historisch interessierten Bürger, die es als Verpflichtung ansehen, sich mit der Diktatur des Dritten Reiches zu beschäftigen und zu zeigen, woran es lag, dass Hitler Gefolgschaft fand. Deshalb geben wir auch Einblick in die Forschungsmethodik und führen manches aus, was dem Historiker allzu selbstverständlich erscheinen mag.

TEILI

STANDFEST?

ROTARY IN DEUTSCHLAND UNTER NATIONALSOZIALISTISCHER HERRSCHAFT

1. VISITATION – PAUL HARRIS, DER GRÜNDER ROTARYS, 1932 IN BERLIN UND HANNOVER

Im August 1932 besuchte Paul Harris, der Gründer Rotarys, Deutschland.1 Als Delegierter hatte er zuvor an einem internationalen Kongress für Vergleichendes Recht in Holland teilgenommen. Im Anschluss reiste er nach Hannover zur Charterfeier des RC Hannover und von dort weiter nach Berlin, um den Rotary Club der deutschen Reichshauptstadt mit einem Besuch zu beehren. Es war Paul Harris daran gelegen, den deutschen Rotariern Anerkennung auszusprechen und seiner Freude Ausdruck zu geben über die unerwartet gute Entwicklung, die Rotary in Deutschland seit Gründung des ersten Clubs 1927 genommen hatte.

Am 16. August 1932 traf er in Berlin ein. Am folgenden frühen Morgen, einem Mittwoch, wurde er von Berliner Rotariern im Hotel Kaiserhof abgeholt. Die rotarischen Freunde begaben sich zum Berliner Tempelhofer Feld. Dort pflanzte Paul Harris in feierlicher Symbolhandlung einen Freundschaftsbaum. Rotarier Oberbürgermeister Heinrich Sahm hatte alles Erforderliche in die Wege geleitet. Stadtrat Hermann Radtke, der Präsident des Berliner Rotary Clubs, Otto Fischer, und Paul Harris hielten Ansprachen. Paul Harris hob hervor, bei den vernünftigen Menschen aller Völker verstärke sich immer mehr der Wunsch nach einem Neuaufbau der Beziehungen unter den Völkern, nach Heilung der Wunden, die sich die Völker gegenseitig zugefügt hätten. Solche Wunden zu heilen, dieser Aufgabe verpflichte sich Rotary, hob Paul Harris hervor. Der Baum der Freundschaft, den er pflanze, solle ein Zeichen der Versöhnungsbereitschaft und des Friedenswillens setzen.

Dem Zeremoniell schloss sich ein Frühstücksmeeting im Hotel Kaiserhof an. Nicht nur Berliner Rotarier waren gekommen, um Paul Harris zu begrüßen und ihn kennenzulernen. Die Einladung war an alle deutschen Clubs ergangen. Rotarier aus Breslau, Chemnitz, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt, Görlitz, Halle, Hannover, Köln, Leipzig, Mannheim und anderen Städten waren nach Berlin gekommen. Aus Stuttgart reiste Otto Fischer an, der Gründungspräsident des Clubs, damals Pastgovernor des Deutsch-Österreichischen Distriktes und bald darauf Mitglied des Rotary Board in Chicago. Rotary Deutschlands präsentierte sich Paul Harris in blühender Verfassung.

Paul Harris, der Gründer Rotarys, beim Pflanzen des deutsch-amerikanischen Freundschafts- und Friedensbaumes auf dem Tempelhofer Feld Berlin, August 1932 (Fotosammlung ARCS, Abzug aus: Der Rotarier 1932/33 )

Erst fünf Jahre waren vergangen, seit am 7. Oktober 1927 in Hamburg der erste Rotary Club Deutschlands gegründet worden war.2 Gründungspräsident war Wilhelm Cuno, der Reichskanzler der Jahre 1922 und 1923, damals Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG). Zur Gründung schrieb ihm Paul Harris:

Viele von uns sind der Ansicht, dass sich das deutsche Rotary in hervorragender Weise auf die rotarische Bewegung auswirken wird. Wir zweifeln nicht daran, dass die Gründlichkeit der Gedankenwelt, die so charakteristisch für die Deutschen ist, der Idealismus, den sie besitzen, und die wissenschaftlichen Fähigkeiten, für die sie überall bekannt sind, von großem Wert für uns sein werden.3

Im Dezember des gleichen Jahres erfolgte die Gründung des RC Frankfurt, im April 1928 folgte die des RC Köln, im November die Gründung der Clubs in München, Stuttgart und Dresden. Der Club in der Hauptstadt Deutschlands, der RC Berlin, beging sein Gründungsfest am 13. Februar 1929. Es reihten sich bis zum August 1932 in kurzen Abständen Clubgründungen in Leipzig, Nürnberg, Chemnitz, Plauen, Baden-Baden, Aachen, Magdeburg, Düsseldorf, Mannheim, Breslau, Halle, Saarbrücken, Görlitz, Heidelberg, Braunschweig, Wilhelmshaven, Karlsruhe, Darmstadt, Pforzheim, Wiesbaden, Heilbronn, Danzig, Liegnitz, Bremen, Mainz, Remscheid, Hannover und Kiel.4 In nur fünf Jahren war es also in Deutschland zu 34 Clubgründungen gekommen. Eine stolze Bilanz.

Paul Harris freute sich über die Bereitschaft in Deutschland, sich der Rotary-Bewegung anzuschließen. Um den deutschen Rotariern Anerkennung und persönlichen Dank auszusprechen, war er nach Berlin gekommen.

Schon im Juni 1929 war der gemeinsame Deutsch-Österreichische Distrikt 73 gebildet worden.5 Reichskanzler a. D. Wilhelm Cuno (1876–1933) wurde zum ersten Governor des Distriktes berufen. 1930/31 folgte ihm in diesem Amt Otto Böhler vom RC Wien, 1931/32 Otto Fischer vom RC Stuttgart. Es spielte sich ein Wechsel im Governoramt zwischen einem Vertreter eines deutschen und einem Vertreter eines österreichischen Clubs ein.

Zusammen mit den Rotariern der österreichischen Clubs in Wien, Salzburg, Graz, Innsbruck, Klagenfurt und Bad Ischl wies der deutsch-österreichische Distrikt 1932 rund 1.700 Mitglieder auf.6

Dass Rotary in Deutschland gut vorankommen werde, dessen war man sich anfänglich bei Rotary International gar nicht sicher gewesen. Lange hatte man überhaupt gezögert, einen Versuch mit Rotary in Deutschland zu wagen. In England und Irland waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg Clubs gegründet worden. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgten Gründungen 1920 in Spanien, 1921 in Frankreich und Dänemark, 1922 in Norwegen und den Niederlanden, 1923 in Belgien und Italien, 1924 in der Schweiz, 1925 in Österreich und Ungarn, der Tschechoslowakei und Portugal, 1926 in Schweden und Finnland.7 Misstrauen gegenüber den Deutschen, von denen man annahm, sie hegten Revanchegelüste angesichts des verlorenen Krieges und verweigerten sich internationaler Verständigung wegen des schmählichen Friedensschlusses von Versailles, hielten davon ab, Rotary auch nach Deutschland zu bringen. Man war skeptisch, dass die Deutschen schon wieder Bereitschaft zeigen würden, sich auf einen Weg internationaler Verständigung und Befriedung einzulassen. Hinzu kam, dass die politischen und sozialen Verhältnisse im Deutschland der Weimarer Republik instabil erschienen und die Entwicklung schlecht vorauszusehen war, was die internationalen Beziehungen zusätzlich zu erschweren schien.

