Mörderklima - Stefan Schweizer - E-Book + Hörbuch

Mörderklima Hörbuch

Stefan Schweizer

3,0

Beschreibung

Der erste deutschsprachige Klimawandel-Krimi, der die wissenschaftlichen Hintergründe aufzeigt. Die Klimakrise hat ganz Deutschland im Griff. Klimawandelleugner versuchen mit allen Mitteln die Bedeutung des menschengemachten Klimawandels herunterzuspielen und scheuen sich dabei nicht, kriminelle Methoden anzuwenden. Privatdetektiv Georg von Gleiwitz steht vor seinem bisher schwersten Fall. Der blaublütige Privatdozent muss drei mysteriöse Todesfälle im Elfenbeinturm der Wissenschaft auflösen: Wer hat die Datenbasis des Forschungsverbunds ClimateSave manipuliert? Warum stürzte die Ökonomin Frieda vom Forschungsprototypen eines Windrads in den Tod? Handelte es sich bei der Schlaftablettenüberdosis der Soziologin Barbara um Mord oder Selbstmord? Und: Wollte Professor Meyer durch seine effektvoll in Szene gesetzte Selbststrangulation die Öffentlichkeit wachrütteln, um gegen die gesellschaftliche Klimahysterie vorzugehen? Von Gleiwitz muss all seine detektivischen Fähigkeiten in die Waagschale werfen, um den Geheimnissen des Falls auf die Schliche zu kommen. Dabei erwartet ihn manch böse Überraschung. Nicht nur die Leugner des Klimawandels bedrängen ihn, sondern auch seine Kollegin Tabea rückt ihm auf die Pelle. Dabei weiß Georg immer noch nicht, was seiner großen Liebe Anna, an der noch immer sein Herz hängt, vor Jahrzehnten zugestoßen ist.

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Zeit:7 Std. 47 min

Veröffentlichungsjahr: 2020

Sprecher:Katja Wakeham

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Stefan Schweizer

Mörderklima

Krimi

Personen und Handlungen sind frei erfunden, auch wenn sie an realen Orten und Institutionen agieren. Die den realen Personen des öffentlichen Lebens zugeschrieben Handlungen entspringen der Fantasie des Autors.

eISBN 978-3-947612-92-5

Copyright © 2020 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung und Bildrechte: Lukas Hüttner

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Der Autor

Stefan Schweizer studierte, promovierte und lehrte an der Universität Stuttgart. Seine wissenschaftlichen Publikationen zeichnen sich durch interdisziplinäre Fragestellungen aus, die viele gesellschaftliche Problembereiche betreffen. Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Kulturwissenschaft begeistern ihn noch heute.

Schweizer lebt im Speckgürtel der Bundeshauptstadt, bewegt sich gerne in fremden Kulturen, in exotischen subkulturellen Milieus und ist Grenzgänger zwischen den Scenes: ob psychedelische Jam-Bands, Techno-Szene oder Rap-Bewegung – Berührungsängste hat er keine.

„Mörderklima“ ist der vielleicht erste deutschsprachige Klimawandelkrimi.

Veröffentlichungen (Auswahl): „Die Akte Baader“ (Gmeiner, 2018), „Roter Herbst 77 – RAF 2.0“ (Südwestbuch 2017), „Roter Frühling 72, RAF 1.0“ (Südwestbuch, 2017), „BERLIN GANGSTAS“ (Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2016), „Goldener Schuss“ (Gmeiner, 2015).

Für Adina, Constantin und alle Kinder dieser Welt in derHoffnung, dass die Umwelt noch vielen Generationen alsLebensgrundlage erhalten bleiben möge

Inhalt

Der Autor

1. 6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven

2. 21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

3. 6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven

4. 21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

5. 10. Oktober 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

6. 20. Juli 1998, Marburg

7. 23. Oktober 2020, Stuttgarter Westen

8. 20. Oktober 2020, Stuttgart, Hauptfriedhof

9. 21. Oktober 2020, Bremerhaven

10. 24. Oktober 2020, Princeton University

11. 24. Oktober 2020, Stuttgart

12. 20. April 2008, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt

13. 28. Oktober 2020, Vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung

14. 30. Oktober 2020, Berlin, Rigaer Straße

15. 2. November 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt und Bremerhaven

