Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki - E-Book

Roter Herbst in Chortitza E-Book

Tim Tichatzki

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Beschreibung

1919. Ein Bürgerkrieg fegt mit aller Gewalt über das zerfallene Zarenreich. Gefangen zwischen den Fronten, finden die beiden Freunde Willi und Maxim ein von Soldaten zurückgelassenes Maschinengewehr. Für Maxim ein Geschenk des Himmels, für Willi die größte Herauforderung seines Glaubens, denn als Sohn mennonitischer Siedler hat er gelernt, jede Form von Gewalt abzulehnen. Eine Zerreißprobe für die Freundschaft der beiden Jungs. Während Willis Familie in der aufkommenden Sowjetdiktatur ums nackte Überleben und um ihren Glauben kämpft, schlägt sich Maxim ausgerechnet auf die Seite des Regimes. Beide wissen nicht, ob sich ihre Wege je noch einmal kreuzen werden. Zwei Lebenswege inmitten der sowjetischen Diktatur, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Tim Tichatzki blickt in eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte, und erzählt zugleich ein Stück eigener Familiengeschichte. Schonungslos, packend und herzergreifend zu lesen.

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Tim Tichatzki

Roter Herbstin Chortitza

Nach einer wahren Geschichte

Für meine KinderMichel, Lisa und Samir

© 2018 Brunnen Verlag Gießen

Lektorat: Eva-Maria Busch

Umschlagfoto: © Mark Owen/Trevillion Images

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Innenfoto: privat

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0988-9

ISBN E-Book 978-3-7655-7508-2

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Teil 1: Bürgerkrieg (1919–1921)

Teil 2: Fünfjahresplan (1929–1933)

Teil 3: Terrorjahre (1937–1939)

Teil 4: Der große Vaterländische Krieg (1940–1945)

Teil 5: Sibirien (1945–1947)

Teil 1

Bürgerkrieg (1919–1921)

Nach dem gewaltsamen Sturz von Zar Nikolaus II. muss die junge bolschewistische Regierung am 3. März 1918 den mit den Mittelmächten ausgehandelten Friedensvertrag von Brest-Litowsk akzeptieren. Die kriegsmüde Bevölkerung braucht dringend eine Atempause, auch wenn dies zur Folge hat, dass die Ukraine fortan unter deutsche Kontrolle fällt. Doch Deutschland verliert den Krieg und zieht seine Soldaten schon ein Jahr später wieder ab. Die „Brotkammer“ Europas wird nun Teil des Sowjetreichs, wo in den folgenden Jahren ein brutaler Bürgerkrieg zwischen Bolschewiken und den Anhängern des ermordeten Zaren tobt.

MG-08/15

Osterwick 1919

Birken säumten die Böschung, so weit das Auge reichte, ohne dass ein einziger Baum es wagte, aus der Reihe zu treten und seine Wurzeln unterhalb der Kammlinie zu schlagen. Wie mit dem Lineal gezogen erstreckte sich dieser schmale, weiß-grüne Streifen entlang der Straße nach Chortitza, bot dem Reisenden eine angenehme Abwechslung in der sonst so kargen Steppenlandschaft.

An keiner Stelle maß das Wäldchen in seiner Breite mehr als hundert Meter. Man hätte es problemlos in wenigen Minuten durchquert, wäre der Boden nicht von derart dichtem Gestrüpp überwuchert gewesen. Von Farnen verdeckte Disteln, die sich bei jedem Schritt im Stoff der Hose verfingen, zwangen den Wanderer, seinen Blick achtsam nach unten zu richten, wollte er nicht ins Straucheln geraten. Und trotz des lichten Baumbestands, für den friedfertigen Laien kaum zu erkennen, eignete sich dieser Ort ganz hervorragend für einen Hinterhalt. Ein Umstand, den die Soldaten des deutschen Kaiserreichs wohl zu nutzen wussten, als sie sich hier verschanzten, um die tiefer gelegene Straße nach Chortitza kontrollieren und jede feindliche Armee unter Beschuss nehmen zu können.

„Ihr Vorrücken würde dadurch für mehrere Stunden verzögert. Im Ernstfall ein großer taktischer Vorteil!“ So erklärten die Offiziere die strategische Bedeutung dieser Position.

Die Gastfreundschaft der Mennoniten1 überraschte die Soldaten, als sie vor über einem Jahr in Osterwick eintrafen. Offensichtlich fühlten sich die Dorfbewohner ihnen auf besondere Weise verbunden, was vielleicht an der gemeinsamen Herkunft oder an dem vertrauten Klang ihrer Sprache lag. Die Siedler unterhielten sich untereinander auf Plautdietsch, einer westpreußischen Mundart, die sie sich trotz der langen Zeit in der Fremde bewahrt hatten. Das erleichterte die Kontaktaufnahme und den Austausch. Die Osterwicker lauschten den Geschichten aus der Heimat aufmerksam. Obwohl kaum einer von ihnen je zuvor in Deutschland war, fühlte es sich für sie an, als schwelgten sie mit den Fremden in gemeinsamen Erinnerungen.

Erst mit der Zeit – als es nichts mehr zu berichten gab – traten die Unterschiede wieder deutlicher zutage. Die Soldaten benahmen sich etwas zu selbstsicher für die Gepflogenheiten der frommen Siedler, manchmal gar etwas herrisch. Sie tranken Alkohol und erzählten sich Witze, die kaum einer von ihnen so recht verstand. Sie lachten dennoch mit, wenn auch nur aus Höflichkeit. Einmal schnappte Willi, der zwölfjährige Sohn der Bergens, einen Witz auf, den er später arglos beim Abendessen erzählte. Er fing sich dafür eine schallende Ohrfeige seines Vaters ein. Besonders die detaillierten Schilderungen der Fronterlebnisse ließen die Mennoniten schaudern, sodass sie den Kontakt fortan immer weiter reduzierten.

Seit sie der Einladung Katharinas der Großen gefolgt waren, die Weiten des riesigen Russischen Reiches zu besiedeln, beanspruchten sie für sich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Keiner von ihnen hatte je eine Waffe in der Hand gehalten, geschweige denn einen Menschen getötet. Sie wollten in Frieden leben, sich nicht in gewaltsame Auseinandersetzungen – ganz gleich, für welche Seite – hineinziehen lassen.

Sie konzentrierten sich seit jeher nur auf ihre Arbeit. Darauf, das ihnen zugeteilte Land urbar zu machen, sich und ihren Familien eine neue Heimat zu schaffen. Dabei blieben sie meist unter sich, hielten an ihren Sitten, ihrer Sprache und an ihrem Glauben fest, sodass man sie hier in der Ukraine bis heute immer noch als Deutsche bezeichnete. Erst jetzt, wo ihnen die deutschen Soldaten wie ungebetene Gäste erschienen, von denen man sich wünschte, sie schnellstmöglich wieder loszuwerden, erkannten sie, dass sie längst auch keine Deutschen mehr waren.

Nichts konnte Maxim von dem Gedanken abbringen, dass die Soldaten auf ihrem Rückzug etwas zurückgelassen haben mussten. Auch Willi ließ sich von dieser Idee anstecken, wollte unbedingt dabei sein, wenn Maxim sich auf die Suche machte. Doch nun fiel es ihm schwer, mit seinem älteren Freund Schritt zu halten. Er keuchte laut und der Schweiß lief ihm in die Augen.

