Roter Herbst 77 - Stefan Schweizer - E-Book

Roter Herbst 77 E-Book

Stefan Schweizer

0,0

Beschreibung

Roter Herbst 77 – RAF 2.0“ ist die schonungslose Fortsetzung von „Roter Frühling 72 – RAF 1.0“. Die Anführer der Roten Armee Fraktion sitzen hinter Gittern. Die 2. Terroristen-Generation mordet brutaler als je zuvor. 1977 setzt die RAF alles auf eine Karte und greift Justiz, Finanzwelt und Wirtschaft an: Buback, Ponto und Schleyer. Ein palästinensisches Kommando entführt die Passagiermaschine „Landshut“. Doch der Staat bleibt hart: keine Freilassung der RAF-Gefangenen! Staatsschutzermittler Harald Grass versucht wieder verzweifelt, die RAF zur Strecke zu bringen. Seine Karriere verläuft steil nach oben. Auch privat läuft alles bestens. Er gründet eine Familie und erwirbt ein schickes Eigenheim. Die RAF-Offensive wirft ihn aber aus der Bahn. Drogen- und Alkoholmissbrauch machen ihn zur tickenden Zeitbombe. Außerdem trachtet ihm die RAF nach dem Leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 427

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STEFAN SCHWEIZER

Roter Herbst 77

– RAF 2.0

STEFAN SCHWEIZER

Roter Herbst 77

– RAF 2.0

40 Jahre Deutscher Herbst!

SWB MEDIA PUBLISHING | KRIMINALROMAN

Personen und Handlung sind teilweise fiktiv.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar.

Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Speicherung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2017

ISBN 978-3-946686-23-1

© 2017 swb media publishing, Gewerbestraße 2, 71332 Waiblingen

Lektorat: swb media publishing

Titelgestaltung: swb media publishing

Titelfoto: © dpa

Satz: swb media publishing

Druck, Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz

Für den Druck des Buches wurde chlor- und säurefreies Papier verwendet.

www.suedwestbuch.de

PROLOG

Die Rote Armee Fraktion (RAF) gab es nach der Verhaftung der ersten Generation nicht mehr. Für Andreas „Andi“ Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe wurde das modernste Hochsicherheitsgefängnis der Welt gebaut. Die Justizvollzugsanstalt Stammheim lag vor den Toren der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Ein loser RAF-Haufen befand sich noch in Freiheit.

Das waren Randfiguren der ersten Generation, Unterstützer und ambitionierte Sympathisanten. Sie wollten die RAF wiederbeleben und für eine gerechtere Welt kämpfen. Bei aller Ideenvielfalt herrschte Einigkeit, dass die Genossen aus dem Knast rausmussten.

Die Rest-RAF konnte auf Überbleibsel der ersten Generation zurückgreifen

Waffen / Pässe / Anleitungen zum Herstellen von Bomben.

Es gab

… Diskussionen …

… Diskussionen ...

… Diskussionen.

Der Kampf um die Hierarchie tobte. Die zweite Generation formierte sich. Im Sommer 1973 war es soweit. Einige Genossen wagten den Schritt in die Illegalität: Leo Polle, Else Stachel, Maggie Schaller, Christel Eck und Wolfram Bär tauchten ab. Um das Konzept Stadtguerilla in die Tat umzusetzen, mussten die Gefangenen aus dem Knast befreit werden.

Nur so konnten der

bewaffnete sozialrevolutionäre Kampf / die Bildung einer antiimperialistischen Front / der gewaltsame Umsturz der bundesdeutschen Verhältnisse

gelingen.

Wie aber sollte man die Gefangenen befreien? Durch die Entführung eines Funktionärs aus Wirtschaft oder Politik? Oder war das Kidnappen eines US-amerikanischen, hochrangigen Militärs Erfolg versprechender? Diskussionen, die sich immer wieder im Kreise drehten. In der Zwischenzeit machte sich die zweite Generation an die Geldbeschaffung. Ein mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnetes Kommando stürmte die Filiale der Dresdner Bank in Hamburg-Barmbek. Die Beute betrug 157.000 D-Mark. Das Geld floss in die Infrastruktur. In Frankfurt und Hamburg mietete die RAF fünf konspirative Wohnungen an. Sie stahl sieben Autos. Der Gruppe gelang es, weitere – Maschinenpistolen – Pistolen – Handgranaten – Munition auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Die RAF-Aktivitäten blieben den Staatsschützern nicht verborgen.

Die Hinweise häuften sich

der Banküberfall / die in Cash bezahlten Mieten / ein Waffenkauf über einen dem Verfassungsschutz nahestehenden Libanesen, der sich als Freund der Palästinenser ausgab.

Auch im Dunstkreis der PLFP, der palästinensischen Befreiungsfront, gab es Doppelagenten. Nur ein halbes Jahr konnte die neue RAF-Gruppe unbeobachtet agieren. Im Herbst 1973 erhielt das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz einen anonymen Hinweis auf eine verdächtige Wohnung. Umgehend erfolgte eine lückenlose Überwachung. So entstand eine Langzeitobservation, die über vier Monate dauerte. Verfassungsschützer stiegen in präparierte Mülltonnen. Sie schossen scharfe Fotos. Leo und Else im 70er-Look. Hosen mit Schlag, Lederstiefel mit affigen Absätzen, große Sonnenbrillen. Die RAF-Kämpfer wurden auf Schritt und Tritt überwacht, ohne es zu bemerken. Getarnte Observationsautos verfolgten die Revolutionäre. Die Verfassungsschützer waren euphorisch. Das sollte die neue RAF sein? Da stand nicht viel zu befürchten. Wer sich so dilettantisch benahm, der stellte keine Gefahr für die Sicherheit der BRD dar. Der Verfassungsschutz hatte herausgefunden, dass sich die RAF-Mitglieder in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1974 in der Wohnung in der Hamburger Bartholomäus-Straße aufhalten würden. Das Polizeisonderkommando wartete ab, bis sich die mitternächtliche Diskussionsrunde auflöste. Um 4.00 Uhr in der Nacht stürmten die Polizisten die Wohnung. Die Terroristen erkannten schnell, dass die Polizei in großer Übermacht aufmarschiert war und ihre Aktion gut vorbereitet hatte. Es war ratsam zu kapitulieren. Damit missachtete die Gruppe den Befehl von Andi, dass man sich einer drohenden Verhaftung in jedem Fall durch rücksichtslosen Schusswaffengebrauch entziehen sollte. Wie von den Polizisten gefordert, ergaben sich die RAFler und traten nackt, mit erhobenen Händen und gespreizten Beinen, ins Treppenhaus. Polizei und Verfassungsschutz staunten nicht schlecht. In der Wohnung wurden – Maschinenpistolen – Pistolen – Tretminen – jede Menge Munition – gefälschte Ausweise gefunden. Der Knaller war ein Schreiben von Andi aus der JVA Schwalmstadt:

„überhaupt wird es zeit, dass man erfährt, dass es euch gibt: es ist wichtig für die komitees und die prozesse. angreifen: so weit oben wie möglich – an der spitze. baw, 3. Strafsenat, die staatssekretäre/ministerialdirektoren die für den vollzug zuständig sind. es müssen rechte schweine sein.“

Andi forderte also die neue Generation der RAF vehement auf, ihn so schnell wie möglich aus dem Knast zu holen. Nach den Verhaftungen am 4. Februar 1974 war aber an eine Befreiung nicht zu denken. Die gefangenen RAF-Kader waren durch das Verhalten der Gruppe 4.2 schockiert. Für sie lag das Übel darin, dass die Gruppe zu lange gezögert und nicht gehandelt hatte. Die Gruppe hatte das Primat der Praxis missachtet – mit fatalen Folgen. Neun Monate später herrschte in Stammheim dennoch keine Resignation. Die Gefangenen waren guter Dinge. Im Hochsicherheitstrakt ging es den politischen Gefangenen gut. Sie besaßen große Gestaltungsspielräume. Die Prozesstermine rückten näher. Stühle und Tische lehnten sie ab. Sie bevorzugten Matratzenlager. Im Gefängnis änderte sich nicht viel im Vergleich zu den RAF-Unterkünften in Freiheit. Tagsüber standen die Zellentüren offen. Die vier Gefangenen konnten sich im siebten Stock frei bewegen. Die Schließer mussten laut Gerichtsbeschluss mindestens 15 Meter Abstand halten. Dabei wurden zwei eiserne Grundsätze des deutschen Rechts gebrochen: erstens, dass Untersuchungshäftlinge, die derselben Tat angeklagt wurden, nicht miteinander kommunizieren dürfen und zweitens, dass Männer und Frauen getrennt voneinander untergebracht werden müssen. 15 Justizbeamte, alle vom Verfassungsschutz überprüft, waren für die Bewachung der RAF-Gefangenen eingeteilt. 11 Schließer und 4 Schließerinnen. Ulrikes Zelle war das Redaktionsbüro.