16. 5. November 2020, Stuttgart, Innenstadtcampus

17. 29. Juli 2000, Marburg

18. 5. November 2020, Stuttgart, Innenstadtcampus

19. 10. November 2020, Berlin, Invalidenpark: FFF

20. 10. Juni 2002, Ladenburg

21. 15. November 2020, Potsdam, PIK

22. 15. November 2020, Potsdam, PIK

23. 15. November 2020, Potsdam, PIK

24. 15. November 2015, Potsdam, PIK

25. 16. November 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

26. 30. September 1999, Marburg

27. 19. November 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

28. 19. November 2020, Potsdam, Templiner Vorstadt

29. 21. November 2020, Bremerhaven, Villenviertel

30. 21./22. November 2020, Stuttgart, Innenstadt

31. 29. November 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

1.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven

Oh mein Gott! Wie sollte sie das nur durchstehen, wenn alle guten Geister und die Nerven sie verließen? Ihre Allüren musste sie schleunigst in den Griff kriegen. Aber sie fühlte sich schlecht wie schon lange nicht mehr. Dabei galt es, Stärke zu zeigen. Jetzt, im alles entscheidenden Moment. Aber ihr war die ganze Zeit über nicht wohl. Erpressung war nicht ihr Ding und schon gar nicht diese perfide Art von Erpressung! So was von gemein und niederträchtig. Ihr wurde schwindelig, am liebsten hätte sie sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Wenn es nur schon vorbei wäre. Sie zupfte an dem edlen, silbernen Hochkaräter herum, den sie von ihrer Großmutter vererbt bekommen hatte. Sie war nervös, zappelig und verspürte starke innere Unruhe. Was sollte sie tun? Es hing zu viel für sie davon ab. Genau betrachtet ging es um Beruf, privates Glück und ihre Zukunft. Also blieb ihr nichts übrig, als es durchzuziehen. Ohne nach links oder rechts zu schauen. Einfach durch und weiter. Sie schauderte vor Kälte und Anspannung, wobei sie den eleganten und komfortablen Burberry-Trenchcoat fester um sich zog. Sie besaß ein Faible für hochwertige Kleidung. Ohne einer bestimmten Stilrichtung anzuhängen. Ihre Garderobe musste teuer, von erlesenem Geschmack sein und was hermachen. Es war ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit. 5° Celsius. Vor Kurzem hatte es geregnet. Der Wind pfiff unerbittlich und sie fror wie ein frisch geschorenes Schaf auf einer schottischen Weide, da die feuchte Kälte an ihr hochkroch. Es war heute nicht richtig hell geworden und nun war es am frühen Abend beinahe stockdunkel. Dennoch thronte die verspiegelte und vergoldete Ray-Ban-Sonnenbrille auf ihrem Haupt, die ihr Sicherheit verlieh. Ein goldener Oktober sah anders aus und von Klimaerwärmung war nichts zu spüren. Wer da von globaler Erderwärmung und Gefährdung der Menschheit fabulierte, der sollte sich hierhin stellen und sich seinen Allerwertesten abfrieren. Der Turm ragte wie ein weißer Riese in den Himmel, seine drei Rotorblätter drehten sich schnell. Obwohl kein Ton zu vernehmen war, kam es ihr vor, als ob das Zusammenspiel von Nabe, Rotor und Gondel unheimliche Geräusche verursachte, die wie Ächzen und Wehklagen klangen. Sie erinnerte sich an Berichte über empörte Anwohner*innen, die behaupteten, dass die Windräder Lärm verursachten. Das war umstritten, aber hier herrschte wirklich die Ruhe vor dem Sturm. Mit etwas Fantasie sahen die Rotorblätter aus wie Arme, die anämisch im Kreis ruderten. Wie andere Windkraftanlagen war auch diese auf einem Plateau errichtet worden, damit sie die Windverhältnisse optimal ausnutzen konnte. Bei dieser Kleinwindenergieanlage handelte es sich um den Prototypen eines großen, internationalen Forschungsverbundes. Das Ding war Millionen wert und sollte es sich durchsetzen, winkten immense Gewinne. Der Clou an diesem Windrad war die Aussichtsplattform. Diese Witzfigur von Soziologie-Professor hatte sich doch tatsächlich erdreistet zu behaupten, dass eine Aussichtsplattform auf den Windrädern die soziale Akzeptanz derselben erhöhen würde. Stimmte schon, die meisten Anwohner*innen wollten keine Windkraftanlagen in ihrer Nachbarschaft, da sie die Grundstückspreise senkten – da halfen auch in Aussicht gestellte Kompensationszahlungen nichts. Der Soziologe behauptete, dass es gut wäre, erst einen Prototypen mit der Aussichtsplattform zu bauen und diese dann für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dadurch würden die Anwohner*innen zugleich von einem Nutzen der Windkraftanlage profitieren. Zu vorgerückter Stunde hatte er einmal behauptet, dass es sogar denkbar wäre, eine Bar oder ein Restaurant in das Windrad zu integrieren.

Mit sich steigernder Verzweiflung blickte sie an dem über hundert Meter hohen Ungetüm empor und das visuelle Ineinander-Übergreifen der Rotoren und der schnell vorbeiziehenden Wolken verursachten ein heftiges Schwindelgefühl. Also blickte sie auf den Boden, stützte sich am kalten Metall des Turmes ab, spähte umher, konnte aber nichts erkennen. Undenkbar fand sie, dass in solch einem seltsamen Bauwerk eine Bar oder Ähnliches wäre. Schon die provisorische Aussichtsplattform da oben war beileibe abenteuerlich genug …

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Jetzt nicht durchdrehen. Wenn du cool bleibst, wird alles gut. Dann kannst du erreichen, was du dir vorgenommen hast. Alles, was das Leben dir zu geben bereit ist.

Ein Blick auf die für ihren Geschmack viel zu kleine goldene Rolex versetzte sie in Rage.

19.25 Uhr.

Ihr Tête-à-Tête war zehn Minuten zu spät. Ein absolutes No-Go. Wenn sie etwas hasste, dann war es Unzuverlässigkeit. Das sollte die Schlampe ihr büßen. Schon alleine für die Unverfrorenheit, dass sie sie hier warten ließ, hatte sie die denkbar schlimmste Strafe verdient. Und wenn sie an die Geschichte von früher dachte, die nachdrücklich ihr Leben geprägt hatte, dann schürte es ihr den Hals zu und es fiel ihr schwer, regelmäßig zu atmen. Das war längst nicht vergessen und vergeben gleich gar nicht. Vernichtung hieß ihre Agenda. Auch wenn sie mit dem Weg dahin nicht einverstanden war und der Plan nicht von ihr stammte. Wie kompliziert das alles war und noch werden konnte.

Plötzlich hörte sie ein scharfes: „Du wolltest mich also dringend sprechen?“

Der Schreck fuhr ihr in alle Glieder. Die Stimme kam aus dem Off, überraschte sie in ihrer Gedankenwelt und langsam begriff sie, dass sich ihre Kontrahentin von hinten angeschlichen hatte. Sie musste durchatmen, Kontrolle gewinnen und Sicherheit ausstrahlen. Nicht ganz einfach. Sie überlegte sich, ob sie ihr eine runterhauen sollte, entschied sich aber lieber dafür, die Augen zu schließen und sich eine grüne Wiese vorzustellen. Als sie sie wieder öffnete, lächelte die Tonne boshaft und von oben herab. Aber dieses dümmliche Grinsen würde ihr vergehen, wenn sie alles auf den Tisch gepackt hatte. Schon alleine ihr Aussehen war das Letzte. Sie war mindestens zwanzig Kilogramm zu schwer und ihre adipöse Erscheinung wirkte wie ein gigantischer Schutzwall. Wie manche Männer so etwas mögen konnten, war ihr ein Rätsel. Das hatte mit weiblichen Rundungen und Reizen nichts mehr zu tun. Das war pures Fett und sah fehl am Platz aus. Ihr Gesicht war bestenfalls ein pausbäckiges, dumm drein glotzendes Mondgesicht. Und dann diese furchtbare Kleidung. Ohne Geschmack und Stil. Eine visuelle Katastrophe, die ‚Tritt mich, ich bin hässlich, dumm und fett!‘ schrie. Alle Kleidung in kackbraun – immerhin ging sie mit den Jahreszeiten, hihihi. Bequeme Öko-Treter, bestimmt von Hess Natur oder solch einem Ich-bin-ein-guter-und- verantwortungsvoller-Mensch-Laden, darüber eine feine Stoffhose, die sicherlich nicht günstig gewesen war, aber wie ein Kartoffelsack im Zeltformat wirkte. Die Allwetterjacke verstärkte den Eindruck einer Alternativen-Fair-Trade-Trulla, was durch das elegante Seidentuch, das sie wie einen Schal um den verfetteten Hals gewickelt hatte, konterkariert wurde. Alles sah degoutant aus und passte nicht zusammen. Das Make-up verstärkte den negativen Eindruck. Zum Glück konnte sie die Schminke nicht genau erkennen, denn bei so viel ökologischer Korrektheit und schottischer Sparsamkeit am falschen Fleck wäre ihr vermutlich noch übler geworden. Es passte nichts zusammen und herauskam ein belangloses Sammelsurium, das wie beliebig hin geklatscht wirkte. Und dann wagte sie in ihrer bodenlosen Dummdreistigkeit den Mund aufzumachen und sie blöd von der Seite anzuquatschen, anstatt ihr den nötigen Respekt zu zollen.

„Findest du es nicht ein wenig melodramatisch, sich ausgerechnet hier zu treffen? Am frühen Abend und ganz alleine? Nicht einmal in mein Büro wolltest du kommen. Möchtest du Feldstudien betreiben oder sicher gehen, dass niemand unser Gespräch mithört? Ist es wirklich so dringlich und geheimnisvoll? Oder machst du dich mal wieder wichtig? Viel heiße Luft um Nichts? Das ist es doch immer gewesen. Ganz viel heiße Luft um Nichts. Nicht wahr?“

Die dumme Kuh gackerte selbstverliebt los und gluckste ein wenig. Schluss damit! Es war an der Zeit, andere Seiten aufzuziehen und die Initiative zu gewinnen.