So war es auch. Auf Deutschland lastete der Versailler Vertrag. Die junge Demokratie tat sich schwer. Die Regierungen in der Weimarer Republik wechselten häufig. Die Jahre von 1918 bis 1933 sahen 20 Kabinette mit zwölf verschiedenen Reichskanzlern. Zwar war in den Jahren 1924 bis 1929 aufgrund der vorläufigen Regelung der Reparationsfrage (Dawes-Plan) und der Stabilisierung der Finanzen Beruhigung eingetreten. Es war zu einem Aufschwung gekommen, gestützt vor allem durch amerikanische Kredite. Die Weltwirtschaftskrise 1929 aber brachte erneut rasch anwachsende Arbeitslosenzahlen und eine Zunahme der gesellschaftlichen Spannungen und politischen Gegensätze. Die Antagonismen zwischen den rechten, den revanchistisch-nationalsozialistischen und den linken und umstürzlerisch- bolschewistischen Parteien spitzten sich zu. 1930 errang die NSDAP 107 Sitze im Reichstag. Die „Dolchstoßlegende“ fand Anhängerschaft. Der Bankenzusammenbruch 1931 verschärfte die Lage. Deutschlands Zahlungsfähigkeit war am Ende. Der Einfluss außerparlamentarischer Kräfte (Hochfinanz, Großindustrie, ostelbische Junker, Reichswehrführung, Kreis um Hindenburg) auf die Präsidialkabinette (Brüning, von Papen, Schleicher) wuchs. Mit verfassungsrechtlich fragwürdigen Notverordnungen wurde regiert. Die Demokratie schwächelte mehr und mehr. Die Zahl derer, die ihr nicht mehr zutrauten, die deutschen Geschicke zu meistern, wuchs rasch an. Dunkle Wolken zogen am Horizont herauf. Würde der Nationalsozialismus die Herrschaft erringen? Würden die KPD und mit ihr der Bolschewismus eine Revolution herbeiführen? Auch im Ausland, vor allem in Frankreich, wuchs die Sorge, die Nationalsozialisten könnten an die Macht kommen und auf Revanche sinnen. Aber Sorge hatte man auch, der Bolschewismus könne das am Boden liegende Deutschland erobern und den westeuropäischen Ländern bedrohlich nahe rücken.

Chancen für Rotary in Deutschland trotz oder gerade wegen dieser politischen Zustände? Erst mit der Zustimmung Deutschlands zur Rüstungskontrolle und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund im Jahre 1926 war man dem Gedanken näher getreten, Rotary in Deutschland einzuführen. Der Däne Thomas Christian Thomsen (1882–1963) wurde mit den Gründungsvorbereitungen des damaligen European Advisory Commitee, dessen Vorsitzender er war, beauftragt. Thomsen hielt fest:

Es ist kaum irgendein Gründungsvorhaben so gut vorbereitet worden wie die Gründungsarbeit in Deutschland. Zwei Jahre, bevor wir mit der endgültigen Gründungsarbeit ins Werk gingen, hatte ein nationaler Ausschuss, in welchem die acht an Deutschland grenzenden Länder vertreten waren (und worin ich Dänemark vertrat), die Namen von geeigneten Männern in den sieben deutschen Städten gesammelt, in welchen wir die ersten Clubs zu errichten beschlossen hatten, nämlich in Hamburg, Frankfurt a. M., Köln, Stuttgart, München, Dresden und endlich Berlin. ...

So wie Rotary in Deutschland ins Leben gerufen würde, so würde auch die weitere Entwicklung sich gestalten. Es wurde daher beschlossen, die deutschen Clubs auf einem hohen sozialen Niveau zu begründen, und ich habe versucht, dieses Programm im Leben zu verwirklichen durch Aufbau der Clubs mit Männern aus den größten und wichtigsten Handels- und Industrieunternehmungen mit einem reichlichen Einschlag von Künstlern und Akademikern, natürlicherweise verschieden je nach den örtlichen Verhältnissen, wobei die Absicht war, mit einem Querschnitt durch das höhere Geistes- und Erwerbsleben der Stadt zu beginnen, um später den Ausbau mit den niedrigeren Erwerbszweigen fortzusetzen.8

Sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu Rotary zu bekennen, bedeutete, sich für eine Friedensvision Europas zu entscheiden, bedeutete, bereit zu sein, den Weg internationaler Verständigung einzuschlagen, auf die freiheitliche Welt des Westens zu setzen. Mit der Gründung von Clubs waren Kontaktaufnahmen mit Rotary Clubs anderer europäischer Länder verbunden. Und es bedeutete, sich von der extremen Rechten wie der extremen Linken zu distanzieren, so auch, sich gegen den Bolschewismus zu wenden, der großen Gefahr für die westliche freiheitliche Zivilisation, für die freie Wirtschaft, das liberale Bürgertum. Gegenüber der Rechten wurde dagegen unterschiedlich Position bezogen. In Stuttgart war man über das Anwachsen der Rechten besorgter, als über das Anwachsen der radikalen Linken, deren Chancen, die Macht zu erringen, als weniger bedrohlich eingeschätzt wurden. Sozialistische Gedanken wurden im Club diskutiert. Die einen, die Konservativen und kommunitaristisch Orientierten, sahen die traditionellen Ordnungen durch zunehmende Bindungslosigkeit bedroht. Sie fürchteten eine gesellschaftliche Schwächung durch die Individualisierung der Lebensentwürfe und meinten, der Sozialismus sei noch nicht am Ende, man müsse Freiheit und Bindung ausbalancieren, schrankenlosem Individualismus Grenzen setzen, auch an Gemeinschaftsarbeit denken sowie planwirtschaftliche Komponenten in Erwägung ziehen. Die anderen, die Liberalen, setzten auf freien Kapitalverkehr, die europäische Wirtschaftsunion und die Paneuropa-Idee des Grafen von Coudenhove-Kalergi. Lebhafte kontroverse Debatten wurden geführt, wie z. B. den Wochenberichten des Stuttgarter Clubs jener Jahre zu entnehmen ist.9

Nicht nur über gesellschaftliche, auch über politische Fragen wurde in den Stuttgarter Rotary-Meetings gesprochen. So über Kosmopolitisierung des Kapitals, Wirtschaftsdemokratie, die Interparlamentarische Union in Genf, die Politik der englischen Arbeiterpartei, den Völkerbund und Europa, den ersten internationalen Kongress der Union Douanière Européenne und die Pariser Abrüstungskonferenz 1931. Öffentliche Stellungnahmen wurden nicht abgegeben. Dies erlaubte das rotarische Reglement nicht. In parteipolitischen Fragen und Fragen der politischen Ordnung hielten sich die deutschen Rotarier zurück.