Sie verfasste

… Texte für das Info-System …

… Prozesserklärungen …

… Schreiben an die Anwälte.

Die Zellen im 7. Stock waren zwischen neun und 20 Quadratmetern groß. In jeder Zelle gab es – Fernseher – Radio – Schreibmaschine – Bücher. An den Zellenwänden hingen Poster und Landkarten. Zusätzlich standen den RAF-Gefangenen Extrazellen zur Verfügung. Eine Sportzelle enthielt Fitnessgeräte. In der Fresszelle gab es Speisen. Die Prozesszelle enthielt 300 Aktenordner und in der Bücherzelle standen 300 Bücher. Ein Masseur kam dreimal in der Woche und massierte Andi, der über Rückenprobleme klagte. Medikamente gab es in rauen Mengen. Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel, aber auch Fitmacher. Die RAF-Kader machten von allem reichlich Gebrauch.

Downer – Downer – Upper – Downer – Downer – Upper – Downer – Downer – Upper usw.

Das war besser als in Freiheit. Ein Klingelzeichen und schon brachte der Schließer-Service die Tabletten. Die RAF-Führungsriege trug Sonnenbrillen, obwohl kein Sonnenstrahl durch die Betonmauern drang. Sie stellten Kerzen in den Zellen auf, da die Neonleuchten unangenehm waren. Die RAF besaß die besten Voraussetzungen, um sich auf den Prozess vorzubereiten. Sie wusste, draußen tat sich was. Eine neue Gruppe formierte sich, die sie befreien wollte. Andi besaß zuverlässige Informationen, dass sie eine spektakuläre Aktion vorbereitete. Andi war alles recht, solange sein Projekt des revolutionären Kampfs fortgeführt wurde. Insofern war er glücklich – auch im Knast. Der bewaffnete Kampf war nicht vorbei. Er hatte gerade erst begonnen. Ein neues Unwetter braute sich über der Bundesrepublik Deutschland zusammen.

Kapitel 1

Der Beginn des Jahres 1975 stellte für Harald „Harry“ Grass ein Wechselbad der Gefühle dar.

Einerseits

… Konsolidierung im Beruf …

… Erwartung privaten Glücks …

… bürgerliche Attitüden,

andererseits sah er sich von dunklen Schatten aus der Vergangenheit bedroht.

Beruflich verlief alles in ruhigen Bahnen. An der RAF-Front gab es keine Aktivitäten. Ansätze zur Bildung einer neuen RAF-Generation waren von den Fahndungsbehörden im Keim erstickt worden. Die Kollegen des Landesamts für Verfassungsschutz Hamburg hatten ganze Arbeit geleistet. Immer wieder gab es Hinweise auf die Gründung neuer RAF-Gruppen. Informanten spielten sich in den Vordergrund und hofften auf – Strafreduzierung – Immunität – Cash – Drogen. Das alles war Harry aus seiner Zeit als verdeckter Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg bekannt. Selten erhielt man auf diesem Wege wertvolle Hinweise und dennoch war man als Ermittler auf Spitzeldienste angewiesen. Harry schob Dienst nach Vorschrift und empfahl sich so als vorbildlicher Beamter. Nicht auffallen und keine ungewollten Aktivitäten entfalten. Nach wie vor bezog er zwei Gehälter. Einmal als Landesbeamter und dann als externer Terrorismus-Sicherheitsberater des Innenministeriums Baden-Württemberg. Täglich ging er in sein einsames Kellerbüro im LKA und sichtete Unterlagen. Er verfasste Berichte. Mehr gab es im Moment nicht zu tun. Vor einem Jahr hatte er Andi und Ulrike in der JVA Stammheim aufgesucht. Mit allen Mitteln versuchte er an Informationen zu kommen. Dabei war er über die Grenze des Legalen hinausgegangen. Andi hatte er Haschisch und Nächte mit Gudrun angeboten. Vergeblich. Andi war ein harter Hund und diesem Mann war alles zuzutrauen. Eine beinahe schon unheimliche psychische Energie und physische Präsenz ging von ihm aus. Harry besaß selbst Abgründe, wollte diese aber für immer hinter sich lassen.

Er wollte

… stetig …

… solide …

… bürgerlich … leben.

Alle Gefährdungen des eigenen Ich sollten ausgeschaltet werden.

Das bedeutete

keine Drogen- und Alkoholexzesse / monogamen Sex / Einrichtung in bürgerlichen Verhältnissen mit Merkmalen wie Kindern, Eigenheim und materiellem Wohlstand.

Der Schlüssel zur Verwirklichung der Ziele war seine Freundin Eleonore Schneider. Sie kannten sich seit über einem Jahr. Es hatte lange gedauert, bis sie intim geworden waren. Eleonore legte Wert auf die Einhaltung bürgerlicher Konventionen, und körperliche Zurückhaltung entsprach ihrem Naturell. Obwohl Harry viril und vital war, empfand er die monotonen, gleichförmig verlaufenden sexuellen Kontakte als Befreiung. Diese Form der Beziehung bildete für ihn die Voraussetzung für ein geordnetes, bürgerliches Leben. Schließlich fühlte er sich Eleonore emotional verbunden. Er fühlte ihre Zuneigung, mochte ihren wachen Geist und ihre häusliche Geschäftigkeit. Wichtig war ihm zudem ihre Loyalität. Zum Jahreswechsel 1974/75 hatte Harry einen Rückschlag erlitten. Eleonore war mit ihren Eltern in den Ski-Urlaub gefahren. Harry war die Decke auf den Kopf gefallen, sodass er am Silvesterabend in die Stuttgarter Innenstadt aufbrach, um dort ein paar Biere zu trinken. In der City traf er auf seine ehemalige Geliebte Monika Zürn. Er kannte sie aus der Zeit als verdeckter Ermittler. Ein Teil seiner Tarnung war die Studentin Monika gewesen. Er war mit ihr zusammengezogen und hatte sich in sie verliebt. Natürlich war eine Beziehung, die auf einer Lüge basierte, nicht Erfolg versprechend.

Harry fühlte sich aber angezogen von

ihrer Unbeschwertheit / der körperlichen Hingabe beim Sex / ihrem freien Geist.

Dann waren dunkle Wolken über dem Glück aufgezogen. Harry war beruflich unter Druck geraten und Monika hatte immer mehr Haschisch konsumiert und offene Beziehungsformen angestrebt. Da Harry Monika liebte, konnte er sie auf keinen Fall mit anderen teilen. Er verlor die Beherrschung und schlug Monika krankenhausreif. Nichts passierte. Seine Vorgesetzten hatten allerdings durchblicken lassen, dass sie von der Gewalttat gegen Monika und weiteren strafrechtlichen Verfehlungen wussten. Da sie ihn aber als Terrorismusexperten benötigten und ein formidables Druckmittel gegen ihn in der Hand hatten, wurde der Vorfall behördenintern unter den Teppich gekehrt. Am Silvesterabend 1974 war Monika auf Heroin gewesen. Sie umschmeichelte und bedrohte ihn gleichermaßen – das unberechenbare Verhalten einer Süchtigen. Harry fühlte sich immer noch zu ihr hingezogen. Schließlich hatte Monika ihm mit einer Anzeige gedroht. Außerdem wollte sie Eleonore von seinem Drogenmissbrauch und seinem Hang zur Gewalt berichten. Harry sah alles, worauf er gehofft und hingearbeitet hatte, in sich zusammenbrechen. Das konnte das Aus mit Eleonore bedeuten, es sei denn, ihre Liebe zu ihm war aufrichtig und unerschütterlich. Doch daran hegte er gewisse Zweifel, nicht zuletzt, da er sich selbst nicht über den Weg traute. Nun stand aber etwas Erfreuliches ins Haus. Eleonore und Harry hatten ihr Wiedersehen nach dem Ski-Urlaub gefeiert und sich ewige Liebe geschworen. Sie hatte ihn gefragt, ob sie sich heimlich verloben wollten. Damit wären die Eltern vor vollendete Tatsachen gestellt. Er triumphierte, denn seine Liebe würde im Hafen der Ehe münden. Er hatte viel Zeit und Energie darauf verwendet, Eleonore in seine Familie einzuführen. Dabei war es sein Anliegen, das Zerwürfnis mit dem Vater Otto und die Zerstrittenheit innerhalb seiner Familie zu vertuschen. Er wollte ein Heile-Welt-Familienbild vorgaukeln, was ihm geglückt war. Die Weihnachtsfeier 1974 bei seiner Schwester Ines war optimal verlaufen. Die Familie Grass hatte ihre Schokoladenseiten präsentiert. Sogar Otto war es gelungen, Eleonore das Gefühl zu geben, in der Familie willkommen zu sein. Eleonores Eltern wussten von der Liaison ihrer Tochter, billigten diese aber nicht ohne Vorbehalte. Sie gehörten dem Bildungsbürgertum an. Der Vater war stellvertretender Schulleiter am Stuttgarter Ernst-Ludwigs-Gymnasium und die Mutter Grundschullehrerin, die aber zur Erziehung der Kinder zu Hause geblieben war. Einerseits schätzten Schneiders, dass ihr Schwiegersohn in spe Beamter war. Polizeiarbeit war ihnen aber unangenehm, und obwohl sie keine Sympathien für die RAF und deren bewaffneten Kampf hegten, so schien ihnen die staatliche Repression gegen die politischen Gefangenen und die Beschneidung der liberalen Bürgerrechte ein Stück zu weit zu gehen. Hinzu kam, dass sie Misstrauen gegenüber der Arbeiterklasse hegten, aus der Harry stammte. Und zu guter Letzt hegten sie Zweifel an Harrys Charakter.