Obwohl sie nur zwei Jahre trennte, war Willi dem größeren Maxim in allen körperlichen Belangen deutlich unterlegen. Mit seinen schmalen Schultern konnte er sich bald zweimal hinter Maxim verstecken, hatte seine Mutter einmal gesagt. Sie ahnte nicht, wie sehr ihn das verletzte, wünschte er sich doch, auch endlich erwachsener auszusehen. Auf seiner Oberlippe bildete sich erster dunkler Flaum, doch selbst diese Anzeichen von Männlichkeit verblassten angesichts der Tatsache, dass Maxim sich bereits täglich rasieren musste. Es war nicht gerecht, dass man sie immer miteinander verglich, dachte Willi mehr als einmal.

Maxim ging mit großen Schritten voran, trat über das dornige Gestrüpp hinweg und schob die Äste mit ausladenden Armbewegungen beiseite. Willi bemühte sich, den Anschluss nicht zu verlieren. Ständig musste er zurückschnellenden Zweigen ausweichen oder einen Bogen um die Stelle machen, die Maxim gerade noch so leicht übersprungen hatte. Seit einer Stunde durchkämmten sie nun schon das Wäldchen, ohne dabei auf etwas Interessantes gestoßen zu sein. Hier und da ein paar leere Patronenhülsen sowie ein vollständig ausgebrannter Unterstand. Es schien, als ob die Deutschen selbst ihren überhasteten Rückzug gründlich geplant hatten.

Kurz davor, enttäuscht aufzugeben, fiel Willi ein Gebüsch auf, das sich von dem übrigen Grün unterschied. Es sah aus, als sei der Strauch nicht natürlich gewachsen. Willi und Maxim bogen die Zweige zur Seite, trampelten die mannshohen Farne nieder, als sie plötzlich auf etwas Metallenes stießen. Hastig entfernten sie das restliche Gestrüpp, bis sie mit staunenden Augen vor einem 08/15-Maschinengewehr standen. Es war auf einem hölzernen Untergrund verschraubt, den Lauf zwischen zwei Bäumen hindurch auf die Straße gerichtet. Links und rechts hingen noch die Patronengurte herab. Neben der Plattform stand eine Metallkiste, in der sich weitere Munition befand. Die beiden Jungs schauten sich fragend an. Was hatte die Deutschen dazu bewogen, diese Waffe zurückzulassen?

„Vielleicht dachten sie, noch einmal zurückzukommen“, sagte Maxim. Er schien einen Moment zu überlegen, ob ihm noch eine bessere Erklärung einfiel. Dann wandte er sich achselzuckend an Willi: „Und, traust du dich?“

„Auf gar keinen Fall! Lass bloß die Finger davon!“, entgegnete dieser aufgeregt.

„Ach was, wahrscheinlich ist es kaputt. Warum hätten sie es sonst hiergelassen?“ Maxim kauerte sich mit zusammengekniffenen Augen hinter das MG und schaute durch die Zielvorrichtung.

„Komm schon, Maxim. Lass den Mist. Wir kriegen einen Haufen Ärger, wenn man uns hier erwischt.“

„Wer soll uns denn erwischen? Einen Schuss nur. Dann wissen wir wenigstens, ob es noch funktioniert.“

„Bist du verrückt? Was, wenn du jemanden verletzt? Lass das sein, Maxim!“, rief Willi nun sehr viel eindringlicher, da er merkte, dass sein Freund im Begriff war, eine große Dummheit zu begehen. Trotzdem konnte auch er sich der Faszination dieser Waffe nicht entziehen.

Maxim hörte nicht auf seinen Freund. Er legte den Zeigefinger auf den Abzug und zielte auf die leere Straße. Er kniff die Augen ein paarmal zusammen, so wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war. Einen Schuss nur, dachte er und krümmte den Finger. Sofort ertönte ein ohrenbetäubender Lärm. Ein Rattern, das gar nicht mehr aufhörte, Pulvergeruch, der ihnen fast die Luft zum Atmen nahm und in ihre Augen drang.

Erschrocken duckten sich die beiden Jungs hinter dem MG auf den Boden, hielten sich mit beiden Händen die Ohren zu. Das Maschinengewehr feuerte den kompletten Patronengurt ab und Willi betete, dass nicht ausgerechnet jetzt jemand die Straße passierte. Dann, ganz plötzlich, hörte das Dauerfeuer auf. Die wohltuende Stille wurde nur noch durch ein leises Klacken gestört. Klack, Klack, Klack … Die beiden Jungs hoben den Kopf, sahen die leeren Patronenhülsen auf dem Boden liegen, doch keiner konnte sich einen Reim darauf machen, woher das seltsame Geräusch rührte. Maxim erhob sich, kroch in geduckter Haltung zu dem MG und sah, dass der Abzug klemmte. Vorsichtig brachte er ihn zurück in die Ausgangsposition. Dann verstummte auch das Klacken.

1Die evangelisch freikirchliche Bewegung der Mennoniten reicht bis in die Reformationszeit zurück und ist Teil der sog. Täuferbewegung. Ihr Name leitet sich von dem aus Friesland stammenden Theologen Menno Simons ab.

Juri und Maxim Orlow

Osterwick 1919

An diesem Abend lag Willi noch lange wach in seinem Bett. Das Maschinengewehr ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wunderte sich, dass ihnen bei ihrer Rückkehr keine Fragen gestellt wurden, obwohl jeder im Dorf das laute Rattern des MGs gehört haben musste. Doch die Osterwicker schienen sich nicht dafür zu interessieren. Entweder waren sie schon so sehr an den Klang von Gewehrsalven gewöhnt, dass sie diese ignorierten, wenn die Schüsse nicht in unmittelbarer Nähe abgefeuert wurden – oder sie hatten tatsächlich nichts mitbekommen.

Willi konnte Maxim glücklicherweise überreden, ihren Fund erst einmal geheim zu halten, da er die andauernde Diskussion über den Selbstschutz nicht unnötig belasten wollte. Viel Weisheit für einen Zwölfjährigen, der die Befindlichkeiten der Mennoniten besser kannte als Maxim. Seit Wochen sprach man im Dorf über kein anderes Thema mehr, ohne dass eine Einigung in Sicht gewesen wäre. Die Differenzen schienen unüberwindbar, was ein Eingreifen des Brüderrats umso dringlicher machte. Heute Abend – so hoffte Willi – würden sich die Männer Osterwicks endlich darüber beraten.

Seit Ausbruch der Revolution tobte in weiten Teilen des ehemaligen Zarenreichs ein Bürgerkrieg, dessen Fronten sich mittlerweile auch quer durch die Ukraine zogen. Auf der einen Seite stand die Rote Armee, die versuchte, die Revolution zu verteidigen. Auf der anderen Seite die Weiße Armee, deren Offiziere mit dem gestürzten Zaren sympathisierten und die alten Verhältnisse wiederherzustellen gedachten. Unzählige Bauerndörfer gerieten dabei zwischen die Fronten und mussten je nach Verlauf des Krieges mal die Soldaten der einen, mal die der anderen Seite ernähren. Häufig wurden ihnen die Naturalien gewaltsam entwendet, was die Soldaten damit rechtfertigten, dass die Bauern zuvor die Gegenseite unterstützt hatten.

Um sich vor dieser Eskalation zu schützen, formierten die Bauern allerorts kleine Verteidigungseinheiten, Selbstschutz genannt. Auch die Bürger von Osterwick konnten sich dieser Idee gegenüber nicht länger verschließen, obwohl die wenigen Begegnungen mit der Weißen Armee bisher immer friedlich verlaufen waren. Scheinbar standen die deutschen Siedler mit ihren sauberen, wohlhabenden Dörfern exemplarisch für jenes Russland, das die Zarenanhänger der Weißen Armee zu verteidigen suchten.