„Hallo meine Süße. Gut siehst du aus. Beinahe wie früher. Nur, dass die viele Schokolade und die unzähligen Bio-Fertiggerichte dich etwas unförmig haben werden lassen. Man sollte auch von dem Bio-Kram nicht mehr als zwei Mahlzeiten am Abend essen. Und Fett bleibt nun einmal Fett, ob biologisch oder konventionell hergestellt. Aber darum geht es nicht. Was ich dir zu sagen habe, wird dein Leben grundlegend verändern.“

Ein klein wenig verlor die Fassade der adipösen Mitvierzigerin an Selbstsicherheit. Treffer! Ha, das verlieh ihr Auftrieb.

„Deine berufliche Existenz hängt von mir ab. Das macht dir doch hoffentlich keine Angst. Oder etwa doch?“

Jetzt genoss sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Ihre Überlegenheit war auf einen Schlag verschwunden. Stattdessen breiteten sich Fragezeichen, Zweifel und Angst auf ihrem Gesicht aus. Wäre es ihr möglich gewesen, hätte sie diesen Augenblick für die Ewigkeit auf Zelluloid gebannt. Oder in einem Gemälde.

„Ich möchte dir etwas zeigen“, setzte sie nach und schloss die schwere Sicherheitstüre auf, die in das Innere des Windrads führte. „Dazu müssen wir nach oben“, fügte sie hinzu und zeigte auf den steilen Aufstieg, der aus einer einfachen Metallleiter bestand.

Jetzt bebte sie vor Freude, da sie pure Panik bei der ihr seit Jahren verhassten Person spürte. Diese Vibes verschafften ihr ein unvergleichliches High. Oh, es war so unbeschreiblich schön, Macht zu besitzen und einen anderen Menschen zu zerstören.

„Nach dir, bitte!“, zirpte sie mit ihrer süßesten Stimme. „Es wird nicht lange dauern.“

Voller Vorfreude stellte sie sich das Erstaunen vor, wenn sie die Bomben platzen lassen würde. Das hatte nicht nur etwas mit dem Beruf zu tun, sondern lag im zutiefst persönlichen Bereich … Das Glück, das sie bei dieser Vorstellung verspürte, bedeutete ihr inzwischen beinahe alles.

Jetzt, da sie auf der Plattform angelangt war, war sie erstaunt, wie schlecht alles abgesichert war. Es machte einen gewaltigen Unterschied aus, über Dinge in der Theorie zu schreiben und sie dann Realiter zu sehen. Auf der anderen Seite waren Ingenieure und Konstrukteure für die Herstellung des Produkts verantwortlich, während sie sich um die ökonomischen Aspekte kümmerte. Bei ihr ging es um andere, aber nicht minder wichtige Fragen, als die der Stabilität und Funktionalität. Das die Gondel bis zur Nabe umzäunende Außengeländer ging ihr zwar bis knapp über die Hüfte, bestand aber nur aus zwei Drahtseilen. Der Abstand zwischen den Seilen war abenteuerlich groß. Natürlich würde die Sicherung bei dem Windkraftrad ganz anders aussehen, sollte es in Serie hergestellt werden. Wenn sich schließlich Anwohner*innen und Tourist*innen auf die Plattform begaben, um die sie umgebende Natur zu bestaunen und eventuell sogar noch ein Getränk zu konsumieren, dann mussten besser schützende Geländer her. Windkrafträder mit Aussichtsplattform gab es bisher nur ganz selten in der Welt und ein solches wie hier noch nirgends sonst. Das konnte sich aber bald ändern, glaubte man den neuen Forschungsergebnissen. Die integrierte Aussichtsplattform zu besseren Akzeptanzzwecken war ein Novum und sollte die deutsche Energiewende entscheidend voranbringen. Die Aussichtsplattform an sich war zwar nicht neu, aber die Konzeption sah ja vor, dass diese ein wesentliches Element der Windkraftanlage sei, um deren soziale Akzeptanz zu fördern. Wie ein Mantra hatten die Sozialwissenschaftler den einfachen Gedanken erklärt: Wenn die Menschen erst die wunderbare Aussicht von dem Windrad entdeckten, so der Gelehrte der Gesellschaftswissenschaften, dann wären sie in der Lage, es als wichtigen Bestandteil ihrer natürlichen Umgebung anzusehen. Natürlich war die hiesige Plattform ein Provisorium. So etwas wäre für den öffentlichen Zugang äußerst riskant. Aber den am Projekt beteiligten Wissenschaftler*innen traute man offensichtlich zu, dass sie nicht Gefahr liefen, zwischen den Stahlseilen in die Tiefe zu stürzen. Als knallharte Ökonomin hielt sie den sozialen Aspekt der Akzeptanz für übertrieben, unnötig und viel zu kostspielig. Aber so war das mit inter- und transdisziplinären Wissenschaftsprojekten eben. Jeder noch so kleine und häufig unnötige Wunsch musste berücksichtigt werden.

Sie erinnerte sich, vor Kurzem selbst in einem Forschungsbericht geschrieben zu haben, dass es sich bei der Windkraftanlage um einen vielversprechenden, sprich lukrativen, Prototypen handelte, an dem einige Riesen der Energiewirtschaft brennend interessiert waren, was vor allem mit technischen Neuerungen bei der Stromproduktion zusammenhing. Bis das Ding aber Produktionsreife erlangte und die fette Kohle brachte, vergingen einige Jahre. Und dann gab es ja noch Leute wie ihre Feindin, die nach der gesellschaftlichen Akzeptanz eines solchen technischen Geräts fragten. Als ob es nichts Sinnvolleres zu tun gäbe. Ach, wie einfach es wäre, jemanden hier in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Das wäre eindeutig simpler, als das volle Programm durchzuziehen. Auf der anderen Seite würde diese Vorgehensweise ihrer Feindin die unsäglichen Leiden und Qualen ersparen, die sie feinsinnig und detailliert ersonnen hatte. Also, wieso nur hegte sie solch düstere Gedanken, die sie um den Ertrag ihrer mühsamen Arbeit bringen würden? Weil ihr bitterkalt war? Weil sie außer Atem war – wegen der vielen Stufen? Weil sie ihre neuen Stiefeletten ruiniert hatte? Weil sie nicht wusste, wie die andere reagieren würde? Vielleicht war ihr ja alles gleichgültig und sie nahm es anders auf als geplant? Nein, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn in ihren Plänen hatte sie jede feine Nuance bedacht. Also, wenn sie es bei rechtem Licht besah …

2.21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

Draußen stürmte es heftig, die düsteren Wolken zogen hastig über das Firmament. Noch regnete es nicht. Georg überlegte scharf und legte seinen Kopf vertrauensvoll in seine beiden langgliedrigen, aber feinen Hände, die sich samtweich anfühlten. Ein Blick aus dem hohen, beinahe bis zum antiquierten Kirschbaumparkettboden reichenden Fenster zeigte ihm, wie schön und behaglich es drinnen war. Die pompös angelegte Gartenanlage befand sich im Dunklen, während Bäume, Sträucher und andere Pflanzen vom Wind wie Spielzeug hin und her geschüttelt wurden. Lediglich der mit Wappen und Adligen aus vergangener Zeit verzierte Marmorbrunnen in der Mitte der Kiesauffahrt, die sich irgendwo im Nichts verlor, zeigte sich von den Wetterkapriolen unbeeindruckt.