Rotary empfahl sich als eine Bewegung, die auf ethische Verantwortlichkeit und individuelle Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement setzt. Diese Zielsetzung gab Rotary International vor. Rotary hatte in den Jahren von 1927 bis 1932, als Paul Harris die Clubs in Hannover und Berlin besuchte, in diesem Sinn überzeugende Gestalt angenommen, was Paul Harris in Berlin würdigte. Eine ähnlich positive Einschätzung brachte Thomas Mann auf der Feier, die ihm sein Club, der RC München, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises ausrichtete, in seiner Dankrede zum Ausdruck, zwar in der Form einer rhetorischen Anfrage, sich doch wohl aber der Zustimmung aller Münchner Rotarier sicher (Der Rotarier, H 1 (1929/30), S. 141 f.):

Ist es nicht eben dieser Ideenkomplex bürgerlicher Humanität, in dessen Zeichen er [der Rotary Club] sich konstituiert hat und der ihn beseelt, diese Ideeneinheit von Freiheit, Bildung, Menschlichkeit, Duldsamkeit, Hilfsbereitschaft und Sympathie, die das Wesen der Humanität, der höheren Bürgerlichkeit ausmacht? In diesem Lichte sehe ich unsere Gemeinschaft...

Paul Harris beließ es bei seinem Besuch in Deutschland nicht bei jener Symbolhandlung auf dem Tempelhofer Feld, bei dem Besuch der Charterfeier in Hannover und dem Berliner Frühstücks-Meeting. Er ließ sich tags zuvor in Dahlem im Hause des Bildhauers Rotarier Ernst Gorsemann dessen Goethe-Plakette überreichen, unternahm Stadtbesichtigungen und fuhr mit rotarischen Freunden in den Harz. Er hatte Interesse daran, Deutschland und die Deutschen gut kennenzulernen. Sein Besuch trug aber auch Züge einer Visitation. Es ging ihm darum, sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, wie die rotarischen Treffen in Deutschland abliefen und welche sozialen Dienste die deutschen Rotarier leisteten. So besuchte er in Hannover das Kinderheim der Stadt und das Annastift, ein „Krüppelheim“, wie man es damals bezeichnete. In Berlin interessierte ihn besonders das von den Berliner Rotariern geförderte Oskar-Helene-Heim. Rotary in den USA hatte beim Aufbau der American Society for Crippled Children große Hilfe geleistet und Paul Harris war Vizepräsident dieser Organisation. Er besuchte die ebenfalls rotarisch geförderte Kindererholungsstätte Eichkamp. Paul Harris war beeindruckt und äußerte sich anerkennend wie über das Clubleben und die Rekrutierung der Mitgliederschaft, so auch über das soziale Engagement der deutschen Rotarier.

In Berlin wurde Paul Harris auf einen erheblichen Unterschied zwischen Rotary in Deutschland und der Rotary-Bewegung in den USA aufmerksam. Auf eine Besonderheit des deutschen Rotary hatte ihn Governor Ernst Prinzhorn vermutlich bereits beim dem Treffen mit den Clubvertretern vorausgegangenen Frühstücks-Meeting hingewiesen. Prinzhorn äußerte zunächst die Hoffnung, Paul Harris habe die deutschen Clubs auf einem guten Niveau angetroffen, merkte aber anschließend an, die deutschen Clubs gingen einen anderen Weg als die amerikanischen, verfolgten jedoch die gleiche Zielsetzung. Über den „anderen Weg“ dürfte er, so ist zu schließen, mit Paul Harris schon beim Frühstück sich eingehend ausgetauscht haben. Worin bestand die Besonderheit des Weges, den die deutschen und österreichischen Clubs eingeschlagen hatten?

Ein erster Unterschied ergab sich bereits durch die Zielstellung Thomsens, des Gründungsbeauftragten für Deutschland. Er hatte vorgegeben, Rotary in Deutschland auf einem hohen gesellschaftlichen Niveau einzuführen. So gehörten, anders als in den Vereinigten Staaten, wo sich Rotary aus allen beruflichen Schichten rekrutierte, die deutschen Rotarier durchweg den führenden Kreisen aus Wirtschaft, Handel, Kunst, Wissenschaft, Bildung und öffentlicher Verwaltung an. In der Regel waren die Oberbürgermeister der Städte vertreten. Rotary war in Deutschland weitgehend zu einer Vereinigung von Vertretern gesellschaftlicher Eliten geworden, ohne dass dies programmatisch so festgelegt worden wäre. Man wollte wissen, mit wem man es zu tun hat, auf wen man sich freundschaftlich einließ. Und internationale Beziehungen zu pflegen und auf Völkerverständigung zu setzen, war kein Anliegen der breiten Masse in Deutschland in politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Die „rotarische Elite“ rekrutierte sich aus international weitsichtigen, auf die Gestaltung der europäischen Zukunft ausgerichteten Vertretern der Gesellschaft.

Das deutsche Rotary unterschied sich vom amerikanischen nicht nur hinsichtlich des gesellschaftlichen Niveaus. Es setzte in seinen Aktivitäten andere Akzente, bildete andere Schwerpunkte. So hatten die deutschen Rotary-Meetings einen anderen Zuschnitt als die amerikanischen, was sich aus ihrer anspruchsvollen Mitgliederschaft ergab. Kennzeichnend für sie waren niveauvolle Vorträge über brennende gesellschaftliche Fragen und regelmäßige Mitteilungen über die Vortragstätigkeit und Aktivitäten in anderen in- und ausländischen Clubs. Das entsprach Führungskräften, nicht in der freien Rede und im kritischen Gedankenaustausch Ungeübten. Handwerker fanden selten Zugang. Und vor allem – dies unterstrich Governor Prinzhorn gegenüber Paul Harris – waren die deutschen Clubs besonders stark an der Pflege der internationalen Beziehungen interessiert. Sich sozial zu engagieren, sah man als eine Selbstverständlichkeit der Lebensführung im Alltag an.

Der Unterschied der Ausrichtung der deutschen Rotary Clubs gegenüber den amerikanischen tritt deutlich hervor, betrachtet man die Anfänge Rotarys in den USA, wie es sich dort organisierte, in seinen Zielsetzungen profilierte und welchen Aktivitäten es vorrangig nachging. Rücken wir die Anfänge Rotarys in den USA daher zunächst in den Blick, bevor wir das Interesse der deutschen Rotarier an internationalen Kontakten näher erläutern.10

2. ROTARY IN DEN USA – BETONUNG VON FELLOWSHIP UND SERVICE

2.1 Gründung

Als Rotary 1905 auf Initiative von Paul Harris in Chicago gegründet wurde, war Chicago eine junge, aufstrebende Megapolis, Prototyp der Neuen Welt in Licht und Schatten. In knapp 60 Jahren war die Einwohnerzahl von 20 000 auf 1,7 Millionen angewachsen. Eine innovative Industrie war der Motor der äußerst dynamischen Entwicklung und die treibende Kraft des gesellschaftlichen Wandels. Spekulative Investitionen, ungezügelter Kapitalismus und Ellenbogenstrategie beherrschten Industrie und Handel. Die Schere zwischen Arm und Reich ging weiter und weiter auseinander, die sozialen Spannungen wuchsen und erzeugten ein unwirtliches, unfreundliches, liebloses Klima. Leitfigur wurde der Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Einwanderer aus allen europäischen und vielen außereuropäischen Ländern bevölkerten die Stadt. Aus den Südstaaten wanderten kontinuierlich Farbige zu. Mit der ethnischen Vielfalt waren kulturelle und religiöse Vielfalt, Ab- und Ausgrenzungen, Misstrauen und Fremdenfeindlichkeit verbunden. Die Kriminalität war beängstigend, Prostitution weitverbreitet. Die gesellschaftliche Integration der Menschen unterschiedlicher Herkunft und religiöser Bindungen war von zentraler Bedeutung.