Willi war noch nie gut darin gewesen, ein Geheimnis für sich zu behalten. Seine Geschwister konnten es ihm an der Nasenspitze ablesen, wenn er ihnen etwas vorenthielt. So musste er sich große Mühe geben, den Fund des MG nicht zu verraten. Würde der Brüderrat heute Abend endlich zu einer Einigung finden, dann wüsste er, wem er sein Geheimnis anvertrauen konnte.

Als sein Vater endlich von der Versammlung zurückkehrte, lag Willi gespannt in seinem Bett. Er versuchte, das Gespräch seiner Eltern im Nebenzimmer zu belauschen, doch Heinrich und Maria waren sehr geübt darin, in dem hellhörigen Haus keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Willi verstand kein Wort. Nur ein einziges Mal, als sie gerade über die Orlows sprachen, erhoben sie kurz ihre Stimmen. Aber da war Willi schon längst eingeschlafen.

Juri Orlow und sein Sohn Maxim, zwei ausgehungerte Gestalten auf der Suche nach Arbeit, hatten vor einem halben Jahr an die Tür der Bergens geklopft. Heinrich wollte die beiden zuerst abweisen, da er nicht wusste, wie er sie beschäftigen sollte. Außerdem – und das war der eigentliche Grund – sorgte er sich, was die anderen im Dorf dachten, wenn sich plötzlich zwei Ukrainer auf seinem Hof herumtrieben. Doch Maria zerstreute die Einwände ihres Mannes: Es sei für Christen nicht ziemlich, zwei arbeitswillige, ausgehungerte Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Der Appell an christliche Tugenden verfehlte bei Heinrich nie seine Wirkung; daher konnten Juri und Maxim bleiben. Und obwohl beide kaum in der Lage waren, den Anforderungen auf den Feldern zu genügen, entpuppten sie sich bald als große Bereicherung für die Bergens.

Die Mädchen schlossen Juri von Anfang an in ihr Herz. Er verfügte über einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten, die er gerne und mit ausladenden Gesten zu erzählen wusste. Schon bald versammelten sich die Kinder jeden Abend um ihn herum und bedrängten ihn so lange, bis er endlich fortfuhr zu erzählen. Die Geschichten begannen meist heiter, nahmen im weiteren Verlauf aber eine melancholische Wendung. Maria, die während ihrer Hausarbeit lauschte, ahnte, welch tiefe Traurigkeit in Juris Seele schlummerte. Sie hätte ihn gerne nach seiner Vergangenheit gefragt, hielt sich aber aus Höflichkeit zurück.

Juri erwies sich im Gegensatz zu seinem Sohn auch nach mehreren Wochen Eingewöhnung als völlig ungeeignet für die Feldarbeit. Sein Rücken plagte ihn, und obwohl er es jeden Tag aufs Neue versuchte, ohne über seine offensichtlichen Schmerzen zu klagen, wurde er schon bald einer Putzkolonne zugeteilt, wo er sich zu einem Fachmann für Reisigbesen entwickelte. Schnell sprach sich im Dorf herum, dass Juri Orlow die besten Besen binden konnte, die es in Osterwick zu finden gab. Es entwickelte sich ein kleines Geschäft, was es ihm ermöglichte, schon nach wenigen Wochen für Essen und Behausung zu bezahlen. Nicht viel, aber es war sein aufrichtiger Wunsch, den Bergens etwas für ihre Gastfreundschaft zurückzugeben, da er seine Arbeitskraft nicht, wie ursprünglich verabredet, auf den Feldern einbringen konnte.

Maxim unterschied sich mit seinem lausbübischen Charme deutlich von den mennonitischen Kindern, die den Blick und die Stimme senkten, wenn sie mit einem Erwachsenen sprachen. Er hingegen stand aufrecht, schaute seinem Gegenüber mit dunklen Augen und unerschütterlichem Selbstbewusstsein ins Gesicht, sodass dieser sich manchmal ungewohnt bedrängt fühlte. Während die Jungs in Osterwick ihre Haare wenigstens einmal im Monat geschnitten bekamen, ließ Maxim seine dunkelblonde Mähne ungebändigt auf die Schultern fallen.

Seine äußere Erscheinung unterschied ihn von den Jungs seines Alters wenigstens genauso stark wie sein Auftreten, und so verwunderte es nicht, dass er bei den Mädchen des Dorfes schon bald größte Aufmerksamkeit genoss. Sie suchten jede sich bietende Möglichkeit, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl es ihnen eigentlich nicht gestattet war, sich mit Jungen ihres Alters abzugeben. In manchen Familien konnte dies sogar ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen, was sie aber nicht daran hinderte, ständig um Maxim herumzuscharwenzeln.

Eines Vormittags, die Kinder befanden sich in der Schule und Heinrich auf den Feldern, nahm Maria all ihren Mut zusammen und ging hinüber zur Scheune, wo die Orlows ihr Lager aufgeschlagen hatten. Juri legte gerade ein Bündel Reisig zum Trocknen aus. Als er Maria bemerkte, unterbrach er seine Arbeit, erhob sich ungelenk, nahm seine Mütze ab und begrüßte sie gewohnt freundlich.

„Juri, darf ich dir eine Frage stellen?“, kam Maria unvermittelt zur Sache.

„Natürlich, Frau Bergen. Ich hoffe, dass meine Antwort zufriedenstellend ist“, antwortete Juri überrascht.

„Wo ist deine Frau, Juri?“

Diese Frage hatte er nicht erwartet. Einen Moment lang wirkte er verlegen. „Wer sagt, dass ich verheiratet bin, Frau Bergen?“

„Maxim ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten und er versteht es, mit gleicher Freundlichkeit zu beeindrucken wie du. Er ist unverkennbar dein Sohn. Ein Mann wie du setzt aber keinen Sohn in diese Welt, ohne ihm die Wärme einer liebenden Familie zu geben.“

Sie merkte, dass ihre Worte viel respektloser klangen als beabsichtigt. Und auch aus Juris Gesicht wich für einen kurzen Augenblick die Freundlichkeit.

„Es tut mir leid“, sagte sie, hastig bemüht, den Schaden wiedergutzumachen. Sie wandte sich zum Gehen.

„Wir lebten in einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe von Jusowka“, begann Juri. „Sie hieß Daria und wir hatten drei Kinder. Maxim ist der Älteste. Vor einem guten Jahr kamen sie nachts in unser Haus. Sie beschuldigten mich, den Weißen Informationen zukommen zu lassen, was natürlich nur ein Vorwand war, um ihren Vorgesetzten die eigene Tüchtigkeit bei der Bekämpfung der Gegenrevolution vorzugaukeln. Sie holten fast jede Nacht unschuldige Menschen aus ihren Betten. Immer mit der gleichen Begründung: Ihr spioniert für die Weißen. Sinnlos, diese Anschuldigung entkräften zu wollen. Selbst wenn man aufseiten der Revolutionäre stand, so zählte in dieser Nacht nur das Urteil der Tschekisten2.

Sie wollten uns einschüchtern, indem sie die Männer stundenlang verhörten. In der Regel beließen sie es bei ein paar Blutergüssen und harmlosen Prellungen. Doch diesmal nahmen sie Daria mit. Ich wusste nicht, wohin man sie brachte, geschweige denn, was man ihr vorwarf. Also ging ich am nächsten Morgen nach Jusowka, um bei der Miliz Anzeige zu erstatten. Aber es geschah nichts, obwohl ich mich jeden Tag nach ihrem Verbleib erkundigte. Zwei Wochen vergingen, dann kamen die Männer zurück. In der Hand hielten sie den von mir unterschriebenen Beschwerdebericht. Sie erklärten mir, dass ich Daria nie mehr wiedersehen würde, und schlugen dann so lange mit ihren Knüppeln auf mich ein, bis ich das Bewusstsein verlor.“

Juri erzählte seine Geschichte mit äußerster Ruhe und fester Stimme. Er blickte dabei zu Boden. Maria konnte seinen Schmerz nur anhand der Tränen erahnen, die ihm die Wangen hinunterliefen. Sie wollte ihn gerne in den Arm nehmen und trösten, doch das traute sie sich nicht.

„Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie Maxim und ich vor unserem brennenden Haus auf der Straße sitzen. Die Tschekisten haben es beim Verlassen angezündet und der Junge konnte uns gerade noch rechtzeitig aus den Flammen retten. Von ihm erfuhr ich auch, dass sie die Mädchen mitgenommen haben. Ich weiß bis heute nicht, wo sie sind.“

Seine Stimme brach bei dem Gedanken an seine beiden Töchter und es dauerte einen Moment, bis er fortfuhr zu erzählen.

„Hilfe aus der Nachbarschaft konnten wir nicht erwarten, da sie im Dorf die Nachricht verbreiteten, ich sei ein Spion der Weißen. Niemand wollte danach noch etwas mit uns zu tun haben. Deshalb sind wir seit fast einem Jahr auf Wanderschaft. Wir leben von der Hand in den Mund. Maxim lässt es sich nicht anmerken, redet kaum darüber, aber ich weiß, wie schwer ihn der Verlust seiner Mutter und seiner beiden Schwestern getroffen hat. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen. Es war eine schreckliche Zeit.“

Juri hob den Blick, schaute Maria mit geröteten Augen an. Auch sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie scherte sich nicht länger darum, was andere denken oder sagen könnten, ging auf Juri zu und nahm ihn tröstend in den Arm. Beide bemerkten nicht, wie das Nachbarsmädchen die leere Milchkanne abstellte, bevor es sich leise zurückzog.

2Tscheka ist die Abkürzung für die „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Hiervon abgeleitet entstand der propagandistische Ausdruck „Tschekisten“ für die Mitarbeiter der Inlandgeheimdienste.

Anton Kalinin

Moskau 1919

Der Winter kommt früh dieses Jahr, dachte Anton Kalinin, als er sich in den schützenden Hauseingang zurückzog. Doch der Wind fand seinen Weg in jeden noch so versteckten Winkel, sodass es ihn drei Streichhölzer kostete, bis er seine Zigarette endlich zum Glimmen brachte. Er fluchte über diese Verschwendung, waren doch selbst solch banale Gebrauchsgegenstände nicht mehr ohne Aufwand zu bekommen. Eigentlich mochte Kalinin dieses Wetter. Er stammte aus Sibirien, wo man schon als Kind lernte, den nahenden Schnee zu riechen. Er freute sich auf die Kälte, den Schnee, der den Schmutz auf Moskaus Straßen, die Zerstörung und die Verwahrlosung wenigstens für ein paar Monate zudecken würde. Es war nicht das Wetter, das ihn so übellaunig machte.

Aus dem Haus, das seine Männer durchsuchten, drang der Lärm von zerberstenden Möbeln. Sind es wirklich die Kapitalisten, die das Land ins Chaos stürzen, oder zerstören wir uns selbst?, fragte sich Kalinin zum wiederholten Mal. Ein Kleiderschrank flog aus dem ersten Stock und landete krachend auf der nassen Straße. Immer häufiger gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf, aber er war schlau genug, sie für sich zu behalten.

Er schaute einer feinen Bluse nach, die vom Wind davongetragen wurde, stellte sich einen kurzen Moment die Frau vor, die darin vermutlich sehr attraktiv ausgesehen haben musste. Zugleich spürte er Verachtung in sich aufsteigen. Verachtung für jene Menschen, die ihr Geld lieber für teure Kleidung ausgaben, während der Rest der Bevölkerung hungerte. Feinde der Revolution. Ein eitriges Geschwür, das es herauszuschneiden galt, bevor es sich noch weiter ausbreiten konnte.

Noch vor einem Jahr, als er der Tscheka beitrat, da hatten ihn diese Parolen beeindruckt. Seinen Zorn entfacht, ihn angestachelt, jedem Angehörigen der russischen Adels- und Aristokratenklasse eine Kugel in den Kopf zu jagen. Schon während des Großen Krieges hatte er so viele Menschen getötet, dass er irgendwann keinerlei Regung mehr dabei empfand. Erst das Töten im Namen der Revolution gab ihm wieder einen Sinn. Doch der anfängliche Eifer verflog so schnell, wie er kam, wich stattdessen einem kalten Pragmatismus, der ihn seine Aufträge bald nur noch professionell und emotionslos erledigen ließ. Und je besser er sie erledigte, desto größer waren die Privilegien, die er in Anspruch nehmen durfte.

Anton Kalinin hatte nicht vor, auch nur ein einziges Mal für Brot anzustehen, wie all die gebeugten Gestalten, die sich täglich in die Schlangen vor den Geschäften einreihten, um nach Stunden des Wartens doch nur vor leeren Regalen zu stehen. Lief er Gefahr, seine Vorteile zu verlieren, so musste er lediglich ein paar Verhöre mehr durchführen, seine Quote etwas übererfüllen, und schon standen ihm wieder alle Türen offen. Türen, von denen die Moskowiter dieser Tage nicht einmal ahnten, dass es sie überhaupt gab. Kalinin schnippte seine Zigarette auf die Straße und betrat das Haus.

„Welcher Klasse gehören Sie an?“ Die alles entscheidende Frage, mit der jedes Verhör begann. Kalinin hielt die Papiere des Mannes in der Hand, die ihn als Victor Iljin, geboren am 18.03.1881 in Moskau, auswiesen.

„Ich bin ein einfacher Arbeiter“, antwortete der Mann auf dem Stuhl vor ihm mit zittriger Stimme. „Ich arbeite bei Salut.“

Kalinin lehnte sich seufzend zurück. Ein ehemaliger Angehöriger der Bourgeoisie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sich derart zu erniedrigen. Diese Arroganz konnte die Verhöre entscheidend verkürzen, doch diesmal leider nicht.

„Nun gut“, sagte Kalinin und schaute sich in der vollkommen verwüsteten Wohnung um. Achtlos aus den Regalen gerissene Bücher lagen neben aufgeschlitzten Polstermöbeln. Aus dem Schlafzimmer wehten die Federn der Daunendecken. Die Scherben zerborstener Fensterscheiben übersäten den Boden, vermischten sich mit unzähligen Papieren, die von den Tschekisten in der ganzen Wohnung verteilt worden waren. Der Wind drang nun eisig durch die offenen Fenster und Kalinin schlug den Kragen seines langen Ledermantels hoch.

Ein Mitarbeiter quittierte seinen fragenden Blick mit einem stummen Kopfschütteln. Er fluchte innerlich. Sollte hier wirklich nichts zu finden sein? Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Leute ein wenig über ihre Verhältnisse lebten, obwohl die meisten Möbelstücke der lieblos eingerichteten Wohnung den kommenden Winter kaum überstehen würden.

„Bringt sie her“, befahl er seinen Männern und deutete auf die Frau. Er holte einen Stuhl und stellte ihn neben seinen Sessel. Olga Iljin, nur mit einem schmucklosen Nachthemd bekleidet, wehrte sich nicht, als der Tschekist sie grob auf den Stuhl drückte. Kalinin sah sie von der Seite an und musste an die weiße Bluse denken. Wahrscheinlich war sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen. Laut ihres Ausweises war sie erst 32, doch sie sah deutlich älter aus.

„Gibt es etwas, das Sie mir erzählen möchten?“, fragte Kalinin, an Victor gewandt, während er sich eine weitere Zigarette ansteckte.