Georg massierte sich sanft mit seinen Fingerspitzen die hohen, edlen Wangenknocken, um die Anspannung ein wenig zu lösen. Das seinem Mund entweichende, eher banale und nichtssagende „Uff!“ stand ein wenig im Kontrast zu seiner exquisit gekleideten Person, die sowohl einem ersten, als auch einem zweiten Blick standhielt.

Aller Anfang ist ja bekanntlich schwer, aber dieser hier hatte es ganz besonders in sich. Er presste die vollen, aber fein geschwungenen Lippen entschlossen aufeinander und seine hellblauen Augen funkelten vor Energie und Lebensfreude. Sorgfältig wägte er die Worte ab und spielte mehrere Satz-Varianten im Geiste durch. Aber er war nicht recht zufrieden. Keine der Möglichkeiten schien ihm für sein Vorhaben gut genug zu sein. Wie musste der erste, perfekte Satz eines wissenschaftlichen Aufsatzes aussehen? Eigentlich ein einfaches Unterfangen, denn er musste so eindrücklich und so wahr wie möglich sein. Das sagte sich leicht, war aber schwer zu realisieren. Lamentieren half nicht, denn das war sein Job, der ihm Freude bereitete und ihn erfüllte.

Der Klimawandel bildet eine universale, die Menschheitsgeschichte begleitende Konstante, welche das Dasein und das Zusammenleben der Menschen seit jeher geprägt und sogar bestimmt hat.

Ihm war aus seiner Lebenserfahrung heraus klar, dass es bei einer wissenschaftlichen Abhandlung nie bei einem einzigen Versuch eines ersten Satzes blieb. Der ihm jetzt vorliegende Satz traf zwar den Kern der Sache, aber er war dennoch nicht völlig zufrieden.

Georg blickte ein wenig unglücklich auf den gigantischen Computer-Bildschirm. Wenn er nicht etwas mit seinem teuren Füllfederhalter handschriftlich festhielt, arbeitete er ausschließlich hier. Die kleinen Laptop-Bildschirme verabscheute er, denn er war der Meinung, dass die Schreibutensilien einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Qualität des Geschriebenen besaßen. Er kniff die Augen zusammen. Aus kulturgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Perspektive gab es am Wahrheitsgehalt des Satzes nicht das Geringste zu deuteln. Aber dennoch setzte er sich mit einem solchen Entree sofort der Gefahr aus, in die Ecke derjenigen gestellt zu werden, die die Bedeutung des Klimawandels herunterspielen. Nichts lag ihm ferner als die Bedrohung, die vom Klimawandel ausging, zu relativieren. Der heutige, vom Menschen verursachte Klimawandel stellte eine der größten Herausforderungen für die Menschheit dar – ja für viele Menschen hing sogar das Überleben davon ab, wie dieser Klimawandelt vor sich ging. Das stand außer Frage. Dennoch, sein Satz war wahr, ohne Wenn und Aber. Doch die Klemme, in der er steckte, löste sich nicht auf. Eine verzwickte Situation und das bereits zu Beginn seines kleinen Werks. Das konnte ja noch heiter werden.

Zerstreut roch er am großen Kristall-Burgunderkelch, in dem eine dunkelrote, beinahe schon schwarze Flüssigkeit das dezente Licht des alten Kronleuchters reflektierte. Leichte Schlieren am inneren Rand des edlen Gefäßes bildeten verwobene Muster. Georg nahm das wunderbare Bouquet des apulischen Primitivo einer hoch geachteten italienischen Kellerei nur unterschwellig wahr: Sauerkirsche, Zwetschge, Brombeere, Vanille, Tabak, Leder, Unterholz und ein leichter Hauch mediterraner Kräuter.

Zum vollendeten, ambitionierten Weingenuss gehörten für Georg die Wahrnehmungen und Empfindungen des Auges, der Nase und des Gaumens. Aber im Moment war er zu belegt, um seine Sinneswahrnehmung voll zu entfalten. Ohne einen Schluck zu kosten, setzte er das Weinglas wieder ab und schrieb:

Obwohl der Klimawandel die Menschen vieler Epochen vor große Herausforderungen gestellt hat, bedeutet der heutige, anthropogen verursachte Klimawandel eine Gefahr, wie sie bis dato für unsere Spezies noch nie existierte.

Georg verabscheute unkultivierte Sitten und dennoch konnte er sich ein leises „Verflixt und zugenäht!“ nicht verkneifen. Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad im zweiten Satz? Dadurch tat er sich keinen Gefallen, denn so räumte er in seinem kulturgeschichtlichen Aufsatz dem aktuellen Problem des menschlich verursachten Klimawandels eine Bedeutung ein, die dieser nicht besaß.

Die Bedeutung des heutigen Klimawandels zu untersuchen, wollte er dann doch lieber den Naturwissenschaftlern, Soziologen und Juristen überlassen. Oh, wie ihm diese einfach strukturierten Disziplinen und ihre Vertreter zuwider waren … Idealerweise sollte er erst am Ende des Aufsatzes den Bezug zur Gegenwart herstellen und dabei auf die mit dem Klimawandel verbundenen Gefahren hinweisen, wobei er mit Bewunderung an die junge schwedische Klima-Aktivistin Greta Thunberg dachte, die es in ihren Reden in einfachen Worten verstand, zum Kern der Sache vorzudringen. Er nahm einen Schluck Wein und balancierte das edle Rebengewächs im Mund, damit die Aromen-Intensität zur Entfaltung kommen konnte.

Der Aufsatz für ein angesehenes Fachjournal mit hohem Impact-Faktor erwies sich als Herkules-Aufgabe, hatten sich schon die Vorarbeiten als mühsam erwiesen. Er musste schließlich alles selbst erledigen, da er weder über eine Sekretärin noch über Mitarbeiter oder studentische Hilfskräfte verfügte. Doch Herausforderungen wie diese gaben ihm eine tiefe innere Befriedigung. Da er alles alleine auf die Beine stellte, hatte er die Gewissheit, dass alles passte, sauber erarbeitet war und jedem kritischen Blick standhielt. Seine wissenschaftliche Reputation bedeutete ihm viel, und es gab nur eine Sache, der er noch mehr Bedeutung zumaß …

Wenn nur dieser knifflige Anfang nicht wäre. Sobald dieser gelungen war, würde sich der Rest von selbst schreiben, dessen war er sicher. Beethovens Fünfte ertönte leise, bis sie schließlich laut vernehmbar war – das Telefon!