Es fehlte an einer einheitlichen, Gemeinschaft stiftenden Grundwerteorientierung. Mit den Worten von Paul Harris:

Generell gesprochen war das Geschäftsleben in einem schlechten Zustand. Geschäftspraktiken waren nicht in Übereinstimmung mit hohen ethischen Prinzipien, mit Respekt für Konsumenten, Angestellte und Wettbewerber, Gemeinschaftsgeist war fast überall äußerst niedrig. Es war eine Zeit für einen Wandel zum Besseren. Sie musste kommen.11

Hätte man Ausgleich und Befriedung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine Revolution der Gesellschaftsordnung herbeiführen können? Es wurde für kommunistische, für sozialistische Ideen geworben. Doch eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen war nicht der Weg, von dem sich Paul Harris eine Verbesserung der Situation versprochen hätte. Die Welt muss im Menschen heil werden oder sie wird sich nicht entscheidend ändern, auf diese Formel christlicher Provenienz lässt sich bringen, wovon sich Paul Harris Wandel erhoffte. Paul Harris hoffte auf einen Wandel durch Gesinnungsänderung. Die Gewissen müssen gerührt werden, dem rücksichtslosen Streben nach Gewinn, Macht und Einfluss muss der Kampf angesagt, einfühlende Menschlichkeit zum Zuge gebracht, durch gemeinsame soziale Aktivitäten Not gelindert werden. Was in die Tat umgesetzt wird, spricht eine überzeugendere Sprache als bloße Appelle. Gewissensreflexion und Gedankenaustausch miteinander mit sozialer Aktivität zu verbinden, das war der Weg, den Paul Harris einzuschlagen anriet. Wie dies praktisch zu bewerkstelligen sei, darauf sann Paul Harris, der es an sich selbst erfahren hatte, was es heißt in einer Weltstadt zu vereinsamen. Er stammte aus dem ländlichen Vermont, einer Welt, in der freundliche Nachbarschaftsbeziehungen und Gemeinsinn galten. Als junger Rechtsanwalt ließ er sich in Chicago nieder und erlebte er die Anonymität der Massen, denen Rücksichtnahme fremd war, die keinen Kompass zu besitzen schienen, der ihnen den Weg gesellschaftlicher Verständigung, unabhängig von individuellen politischen und religiösen Sichtweisen, wies.

Um der Vereinsamung in der Masse zu begegnen, die er auch bei Menschen in seiner Umgebung wahrnahm, lud Paul Harris am 28. November 1905 den Kohlenhändler Sylvester Schiele, den Bergbauingenieur Gustavus Loehr und den Herrenschneider Hiram Shorey zu einem Treffen. Es waren Männer guten Rufes, die sich in ihren Berufen als tüchtig erwiesen hatten. Schiele und Loehr waren deutscher Abstammung. Und er hatte eben diese ausgewählt, weil sie unterschiedlichen religiösen Bekenntnisses waren. Paul Harris selbst war Kongregationalist, unter den geladenen Freunden war einer Katholik, einer Lutheraner und einer jüdischen Glaubens. Bürger unterschiedlicher Bildung, unterschiedlichen Berufes, unterschiedlicher Religion miteinander ins Gespräch zu bringen, sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen, miteinander das „Brot zu brechen“, das war die einfache Zukunftsidee des Paul Harris, aus der Rotary hervorging. Gesinnungswandel durch Annäherung einzuleiten, war seine Absicht. Aus einem schlichten gemeinsamen Essen entwickelte sich die rotarische Vision. Sollte freundliches Miteinander bei Tisch nicht bestens dazu anregen können, sich darauf zu besinnen, wie man Menschlichkeit in die Anonymität der Großstadt hineintragen könnte, in jene Welt, in der jeder sich dem anderen gegenüber misstrauisch verhielt, man sich ethnisch, kulturell, religiös einander fremd empfand, gar feindlich wahrnahm? Könnten freundschaftliche Tischgespräche nicht bestens dazu anregen, sich darauf zu besinnen, wie man den Kampfplatz rivalisierender, konkurrierender beruflicher Aktivitäten durch wechselseitige Aufgeschlossenheit und Dienstbereitschaft menschenfreundlich gestalten und in eine Solidargemeinschaft verwandeln könnte? Die Runde war entschlossen, dies zu erproben. Vertrauen stärken! Wohlwollen zum Zuge bringen! Verständnis füreinander entwickeln! Die Kraft der Freundschaft für das Gute in der Welt einsetzen! – das war das Motto, das Paul Harris für das erste rotarische Jahr ausgab.12

Auf moralische Erneuerung, auf Gesinnungswandel war also der Sinn der vier Freunde gerichtet. Gesinnungswandel wollte man jedoch nicht mittels moralischer Belehrung von oben herab oder aufgrund einer neuen Gesellschaftslehre herbeizuführen versuchen. Vielmehr versprachen sich die Freunde von einer vertraulichen Art der Kommunikation die Beförderung der Bereitschaft, Beziehungswandel durch tätiges Miteinander zu erreichen. Sie nahmen sich vor, hilfreich einander zur Seite zu stehen und miteinander gesellschaftlichen Diensten nachzugehen. Erneuerung sollte durch die Begründung einer neuen Praxis des Miteinanders entstehen. Man sollte sich in den Kreis rotarischer Gemeinschaft einbringen können, gleich welcher Religion, politischen Einstellung und ethnischen Herkunft man sei. Es galt, gesellschaftliche Kernzellen der Freundschaft zu schaffen, die sich zu freundlichem, dienstbereitem Umgang verpflichten, zu partnerschaftlichem Miteinander. Entsprechend charakterisierte Paul Harris seinen Freundeskreis:

Sie waren freundlich und wesensverwandt miteinander, und jeder von ihnen vertrat einen anderen anerkannten und ehrenwerten Beruf. Sie waren ohne Rücksicht auf Unterschiede der Religion, Rasse oder der politischen Einstellung gewählt worden. Männer amerikanischer, deutscher, schwedischer und irischer Abstammung gehörten dem Kreise an, Protestanten, Katholiken und Juden. Sie alle gingen aus dem amerikanischen Schmelztiegel hervor und waren daher die gegebenen Väter des internationalen Ordens, den sie ins Leben rufen sollten.13

Das erste Treffen fand im Büro Gustavus Loehrs statt. Man beschloss, sich fortan von Zeit zu Zeit reihum zu treffen, d. h. zu rotieren. So entstand der Name Rotarier.

Der Kreis erweiterte sich rasch um einen Schlosser, einen Bankier, einen Pfarrer, einen Wäschereibesitzer und andere. Vier Jahre später zählte der Club bereits 200 Mitglieder. 1908 wurde in San Francisco der zweite Rotary Club gegründet, 1909 in Oakland der dritte. Der Rotary Club Oakland führte als erster wöchentliche Lunch-Meetings ein. Bis 1910 hatten sich in den USA bereits sechzehn Clubs gebildet, die ihren Zusammenschluss in der National Association of Rotary Clubs fanden.