Harry war aufgeregt. Sein Herz schlug heftig. Sorgfältig zog er das akkurat gebügelte weiße Hemd an. Danach die schwarze Hose. Gute Qualität aus dem Stuttgarter Modehaus Eckert, die eigentlich zu teuer für ihn war, trotz seiner zwei Gehälter. Dennoch hatte er sich den piekfeinen schwarzen Anzug gegönnt. Sorgfältig band er die graue Krawatte um. Der Krawattenknoten war voluminös und wirkte feierlich. Ausgiebig kämmte er sich das volle Haar. Ein Blick in den Spiegel des Schlafzimmerschranks verriet ihm, dass er dem Anlass angemessen aussah.

Bumm / bumm / bumm.

Sein Herz schlug heftig, der Atem ging schnell. Er belächelte sich. Das war wohl nervlich schwieriger als ein Undercover-Einsatz. Den Weg in die Bürgerlichkeit musste er hart erkaufen. Dem Kleiderschrank entnahm er eine kleine, weiße Filzschachtel und öffnete sie. Darin befanden sich zwei schmale Silberringe. Die Verlobungsringe verdeutlichten ihm, dass ein neuer Lebensabschnitt begann. Hoffentlich kam ihm Monika nicht in die Quere. Er seufzte, raffte sich auf, schloss die Ringschachtel und ließ sie in seine Hosentasche gleiten. Für den besonderen Anlass empfahl sich ein exklusiver Ort. Er hatte das Restaurant des Hotels Graf Ernst ausgesucht, denn das Ambiente war stilvoll und edel. Nach der Reservierung hatten ihn Zweifel geplagt. Das Hotel befand sich vis à vis des Stuttgarter Hauptbahnhofs, mitten in der Innenstadt. Auch wenn es nahezu ausgeschlossen war, dass sich Monika in das Restaurant verirrte, so lag es im Bereich des Möglichen, ihr in der Innenstadt über den Weg zu laufen. Ruhig atmen, sagte er sich. Ganz ruhig. Alles wird gut. Er zog das Jackett an. Dann den schwarzen Mantel. Bevor er die Wohnung verließ, nahm er den opulenten Rosenstrauß aus der Vase. Er war zeitig dran. Die Kälte würde seine Nerven beruhigen. Der mit Frack bekleidete Kellner forderte ihn auf, ihm zu folgen. Eleonore war noch nicht da. Er bat den Kellner um eine Vase, die dieser mit frischem Wasser gefüllt brachte. Harry wusste nicht, was angemessen war und gab 20 D-Mark Trinkgeld. Er versuchte den Rosenstrauß so zu platzieren, dass er nicht auf den ersten Blick ins Auge stach. Warten. Er fühlte ein Kratzen im Hals. Sein Atem ging schwer. Um ihn herum saßen ältere Paare, alle vornehm gekleidet. Teurer Schmuck, hochkarätig. Die Männer trugen Anzüge aus schwerem englischem Stoff. Teure Champagner- und Weinflaschen standen auf den Tischen. Die Geräuschkulisse war dezent und vornehm. Ihm wurde übel und ihm kam es vor, als ob er im Erdboden versinken würde. Wann kam sie endlich? Frauen besaßen die Tendenz, auf sich warten zu lassen. Zumal bei solch wichtigen Anlässen. Schließlich schwebte sie durch den Raum. Sie hatte sich in Schale geworfen

weißes Abendkleid / cremefarbene hochhackige Schuhe / rote Stola.

Sie war stark geschminkt. Das stand ihr. Er erhob sich und ging auf sie zu. Sanft küssten sie sich auf die Wangen und dann auf den Mund. Sie roch verführerisch. Er tippte auf Chanel N°5. Das Essen verlief ein wenig steif. Sie waren solche Lokalitäten nicht gewöhnt. Die Speisen waren exotisch, schmeckten aber vorzüglich. Ein Kellner schenkte in angemessenen Abständen Wein nach, der schwer war und betäubte. Vakuum breitete sich in ihren Köpfen aus. Mit zitternder Hand holte Harry die Verlobungsringe aus der Anzugtasche. Sie versprachen einander ewige Treue und beteuerten, dass ihre Liebe wahrhaftig sei. Die Kellner schauten pikiert zur Seite. Gäste folgten amüsiert der Szene. Zum Nachtisch gab es Brandy aus einer Kristallkaraffe. Das Aroma war zurückhaltend und nuancenreich. Kein Brennen. Sie hatten das Gefühl, dass goldener Nektar die Kehle hinunterfloss.

„Harald, ich bin die glücklichste Frau der Welt.“

Kurze Pause, während sie die Augen auf dem Tischtuch ruhen ließ.

„Ich weiß nur noch nicht, wie ich das meinen Eltern beibringe.“

Er schluckte. Ihre waren nicht glücklich mit ihm. Die konnten nichts mit jemandem aus dem Arbeitermilieu anfangen. Die hielten sich für etwas Besseres.

Sie misstrauten ihm / Sie stellten seinen Charakter infrage / Sie fürchteten um das Glück ihrer Tochter.

„Du solltest offen zu ihnen sein“, stellte er klar. „Sie werden Verständnis für dich haben.“

Eleonore schluckte.

„Natürlich, Harald, das werde ich.“

Sie hob das Brandyglas und roch daran. Ein entzücktes Kräuseln der flachen Stirn. Dann Schwenken. Schließlich kurz daran genippt.

„Sie haben sich beschwert. Das hatte nichts mit dir zu tun, sondern mit deinem Beruf.“

Er verstand. Das hatte er vermutet. Konnte man ihm nichts anhaben, dann wurde auf dem Beruf oder etwas anderem rumgeritten. Irgendetwas fand sich schließlich immer.

„Meine Eltern sind nicht links. Sie verabscheuen jede Form der Gewalt. Aber sie finden es nicht in Ordnung, wie die RAF-Gefangenen behandelt werden. Außerdem sind sie der Meinung, dass der Staat die Bürgerrechte zu stark beschneidet.“

Eleonore versuchte zu lächeln, was misslang. Natürlich belasteten sie die Ansichten ihrer Eltern. Er fragte sich, warum sie mit dem Thema bis nach dem Ringtausch gewartet hatte.

„Was haben deine Eltern konkret gegen meinen Beruf?“, fragte er.

„Für meine Eltern zählst du zu den Unterdrückern. Du gehörst zu dem Teil des Staats, der die Bürgerrechte einschränkt. Und außerdem bist du im Kampf gegen die RAF an vorderster Front dabei. Das heißt, dass sie dich mit Kill-Fahndung in Verbindung bringen.“

Erneut schluckte er. Kill-Fahndung. Das war starker Tobak. Fehlte nur noch, dass sie ihn als SS-Schergen beschimpften. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Eleonore nahm seine Hand und streichelte den Verlobungsring. Er überlegte und wog seine Worte sorgfältig ab.

„Meine Eltern sind mit dir als Schwiegertochter zufrieden. Sie sind stolz und glücklich, eine hübsche, intelligente und liebe Frau in der Familie begrüßen zu dürfen.“

Natürlich taktierte er. Denn zwar gaben sich seine Eltern mit Eleonore als neuem Familienmitglied zufrieden. Sein Vater hatte als Arbeiter und Nazi aber Vorbehalte gegen das Bildungsbürgertum. Für ihn war es von dort nicht weit zum Bolschewismus und Judentum, das er beides abgrundtief hasste. Sie nahm einen weiteren Schluck aus dem Cognacschwenker. Dann kicherte sie unvermittelt.

„Das ist der bisher glücklichste Tag in meinem Leben und ich mache mir Sorgen. Das ist nicht recht.“

Damit war das Thema vom Tisch. Schließlich brachen sie auf. Harry gab den Kellnern reichlich Trinkgeld. Die Kellner zeigten sich nicht beeindruckt. Das Telefonat mit seinen Eltern dauerte fünf Minuten. Er teilte seiner Mutter in nüchternen Worten die Verlobung mit. Elfriede war glücklich. Endlich dachte ihr Sohn daran, eine Familie zu gründen. Sie wünschte sich sehnlich Enkelkinder.