Er warf einen Blick auf die mit einem silbernen Armband und blauem Gehäuse versehene Patek Philippe. Kurz vor 22.00 Uhr. Wer konnte das sein? Eine Kollegin oder ein Kollege? Um diese Uhrzeit eher unwahrscheinlich. Eine Studierende, die fachlich weder ein noch aus wusste oder ihm ihr Herz ausschütten wollte? Wäre nicht das erste Mal. Trotz seiner hehren wissenschaftlichen Aura und seines mitunter distanziert-spröden Umgangs mit Studierenden außerhalb des Hörsaals, übte er aufgrund seines Aussehens und Charismas eine nicht zu unterschätzende Faszination auf die weibliche Hörerschaft aus. Oder war es Tabea? Aber sie hatten vereinbart, dass sie sich erst meldete, wenn sie wieder zurückgekehrt war …

Er eilte über die sachte knirschenden Holzbohlen zum Festnetzanschluss, der aus dem letzten Jahrtausend zu stammen schien.

„Georg Graf von Gleiwitz“, meldete er sich mit einer angenehm klingenden, tiefen Stimme, die nichts von der Spannung Preis gab, wer am anderen Ende der Leitung zu erwarten war.

Einen Augenblick lang herrschte Stille im Äther. Dann vernahm er leises, aber aufgeregtes Schnaufen.

„Georg?“

Die weibliche Stimme kam ihm trotz der schlechten Verbindung bekannt vor.

„Georg, bist du das?“

Er war nicht sicher, wem die Stimme gehörte. Bevor er den Fehler machte, sich mit einer Studentin auf Du und Du zu stellen, fragte er lieber nach.

„Frieda“, wurde er aufgeklärt.

Frieda? Wenn er doch nur drauf käme … Frieda? War das die kleine, ein wenig abwesend wirkende Blondine, die ihn immer mit offenem Mund und dumpfen, wässrigen blauen Augen aus der ersten Reihe anstarrte, während er sich über die schwierigsten Fragen der Menschheits- und Kulturgeschichte erging?

Nein …

„Von Fritsch.“

Frieda von Fritsch! Aber klar! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Eine seiner Mitstreiterinnen vor unzähligen Jahren. Gemeinsam waren sie aufgebrochen, um die Welt der Wissenschaft im Sturm zu erobern und nun hatte sie die Realität eingeholt und ihnen die allzu glänzenden Illusionen geraubt.

„Ich muss mit dir reden, Georg!“

Die Worte waren schwer zu verstehen und Georg wusste nicht recht, ob es an der schlechten Verbindung lag oder ob Frieda zu aufgeregt war, um deutlich zu sprechen. Dem stünde ja nichts im Wege, gab er sich zurückhaltend.

Doch Frieda hauchte ein gepresstes „dringend, persönlich und unter vier Augen“ in den Hörer.

„Hat das nicht noch ein wenig Zeit?“, versuchte er sich ein wenig Luft zu verschaffen. „Kommende Woche würde es mir am Wochenende gut passen.“

Friedas Entgegnung war eindeutig: „Sofort! Ich bin einem Skandal auf der Spur, der die Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird.“

3.6. Oktober 2020, nahe Bremerhaven

Es fiel ihr nicht leicht, die steilen Treppen hochzusteigen, was sich an ihrer heftigen Atmung zeigte. Sie spürte jeden einzelnen Chips, von den unzähligen Schokoladeneisen ganz zu schweigen, die sie abends gerne vor dem Fernseher genoss, während sie Filme über die Natur und Tiere oder noch lieber Lifestyle-Sendungen anschaute und Menschen bewunderte, mit denen sie nie Kontakt haben würde. Aber sie konnte ohne diese kleinen Schwächen einfach nicht sein. Denn dann wäre ihr Leben gänzlich ohne Freude und damit sinn- und zwecklos. Schon traurig, wenn es so weit mit einem gekommen war, aber diese kleinen Sünden gaben ihr Kraft und Energie, die Strapazen des Alltags auszuhalten. Die Metallstufen ragten hoch in ein dunkles Nichts und der Steigungswinkel war abenteuerlich. Sie keuchte und schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. So etwas konnte nicht einmal Fitness-Freaks Spaß machen, von Schreibtischtäterinnen wie ihr ganz zu schweigen. Die Beleuchtung war spärlich – hier musste der Prototyp ohne Frage noch optimiert werden, wenn er für soziale Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen sollte. Wenn das kein Anlass war zu beschließen, mehr auf ihr Gewicht zu achten und Sport zu treiben, dann würde es einen solchen nicht mehr geben. Aber immerhin hatte die dumme Kuh hinter ihr auch ihre Probleme mit den schwierigen Rahmenbedingungen. Wenn man so dämlich war, für dieses Abenteuer moderne, pinke Stiefeletten mit gewagten Absätzen anzuziehen, konnte einem nicht geholfen werden. Oder? Sie hörte, wie diese fiese Pseudo-Lesbe, die ihr Coming-Out noch vor sich hatte, immer wieder in den quadratischen Hohlräumen der Leiter hängenblieb. Ha, das geschah ihr recht und vielleicht sollte sie anregen, dass in den nächsten Expertenbericht eingefügt wurde, die Treppen sollten für alle Altersklassen und jeden Modestil passen, damit die Bevölkerung möglichst keinen Stein des Anstoßes fand. Dennoch beunruhigte sie die Vorstellung, was dieses von Hass erfüllte Weib von ihr wollte. Berufliche Vernichtung? Im Ernst? Oder billige Rache für früher? Das war doch wohl nichts als ein schlechter Scherz. Sie versuchte lediglich, sie aus dem Konzept zu bringen. Natürlich gab es unbefristete und vor allem besser bezahlte Jobs, aber bei ihrem Posten saß sie sicher im Sattel. Da gab es kein Wenn und Aber … Und was war, wenn …? Jetzt schnürte es ihr die Kehle zu und sie keuchte ein wenig mehr als ohnehin schon. Denn genau genommen war ihr Beruf ihr ein und alles. Sie besaß sonst nichts, denn … Etwas anderes gab es im Moment nicht in ihrem Leben und von einem emsigen gesellschaftlichen Leben war sie Lichtjahre entfernt. Wenn man einmal von ihren drei Katzen absah. Ihren Babys. Aber die halfen im Zweifel beim Verlust der Arbeit nicht weiter – abgesehen vom abendlichen Kuscheln, aber das nur, wenn sie in Stimmung waren, die blöden Viecher. Und wenn sie ihren Job einmal verloren hatte, war sie geliefert. Dann war es Schluss, aus und vorbei. Wer nahm sie in ihrem Alter? Wo sollte sie unterkommen? Welcher Art von Arbeit sollte sie mit ihrer spezifischen Überqualifikation nachgehen? Nein, Toiletten würde sie bestimmt nicht putzen. Und Regale auffüllen, nur damit sie nicht durch das sogenannte soziale Netz fiel, kam auch nicht in Frage. Wenn sie sich umdrehte und plötzlich fallen ließ, dann würde dieser Strich in der Landschaft wie ein Papierblatt umfallen und die Treppen hinunterpurzeln. Wenn es dumm lief, brach sie sich dabei das Genick. Das wäre nicht unpraktisch. Oder? Aber vielleicht war es besser, sich erst einmal anzuhören, was die Hexe ihr mitteilen wollte. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie viel Wirbel um nichts machte und sich alles als heiße Luft entpuppte …

Als sie oben angekommen waren, atmete sie tief durch. Die dürre Schlampe mit dem Nervenschaden schaute sich nervös um. Die schlecht gesicherte Plattform auf dem Windrad schien ihr Angst einzujagen. Oder war es lediglich die Vorfreude auf das, was sie ihr mitteilen wollte? Die Seile zur Absicherung waren ein Witz. Wenn sie jetzt auf ihre Allzeit-Konkurrentin stürzte, dann war diese Geschichte. Für immer.