Festzuhalten ist: Der Anfangserfolg der Bewegung gründete also nicht in einer ausgefeilten Programmatik, sondern in dem pragmatischen Vorsatz, ein Netzwerk zu knüpfen zwischen angesehenen, tüchtigen Vertretern der verschiedensten Berufe, die bereit sind, einander kameradschaftlich zu begegnen, sich fair zu verhalten, gesellschaftliche Verantwortung zu tragen und soziale Dienste zu leisten. Man konnte sich etwas davon versprechen, in dieses Netzwerk eingebunden zu werden. Daraus bezog Rotary seine Attraktivität.

Mit der Ausbreitung der Bewegung erschien es allerdings bald erforderlich, die rotarischen Ziele auch in Regelsätzen festzulegen und Clubsatzungen zugrunde zu legen. Bevor darauf eingegangen wird, soll der Herkunft der rotarischen Vision noch etwas genauer nachgespürt werden.

2.2 Herkunft der Idee

Paul Harris wuchs, weil seine Eltern sich aus ökonomischen Gründen trennen mussten, vorwiegend bei seinen Großeltern in Wallingford, Vermont, auf. Sie erzogen ihn im Geist und nach der Praxis des Kongregationalismus. Für den Kongregationalismus sind die Autonomie der Einzelgemeinde und die Bewährung des Glaubens in der Tat charakteristisch. Die Wurzeln des Kongregationalismus gehen auf die Pilgerväter (Mayflower 1620) und auf den englischen Puritanismus zurück.14 Wie es dieser Denomination eigen ist, wurden ihm Hingabe an hohe Ideale, Toleranz gegenüber allen Formen religiösen und politischen Glaubens, Nachbarschaftlichkeit, Freundlichkeit und guten Willen gegenüber allen gelehrt. So schreibt er in seiner Autobiografie „My Road to Rotary“, dessen erste deutsche Ausgabe Karl Wolfskehl, der jüdische Gelehrte, Münchner Rotarier und Herausgeber der deutschen Zeitschrift Der Rotarier, mit den Worten empfahl:

Mit diesem Büchlein hat der herrliche Mann, dessen feste und edle Gesichtszüge in den beigegebenen Bildnissen sich durchs ganze Leben hin in ihrer Entwicklung verfolgen lassen, nicht nur sich selber ein Denkmal gesetzt. Er hat ein echt rotarisches Hausbuch für die ganze rotarische Welt geschaffen, ein Hausbuch, an dem sich jeder wahre Rotarier erbauen kann und aufrichten. Ein Hausbuch, das mit seiner unverstiegenen, wirklichkeitsnahen und doch so tief idealen Gesinnung verständlich ist für jeden von uns, brauchbar für jeden von uns, ein rechter Handweiser zu Menschlichkeit, guter und ersprießlicher Tat.15

Sein Vorsatz, tatkräftige Menschen guten Willens um einen Tisch zu versammeln, welcher politischen Bindung, ethnischer Herkunft, religiösen Bekenntnisses sie auch seien, hat im Kongregationalismus seinen Ursprung. Eine quasireligiöse Motivation war leitend, nicht aufklärender Humanismus europäischer Tradition. Dies spiegelt sich in der Praxis vieler amerikanischen Clubs noch heute, bei deren Treffen Gebete gesprochen und erbauliche Lieder gesungen werden, aber auch die Nationalhymne intoniert und die Nationalfahne im Raum präsentiert wird.

Paul Harris sieht von Anfang an den Zweck von Rotary nicht darin, aus seinen Mitgliedern „social, religious or racial composites“ zu machen, wohl aber darin, Menschen aus verschiedenen Berufen, unterschiedlichem sozialen Status, unterschiedlicher religiöser Überzeugung und Nationalität zusammenzubringen, „in order that they may be more intelligible to each other and therefore more sympathetic and friendly und helpful“ ... Dass „the Lord’s blessings“ auf allen ruhen, dass die Kirchen (ob Kongregationalisten, Baptisten oder Katholiken) unterschiedliche Wege zu dem einen „Kingdom“, dem einen „Reich Gottes“ sein können, beschreibt Harris in einer der wenigen Passagen, die überhaupt Einblick in seine geistigen Hintergründe geben, so treffend Karl-Josef Kuschel.16 Zu blass und verschwommen dagegen Manfred Wedemeyers Herleitung Rotarys, im Kern gehe er auf den Humanismus zurück, auf dieMenschlichkeit, auf die Menschenfreundlichkeit.17

2.3 Ziele

Im Jahre 1910 fand der 1. Rotary-Kongress in Chicago statt. Auf diesem Kongress besann man sich auf ein verbindliches Motto. Der Rotarier Arthur Frederick Sheldon formulierte es:

He profits most, who serves his fellows best! – Wer seinen Kameraden dient, gewinnt auch für sich selbst.18

Es handelt sich um eine Variante des lateinischen Do ut des. Schon im Jahre 1911 wurde diese Zielvorgabe verkürzt auf die Wendung He profits most, who serves best – Derjenige gewinnt am meisten, der am besten dient.19 Dass dieser Wahlspruch so ausgelegt werde, als sei der eigene Vorteil oberstes Ziel der Rotarier, bedauerte Paul Harris lebhaft in einem Gespräch mit dem Berliner Rotarier Otto Arendt, der ihn im Herbst 1931 in Chicago besuchte. Er sei mit diesem Motto nicht recht einverstanden und lege Wert auf die Feststellung, dass er es nicht eingeführt habe. Bemühungen seien im Gang, dieses Motto abzuändern.20 Den eigenen Vorteil hat jedoch das Motto gar nicht im Sinn. Solche Interpretation ist polemische Deutung. Kuschel zieht mit gutem Grund das ursprüngliche dem später eingeführten Motto vor.21 Das spätere lautet Service above self –Dienst hat Vorrang vor dem eigenen Selbst. Oder Dienen geht über den eigenenVorteil.22

Kuschel meint, das Motto Derjenige gewinnt am meisten, der am besten dient, sei von einem der Gegenseitigkeit verpflichteten lebenspraktischen Realismus bestimmt im Sinne des deutschen Sprichwortes Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Das spätere Motto klinge dagegen nach idealistischer Selbstüberforderung. Statt realistischer Gegenseitigkeit fordere es idealistische Selbstlosigkeit heraus! Dem ist zuzustimmen. Die Wendung Service above self tendiert zu ideologischer Überhöhung guten Wollens und Tuns. Es ist in seinem hohen Abstraktionsgrad mehrdeutig interpretierbar und lässt sich auch, wie wir sehen werden, im Sinne z. B. der Maxime „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ des Dritten Reichesauslegen. Darin lag, so sollte sich zeigen, eine Verlockung zu beschönigender Interpretation des nationalsozialistischen Leitsatzes und entsprechender Annäherung und Angleichung an die Ideologie des Regimes.