„Waren ihre Eltern bei der Verlobung dabei?“, klang es verbittert aus dem Hörer.

Als er verneinte, zeigte sie sich versöhnt und versicherte ihm, dem Vater die frohe Botschaft zu übermitteln. Harry versprach, dass die Hochzeit ein rauschendes Fest würde. Eleonore musste mehr Überzeugungsarbeit leisten. Zunächst versuchte sie ihre Mutter für sich zu gewinnen. Das gestaltete sich schwieriger als gedacht. Sie zeigte sich nämlich über die heimliche Verlobung schockiert und äußerte Bedenken.

Harry sei

ungebildet / roh / nicht zur Selbstkontrolle in der Lage.

„Ihm fehlt die Fähigkeit, andere Menschen zu lieben. Er ist nur an seinen Bedürfnissen interessiert. Außerdem benutzt er dich als Sprungbrett, um gesellschaftlich aufzusteigen“, klagte sie an.

Eleonore verzweifelte. Sie fragte sich, wie ihre Mutter zu solch bösartigen Urteilen kam. Ihr Vater war ähnlich unerbittlich im Fazit, auch wenn er seine Kritik verbindlicher äußerte. Er sagte, dass er keine Grundlage für eine dauerhafte Verbindung sehe. Auf gut Deutsch: Eine Ehe mit Harry war für ihn von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Unglück der Tochter war vorprogrammiert. Eleonore sah sich gezwungen, Position zu beziehen. Sie passte einen günstigen Augenblick ab. Während ihre Eltern auf dem ledernen Wohnzimmersofa saßen, stellte sie sich in die Mitte des Zimmers.

„Ich liebe Harald von ganzem Herzen. Ich habe ihm ein Eheversprechen gegeben. Das Versprechen werde ich halten, mit oder ohne euren Segen. Wir werden eine glückliche Ehe führen. Wir werden Kinder kriegen und sie gemeinsam großziehen. Wir werden uns eine gemeinsame Existenz aufbauen. Harald ist ehrgeizig. Er besitzt viel Energie. Was er erreichen möchte, das kriegt er auch hin. Ich bin sehr stolz auf meinen Verlobten.“

Eleonore kullerten Tränen über die Wangen. Als ihre Eltern sahen, wie ernsthaft ihre Tochter war, standen sie auf und nahmen sie in den Arm. Die Eltern warfen sich einen langen, prüfenden Blick zu. Der Vater sagte: „Unseren Segen sollst du haben. Wir wollen deinem Glück nicht im Wege stehen. Für uns ist das Wichtigste, dass es dir gut geht.“ Die Mutter fasste ihre Tochter an den Händen und fügte hinzu: „Dein Glück lag uns immer am Herzen. Was wir dafür tun können, haben wir getan und werden wir tun. Wenn du Harald liebst, dann heirate ihn.“ Eleonore vergoss Freudentränen. Vor Glück hätte sie die Welt umarmen können. Sie rief Harry an.

„Harald, ich habe mit meinen Eltern gesprochen. Es war nicht einfach, aber wir haben ihren Segen. Wir können heiraten!“

Die Vorbereitungen für die Hochzeit konnten beginnen. Eleonore sah sich in ihren Träumen als Braut mit einem wunderschönen, weißen Brautkleid inklusive langer Schleppe. Harry dachte praktisch und notierte nach dem Telefonat auf einen kleinen Notizzettel:

Bank:

Kundenberater

Immobilienangebote => Halbhöhenlage Stuttgart prüfen

Wie er es auch drehte und wendete, die von ihm angestrebte Immobilie war mit seinen Gehältern und dem bisher Ersparten nicht realisierbar. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als einen oder zwei Terroristen der RAF dingfest zu machen, um das Konto aufzufüllen. Das Kopfgeld war hoch. 100.000 D-Mark - tot oder lebendig. Pro Kopf.

Kapitel 2

Die Hoffnungen der Politik und der Strafverfolgungsbehörden erwiesen sich als nicht stichhaltig. Ein halbes Jahr nach der Verhaftung der Gruppe 4.2 war es RAFlern gelungen, sich neu zu formieren. Die Gruppen besaßen zellenartige Strukturen und schmiedeten Pläne. Endlose Diskussionsrunden erörterten Vor- und Nachteile. Die Entschlossenheit war da. Die Schweine mussten bezahlen und bluten. Die gefangenen RAF-Kader mussten befreit werden. Andis Instruktionen wurden diskutiert. Eine direkte Befreiung aus dem Hochsicherheitstrakt war unmöglich. Die Gruppe kam überein, dass die Entführung eines Bundes- oder Landtagsabgeordneten nicht den nötigen Druck entfalten würde, um alle RAF-Gefangenen zu befreien. RAF-Anwalt Wilfried Hack fungierte als Elder Statesman. Er spielte sich nicht in den Vordergrund, verstand es aber, die Strippen zu ziehen. Er hatte direkten Kontakt zu Andi und beeinflusste die Diskussionen in dessen Sinn.

Andi war die Entführung

eines Staatssekretärs / eines Landtagsabgeordneten / eines Bundestagsabgeordneten

jetzt zu wenig.

Er wollte mehr, möglichst das Maximum. Wilfried lieferte Waffen. Sein Assistent Friedrich Bayer schleppte Taschen in die konspirative Wohnung.

Die tödliche Fracht

Pistolen / Maschinenpistolen / Munition.

Dann eines Tages einige Kilogramm Sprengstoff. Staunen bei den RAF-Kämpfern. Das reichte aus, um ein mittelgroßes Gebäude in die Luft zu jagen. Die Untergrundtruppe wollte losschlagen. Der Mentor belehrte sie eines Besseren. Wilfried lieferte Funkgeräte aus Polizeibeständen. Niemand wusste, wie er daran gekommen war. Damit konnten sie Feindbewegungen abhören und kommunizieren. Der Jüngste in der Gruppe hatte sich zum Leader emporgeschwungen. Siegfried Hausner war 23 Jahre alt. Er besaß eine unbändige Energie, um seine Interessen - zur Not auch handfest - durchzusetzen. Sein Jähzorn verschaffte ihm Respekt. Er ging keine Kompromisse ein. Siegfried war der Sprengstoffexperte der Gruppe, gemeinsam mit dem 29-jährigen Ulrich Wessel, der aus besten familiären Verhältnissen stammte. Ulrich war der Spross einer Hamburger Millionärsfamilie, und er war im weltläufigen, vornehmen Blankenese aufgewachsen. Früh hatte er sich gegen Ungerechtigkeiten jeder Art empört. Der Konflikt mit dem Vater trug sein Übriges zu seiner Radikalisierung bei.

Ulrich

hörte amerikanische Rockmusik / ließ sich die Haare wachsen / experimentierte mit Drogen.

Gerne umgab er sich mit Gleichaltrigen, die aus sozial schwachen Schichten stammten. Frank Delle, der genauso alt war wie Ulrich, wuchs in einer proletarischen Künstlerfamilie auf. Der Vater hielt sich und die Familie mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Die Mutter hatte Affären. Frank kannte keine Angst. In seiner Jugendzeit hatte er sich viele Schlägereien mit körperlich Stärkeren geliefert. Es stellte für ihn kein Problem dar, gegen eine Übermacht zu kämpfen. Körperliche Schmerzen machten ihm nichts aus. Er wollte aufrecht bleiben und sich nicht unterkriegen lassen. Er besaß Kraft und Ausdauer, die sich mit jugendlichem Idealismus für die Unterdrückten paarten. Utz Täufer war der Senior der Gruppe und zeichnete sich durch seine besonnene Art aus. Er trug einen dichten schwarzen Bart. Eine Zeit lang hatte er den Halt im Leben verloren. So war er zum Marxismus gekommen. Über den Marxismus fand er die Psychoanalyse. Das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) des Heidelbergers Dr. Lukas Hupe hatte ihm neue Lebensperspektiven eröffnet. Fortan gehörte er zu Lukas‘ innerem Zirkel und qualifizierte sich dort für den bewaffneten Kampf. Hannelore Krebs war zwei Jahre jünger als Utz. Utz hatte sie beim SPK kennengelernt. Sie hatte – lange – glatte – schwarze Haare, ein hübsches Gesicht und ernst dreinblickende schwarze Augen. Sie war die einzige Frau in der Gruppe. Sie verstand es, sich bei Diskussionen einzubringen und Impulse zu setzen. Zudem war sie eine Frau der Tat, die sich durch einen beherzten Umgang mit Waffen hervortat. Bert Rößler war zwanzig Jahre alt. Seine dunkelblonden Locken, die er schulterlang trug, verliehen ihm ein engelhaftes Aussehen. Das Äußere täuschte. Bert war fanatisiert. Gewalt stellte für ihn die probate Antwort auf die Unterdrückung durch den imperialistischen Faschismus dar.

Es war für ihn legitim, Menschen zu töten, die ihrerseits Menschenleben

durch Ausbeutung / Unterdrückung / Initiierung von Kriegen

auf dem Gewissen hatten.