„Schöne Aussicht hier oben, aber beschissenes Wetter“, brach sie die Stille. „Und dafür hast du dir die Schuhe ruiniert.“

Die Spitze saß. Das Gesicht des Klappergestells verlor die Contenance. Ihr lächerliches Modebewusstsein war nach wie vor ein wunder Punkt … Zeit herauszufinden, was Sache war. Ihr fehlte schlichtweg die Phantasie sich vorzustellen, was Schlimmes kommen sollte.

„Wofür sind wir hier hinauf geklettert? Und was hast du mir zu sagen?“, fragte sie, während es sie Anstrengung kostete, sie nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.

Ah, dieses fiese Lächeln, das ihr eine böse Gänsehaut bescherte.

„Nun, meine Liebe, das möchte ich dir verraten …“

Als sie geendet hatte, bebte sie innerlich vor Wut. Die Kälte war vergessen. Ebenso die unsäglichen Anstrengungen. Was die Tante ihr gesagt hatte, war ungeheuerlich. So ungeheuerlich, dass sie sich beinahe vergaß. Was hieß da beinahe? Diese Schlampe wollte sie tatsächlich vernichten. Auslöschen! Exitus! Finito! Sie versuchte etwas zu entgegnen, brachte aber nur unverständliches Gestammele zustande.

„Da bist du aber ziemlich perplex, meine Liebe“, drang die vor Hohn und Boshaftigkeit triefende Stimme an ihr Ohr. „Da geht dir endlich mal der Arsch auf Grundeis. Das geschieht dir ganz recht und war längst überfällig. Da helfen dir auch keine Öko-Chips-Packungen oder Fair-Trade-Schoki weiter.“

Barbara hatte Mühe, Luft zu bekommen.

„Und in Sachen Männern hat sich das Blatt auch gehörig gewandelt, du Schlampe! Ich konnte nie verstehen, was die Herrenwelt an solch einer fetten Tonne wie dir finden konnte. Mir liegen nun nicht nur ältere, sehr arrivierte Herren zu Füßen …“

Oh, eindeutig eine Anspielung auf ihren Chef. Dieser gutaussehende, erfolgreiche Mann würde sich doch nicht freiwillig für eine alte Schachtel wie …

„… sondern auch ganz junge, knackige Kerle. Bei uns im Institut gibt es einen Doktoranden, Markus, der ist sooo fantastisch im Bett, dass du dir keinen Begriff machst. Du kannst ja mal auf unserer Instituts-Homepage nachschauen, dort gibt es ein kleines, süßes Bild von ihm oder aber auf Facebook, dort zeigt er sich etwas freizügiger beim Sport …“

Ihre weiteren Bemerkungen waren so taktlos wie ein mit Wodka abgefüllter Russe. Trotz der herrschenden Dunkelheit versuchte sie jetzt ihrer Todfeindin in die Augen zu schauen. Aber da war nur diese alberne, verspiegelte Sonnenbrille. Das Gesicht war eine lächerliche Fratze. Sie spürte eine Wut in sich emporsteigen, wie sie sie noch nie in ihrem Leben empfunden hatte. Ihr Inneres glich einem Vulkan, der kurz vor der Eruption stand. Durch die Wut gelangte sie zur Erkenntnis, dass dieses Problem nur auf eine bestimmte Art aus der Welt zu schaffen war. Dieser Gedanke traf sie wie ein heftiger elektrischer Schlag, während ihre Gesprächspartnerin sich in ihrem Sieg suhlte. Für alles im Leben gab es ein erstes Mal. Sie schloss die Augen und sammelte physische und psychische Energien. Keine Frage, der heutige Tag hatte ihr Leben grundlegend verändert. Und er war noch nicht vorbei. Entschlossen machte sie zwei kleine Schritte nach vorne, packte ihre Kontrahentin mit aller Kraft an den Schultern und sagte mit einer sie selbst erschreckend tiefen Stimme „Das hast du nicht umsonst gemacht, du Schlampe!“

Danach wurde alles schwarz.

4.21. September 2020, Potsdam, Berliner Vorstadt

Obwohl sie am Telefon versichert hatte, in zwei Stunden da zu sein, musste Georg eine Stunde länger warten.

Irgendwie hatte er Frieda anders in Erinnerung gehabt. Natürlicher, bodenständiger und warmherziger. Ihr Gesicht war spitz und ein wenig verhärmt. Vor etlichen Jahren hatte sie doch besser ausgesehen, oder? War das nur die Erinnerung, die ihm einen Streich spielte? Klar, sie wurden alle älter. Ihre Garderobe war wie früher stilvoll, exquisit und dennoch gewagt für eine Frau in ihrem Alter und mit ihrem Beruf. Weder nuttig noch schlampig, dennoch mutig. Es lag auf der Hand, dass sie etwas kompensierte, das nichts mit ihrem Äußeren zu tun hatte.

„Schön hast du es hier“, behauptete sie mit einer nasalen, einen affektiven Klang kultivierenden Stimme.

Georg war sich nicht sicher, ob Frieda ihre Aussage aufrichtig meinte. Natürlich machte sein „Salon“ Eindruck. Er war riesig – verglichen mit den meisten Wohnzimmern, die es heute gab. Aber das war in der Gegend, in der er wohnte, schließlich nicht anders zu erwarten. Die Berliner Vorstadt in Potsdam wies eine Villen-Dichte auf, von der andere Städte nur träumen konnten. Und die feudalen Anwesen hier hatten nichts mit modischem, neureichem Schnickschnack zu tun, sondern stammten aus einer Zeit, in der Stil und Kultiviertheit noch an der Tagesordnung waren. Dennoch hatte ihm manch einer seiner Gäste mehr oder weniger offen kommuniziert, dass sie die Villa ziemlich „retro“ fanden. Point taken, aber er war vertraglich dazu verpflichtet, nichts in der Villa oder auf dem Grundstück zu verändern.

Das Feuer loderte behaglich im Kamin und das alte Holz an den Wänden strahlte eine urige Behaglichkeit und Wärme aus. Aber der Kronleuchter und die alten Polstermöbel wirkten très Old School, um nicht zu sagen, out of date.