Nun handelt es sich bei diesen Mottos, welcher Fassung auch immer, um Zielvorgaben, die jedenfalls der näheren Erläuterung bedürfen, sollen sie einer Gemeinschaft als Wegweiser zu konkreten Handlungsanleitungen dienen können. Man hat daher schon bald erläuternde Zielvorgaben formuliert, zunächst fünf, dann diese um eine erweitert, später wurden die sechs wieder auf vier reduziert. Unterschiedliche Fassungen sind zum Teil auf unterschiedliche Übersetzungen in verschiedene Sprachen zurückzuführen. Damit gehen Sinnverschiebungen einher. Der Terminus friendship beispielsweise taucht in der englischen Fassung nicht auf, dort wird von fellowship gesprochen, eine nicht unerhebliche Sinnverschiebung.23

Die Zielvorgaben lauten in der Fassung, die der Satzungsberatung des RC Stuttgart 1929 zugrunde gelegt wurde24:

1. Der Rotarier bekennt sich zum Ideal der Dienstleistung als Grundlage jeder wertvollen Tätigkeit.

2. Zur Anerkennung hoher ethischer Grundsätze im Privat- und Berufsleben.

3. Der Grundsatz der Dienstleistung gilt für jeden Rotarier im privaten, im geschäftlichen und im öffentlichen Leben.

4. Die Erweiterung des Bekanntenkreises gibt Gelegenheit zu Dienstleistung.

5. Jede nützliche Arbeit soll in ihrem Wert anerkannt und der Beruf von jedem Rotarier als Dienst an der Allgemeinheit aufgefasst werden.

6. Der Rotarier pflegt die Förderung des Verständnisses und Wohlwollens gegen Mitmenschen, sowie des Weltfriedens durch eine weltumfassende Gemeinschaft von Geschäfts- und Berufsleuten, die sich im Ideal der Dienstleistung begegnen.

In der späteren, auf vier Punkte verkürzten Fassung25:

Das Ziel von Rotary ist Dienstbereitschaft im täglichen Leben. Rotary versucht diesem Ziel auf folgendem Weg näher zu kommen

1. durch Pflege der Freundschaft als einer Gelegenheit, sich anderen nützlich zu erweisen;

2. durch Anerkennung hoher ethischer Grundsätze im Privat und Berufsleben sowie des Wertes jeder für die Allgemeinheit nützlichen Tätigkeit;

3. durch die Förderung verantwortungsbewusster privater, geschäftlicher und öffentlicher Betätigung aller Rotarier und

4. durch Pflege des guten Willens zur Verständigung und zum Frieden unter den Völkern durch eine Weltgemeinschaft berufstätiger Personen, geeint im Ideal des Dienens.

2.4 Die Vier-Fragen-Probe

Als Kriterium rotarischer Gesinnung nahm Rotary International 1932 zusätzlich den Four-Way Test auf, in Deutschland Vier-Fragen-Probe genannt. Den Four-Way-Test hatte im selben Jahr der amerikanische Unternehmer Herbert J. Taylor ersonnen. Dieser sprach davon, er sei ihm ‚eingegeben’ worden.26 An dieser Formulierung ist die religiöse Verankerung der moralischen Intention Rotarys, deren Herkunft im Kongregationalismus und seiner auf Bewährung in Handlungen ausgerichteten Frömmigkeit ablesbar. Die Vier-Fragen-Probe setzt sich zusammen auf folgenden Fragen:

Ist es wahr?

Ist es fair für alle Beteiligten?

Wird es Freundschaft und guten Willen fördern?

Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen?

Robert Taylor war 1932 beauftragt worden, eine insolvente Firma in Chicago zu sanieren. Durch bessere Qualifikation der Mitarbeiter sollte versucht werden, der finanziell überlegenen Konkurrenz standhalten zu können. Taylor berichtet:

Eines Tages im Juli 1932 beschloss ich, diese Sache im Gebet zu bedenken. An jedem Morgen stützte ich mich auf meinem Schreibtisch und betete zu Gott, uns eine einfache Anleitung zu geben, die uns helfen könne, das, was recht ist, zu denken, zu sagen und zu tun. Sogleich nahm ich eine weiße Karte und schrieb die 4-Fragen-Probe darauf.

Zunächst versuchte Taylor, die vier Fragen in seinen geschäftlichen Aktivitäten selbst zu beherzigen. Er tat sich schwer. Schon an der ersten Frage drohte er zu scheitern. Er besprach sich mit leitenden Mitarbeitern, einem Katholiken, einem Calvinisten, einem orthodoxen Juden und einem Angehörigen der Christlichen Wissenschaft. Man erarbeitete Möglichkeiten der Umsetzung im Geschäftsleben, nämlich keine Übertreibungen in der Werbung vorzunehmen und Fairness im Umgang mit Mitarbeitern und Geschäftspartnern zu praktizieren. Es gelang die Firma, auf Erfolgskurs zu bringen.

Heute wird in der Regel jedem Rotarier bei seiner Aufnahme die Vier-Fragen-Probe bekannt gemacht. In der Zeit bis zur Auflösung Rotarys 1937 bezog man sich auf sie in den deutschen Clubs noch nicht. Sie war in Deutschland noch gar nicht bekannt.

3. ROTARY IN DEUTSCHLAND – BETONUNG VON FREUNDSCHAFT UND VÖLKERVERSTÄNDIGUNG

Wie in den USA, so war mit der Aufnahme in einen Rotary Club auch in Deutschland die Verpflichtung verbunden, sich in Lebensführung und Clubengagement an den sechs rotarischen Zielen und dem Leitsatz He profits most who serves best auszurichten. 1934 wurden diese Ziele ohne Abänderung der Zielvorgaben in eine vereinfachte Form gebracht und im Wesentlichen die gleichen Vorgaben in nur vier Punkten zum Ausdruck gebracht. Über diese Reduzierung berieten bereits Vertreter des deutsch-österreichischen Distrikts mit.

Von den Rotariern des deutsch-österreichischen Distrikts wurde die Bedeutung des ersten und vierten Zieles dieser neuen Fassung, die Bedeutung von Freundschaftspflege und Völkerverständigung hervorgehoben. Darin gründet die Eigenart von Rotary in Deutschland und Österreich. Während in den USA sich Rotary hauptsächlich als Serviceclub berufstätiger Männer verstand, war es den deutschen Rotariern vorrangig um Freundschaftspflege und Völkerverständigung zu tun. Während die amerikanischen Rotarier kameradschaftliches Verhalten erwarteten, legten die deutschen auf die Bereitschaft wert, ihre Beziehungen freundschaftlich zu gestalten. Ihr besonderes Anliegen war es, die Mauern zwischen den beruflichen Eigenwelten niederzulegen und sich vertrauensvoll zu begegnen. Ein wenig wirkten die Traditionen des deutschen Verbindungslebens ein. Und während die amerikanischen Rotarier die Verpflichtung zu sozialem Engagements im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld in den Mittelpunkt des rotarischen Lebens stellten, hatte man hierzulande vorrangig die von nationaler Abschottung und Gegnerschaft gekennzeichnete europäische Situation im Blick, hob man die Vordringlichkeit der internationalen Verständigungs- und Friedensbemühungen als rotarische Verpflichtung hervor und pflegte Kontakte zu ausländischen Clubs.