Auf Victors Stirn standen Schweißperlen. Er atmete schwer. Seine Augen wanderten unstet durch den Raum. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Kalinin nahm einen tiefen Zug und senkte dann das glühende Ende seiner Zigarette auf den Oberschenkel der neben ihm sitzenden Frau. Sie schrie gellend auf, während ein Tschekist sie von hinten fest in den Stuhl gedrückt hielt. Sollen es die Nachbarn ruhig hören, dachte Kalinin, der Victor keine Sekunde aus den Augen ließ.

„Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll“, jammerte Victor.

Kalinin war irritiert. Trotz der offensichtlichen Schmerzen seiner Frau änderte der Mann seine Mimik nicht. Immer noch der unstete Blick. Angst. Schweiß. Aber keine Veränderung. Auf ein Zeichen hin, schlug einer seiner Männer Olga Iljin mit der flachen Hand ins Gesicht, so heftig, dass sie von ihrem Stuhl kippte. Schnell wurde sie wieder hochgehoben, saß nun zitternd und weinend da. Doch noch immer zeigte ihr Mann keine weitere Regung.

Sie bedeutet ihm nichts, dachte Kalinin. So langsam begann ihn das Rätsel zu interessieren.

„Ist es dir völlig egal, was wir mit deiner Frau anstellen?“ Stille. Keine Reaktion. „Wäre es dir auch egal, wenn sich meine Männer ein wenig mit ihr vergnügen?“

Die Frau zuckte zusammen. Sie verkrampfte sich und schrie ihren Mann an: „Nun sag ihnen doch irgendetwas, du Mistkerl. Erzähl ihnen von deinem Flittchen. Vielleicht lassen sie uns dann in Ruhe.“

Da war die Veränderung, auf die Kalinin gewartet hatte. Victor Iljin blickte seine Frau nun mit weit aufgerissenen Augen an, ganz so, als wolle er ihr befehlen, endlich den Mund zu halten. Kalinin lächelte, zog seinen Sessel herum und setzte sich neben ihn. Erst jetzt sah er, wie abgemagert die Frau war, wie sich die blasse Haut über ihre Wangenknochen spannte. Ihre rissigen, trockenen Lippen. Die tief in den Höhlen liegenden Augen. Sie zitterte vor Angst und Kälte.

Schmerz und Demütigung. Wer es verstand, diese Instrumente rücksichtslos einzusetzen, der würde Russland beherrschen. Die Parolen seiner Ausbilder bewahrheiteten sich auch in dieser Nacht. Ohne den Blick von ihr zu lassen, wandte Kalinin sich an Victor: „Von welchem Flittchen spricht sie denn?“

Als die Männer eine Stunde später Irina Rachmanow in die Wohnung führten, sackte Victor förmlich in sich zusammen. Kalinin wusste nun, was diesem Mann lieb und teuer war, was ihn hoffentlich dazu brächte, ihnen alles zu sagen, was sie hören wollten.

„Ständig brachte er mir Geschenke mit“, sagte Olga Iljin, die ihre jüngere Nebenbuhlerin keines Blickes würdigte. „Das hat er früher nie gemacht. Kleider, Schmuck. Was einer Frau eben so gefällt.“ Sie unterbrach sich, um ihre Nase mit dem Ärmel des Nachthemdes abzuwischen. „Er musste immer öfter lange arbeiten und wir verbrachten nur noch wenig Zeit miteinander. Und wenn, dann wechselten wir kaum ein Wort. Stattdessen brachte er mir ein Geschenk nach dem anderen mit. Ohne jeglichen Anlass. Er wollte ganz offensichtlich sein Gewissen beruhigen.“ Sie lachte verächtlich. „Als ich ihn dann zur Rede stellte, hat er gar nicht versucht zu leugnen, sondern alles bestätigt, was ich längst schon ahnte.“

Kalinin unterbrach Olga Iljin, indem er sich an Irina wandte. Die langen Monologe begannen ihn zu langweilen und er hoffte, über Victors Geliebte etwas Verwertbareres in Erfahrung zu bringen.

Irina Rachmanov, vierundzwanzig Jahre alt, ledig, kam aus der Ukraine. Sie arbeitete bei Salut in der Verwaltung, war dort zuständig für die Dienstpläne der Arbeiter in den Montagehallen, wo sie auch Victor kennenlernte.

„Seit wann leben Sie in Moskau?“, fragte Kalinin die junge Frau.

„Seit fast drei Jahren.“ Die Antwort kam ohne Zögern, obwohl auch sie ihre Angst nicht verbergen konnte. Sie blickte immer wieder zu Olga Iljin hinüber, die sich abwechselnd den Oberschenkel und die Wange rieb.

„Und wo haben Sie vorher gewohnt?“

„In Kiew.“ Wieder wanderte ihr Blick zu Olga.

„Möchten Sie Frau Iljin etwas sagen?“, fragte Kalinin.

Als Antwort erhielt er nur ein zaghaftes Kopfschütteln.

„Haben Sie ein Verhältnis mit ihrem Mann?“

Irina Rachmanov nickte.

„Wie lange schon?“

„Seit etwas über zwei Jahren.“

„Und wie haben Sie sich kennengelernt?“

Sie erzählte ihre Geschichte, doch Kalinin hörte schon gar nicht mehr zu. Ein Mann, der seine Ehefrau mit einer attraktiveren Arbeitskollegin betrog, eignete sich kaum, um seine Vorgesetzten zu beeindrucken. Er sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt aufbrachen, blieb ihnen noch genügend Zeit, die Wohnungen der Nachbarn zu durchsuchen. Sicher saßen sie alle wach in ihren Betten, inständig hoffend, dass die Tschekisten sie verschonten.

Er beendete das Verhör ohne weitere Erklärung und verließ gemeinsam mit seinen Männern die Wohnung. Als er gerade über die Türschwelle treten wollte, fiel sein Blick auf einen Stapel Papiere. Papiere, die nicht wie alle anderen nur lose herumflogen, sondern sorgfältig zu einem Stapel zusammengeheftet auf dem Boden lagen. Er hob sie auf und blätterte neugierig darin herum.

„Was sind das für Pläne?“ Victor und Irina sahen ihn mit kreidebleichen Gesichtern an. Für einen kurzen Moment schien Kalinin überrascht, irritiert, doch dann verstand er und lächelte zufrieden. Er war sich jetzt sicher, seine Privilegien nicht zu verlieren.

Abschied

Moskau 1919

Nur noch selten machte sich Anton Kalinin auf den weiten Weg in die tristen Moskauer Vororte. Es erschien ihm jedes Mal wie die Reise in eine andere, eine rückständigere Welt. Seit man Moskau vor einem Jahr zur neuen Hauptstadt des Landes erklärt hatte, wuchsen im Zentrum die Gebäude in den Himmel, alle mit Elektrizität und fließend Wasser ausgestattet. Auf den gepflasterten Straßen kämpften Droschken, Autos und Straßenbahnen um die Herrschaft. Selbst mit dem Bau der Untergrundbahn sollte schon in Kürze begonnen werden. In ein paar Jahren, so der ehrgeizige Plan der Bolschewiken, bräuchte sich Moskau nicht länger hinter Berlin oder London zu verstecken.

Doch dieses Bild änderte sich schlagartig, sobald man den inneren Ring des Zentrums verließ. Hier draußen erschien die Stadt wie ein wahlloser Zusammenschluss einzelner Dörfer. Baufällige, eingeschossige Häuser, die aufgrund ihrer ungeplanten Anordnung nicht an das Strom- und Abwassernetz angeschlossen waren. Wer nahe genug an den großen Zufahrtsstraßen wohnte, zapfte sich den Strom illegal von den Spannungsmasten. Eine Dummheit, die viele mit dem Leben bezahlten.