„Wie bist du denn zu diesem Schuppen gekommen?“, fragte Frieda mit spitzer Zunge und schnitt eine vielsagende Grimasse. „Das ist ja unglaublich hier. Schön und alt und gediegen.“

Im zweiten Satz legte sie Erstaunen und Bewunderung an den Tag, doch den ersten hatte er nicht vergessen. Obacht. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste und Georg hatte keine Lust, jemandem auf den Leim zu gehen. Aber das war genau die Frieda, die er in Erinnerung hatte. Frieda war offen, direkt und neugierig, aber nie einfach. Georg würde nicht so weit gehen, Frieda als menschlich schwierig zu bezeichnen. Dennoch musste man bei ihr auf der Hut sein, um sich nicht unangenehmen und zahlreichen Fragen ausgesetzt zu sehen. Natürlich verstand er ihre Zwischentöne. Aber um es auf den Punkt zu bringen, hätte sie ruhig direkt fragen können: Wie um alles in der Welt konnte er sich eine solch luxuriöse Villa in einer der begehrtesten und exklusivsten Lagen von Potsdam leisten?

„Das ist eine längere Geschichte. Aber du bist ja ein klein wenig mit der Geschichte meiner Familie vertraut … Aber deswegen bist du ja nicht hergekommen. Es war dein ausdrücklicher Wunsch, heute noch diese dringende Angelegenheit zu besprechen, die dir auf dem Herzen liegt“, sagte Georg warmherzig und zeigte ein freundliches Lächeln.

Die antike Standuhr aus Nussbaum mit den goldenen Zeigern schlug Mitternacht und damit gehörte das Heute der Vergangenheit an. Es lag ihm fern unhöflich zu sein oder gar enerviert zu klingen, aber es war spät und auf seinem Schreibtisch wartete jede Menge Arbeit und an seine erste morgige Vorlesung wollte er gar nicht denken. 9.15 Uhr! Eine derart frühe Vorlesungszeit sollte Juristen oder Ökonomen vorbehalten bleiben. Bei den Medizinern fingen die Veranstaltungen zum Teil bereits um 8.00 Uhr an. Einfach unmenschlich. Um diese Uhrzeit kostete es ihn viel Energie zur Hochform aufzulaufen, während ein zwei Stunden später alles wie von selber lief. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass der Dekan es auf ihn abgesehen hatte, zumal der Vorlesungssaal etwas abseits von den üblichen Veranstaltungsorten lag und er von seinem Büro dorthin recht lange benötigte. Das war die Retourkutsche dafür, dass er ihn vor Jahren bei einer Fakultätsratssitzung einen zwanghaften Erbsenzähler genannt hatte – obgleich er betont hatte, dass das in Parenthese zu setzen sei. Pah! Empiriker! Wie sehr er diese wissenschaftliche Spezies verabscheute. Abgrundtief und von ganzem Herzen.

„Hast du inzwischen einen Ruf erhalten?“, ließ Frieda nicht locker. „Oder einen populärwissenschaftlichen Bestseller geschrieben? Die Villa gehört doch nicht etwa einer Burschenschaft, deren Ehrenvorsitzender du geworden bist“, lachte Frieda, die genau um die Abwegigkeit ihrer Ausführungen wusste, denn Georg war es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer nur um Wahrheit und Wissenschaft und nie um Vereinsmeierei oder Politik gegangen. „Ja, ich weiß, deine Familie ist nach wie vor sehr vermögend“, rief sie sich dann selber zur Räson und fuhr umso kopfloser fort, „wobei du persönlich ja nie an einem goldenen Schnitt interessiert warst.“

Georg bemühte sich, nicht zu schlucken und seine Gesichtszüge entspannt aussehen zu lassen. Auf der anderen Seite musste man nicht Miss Marple sein, um zu schlussfolgern, dass er sich dieses Anwesen nicht von einem Gehalt als Wissenschaftler leisten konnte.

„Deine Vita hat sich sicherlich zum allerbesten entwickelt“, drehte er den Spieß um. „Erzähle, wie es dir ergangen ist. Es sind schließlich einige Jährchen seit unserem letzten Kontakt vergangen.“

Frieda hüstelte. Ein wenig schoss ihr die Röte ins Gesicht. Dann herrschte Sauerstoffmangel, was sie elegant kaschierte, indem sie die Hand vor das Gesicht hielt. Sie hüstelte erneut.

„Ähm, da gibt es nicht viel zu erzählen …, ich bin Senior-Researcherin an der Universität Stuttgart“, gestand sie schließlich.

Georg runzelte die Stirn.

„Verbeamtet?“

„Nicht einmal eine unbefristete Stelle“, gestand Frieda kleinlaut. „Aber momentan sieht es ganz gut aus. Mein Chef hat sich für mich eingesetzt und wenn nichts dazwischen kommt, könnte die Tinte demnächst getrocknet sein.“

Mit einer vielsagenden, eleganten Handbewegung wischte Georg das Thema vom Tisch.

„Geld und Sicherheit sind nicht alles. In unserem Beruf geht es um andere Werte.“

Nämlich um Wahrheit, Fortschritt, Ruhm und Ehre. Reputation und wissenschaftliche Titel. Ein weiterer Schlag ins Kontor. Beschämt senkte Frieda den Kopf. Okay, er würde jetzt wieder nett und taktvoll sein. Und nicht darauf rumhacken, dass sie mit Mitte vierzig nicht habilitiert war.

„Gute Forschung braucht Zeit“, gab er sich versöhnlich und konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. „Ich habe in zehn Monaten promoviert und vierundzwanzig Monate für die Habilitation gebraucht, aber je nach Forschungsgebiet, Forschungsfrage und Forschungsdesign kann das …“

Frieda behagte die Richtung des Gesprächs nicht. Deshalb versuchte sie die emotionale Schiene, um in sicherere Gefilde zu gelangen.

„Weißt du noch, wie wir damals …“

Dann folgte eine unzusammenhängende Aneinanderreihung belangloser Fakten, die keinen vernünftigen Menschen interessierten. Frieda war offensichtlich trotz vorgerückter Stunde nicht bereit, auf ihr Anliegen zu sprechen zu kommen.

Natürlich wusste Georg allzu gut, wie sie damals beinahe zusammengekommen wären, hätte er nicht seine große Liebe Anna kennengelernt. Wer konnte schon sagen, wie sich alles entwickelt hätte. Aber wie lange war das jetzt her? Beinahe nicht mehr wahr. Und dennoch zerriss ihm der Gedanke an die damalige Zeit beinahe die Brust, denn seine über Alles geliebte Anna versetzte ihm bei jedem Gedanken an sie einen tiefen Stich in die Brust. Jetzt war es an ihm, Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

„Du hast von einem Wissenschaftsskandal gesprochen“, rief er sich zur Vernunft, um nicht in Depression und Trübsal zu verfallen, wobei er ein Lächeln aufsetzte, das vielleicht als arrogant hätte ausgelegt werden können, hätte nicht ein grundaufrichtiger Zug seine Gesichtszüge dominiert. „Vielleicht möchtest du mich aufklären“, fügte er im leicht ironischen Tonfall hinzu. „Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Aus leidvoller Erfahrung bin ich weit davon entfernt, die Wissenschaft als hehres Elysium zu betrachten, kann mir im Moment aber beim besten Willen nicht vorstellen, auf was du anspielst.“

Er unterdrückte ein Gähnen. Frieda räusperte sich und Georg hatte den Eindruck, dass sie ein wenig erblasste, was aber bei den schummrigen Lichtverhältnissen nicht genau zu erkennen war.