Diese sechs RAF-Kämpfer bildeten ein entschlossenes Kommando. Sie standen mit anderen RAF-Zellen in regem Austausch. Sie waren die Zelle, die bereits konkrete Anschlagpläne ins Auge gefasst hatte. Insofern fiel es Wilfried leicht, sie für Aktionen auszuwählen. Andi instruierte Wilfried genau, als dieser ihn im Gefängnis besuchte, welche Bewaffnung und Ausrüstung die Gruppe erhalten sollte. Dafür stellte er Wilfried Gelder aus Banküberfällen zur Verfügung. Beim nächsten Treffen brachte der Anwalt teuren Rotwein zur neuformierten RAF-Gruppe mit, entkorkte ihn und stellte ihn in die Mitte des Küchentischs. Siegfried hustete und legte den Joint in den Aschenbecher.

„Was wollen wir denn mit dem Fusel?“, fragte er.

„Das ist kein Fusel, das ist guter Rotwein“, erwiderte Wilfried, während er einfache Wassergläser vollschenkte, denn etwas anderes war nicht vorhanden.

Obwohl es Nachmittag war, brannte Licht. Die Jalousien waren heruntergelassen. Ulrich und Frank saßen stoned auf Holzstühlen. Utz reinigte im Schneidersitz eine Maschinenpistole. Seine Freundin schaute ihm zu und gab Tipps. Frank trommelte unablässig mit den Fingern. Was wollte der Affenarsch mit Anzug schon wieder? Das sollte ein Revolutionär sein? Der seifte Andi doch ein, so wie jeder Rechtsverdreher. Vielleicht gehörte ihm anständig die Fresse poliert. Bert war nicht da. Er war in eine andere Stadt gefahren, um Sympathisanten zu treffen. Mitgliederrekrutierung besaß neben Anschlagsplanung oberste Priorität.

„Ich komme von Andi“, begann Wilfried salbungsvoll und verteilte den Wein. „Auf die Revolution, Genossen. Sieg oder Tod!“

Alle tranken und erwiderten den Toast.

„Lukas möchte, dass ihr eine spektakuläre Aktion zur Befreiung der gefangenen Genossen startet!“

Siegfried erwiderte: „Wir planen das seit einiger Zeit, sind aber noch zu keinem schlüssigen Ergebnis gekommen. Für eine direkte Befreiung aus dem Knast haben wir nicht genügend Power. Auf ein anderes Angriffsziel haben wir uns nicht einigen können. Vermutlich läuft es auf einen Bundestagsabgeordneten hinaus, am besten einen Hochkaräter aus der SPD-Fraktion. Wir spionieren ihn zu Hause aus. Wir überwachen ihn in Bonn. Wir suchen nach Terminregelmäßigkeiten. Wir finden heraus, mit wem er wann Beziehungen unterhält. Irgendwo wird sich ein Schwachpunkt finden. Und dann schlagen wir zu.“

„Andi schwebt etwas anderes vor“, erwiderte Wilfried.

In der Küche herrschte gespanntes Schweigen.

„Ihr besetzt eine Botschaft, um Druck gegen die BRD auszuüben. Außerdem bringt solch eine Tat das Land, in dem die Botschaft besetzt wird, unter Zugzwang. Die Aktion entfaltet doppelte Schlagkraft.“

Ulrich pfiff. Siegfried nickte. Utz warf Hannelore einen vielsagenden Blick zu. Frank hörte mit dem Trommeln auf. Vielleicht war der Rechtsanwalt gar nicht so uncool wie er immer rüberkam.

„Wir brauchen das schriftlich“, sagte Siegfried. „Dann arbeiten wir Pläne aus.“

Die Diskussion dauerte stundenlang. Vieles war nicht durchdacht und musste verworfen werden. Siegfried überredete Wilfried, einen Joint zu rauchen. Wilfrieds guter Tropfen fand doch noch Anklang. Am späten Abend brach Wilfried auf. Er hatte das Gefühl, dass diese RAF-Gruppe etwas reißen konnte.

Sie waren

jung / ungestüm / zu allem entschlossen.

Andi würden die positiven Signale freuen. Die Gruppe machte sich an die operative Planung. Ein Botschaftsgebäude war groß. Eine Besetzung war personalintensiv. Die Gruppe kam zum Schluss, dass alle Zellenmitglieder an der Aktion teilnehmen mussten. Sie beschlossen, mit Härte vorzugehen. Keine taktischen Verzögerungen. Sobald ein Ultimatum überschritten war, sollte eine Geisel exekutiert werden. In den folgenden Wochen gingen die RAFler auf Europareisen. Sie kundschafteten deutsche Botschaften aus. Viele schieden aus, da die Sicherheitsvorkehrungen streng waren. Andere lagen strategisch ungünstig, da sie keinen optimalen Rückzug gewährleisteten. Manche Länder kamen nicht in Betracht, da die Regierungen dafür bekannt waren, nicht mit Terroristen zu verhandeln. Es gelang der Gruppe, zur Ausspähung der Botschaften Sympathisanten zu gewinnen. Diese erhielten Flugtickets und Cash. Die Sympathisanten inspizierten die Botschaftsgebäude. Sie gaben vor, Pass- und Visumsangelegenheiten regeln lassen zu wollen. Das Sicherheitspersonal der Botschaften schöpfte keinen Verdacht. Das RAF-Kommando wertete die ihm zugespielten Unterlagen aus. Manche der Skizzen waren brauchbar. Schriftliche Beschreibungen ergänzten die Zeichnungen. Eine Wache im Eingangsbereich, womöglich zwei weitere Wachleute im ersten Stock. Das Kommando entwarf Planspiele. Botschaftsgebäude wurden in maßstabsgetreuem Modellbau nachgebildet, Szenarien entworfen

Angriff mit allen Kommandomitgliedern gleichzeitig.

Sukzessives Eindringen in Zweiergruppen. Erst dann Anwendung von Waffengewalt.

Einzelnes Betreten des Botschaftsgebäudes.

Entführung des Botschafters und seiner Begleiter auf einem auswärtigen Empfang, während der Rest der Gruppe das Botschaftsgebäude besetzte. Das ermöglichte Exekutionen an unterschiedlichen Orten und würde die Durchschlagskraft der Einsatzkräfte vor Ort halbieren. Simultane Exekutionen an unterschiedlichen Orten versprachen maximale Abschreckung.

Wilfried besuchte erneut das RAF-Kommando. Das präsentierte ihm die Varianten. Wilfried gab Hinweise. Er versprach, Andi im Knast zu konsultieren. Andi war froher Dinge, denn er wusste, dass es mit der RAF weiter ging – steil nach oben. Andi gab Wilfried Feedback. Die deutsche Botschaft in Stockholm wäre ein geeignetes Angriffsziel. Schweden sei als neutrales Land bekannt und würde gegenüber den Anliegen der Botschaftsbesetzer Verständnis aufbringen. Die Sozialisten in Stockholm könnten mit den Sozialisten in Bonn auf Augenhöhe verhandeln. Andi gab konkrete Anweisungen.

„Ein Kommando aus sechs Personen reicht nicht aus. Das ist für die Botschaftsbesetzung an sich in Ordnung. Aber ein externer Beobachterposten per Funk soll das Kommando in der Botschaft über die Feindbewegungen informieren.“

Wilfried schluckte und spähte zu den Wachen rüber. Ihm wurde ganz anders, wenn er daran dachte, dass diese etwas von dem Gesagten mitkriegten.

„Geht klar, Andi“, sagte er dann. „Wir geben unser Bestes.“

Andi runzelte die Stirn.

„Davon gehe ich auch aus“, hängte er den Chef raus.

Das Kommando zeigte sich beeindruckt. Der Kommandorat tagte. Stockholm/Schweden wurde beschlossene Sache. Nach endloser Diskussion fiel die Entscheidung, dass das Kommando in Zweiergruppen in das Botschaftsgebäude einsickert. Einmal im Gebäude würde das Kommando die Herrschaft durch Waffengewalt übernehmen. Siegfried entwarf mit Ulrich die Planungen, wie bei der Aktion mit dem Sprengstoff zu verfahren sei.

„Wir platzieren den Sprengstoff an zentralen Punkten im Gebäude“, schlug Siegfried vor.

„Und im Falle einer Stürmung durch die schwedische Polizei bringen wir ihn zur Explosion“, ergänzte Ulrich und bröselte Haschisch in einen halb fertig gebauten Joint. „Das gibt Tote.“

Schwierig war, ein siebtes RAF-Kommandomitglied auszuwählen. Die Wahl fiel auf Steffen Matuschek. Steffen strahlte Entschlossenheit aus und verfügte über eine militärische Ausbildung. Außerdem sagte man ihm nach, dass er niemals Nerven zeige und keine Skrupel besäße. Steffen wurde in die konspirative Wohnung einbestellt. Siegfried und Bert erörterten die Kommandoaktion. Steffen zuckte nicht mit der Wimper.