Es gab nur wenige Geschäfte in den Vororten, da die Händler und Handwerker ihre Läden möglichst in der Nähe des Stadtzentrums unterhielten. Stattdessen versperrten allerorts riesige Fabriken die Sicht. Wie Fremdkörper breiteten sie sich in dieser dörflichen Umgebung aus und verpesteten mit dem schwarzen Rauch aus ihren hohen Schornsteinen die Luft. An manchen Tagen war rund um diese Ungetüme kaum noch der Himmel zu erkennen.

Um die vielen Arbeiter unterzubringen, entstanden riesige Siedlungen aus einfachsten Baracken, die im Sommer den Regen abhielten und im Winter gerade genug Wärme boten. Mehr brauchten die Bewohner nicht, da sie die längste Zeit des Tages in den Fabriken schufteten, mit ihren Gedanken bei den zurückgelassenen Familien, denen sie dieses Leben nicht zumuten wollten. Einfache Bauern, die lediglich in den Wintermonaten hierherkamen, um das zu verdienen, was auf dem Land allein nicht mehr möglich war. Sie alle kannten ihre kläglichen Lebensbedingungen und setzten ihre ganze Hoffnung in die bolschewistische Revolution, die ihnen – den einfachen Arbeitern Russlands – nicht weniger als ein goldenes Zeitalter versprach.

Als Anton Kalinin sein Ziel erreichte, trat er sich den schmutzigen Schnee von den Stiefeln und klopfte an die Tür des kleinen Hauses. Er vernahm von innen das vertraute Geräusch schlurfender Schritte, die sich der verschlossenen Tür näherten. Er freute sich auf diesen Moment des Wiedersehens. Obwohl er nur noch selten zu Besuch kam, beklagten seine Eltern sich nie. Sie nahmen an, dass die zunehmende Verantwortung ihres Sohnes ein häufigeres Kommen verhinderte.

Diesmal wurde die Tür nicht wie sonst üblich geöffnet. Stattdessen hörte Kalinin die brüchige Stimme seiner Mutter von innen: „Wer ist da?“

Sie sind vorsichtig, dachte Kalinin und bedauerte, dass die Revolution auch seine Eltern ihrer Arglosigkeit beraubt hatte. Früher – so erinnerte er sich – stand die Tür immer offen. Freunde und Familienangehörige kamen zu Besuch, wann immer sie wollten, und genossen die Gastfreundschaft der Kalinins in vollen Zügen.

„Ich bin’s, Mutter. Anton.“

Sofort öffnete sich die Tür und Kalinin fand sich in der herzlichen Umarmung seiner Mutter wieder. Wie immer war ihr Wiedersehen ein Fest, da seine Eltern so taten, als ob ihnen seit Jahren keine größere Freude widerfahren war. In diesen Momenten spürte er den Kontrast zu seinem rauen Arbeitsalltag besonders deutlich.

„Anton, wie schön, dich zu sehen“, sagte seine Mutter zum wiederholten Mal. Sie nahm sein Gesicht in ihre knochigen Hände und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Stirn. „Ich mache uns schnell etwas zu essen und dann erzählst du uns, wie es dir geht.“

Anton wusste, dass seine Eltern kaum genug für sich selbst zum Leben hatten. Doch dank seiner Beziehungen konnte er ihnen heute eine kleine Überraschung mitbringen. Er legte das Päckchen auf die Küchenanrichte.

Seine Mutter sah ihn mit großen Augen an. „Anton, Sohn, woher …?“ Doch sie erwartete gar keine Antwort auf ihre unvollendete Frage, zerriss stattdessen eilig das Papier, das den Schinken umhüllte. Sie beugte sich hinunter, sog genüsslich den herzhaft rauchigen Duft ein. Dann nahm sie das Messer, schnitt ein winziges Stückchen ab und schob es sich mit geschlossenen Augen in den Mund. Sie sah aus, als hätte sie in ihrem Leben noch nie etwas Köstlicheres gegessen. Kalinin musste lachen.

„Wladi, sieh nur was Anton uns mitgebracht hat.“ Sie schnitt ein weiteres Stück ab und eilte damit hinüber zu ihrem Mann in die Stube, während Kalinin im Türrahmen lehnte und seinen Eltern dabei zusah, wie sie sich über sein Geschenk freuten.

„Ich kann heute Nacht nicht bleiben“, sagte Anton, als seine Mutter sich erhob, um wie üblich sein Bett auf der Couch herzurichten. Sie saßen satt und zufrieden um den Küchentisch herum, ließen sich den Wodka schmecken, den Kalinins Vater nun großzügig ausschenkte.

Erstaunt blickte sie ihren Sohn an: „Unsinn. Natürlich bleibst du über Nacht. Weißt du denn nicht, wie gefährlich es ist, nachts allein durch die Straßen zu schleichen?“

Natürlich wusste Anton das. Viel besser sogar, als seine Mutter ahnte.

„Da draußen rennt doch nur betrunkenes Gesindel rum, das gerade darauf wartet, einen Jungen wie dich auszurauben und auf den Kopf zu schlagen.“

So wie sie es sagte, klang es wie eine harmlose Rauferei unter Jugendlichen, dachte Anton. Sie hatte wirklich keine Ahnung von der rohen Gewalt, die auf Moskaus Straßen herrschte.

„Seit der Revolution ist alles nur noch schlimmer geworden. Die Bauern kommen in unsere Dörfer, suchen Arbeit, nur um in diesen Fabriken zusammengepfercht zu werden. Wie Vieh leben sie da, und außer Saufen bekommen sie nichts zustande.“

Sie fing an, sich in Rage zu reden. Wladimir Kalinin schaute sich verstohlen um, ob denn auch alle Fenster gut verschlossen waren. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, seine Frau bremsen zu wollen, wenn sie erst einmal anfing, über die vielen Missstände zu klagen. Und egal wie oft er sie auch mahnte, vorsichtiger zu sein, sie redete, wie es ihr gerade in den Sinn kam.

„Und wenn sie besoffen sind, dann ziehen sie in Grüppchen durch das Dorf, schikanieren die friedliche Bevölkerung. Selbst hier bei uns wollten sie schon einbrechen. Wir saßen vor Angst zitternd in unseren Betten. Kannst du dir das vorstellen, Anton?“, fuhr sie aufgebracht fort.

Anton konnte es sich sehr gut vorstellen. „Ich wurde befördert“, versuchte er das Thema zu wechseln. „Man hat mich zum Major ernannt und mein nächster Auftrag führt mich in die Ukraine. Wir reisen morgen ab, sodass ich heute Nacht leider nicht hierbleiben kann.“

Er hatte erwartet, dass seine Eltern sich für ihn freuten. Stattdessen schauten sie ihn nur schweigend und mit sorgenvoller Miene an.

„In die Ukraine?“, fragte sein Vater schließlich. „Aber das ist doch noch immer Kriegsgebiet, oder etwa nicht?“

Wladimir Kalinin gelang es wie immer, aus dem Wirrwarr an Informationen, die wichtigsten Inhalte und Wahrheiten herauszufiltern. Hier in Moskau glaubten alle, dass die Konterrevolution der Weißen kurz vor dem Ende stand. Nur die wenigsten machten sich Gedanken über das Chaos an Russlands Grenzen. Doch Wladimir Kalinin ahnte, dass der Krieg um Russlands Zukunft noch in vollem Gange und entgegen der staatlichen Propaganda längst noch nicht entschieden war. Und nun schickten sie seinen einzigen Sohn wieder ins Kriegsgebiet. War es nicht genug, dass er im großen Krieg gedient hatte? Wie viele Nächte sollten sie denn noch wach liegen, hoffen und beten, dass er lebend zu ihnen zurückkehrte?