Was aber das zweite und dritte Ziel anlangt, die Verpflichtung zu einem hohen Ethos sowie zum verantwortlichen Handeln im beruflichen Leben, so vertrat man in Deutschland die Auffassung, diese Ziele verstünden sich eigentlich von selbst. Rotary fordere damit nichts anderes als das, wozu das Christentum schon vor 2000 Jahren verpflichtet hatte und was die goldene Regel „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“ zum Ausdruck bringt.In WortenJesu nach Überlieferung des Matthäus-Evangeliums (7, 12): „Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch: Das ist das Gesetz und die Propheten.“Diese beiden rotarischen Zielvorgaben beinhalteten im Grunde nichts anderes, nichts Neues, nichts, was Sittlichkeit nicht von jedermann verlangt. Eben aus diesem Grunde, weil diese moralischen Grundsätze in der deutschen Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wurden, zögerten die Gründungsmitglieder des RC Stuttgart lange, sich überhaupt auf Rotary einzulassen. Rotary hatte in Deutschland mit einer anderen ethischen Tradition zu tun, nämlich mit der des deutschen Luthertums und des deutschen Idealismus, der in jenem gründet. In Deutschland konnte man dank langer religiöser und humanistischer Erziehungstradition von einem größeren Einverständnis über moralische Verpflichtungen ausgehen. Die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration von Bürgern unterschiedlicher Herkunft, religiöser Ausrichtungen und kultureller Lebensformen war noch nicht bedrängend. Ethnische und religiöse Spannungen spielten eine geringere Rolle. Und auf der Ebene der Sozialpflege existierten volkskirchliche Organisationen und profane Institutionen, die sich sozialer Not annahmen. Es bestand ein Netz staatlicher sozialer Absicherung (Renten-, Kranken- und Invaliden- sowie Unfallversicherung), das in den USA nicht gegeben war. Rotary reagiere in den USA auf Nöte, deren sich hierzulande bereits andere Institutionen annähmen. Aus sozialethischen Gründen sei Rotary hierzulande eigentlich nicht erforderlich. Es gäbe schon kirchliche und gewerkschaftliche Organisationen genug, die Sozialhilfe leisteten. Mit solchen Argumenten wehrte sich anfänglich beispielsweise Otto Fischer, der spätere Gründungspräsident des RC Stuttgart, gegen die Gründung eines Rotary Clubs, als Thomsen ihn fragte, ob er sich für Rotary gewinnen ließe.27

Einige Stellungnahmen deutscher Rotarier, die den Vorrang des ersten und vierten Zieles herausarbeiten, seien wörtlich zitiert. Sie bringen jenes Selbstverständnis des deutschen Rotariertums zum Ausdruck, das sich schwerlich mit der nationalsozialistischen Ideologie vereinbaren und die Ablehnung Rotarys durch die nationalsozialistische Herrschaft erwarten ließ. Umso enttäuschender war es, wie schnell und leicht es dem Nationalsozialismus gelang, die deutschen Rotarier in die Knie zu zwingen und zur Anpassungsbereitschaft zu bewegen. Das wird in den folgenden Kapiteln aufgezeigt werden.

Machen die Instabilität, die Widerstandsschwäche und der mangelnde Bekennermut Rotarys im Dritten Reich sichtbar, dass das in der Weimarer Republik aufblühende rotarische Leben im Grunde nur eine Scheinblüte hervorgebracht hatte, dass das Wurzel- und Stammwerk wenig Kraft in sich trug?

In einem nicht gezeichneten, redaktionellen Artikel der Zeitschrift Der Rotarier wird die Bedeutung des sechsten, des späteren vierten Zieles aus deutscher Sicht erläutert. Die Ausführungen dürfte der jüdische Gelehrte und Freund Thomas Manns, der Münchner Rotarier Karl Wolfskehl, verfasst haben. Wolfskehl war Schriftleiter der Zeitschrift:

Es war von jeher die Politik von Rotary International, alles, was in seiner Gewalt steht, zu tun, um die internationale Freundschaft zu fördern. Das 6. Rotaryziel verpflichtet jedes Mitglied zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses und Wohlwollens und zur Förderung des internationalen Friedens. ...

Die Besserung der internationalen Beziehungen wird in erster Linie erreicht werden durch die Erstreckung der grundlegenden Rotary-Prinzipien auf die Beziehungen der Völker und Nationen. Rotary leistet hier eine unermessliche Hilfe, indem es die Schranken niederbricht sowohl zwischen den Menschen als Individuen als auch zwischen den Gruppen von Menschen in verschiedenen Geschäfts- und Berufsarten. Die wirklichen Schranken zwischen Völkern und Rassen sind nicht Ozeane, nicht Gebirgsketten noch Steinwälle. Es sind Missverständnis, Vorurteil, Eifersucht. ...

Rotarys Zweck ist: in jedem seiner Mitglieder die Höchstform der Bürgertugend zu entwickeln. Ein Rotarier muss ein loyaler Bürger sein. Rotary hat keinen Platz für den Mann, der sein Vaterland nicht liebt. Aber Rotary kann nicht finden, dass irgend etwas in der Loyalität gegenüber seinem Vaterland liegt, das unvereinbar wäre mit der Entwicklung der Freundschaft mit den Menschen in anderen Ländern, Tatsächlich ist Rotary der Meinung, dass der Bürger Rotary am besten dient, derjenige ist, der die Wahrheit über seinen Nachbarn zu kennen wünscht und der den Hass zwischen den Völkern durch Freundschaft zu ersetzen trachtet.28

So sahen es viele, vermutlich die allermeisten der deutschen Rotarier. Mit Diskussionsbeiträgen eines Stuttgarter Clubtreffens sei dies zusätzlich belegt. In einer Aussprache am 2. April 1931 im RC Stuttgart wurde über die Frage diskutiert, worauf unter den sechs Zielvorgaben Rotarys das Schwergewicht zu legen sei. Das Protokoll hält zwei Meinungsäußerungen ausführlich fest. Rotarier Fritz Wertheimer, Generalsekretärs des Deutschen Ausland-Instituts, habe sich wie folgt geäußert, heißt es im Protokoll:

Uns Deutschen möchten die ersten drei Ziele von Rotary ebenso wie auch das fünfte eigentlich selbstverständlich erscheinen. Wir seien geneigt gerade in diesen vier Punkten Ausprägungen des amerikanischen Ursprungs von Rotary zu erkennen, während sich für uns das Moralische von selbst verstehen möchte. Wesentlicher berühren die deutschen Empfindungsmembranen die Ziele 4 (Erweiterung des Bekanntenkreises) und 6 (Völkerverständigung).

Das große an Rotary sei, dass es Mauern niederreiße zwischen erwachsenen Männern und Freundschaften im reiferen Alter entstehen lasse, wie wir sie sonst nur von der Schul- und Studentenzeit her in ihrer Festigkeit und Treue zu erkennen gewohnt waren. In der Freundschaft zwischen den Klubmitgliedern, im Ausweiten unseres Gesichtsfeldes, in dem Gewinn internationaler Beziehungen und Freundschaften für unser an sich continental beengtes, dann aber durch Krieg und Kriegsnachwirkungen noch dazu künstlich verengertes Blickfeld, seien für uns die wesentlichen Vorteile von Rotary zu erblicken. Wir wollen das Ethische nicht gering achten, wir wollen auch nicht etwa darüber spotten, aber das herzhaft Praktische ist es, was uns an Rotary am meisten anzieht.