„Ja.“

Sie holte tief Luft und wich seinem Blick aus. Dann gab sie sich einen Ruck.

„Es geht um …“

Sie ließ die Bombe so nonchalant hochgehen, als würde sie Tante Ingeborg erzählen, welchen Kuchen sie vorgestern in der Mensa zum Nachtisch gegessen hatte: manipulierte Daten, Hochpolitisches und dreistellige Millionenbeträge. Mit einem Schlag war Georg elektrisiert.

„Das hört sich in der Tat nicht uninteressant an“, flüsterte er und verwendete seine typische Art des angelsächsischen Understatements. „Vielleicht besitzt du die Güte, mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Deine Beschreibungen entsprechen zwar meiner Vorliebe für das Abstrakte, dennoch sollte ich präzise Anhaltspunkte erhalten.“

Manchmal glaubte er, dass ein Poet an ihm verloren gegangen war. Auf der anderen Seite war ja durchaus bekannt, dass Poesie und Wissenschaft gleichermaßen die metaphorische Sprache zum Kern ihrer Kommunikationen erkoren hatten. Er erinnerte sich mit diebischer Freude daran, wie er das Metaphern-Forschungsprojekt eines Kollegen der Neueren Deutschen Literatur als Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – nun sagen wir mal – kritisch durchleuchtet hatte. Er stellte sich vor, dass das Gesicht des Kollegen bei der Gutachtenlektüre die Farbe von Roter Bete angenommen hatte, denn er hatte so manche – durchaus berechtigte! – Spitze in das Gutachten gepackt. Natürlich war das Projekt bewilligt worden, aber in der Wissenschaftslandschaft verletzte ein wohl gesetztes Wort manchmal mehr als tausend Beleidigungen.

Frieda sank in dem repräsentativen, bequemen Ledersessel, der mit rotem, weichem Leder bezogen war, in sich zusammen und gab einen lauten Seufzer von sich.

„Jetzt würde ich gerne den italienischen Rotwein probieren.“

Georg brachte ihr das Gewünschte und fragte frei heraus, wen ihr Verdacht betraf, damit er das Terrain abstecken und sie zum Kern der Sache kommen konnte.

Sommer? Es hätte Georg nicht mehr überrascht, wenn Frieda ihm mitgeteilt hätte, der Papst sei Ehrenvorsitzender der Evangelischen Kirchensynode geworden oder Josef Stalin habe posthum den Friedensnobelpreis erhalten.

„Ich konnte es auch nicht glauben“, stimmte sie ihm zu.

Aber anscheinend gab es eindeutige Hinweise. Georg glaubte nicht, was er da hörte und entgegnete ein: „Ausgeschlossen!“

Bernhard Sommer war einer der ehrenwertesten Menschen, die Georg kannte. Und ein ausgezeichneter Wissenschaftler, der über jeden Verdacht erhaben war. Und es spielte keine Rolle, welcher wissenschaftlichen Fraktion jemand angehörte. Sommer besaß einen tadellosen Ruf. Wissenschaft, Politik und Presse hofierten den Soziologen seit Jahren. In Maßen. Es hatte nie einen extremen Hype um Sommer gegeben. Aber er hatte immer im Fokus des öffentlichen Interesses gestanden. Sommer hatte in jungen Jahren den Ehrendoktor erhalten. Weit vor seinem sechzigsten Geburtstag war ihm das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen worden, von einer Bildungsministerin, die später ohne akademischen Abschluss dastand, da ihr die Promotion aberkannt wurde und ihr Studiengang den Studienabschluss automatisch mit einer Promotion verband. Und nun das.

„Ich glaube, dass Sommer Daten manipuliert, damit die Auswirkungen des Klimawandels drastischer aussehen, als sie tatsächlich sind und dass er …“

„Mit Glauben kommen wir nicht weiter“, unterbrach er sie brüsk – für seine Verhältnisse sehr unhöflich. Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Und ich glaube, du phantasierst dir etwas zusammen.“

Den ironischen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen. Frieda setzte sofort ein bockiges Gesicht auf. Da erinnerte er sich, dass sie zur Mehrheit der Menschen gehörte, die keinen noch so geringen Spaß auf ihre Kosten zuließ. Sie war das, was gemeinhin als feiner Kerl firmierte, aber vollkommen humorlos. Eine Eigenschaft, die er ihrer protestantisch-pietistischen Erziehung zuschrieb.

„Das ist nicht lustig, Georg. Ich kann beweisen, dass Sommer Dreck am Stecken hat! Wenn ich alles auf den Tisch packe, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen.“

Ihre Stimme überschlug sich hysterisch. Die Augen waren zwei kleine Schlitze, aus denen wütende Blitze hervorschossen. Er beschloss, sie nicht weiter zu reizen, wollte sich aber nicht weitere Absurditäten anhören, die ihm gegen den Strich gingen. Deshalb räkelte er sich in seiner gelben Chaiselongue, zog ostentativ die goldene Taschenuhr aus seiner modischen Stoffhose, ließ den Deckel aufklappen und runzelte nachdenklich die Stirn.

„Es ist reichlich spät, meine Liebe. Du kannst gerne im Gästezimmer übernachten. Morgen Nachmittag können wir uns dann in aller Ruhe unterhalten und deine Vermutungen von allen Seiten betrachten. Ich bin mir sicher, dass wir dann ein Stück weiter kommen …“

Einen Moment lang hielt er das wertvolle Erbstück seines Großvaters in der rechten Hand. Hitler hatte sie seinem Großvater persönlich geschenkt. Das Hakenkreuz auf der Rückseite hatte er nach sorgfältiger Abwägung entfernen lassen. Dann steckte er die Uhr galant in die Hosentasche zurück.

Frieda war aufgestanden und ging zu Georg herüber. Ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in seine Schulter.

„Außerdem veruntreut Sommer Gelder des Forschungsverbunds ClimateSave!“

Georg war fassungslos. Ihm fehlten die Worte. Die Finger, die sich in seine Schultern gruben, verursachten Schmerzen. Er war überrascht, wie kräftig Frieda war. Auf einmal war Frieda verstummt. Ihre Textsicherheit war verschwunden und ihr Griff lockerte sich allmählich und beinahe zärtlich strich sie Georg über den Oberarm.

„Du glaubst mir nicht“, stellte sie konsterniert fest.

Ihr Blick zeigte Resignation und sie tat Georg beinahe leid. Er wünschte sich, subtiler vorgegangen zu sein.

„Das habe ich so nicht gesagt“, versuchte er zu besänftigen. „Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, um morgen noch einmal in aller Ruhe die Dinge bei rechtem Lichte zu betrachten.“

Er kam sich vor wie eine Schallplatte mit Sprung. Energisch schüttelte sie den Kopf.