„Die Bauern im ganzen Land bunkern ihre Vorräte. Wir vermuten sogar, dass sie unsere Feinde beliefern … Ihr seht doch, wie sie alle hierher in die Stadt kommen, in den Fabriken arbeiten, saufen und euch drangsalieren. Es wird Zeit, dass sie auf ihre Felder zurückkehren und es endlich wieder genügend Brot in Moskau gibt.“ Anton sprach nun mit großer Überzeugung. „Ich befehlige eine Brigade in dem Gouvernement Jekaterinoslaw und wir sorgen dafür, dass ihr im nächsten Jahr wieder ausreichend zu essen habt.“

Wladimir Kalinin ahnte, dass die wahren Zusammenhänge weitaus komplexer waren, als es die Schilderungen seines Sohnes vermuten ließen. Doch er schwieg.

Die Stimmung blieb getrübt, auch wenn Antons Mutter versuchte, durch belanglose Themen wieder etwas mehr Heiterkeit zu verbreiten. Anton konnte nicht verstehen, warum sein Vater sich nicht für ihn freute. Nur noch wenige Wochen; dann wären die Weißen endgültig besiegt. Er ärgerte sich darüber, dass seine Eltern nur die Gefahren sahen, nicht aber die Chance, mit diesem Auftrag fester Bestandteil der siegreichen Revolution und der Zukunft Russlands zu werden.

Zu seiner Überraschung weckte die Ablehnung seiner Eltern eine Leidenschaft in ihm, die er längst verloren glaubte. Die letzten Monate verbrachte er mit zumeist völlig unsinnigen Verhören; er schikanierte die Bevölkerung, nur um seine eigenen Privilegien zu sichern. Ein Leben von der Hand in den Mund. Jetzt konnte er endlich seine wahren Fähigkeiten unter Beweis stellen und Teil des neuen, sowjetischen Russlands werden, wo jeder fleißige Arbeiter seinen gerechten Lohn bekam.

Er verabschiedete sich von seinen Eltern in dem festen Glauben, dass die Zukunft ihm recht geben würde und sie letztlich alle von seiner Entscheidung profitieren würden.

Getreidebrigaden

Osterwick 1920

Es überraschte Kalinin und seine Männer zu erfahren, dass ihr Einsatzgebiet noch immer nicht vollständig unter bolschewistischer Kontrolle stand. Hätten sie es gewusst, sie hätten sich anders vorbereitet. Nur durch gute Planung und optimale Ausrüstung konnte man eigene Verluste in Grenzen halten. Doch leider schien das nur den wenigsten Kommandeuren klar zu sein. Und so schickten sie ihre Soldaten jeden Tag aufs Neue in schier aussichtslose Gefechte.

Viel zu viele Menschen verloren ihr Leben, nur weil sie unter unfähigen Befehlshabern dienten. Kalinin ärgerte sich darüber, konnte es aber nicht ändern. Er konnte nur die Verantwortung für seine eigenen Männer übernehmen, sich möglichst unsichtbar zwischen den Frontlinien bewegen und sich, so gut es ging, absichern, dass ein auf der Karte als erobert ausgewiesenes Gebiet auch wirklich unter ihrer Kontrolle stand.

Als sie sich mit ihren drei Lastwagen Osterwick näherten, spürte Kalinin, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Sie kamen zum ersten Mal in ein deutsches Dorf. Hoffentlich waren die Bewohner wirklich so friedlich, wie man allenthalben von ihnen hörte. Seine Anspannung wuchs, als sie in Reichweite der Maschinengewehre gelangten. Er konnte diesen Punkt mittlerweile auf den Meter genau bestimmen. Mehr als einmal waren sie bei ihrer Fahrt durch die ukrainischen Dörfer von einer Salve empfangen worden, hatten auf diese Weise bereits drei Männer verloren. Doch diesmal blieb es zu ihrer aller Erleichterung still.

Sie fuhren in das Dorf hinein, überquerten eine Holzbrücke, die über einen Bach führte, ohne dabei auf eine einzige Barrikade zu stoßen. Die ersten Höfe kamen in Sicht, große Wirtschaften, auf denen sowohl Viehzucht als auch Ackerbau betrieben wurden. Kalinin starrte mit großen Augen aus dem Fenster seines Lastwagens. Die Dächer der Häuser ragten fast zehn Meter in die Höhe und waren nicht wie sonst üblich mit Stroh gedeckt, sondern mit sauber gebrannten, in perfekten Reihen ausgelegten Ziegeln. So etwas hatte er bisher nur in größeren Städten gesehen.

Weiß getünchte Zäune trennten die Grundstücke voneinander ab, auf denen Akazien und allerlei Obstbäume wuchsen. Selbst die Bürgersteige verliefen exakt entlang der Straßen, ohne jedweden Versatz, über den die Passanten üblicherweise stolperten. Kalinin konnte den Gedanken nicht verdrängen, selbst gerne an solch einem Ort leben zu wollen. Er besann sich auf seinen Auftrag und gab den Männern ihre Befehle. Immer noch in höchster Alarmbereitschaft sprangen die Tschekisten von den Pritschen ihrer Lastwagen, verteilten sich im Dorf und trieben die Bewohner aus ihren Häusern. Sie befahlen ihnen, sich innerhalb einer Viertelstunde auf dem Kirchplatz einzufinden.

Willi spürte, dass etwas nicht stimmte, als seine Mutter ihn rief. Er wollte sich mit Maxim gerade auf den Weg zur Tränke machen, zu einem kleinen, aufgestauten Teich am Rande des Dorfes, wo es sich vortrefflich angeln ließ. Sie hatten sich dafür die Erlaubnis des Pächters eingeholt. Doch als Willi die Dringlichkeit in der Stimme seiner Mutter hörte, ließ er seine Angelrute fallen und rannte zurück ins Haus.

„Was ist passiert?“, fragte er. Alle waren damit beschäftigt, ihre Schuhe zu schnüren oder ihre Jacken zuzuknöpfen. Niemand schien seine Frage zu hören.

„Was ist passiert?“, fragte Willi etwas energischer.

„Wir sollen uns alle auf dem Kirchplatz versammeln“, murmelte sein Vater undeutlich.

Willi merkte, dass dies keine gewöhnliche Zusammenkunft war. „Aber wer … Warum sollen wir da hingehen? Sollen nur wir kommen?“

„Willi, jetzt frag nicht so viel“, raunzte ihn seine Mutter an. „Es sind die Bolschewiken. Sie haben befohlen, dass sich das gesamte Dorf in fünfzehn Minuten auf dem Kirchplatz einzufinden hat. Geh, sag Juri und Maxim Bescheid, dass das auch für sie gilt. Schnell.“

Es gab keine Nachzügler, keine Trödler. Auf die Minute pünktlich fanden sich alle Einwohner Osterwicks wie befohlen auf dem gepflasterten Platz vor ihrer Kirche – dem Bethaus – ein. Es herrschte gespannte Ruhe. Selbst die Kinder, die sonst herumzutollen pflegten, standen dicht gedrängt bei ihren Eltern, die Blicke ängstlich auf die bewaffneten Tschekisten gerichtet.

Anton Kalinin beobachte die Menge von der Pritsche seines Lastwagens aus.

„Ihr Bauern von Osterwick. Heute ist der Tag gekommen, an dem ihr euch an der glorreichen Revolution Russlands beteiligen könnt, ohne zu den Waffen zu greifen, so wie es der Zar immer wieder von euch verlangt hat.“ Er wusste, dass die mennonitischen Siedler sich seit jeher dem Kriegsdienst verweigert hatten, und versuchte daher, sie auf andere Weise für die Sache der Bolschewiken zu gewinnen. Ein Handzeichen aus der zweiten Reihe brachte ihn aus dem Konzept.