„Ich möchte auf jeden Fall dabei sein“, sagte Steffen. „Ich bin zum Äußersten entschlossen. Für Andi und Gudrun gehe ich in den Knast oder sterbe.“

„Deine Aufgabe wird es sein, uns von einem externen Beobachterposten die Polizeibewegungen mitzuteilen“, teilte Siegfried ihm die Aufgabe zu.

Auf Steffens Stirn zogen Gewitterwolken auf.

„Fickt euch! Ich soll 200 Meter von der Botschaft entfernt im Gebüsch sitzen und per Funk die Bewegungen der schwedischen Polizei melden? So einen Dreck mache ich nicht.“

Steffen wollte es einfach nicht glauben, aber ein Blick in die Gesichter von Siegfried und Bert belehrte ihn eines Besseren. Er besann sich.

„Kann ich eingreifen, wenn euch die Schweine zu sehr auf die Pelle rücken?“, fragte er zerknirscht.

Bert schüttelte den Kopf.

„Du bleibst in Deckung, egal was passiert. Wenn wir nicht durchkommen, gefangengenommen werden oder sterben, dann gibst du die Position auf und bringst dich in Sicherheit. Am besten über Finnland, denn dort werden die Kontrollen nicht so streng sein.“

Steffen hakte nach. Er war unzufrieden und gab das offen zu verstehen. Zwar sah er die taktische Notwendigkeit seiner Aufgabe ein, doch wünschte er sich einen offensiven Kampfeinsatz.

„Soll sich doch Utz oder Hannelore hinter den Busch hocken und das Funkgerät bedienen“, giftete er.

„Schluss mit dem Gezeter“, riss Siegfried das Wort an sich. „Wir brauchen jeden im Kampf gegen das System. Wilfried arbeitet noch weitere Pläne für eine Offensive aus. Deine Stunde wird noch kommen.“

Mit Mühe konnte sich Steffen beherrschten. Schon als Kind und Heranwachsender war er durch sein aufbrausendes Temperament immer wieder angeeckt. Die RAF war seine letzte Chance. Die wollte er nutzen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Die Vorbereitungen für den Angriffsplan verzögerten sich. Immer wieder schaltete sich Andi ein und forderte Korrekturen. Zum Jahresbeginn 1975 war aber alles organisiert. Die RAF-Kämpfer machten sich zu zweit auf den Weg. Sie legten falsche Fährten, indem sie sinnlos in der Weltgeschichte herumreisten. Immer wieder schüttelten sie Verfolger ab, die es gar nicht gab.

Sprengstoff / Waffen / Funkgeräte

wurden Anfang März in einem kleinen Ferienort in Südschweden zusammengeführt.

Das RAF-Kommando hatte ein kleines Haus an einem See gemietet. Dort wurde der Plan immer wieder bis ins letzte Detail durchgesprochen. Siegfried führte mit jedem Einzelgespräche. Er eruierte die psychische Verfassung. Siegfried war zufrieden. Keine Wackelkandidaten.

Alle waren fest entschlossen! Alle waren bereit zu töten! Alle waren bereit zu sterben!

Eine RAF-Sympathisantin mietete in Stockholm mit gefälschtem Ausweis eine Wohnung an. Wieder ging die Gruppe konspirativ vor und reiste in Zweiergruppen an. In Stockholm observierten Utz und Hannelore tagelang die Botschaft. Sie prägten sich Fluchtwege ein. Sie riefen bei der Polizei an. Der Streifenwagen benötigte 15 Minuten, um zur Botschaft zu gelangen. Als Pärchen lungerten sie knutschend vor der Botschaft herum. Sie stellten fest, dass ein bewaffneter Bundesgrenzschutzbeamter im Bereich der Eingangsloge postiert war. Ihn mussten sie als ersten ausschalten. Siegfried telefonierte mit Wilfried. Wilfried hatte ihm die Nummer einer Telefonzelle im Großraum Frankfurt gegeben. Siegfried benutzte ein öffentliches Telefon im Stockholmer Hauptbahnhof. Wilfried machte Druck.

„Andi möchte, dass die Aktion jetzt steigt“, sagte er möglichst autoritär. „Denkt daran, dass die Gruppe 4.2. verhaftet wurde, ohne in Aktion zu treten. Das darf sich unter keinen Umständen wiederholen!“

Siegfried holte tief Luft. Das musste er sich nicht bieten lassen. „Das oberste Ziel ist der Schutz meines Teams. Da gehe ich keine Kompromisse ein. Eine sorgfältige Planung benötigt Zeit. Die Aktion ist/wird kein Pappenspiel, sondern ziemlich aufwendig. Das müsste auch Andi klar sein.“

Wilfried wischte die Argumente vom Tisch.

„Die Zeit ist reif. Es liegt an euch! Andi setzt große Erwartungen in euch.“

Wilfried schmiss den Hörer auf die Gabel.

Tut – tut – tut.

Siegfried blickte verdutzt auf den Telefonhörer. Bisher hatte er Wilfried als sanften Mann kennengelernt. Ein typischer Rechtsverdreher, der die Worte hin und her drechselte und jedem nach dem Mund redete. Siegfried seufzte. Sie mussten wohl oder übel zur Tat schreiten. Er spürte leichte Beklemmungen, denn er war sich der Ungeheuerlichkeit der Aufgabe bewusst. Eine große Verantwortung lastete auf seinen Schultern. Die RAF hatte viele Ressourcen in diese Aktion gesteckt. Andere Projekte waren auf Eis gelegt worden, damit die Botschaftsbesetzung verwirklicht werden konnte. Das RAF-Kommando in Stockholm war die Speerspitze der Revolution in der BRD. Und er war der Chef dieses Kommandos. Er hatte die Befehlsgewalt inne und trug die Verantwortung.

Für sein Kommando / für die Gefangenen / für sich selbst.

Viele Hoffnungen ruhten auf ihnen. Am späten Abend versammelte er seine Mitkämpfer im Wohnzimmer. Sie gingen die Aktion Punkt für Punkt durch.

Die Waffen wurden sorgfältig

… gereinigt …

… überprüft …

… geladen.

Siegfried schluckte den Kloß, den er im Hals verspürte, runter und stellte sich in die Mitte des Wohnzimmers. Er musste sein Team auf die Schlacht einstimmen.

„Wir werden Geschichte schreiben, Genossen. Das Schicksal der RAF und der Revolution in Westeuropa liegt in unseren Händen. Wir werden Andi, Gudrun, Ulrike, Jan-Carl und die anderen Gefangenen befreien. Wir dürfen die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuschen. Sieg oder Tod!“

„Sieg oder Tod!“, wiederholten die Gruppenmitglieder voller Zuversicht.

Es war ein kalter, regnerischer Tag. Immer wieder peitschte ein frostiger Wind Regenböen durch die Straßen. Stockholm wirkte unwirtlich und wenige Menschen flanierten durch die Straßen. Lediglich die Hauptgeschäftsstraßen waren belebt. Die Deutsche Botschaft lag am Skarpätagan. Das dreistöckige Gebäude war ein funktionalistischer Bau, der ganz in Weiß gestrichen war. Ein kleines Metallschild über dem Eingangsbereich verriet, dass die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland hier untergebracht war. Als erster bezog Steffen seinen Posten. 200 Meter von der Botschaft entfernt befand sich ein kleiner Park. Steffen versteckte sich hinter einer Hecke. Dort hatte er alles im Blick. Zur Tarnung hatte er sich einen Picknickkorb gebastelt. Sorgfältig breitete er die Regenfolie darüber aus, um das Funkgerät zu schützen. Er musste sicherstellen, dass die Kommunikation zum Kommando aufrechterhalten wurde. Um 12.30 Uhr klarte das Wetter auf. Die Sonne kam raus. Zwei junge Männer gingen Richtung Pförtnerloge der Deutschen Botschaft. Siegfried und Frank hatten sich extra in Schale geworfen. Siegfried trug einen braunen Trenchcoat, darunter ein ordentliches, cremefarbenes Hemd. Die Krawatte war sauber gebunden. Frank war weniger förmlich gekleidet, aber dennoch bürgerlich. Er trug eine teure schwarze Lederjacke und eine dunkle Stoffhose. Die ledernen Halbschuhe waren frisch geputzt. Sowohl Siegfrieds Trenchcoat als auch Franks Jacke beulten aus, was aber nur ein geübtes Auge zu erkennen vermochte. Sie wirkten verärgert. Der Pförtner öffnete die kleine Schiebetür an der Seite.

„Was kann ich bitte für Sie tun?“, fragte er.

„Ich habe meinen Pass verloren“, antwortete Siegfried.

„Wie konnte das denn passieren?“, brummte der Pförtner in väterlichem Ton.