Derselben Meinung sei auch Altpräsident Fischer, der betont, das Moralische sei es wert ausgesprochen zu werden, aber die Ziele 4 und 6 seien für unsere Arbeit ausschlaggebend.29

Nach Wertheimer meldete sich Rotarier Hermann Maier-Leibniz, Ordinarius für Bauingenieurwesen an der Technischen Hochschule Stuttgart, zu Wort, der Beobachtungen und Erfahrungen einbringen konnte, die er anlässlich von Gastvorlesungen in den USA gesammelt hatte. Er führte laut Protokoll aus:

Wirkliche Arbeit in Rotary leisten kann man nur, wenn man von dem Fellowship-Gedanken der Amerikaner durchdrungen ist. Kommt man aus Amerika zurück, so glaubt man, hier sei jeder mit einer Art von Privatmauer umgeben. Dieses abzubauen, das ist der Sinn der Rotary-Arbeit. Was tun alles die Rotary-Klubs von dem Besuch von Gefängnissen bis zur Unterstützung von Waisenkindern, von Krankenhausbauten bis Weihnachtsbescherungen, von der Arbeit für ausländische Studenten bis zu den Ferienlagern! Bei uns werden viele dieser Funktionen schon von anderen. wohl eingerichteten Organisationen betreut, da ist also für Rotary kein großes Feld. Umso mehr aber biete die Völkerverständigung, z.B. gerade bei uns die Betätigung in der Paneuropaunion, in der Deutsch-Französischen Gesellschaft, die tätige Mitwirkung von Rotariern bei der Schaffung der ausgezeichnet wirkenden Gastprofessuren an der Technischen Hochschule und anderes doch eine große Möglichkeit nützlicher und selbständiger wertvoller Eigenbetätigung.29

Wertheimer und Maier-Leibnitz stellten also nachdrücklich als Schwerpunkte deutschen rotarischen Engagements die Freundschaftsbildung und die Pflege internationaler Kontakte heraus, wobei Freundschaft, friendship, wie sie etwa in der Tradition der deutschen Studentenverbindung eine vertraulichere persönliche Beziehung meint, als fellowship im Sinne von Kameradschaft verstanden wurde, die die amerikanischen Clubs leitete und sich stärker auf gemeinsame soziale Aktivitäten fokussierte.

Dass dies nicht nur in Stuttgart so gesehen wurde, sondern die Pflege internationaler Beziehungen bei den deutschen Rotariern allgemein einen hohen Stellenwert einnahm, lässt sich auch daran ablesen, dass die Zeitschrift Der Rotarier im Halbjahresabschnitttabellarisch nicht nur Clubbesuche und Gegenbesuche der Rotarier des 73. Distriktes festhielt, sondern auch die Besuche ausländischer Rotarier in deutschen Clubs und die deutscher Rotarier in ausländischen Clubs. So nennt die Tabelle für das erste Halbjahr 1932:

a) Für den RC Stuttgart:

29 Besuche aus Großbritannien, fünf Besuche aus der Tschechoslowakei, je einen Besuch aus Nordamerika und Südamerika: insgesamt 36.

Jeweils sechs Besuche von Stuttgarter Rotariern in Frankreich und in der Schweiz, ein Besuch in Ungarn; insgesamt 13 Besuche im Ausland.

(Im zweiten Halbjahr 1931 waren es jeweils sieben Besuche gewesen.)

b) Für den RC München:

Sieben Besuche aus Frankreich, je ein Besuch aus Großbritannien, der Schweiz und Nordamerika, neun Besuche aus Italien, acht Besuche aus der Tschechoslowakei; insgesamt 27 Besuche.

Je ein Besuch eines Münchner Rotariers in Italien, der Tschechoslowakei, Ungarn, Nordamerika und Asien, drei Besuche in Rumänien und acht in der Schweiz; insgesamt 16 Besuche im Ausland.

(Im zweiten Halbjahr 1931 waren es 612 Besuche ausländischer Rotarier und sechs Besuche in ausländischen Clubs gewesen.)30

Besuche von Delegationen ausländischer Rotarier und Gegenbesuche deutscher Rotarier im Ausland waren gesellschaftliche Ereignisse hohen öffentlichen Ranges, über die in der Presse eingehend berichtet wurde. So wurde beispielsweise in Stuttgart im Juni 193131 französischen Rotariern aus 20 Clubs, die auf der Durchreise zur Wiener Convention nach Stuttgart kamen, ein herzlicher Empfangsabend bereitet, anschließend der gleichen Gruppe in München ebenfalls, wobei dort noch 70 amerikanische Rotarier hinzukamen. Im Juni 193232 besuchte eine Delegation englischer Rotarier Stuttgart. An der Abendveranstaltung nahmen sogar Staatspräsident Bolz und Oberbürgermeister Lautenschlager teil, die Rotary nicht angehörten. Ausführlich berichteten das Stuttgarter Neue Tagblatt und der Schwäbische Merkur.

Bilaterale Kommissionen wie das Petit comité pour la collaboration Franco-Allemande wurden begründet, um wechselseitige Besuche von Club zu Club, auch wechselseitige Vortragstätigkeit zu befördern. Sie hatten auch den Auftrag, rotarische Länderreisen in die Wege zu leiten, den Jugendaustausch zu vermitteln, sich um Schulbuchrevision zugunsten einer objektiven, das gegenseitige Verständnis fördernden Darstellung der Geschichte zu bemühen sowie mit der Presse der anderen Länder Fühlung aufzunehmen.33

Mit derartigen Aktivitäten und Bestrebungen sollte nicht einem Internationalismus Eingang verschafft werden, der das Nationale gering achtet oder gänzlich überwinden will. Schon auf der Verbandsversammlung von Rotary International im Jahre 1929 in Dallas wurde eine Entschließung gefasst, in der es heißt:

Überall ist seine [Rotarys] Haltung auf vollste Beachtung und Verfolgung der religiösen und politischen Einrichtungen der Nation gerichtet. Rotary erwartet von seinen Mitgliedern, dass sie bei aller Zusammenarbeit zu einem herzlichen internationalen Verstehen sich vollkommen loyal gegenüber ihrer Religion und den höheren Interessen ihres Vaterlandes verhalten.34

So erlaubte das sechste rotarische Ziel eine ziemliche Bandbreite unterschiedlicher Sichtweisen. Im Stuttgarter Club beispielsweise ist zu bemerken, dass von seinen Mitgliedern das sechste Ziel nicht nur liberal-demokratisch, paneuropäisch interpretiert wurde wie von Wertheimer und Maier-Leibniz, sondern auch deutsch-national mit Betonung des Interesses, im Ausland um Verständnis für Deutschland zu werben und Gerechtigkeit einzufordern. So führte beispielsweise Hermann Binder, Oberstudiendirektor am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, dem Gymnasium illustre des Landes, in einem Referat am 6. Oktober 1932 über die vier rotarischen Dienste (Clubdienst, Berufsdienst, Gemeindienst und Internationaler Dienst) aus:

... was leistet ihr Rotarier eigentlich besonderes? Ihr diniert allwöchentlich im 1. Hotel der Stadt, trefft euch in Bietigheim oder Maulbronn mit anderen solchen, reist nach Wien oder Seattle zu rauschenden Festen, ihr seid exclusiver als die Passagiere der Arche Noah, in der von jeder Klassifikation wenigstens ein Pärchen zugelassen war; ihr schickt einen Haufen Geld nach Chicago und haltet five- oder ten-minutes-speaches über Ceylon oder Krebsforschung, über das humanistische Gymnasium oder über das Chromoxydhydratgrün ...