„Mein Bekannter und ich haben gestern in einem Tanzlokal gefeiert. Und dabei ist mir der Pass irgendwie abhandengekommen. Ich vermute, er ist mir geklaut worden. Aber ich habe nichts mitgekriegt.“

Der Pförtner machte keine Anstalten die Türe zu öffnen.

„Ich brauche dringend ein Ersatzdokument, da ich bald nach Hamburg verreisen muss. Dringende Geschäfte rufen mich in meine Heimatstadt.“

Endlich drückte der Pförtner den Türöffner.

„Gehen Sie in die erste Etage, in die Konsularabteilung“, rief er den beiden hinterher.

Fünf Minuten später kam ein Pärchen in Trauerkleidung zur Pforte. Der Mann trug einen sorgfältig gestutzten Bart und blickte sehr traurig drein. Die Frau war hübsch, hatte traurige schwarze Augen und schluchzte immer wieder. Der Pförtner öffnete die Sprechluke.

„Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Wir brauchen Rat in einer Erbschaftsangelegenheit“, antwortete Utz.

„Sie glauben ja gar nicht, was man alles durchmachen muss, wenn jemand gestorben ist, den man geliebt hat“, fügte Hannelore mit weinerlicher Stimme hinzu.

Der Pförtner öffnete die Türe.

„Versuchen Sie es in Zimmer 207, im zweiten Stock. Dort können sie Ihnen zumindest sagen, wo Sie hin müssen, wenn die Abteilung nicht zuständig ist.“

Das Pärchen bedankte sich knapp und verschwand durch die Eingangstüre. Den Schluss des RAF-Kommandos bildeten Ulrich und Bert, die braune Cordhosen und beige Blouson-Jacken trugen. Bert hatte seine Lockenmähne gekämmt und hielt die Haarpracht mit einem ledernen, schwarzen Haargummi zusammen.

„Wir brauchen Auskunft wegen einer Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung“, ergriff Ulrich das Wort.

Der Pförtner runzelte die die Stirn.

„Welche Auskünfte benötigen Sie denn genau?“

„Wir möchten wissen, welche Bescheinigungen wir brauchen, um in Stockholm arbeiten und leben zu können.“

Der Mann hinter der Glasscheibe überlegte einen Moment lang.

„Es tut mir leid, aber dafür sind wir nicht zuständig.“

Die Terroristen versuchten die Fassung zu bewahren. Nur keine Kurzschlussreaktion. Die Aktion nicht durch Wut und Ärger gefährden.

„Wir haben aber die Auskunft erhalten, uns in dieser Angelegenheit an die deutsche Botschaft zu wenden“, sagte Siegfried wahrheitsgemäß.

„Diese Information trifft aber nicht zu“, insistierte der Pförtner. „In dieser Angelegenheit müssen Sie sich an die schwedische Ausländerpolizei wenden. Die kann Ihnen weiterhelfen. Wir sind in diesem Fall nicht zuständig.“

„Aber …“

Der Pförtner ließ nicht mit sich diskutieren. Ulrich und Bert traten ein paar Schritte von der Pförtnerloge zurück. Aufgeregt unterhielten sie sich. Diese Panne war nicht eingeplant. Ein Plan B musste her. Und zwar schnell. Plötzlich: Die Tür öffnet sich und ein Botschaftsangestellter geht nach draußen. Bert schaltet am schnellsten und verhindert, dass die Türe wieder ins Schloss fällt. Der Pförtner registriert was passiert erst, als Ulrich und Bert bereits im Botschaftsgebäude drin sind.

„Hallo, bleiben Sie bitte stehen!“, ruft er ihnen nach.

Die Terroristen hören nicht auf ihn. Schnell bewegen sie sich in Richtung Treppen. Der Pförtner gestikuliert in Richtung des Bundesgrenzschutzbeamten Häßler. Der entdeckt sofort den Stein des Anstoßes und läuft ihnen hinterher.

„Entschuldigen Sie, bleiben Sie bitte kurz stehen!“, fordert er sie auf.

Ulrich und Bert drehen sich um. Sie sehen Häßler, der einige Meter entfernt steht – zu allem entschlossen.

„Rock’n Roll“, sagt Ulrich.

Bert öffnet die Blouson-Jacke und legt eine tschechische Maschinenpistole in Anschlag. Häßler greift nach seiner Pistole, erstarrt aber in der Bewegung. Bert grinst. Ulrich entwaffnet den Sicherheitsmann und schlägt ihn mit seiner Pistole nieder. Schnell bewegen sich die Terroristen Richtung erster Stock. Doch Häßler kommt sofort wieder zu sich.

„Überfall! Das ist ein Überfall!“, schreit er.

Der Pförtner greift geistesgegenwärtig zum Telefon und setzt bei der schwedischen Polizei einen Notruf ab. Der Botschafter ist im dritten Stock. Das RAF-Kommando brüllt.

„Überfall! Hände hoch! Leisten Sie keinen Widerstand!“

Zur Abschreckung feuert das Kommando einige Salven. Putz bröckelt von den Wänden und der Decke. Widerstand soll von vornherein unterbunden werden. Das Kommando treibt jeden, der sich im dritten Stock befindet, zusammen. Wer nicht pariert, wird geschlagen. Einigen Botschaftsangestellten gelingt die Flucht. Das Kommando schießt nicht auf Flüchtende. Im ersten und zweiten Stock bringen sich die Menschen in Sicherheit. Viele bleiben vor dem Gebäude stehen. Wo bleibt die Polizei? Das Kommando geht effektiv vor. Das Zimmer des Botschafters ist das größte. Zwölf Geiseln werden hier gefesselt.

Schreibtische / Stühle / Schränke

werden zu Barrieren zusammengebaut.

Im Zimmer des Botschafters Heinz-Dietrich Stoecker diktiert Siegfried der Chefsekretärin die Forderungen des RAF-Kommandos. Dabei gehen die Entführer nach dem gleichen Schema vor, das die Bewegung 2. Juni bei der Entführung des Vorsitzenden der CDU Berlin benutzt hat.

Die Forderungen lauten:

Freilassung von 26 RAF-Gefangenen in der Bundesreplik Deutschland.

Andreas Baader und Gudrun Ensslin erhalten bei ihrer Freilassung 1.000.000 D-Mark ausgehändigt.

Die politischen Gefangenen werden in die Volksrepublik Jemen ausgeflogen.

Das deutsche Fernsehen überträgt die Ankunft der Gefangenen an ihrem Bestimmungsort. Die Bundesregierung erhält bis 22.00 Uhr Zeit, den Forderungen nachzukommen.

Siegfried tritt in den Flur und lässt das Blatt mit den Forderungen herunterfallen, sodass die Polizei das Blatt findet. Anschließend geht er in das Zimmer des Botschafters zurück und tätigt Telefonate.

Er ruft

bei einer Presseagentur / bei Zeitungen / beim Auswärtigen Amt

an.

Das RAF-Kommando stellt sicher, dass die Forderungen bei der Bundesregierung eingehen.

In der Zwischenzeit besetzen Spezialtruppen der schwedischen Polizei

das Erdgeschoss / den ersten / den zweiten Stock.

Die Polizisten sind schwer bewaffnet. Sie tragen Spezialhelme und kugelsichere Westen. Steffen beobachtet die Aktivitäten von seinem Außenposten und teilt sie Siegfried mit. Siegfried schnappt sich die Sekretärin, hält ihr eine Pistole an die Schläfe und tritt ins Treppenhaus.

„Verschwindet! Wir sind ein Kommando der Roten Armee Fraktion! Wenn die Polizei nicht binnen 15 Minuten abzieht, exekutieren wir eine Geisel!“

Die Spezialtruppen sind unbeeindruckt. Sie schleppen Sandsäcke in das Botschaftsgebäude. Steffen teilt mit, dass die Polizei Schutzwälle errichtet, um Ausfälle der Botschaftsbesetzer zu verhindern. Siegfried tobt. Dieses Mal trifft es den Kulturattaché Markwort. Bert tritt ins Treppenhaus und schiebt Markwort vor sich her. Die Maschinenpistole hält er an seinen Kopf.

„Das ist die letzte Aufforderung an die schwedische Polizei! Räumen Sie das Gebäude! Ansonsten liquidieren wir Geiseln.“

Steffen beobachtet, wie immer mehr Spezialtruppen auffahren und im Botschaftsgebäude verschwinden. Ständig treffen neue Lastwagen mit Sandsäcken ein.

„Negativ“, flüstert Steffen in sein Funkgerät. „Die ziehen immer mehr Kräfte zusammen und bauen die Stellung aus. Ihr müsst handeln, sonst handeln die.“

Siegfried weiß genug. Er mustert die Gefangenen. Bert gibt Zeichen. Das heißt, dass die Polizei langsam immer weiter vorrückt. Er ist entschlossen. Eine letzte Chance noch, dann ist Schluss mit lustig. Er mustert die Gefangenen, auf der Suche nach einem passenden Opfer.

„Militärattaché von Mirbach?“, fragt er.

Ein Endvierziger mit Stirnglatze und groben Gesichtszügen hebt zögernd die Hand.

„Komm her“, fordert Siegfried ihn schroff auf.

Der Mann steht auf und geht zu Siegfried. Siegfried blickt ihm eindringlich in die Augen.

„Du gehst in das Treppenhaus und forderst die Polizei zum Abzug auf. Sag ihnen, wenn sie dieser Aufforderung wieder nicht nachkommen, wirst du auf der Stelle erschossen.“

Von Mirbach schluckt, hält dem Blick aber stand.

„Los, gehen wir.“

Die schwedische Polizei ignoriert die Aufforderung. Siegfried telefoniert mit einem Mitglied der schwedischen Regierung. Dieses bittet das RAF-Kommando, alle Geiseln freizulassen. Der schwedische Politiker bietet den Terroristen freies Geleit in ein Land ihrer Wahl an. Er versucht Siegfried mit Geld zu ködern. Siegfried bleibt hart: Entweder die Forderungen werden erfüllt oder das Kommando exekutiert Geiseln und sprengt das Gebäude. Der Schwede fleht: Lasst die Geiseln frei. Das Funkgerät knackt. Siegfried entschuldigt sich für einen Moment. Steffen berichtet von weiteren Polizeitruppen.

„Jetzt reichts aber“, flucht Siegfried und verabschiedet sich kurz angebunden vom schwedischen Innenminister.

Er tritt vor von Mirbach und macht eine eindeutige Geste: Komm. Die Sekretärin fängt an zu schluchzen. Eine der am Boden sitzenden Geiseln macht den Mund auf, will etwas sagen, sieht aber Siegfrieds irren Blick und die Pistole und schweigt.

„Wenn die Polizei stürmt, erschießt ihr die Geiseln und verteidigt euch bis zur letzten Patrone.“

Nach diesen Worten schiebt Siegfried von Mirbach zur Treppe.

„Ich werde jetzt den Militärattaché der Bundesrepublik Deutschland erschießen. Das ist Ihre Schuld. Wenn Sie danach das Feuer auf mich eröffnen, werden meine Genossen alle in unserer Gewalt befindlichen Geiseln exekutieren. Es lebe die Weltrevolution. Sieg oder Tod!“

Siegfried drückt ab

bäng – bäng – bäng.

Von Mirbach sackt zusammen. Gehirnmasse drückt aus der aufgeplatzten Schädeldecke und aus dem Brustbereich sickert Blut. Schnell rennt Siegfried zurück in das Zimmer des Botschafters. Von Mirbach liegt am oberen Ende der Treppe zum dritten Stock. Er stöhnt. Er wimmert. Sein Atem geht schwer. Die schwedische Polizei ist konsterniert. Sie hat die Entschlossenheit des RAF-Kommandos unterschätzt. Ein Polizist teilt den Besetzern mit, dass sie abziehen, bittet aber, den Verwundeten bergen zu können. Siegfried antwortet, dass sie den Militärattaché die Treppe runterrollen, wo er im Schussfeld bleibt. Wenn die Polizei komplett aus dem Gebäude abgezogen sei, dürfe sie ihn bergen. Zähneknirschend stimmt die Polizei zu. Sie beginnt mit dem Abzug. Utz und Hannelore treten unbewaffnet auf den Flur und schubsen von Mirbach die Treppe runter. Von Mirbach schreit und wimmert. Sein Kopf schlägt auf die Treppenstufen.

Klack – klack – klack.

Steffen berichtet vom Abzug der schwedischen Polizei. Polizeifahrzeuge verlassen den Botschaftsparkplatz. Das RAF-Kommando frohlockt. Immerhin haben sie einen ersten Erfolg errungen. Die schwedische Polizei gibt nach. Der Sieg ist zum Greifen nah. Bert pirscht sich vor. Er geht einige Treppen hinunter, beugt sich über das Treppengeländer und inspiziert das erste und zweite Stockwerk. Die Polizei ist weg. Er weiß, dass sich irgendwo im Haus – vermutlich im Erdgeschoss – noch Polizisten zur Bergung von Mirbachs befinden.

„Sie können den Militärattaché jetzt holen“, ruft er. „Kommen sie unbekleidet und nur zu zweit.“

Bert zieht sich zurück. Kurz darauf erscheinen zwei bis auf die Unterhose entkleidete Polizisten mit einer Trage. Sie transportieren den Sterbenden ab. Das RAF-Kommando ist jetzt ungestört und macht sich an die Arbeit. Siegfried und Frank verlegen Kabel mit Klebeband und verbinden sie mit den Sprengladungen. In Bonn tritt unterdessen der Krisenstab unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zusammen. Es ist 16.45 Uhr. Die Mitglieder des Krisenstabs werden ins Kanzleramt chauffiert. Die Mine des Kanzlers ist finster und entschlossen. Er hat gehört, dass der Militärattaché lebensgefährlich verletzt wurde und es vermutlich nicht überleben wird. Als die Sitzung beginnt, fragt ein enger Vertrauter des Kanzlers: „Werden wir dieselbe Richtung wie bei der Lorenz-Entführung einschlagen?“ Der Kanzler erhebt sich und stützt seine Hände auf den dunklen, massiven Eichentisch. Der Kanzler wirkt müde, aber konzentriert.

„Meine Herren, eine ähnliche Lösung wie bei der Lorenz-Entführung verbietet sich. Die RAF hat von Anfang an Tatsachen geschaffen. Der Militärattaché von Mirbach ist in den Kopf und in die Brust geschossen worden. Vermutlich wird er die Nacht nicht überleben.“

Fassungsloses Gemurmel. Die RAF hat sich erholt. Die RAF zeigt ihre alte Kompromisslosigkeit.

Und:

Wie konnte die neue -RAF-Gruppierung entstehen? / Wo waren die Sicherheitsorgane? / Warum haben die das Ganze nicht verhindert?

Fragen über Fragen. Der Kanzler räuspert sich.

„Meine Herren, wir werden den Forderungen der Geiselnehmer in keinem Fall nachgeben. Wir streben eine polizeilich-militärische Lösung an.“

Ungläubiges Gemurmel …

… Räuspern …

… einige schütteln den Kopf.

Militärische Lösung, das klingt wie im Krieg. Sie glauben nicht, was sie hören. Der Innenminister traut sich als erster.

„Das bedeutet, dass wir die Geiseln aufgeben?“

Der Kanzler schüttelt den Kopf.

„Nein, wir überlassen die Geiselbefreiung unseren schwedischen Freunden. Ich habe vollstes Vertrauen in deren Fähigkeiten.“

„Das heißt, wir rechnen mit Opfern?“, hakt der Innenminister nach.

„Es liegt im Bereich des Möglichen“, antwortet der Kanzler.

Der Kanzler verlässt den Raum und geht in ein Nebenzimmer.

„Verbinden Sie mich mit dem schwedischen Ministerpräsidenten“, fordert er seinen persönlichen Referenten auf.

Zwei Minuten später steht die Verbindung. Olof Palme ist etwas zerknirscht am Telefon. Er musste sich von einem Empfang verabschieden.

„Wir haben uns für die harte Linie entschieden“, teilt Schmidt dem Amtskollegen mit.

„Keine Verhandlungen?“

„Wir verhandeln nicht mit Terroristen. Wir werden keiner Forderung der Terroristen nachgeben. Das schließt aber nicht aus, dass ihr zu einer Verhandlungslösung kommt.“

Palme schluckt. Er holt tief Luft. Für ihn ist das die denkbar schlechteste Lösung.

„Du weißt, dass das so gut wie ausgeschlossen ist. Aber wir werden unser Bestes geben.“

„Davon gehe ich aus“, sagt Schmidt und legt auf.

Palme blickt niedergeschlagen auf den Telefonhörer. Er winkt seinen Assistenten heran.

„Holen Sie mir sofort Lennart Geijer.“

Der Assistent nickt und verschwindet Richtung Empfang. Nach fünf Minuten betritt der schwedische Innenminister den Raum.

„Ich habe schlechte Nachrichten, Lennart“, beginnt der schwedische Ministerpräsident. „Du musst den deutschen Terroristen mitteilen, dass Bonn nicht verhandelt. Sie werden keine Forderung erfüllen.“

Geijer wird ein wenig bleich. Er schluckt. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Eine der undankbarsten Aufgaben überhaupt.

„Du kannst das Telefon im Nebenraum benutzen. Man wird dir die Verbindung herstellen. Wir sehen uns auf dem Empfang.“

Palme verlässt das Zimmer und lässt Geijer alleine. Dieser atmet durch, steht auf und begibt sich in den Nebenraum. Er schimpft auf die deutsche Regierung, die es sich einfach macht. Das Klingeln des Telefons reißt Utz aus seinen Gedanken. Utz gilt als besonnener Verhandlungsführer. Er lässt das Telefon fünf Mal klingeln.

„Hallo.“