„Ja!“, wandte sich Kalinin etwas zu schroff an den Bauern, der daraufhin einen Schritt vortrat, seine Mütze vor sich in den Händen haltend.

„Herr Major, ich bitte um Verzeihung, aber die meisten von uns sind einfache deutsche Siedler und nur wenige von uns sind der russischen Sprache mächtig. Ukrainisch ja. Deutsch natürlich auch. Aber Russisch sprechen nicht viele von uns.“ Abram Dyck, der Pastor der Mennoniten, trat wieder zurück in die Menge, hielt den Kopf gesenkt, als erwartete er für seinen Einwand eine Bestrafung.

Kalinin schaute verdutzt in die Menge. Er hatte sich im Vorfeld ein wenig mit den Sitten und Gebräuchen der Deutschen vertraut gemacht, aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, hier in seinem Land auf derartige Sprachbarrieren zu stoßen. Er fasste sich schnell und beorderte den Mann als Dolmetscher zu sich auf die Pritsche.

„Niemand verlangt, dass ihr zu den Waffen greift“, versuchte er den Faden wieder aufzunehmen, „aber wir benötigen eure Hilfe bei der Getreideversorgung.“ Kalinin lächelte, während er auf das Ende der deutschen Übersetzung wartete.

„Sie wollen unser Getreide klauen, aber wenn wir geschickt vorgehen, dann kommen wir vielleicht wieder glimpflich davon.“

Willi unterdrückte ein Grinsen, als er Abram oben auf dem Wagen sah. Natürlich konnten sie den Major auch sehr gut ohne Übersetzung verstehen. Aber es war ein entscheidender Vorteil, wenn sich eine Gruppe beraten konnte, ohne vom Feind verstanden zu werden. Diese List hatte ihnen bereits im Umgang mit den Weißen geholfen.

Kalinin zog eine Mappe voller Papiere aus seiner Tasche. „Genosse Lenin ist darauf bedacht, die Lasten der Revolution auf alle Schultern gleichmäßig zu verteilen.“

„Sie werden uns jetzt gleich eine Quote anbieten, die wir möglichst weit nach unten verhandeln müssen. Mir scheint, als wäre dieser Major noch sehr unerfahren. Wenn wir uns geschickt anstellen, dann wird es uns vielleicht nicht so schlimm treffen“, instruierte der Pastor seine Herde. Kalinin wartete geduldig auf das Ende der für ihn unverständlichen „Übersetzung“.

„Osterwick bewirtschaftet eine Anbaufläche von rund 60 Hektar und erntet im Jahr etwa 50 Tonnen Getreide.“ Kalinin wusste, dass seine Daten reine Mutmaßungen waren, die auf den wenigen vorhandenen Zahlen russischer Höfe basierten. Er hatte sie im Vorfeld bereits nach oben korrigiert, um sich etwas mehr Spielraum zu verschaffen.

„Sie vermuten, dass wir 60 Hektar Fläche bewirtschaften und nur 50 Tonnen Getreide ernten. Ihr müsst jetzt alle ganz erschrocken und entrüstet tun, mir auf Deutsch zurufen, dass wir zusammen nur auf 30 Tonnen kommen.“

Der Pastor war zunächst versucht, die 50 Tonnen Getreide als Bezugsgröße ohne Einwand zu akzeptieren, waren sie doch eine geradezu lächerlich niedrige Annahme. Tatsächlich hatten es die deutschen Siedler in den letzten Jahrzehnten geschafft, die zu bewirtschaftende Fläche auf 100 Hektar auszuweiten und den Ertrag auf über 100 Tonnen zu steigern. Weit mehr, als der russische Major in seiner Naivität annahm.

Die Gegenwehr überraschte Kalinin nicht. Innerlich korrigierte er seinen Ansatz bereits auf 40 Tonnen Getreide. Bei einer Quote von 30 Prozent ergab das immer noch 12 Tonnen. Damit lag er innerhalb seiner Vorgaben.

„Ich höre, dass dieser Ansatz zu hoch ist und ihr schon genug unter den Bedrängnissen der Weißen gelitten habt. Genosse Lenin sieht eure Not. Deshalb bin ich ermächtigt, die Quote nach unten zu korrigieren, damit sie euch nicht überfordert. Es werden 12 Tonnen Getreide festgesetzt, die wir am kommenden Montag abholen.“

Ohne das Ende der Übersetzung abzuwarten, sprang Kalinin von der Pritsche, was seine Männer als Zeichen zum Aufbruch verstanden. Zufrieden mit dem Ergebnis verließen sie schon wenige Minuten später das Dorf auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.

Nach dem Abzug der Tschekisten machte sich in Osterwick allgemeine Erleichterung breit. Man dankte Abram Dyck für seinen Mut, und die Männer begaben sich direkt in die Kirche, um darüber zu beratschlagen, wie sie die Abgabe von zwölf Tonnen Getreide am besten aufbringen konnten. Sie kamen schnell zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis, doch als Abram Dyck die Versammlung gerade beenden wollte, bat Erwin Wiebe noch einmal um das Wort. Erwin, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, führte bereits die Wirtschaft seines kränklichen Vaters. Trotz seines respektablen Auftretens war es eher ungewöhnlich, dass die Jugend ihre Stimme in diesem Brüderrat erhob. Die gerade im Aufbruch befindlichen Männer kehrten etwas widerwillig zu ihren Plätzen zurück.

„Liebe Brüder, ich bin Gott sehr dankbar für die Bewahrung, die wir heute wieder einmal erleben durften, und ich kann mich dem Dank für Abrams mutiges Auftreten nur aus vollstem Herzen anschließen. Dennoch möchte ich mir erlauben zu fragen, ob wir alles in unserer Macht Stehende tun, um solche Begegnungen auch künftig so glimpflich zu überstehen?“

Erwin blickte fragend in die Runde. Er sprach so selbstverständlich, als wäre er schon häufiger vor solch honorigen Kreisen aufgetreten.

„Warum zweifelst du daran, dass Gott uns nicht auch in Zukunft bewahrt?“, fragte Abram nach einer kurzen Pause. Das allgemeine Gemurmel ließ darauf schließen, dass der Pastor vielen aus der Seele sprach. „Was lässt dich annehmen, dass wir weiterhin Opfer solcher Repressalien werden? Der Krieg scheint entschieden, die Weißen sind auf dem Rückzug. In wenigen Wochen wird sich die ganze Aufregung gelegt haben und alles wird wieder seinen gewohnten Gang gehen.“

Laute Zustimmung erhob sich im Saal und Erwin wartete geduldig, bis sich die Aufregung legte.

„Bei allem Respekt, liebe Brüder. Das war erst der Anfang. Glaubt ihr wirklich, dass die Bolschewiken sich für uns Mennoniten interessieren? Nein, sie kommen schon bald wieder. Sie werden mehr fordern. So viel, bis uns gerade noch genug bleibt, um die Felder zu bestellen. Die Bolschewiken haben den Bauern den Krieg erklärt und sie werden ganz sicher auch vor uns nicht haltmachen.“

Schweigen. Stille. Keiner wusste auf diese forschen Behauptungen etwas zu entgegnen, auch wenn der Widerspruch förmlich in der Luft lag.

„Und vielleicht sind die Roten noch gar nicht mal die größte Bedrohung“, fuhr Erwin fort. „Unsere Brüder aus dem Donbass berichten, dass Nestor Machno ganze Dörfer niederbrennen lässt. Seine Bauernarmee ist schon fast so mächtig wie die der Roten. Wenn sie erst einmal den Dnjepr überqueren, dann gnade uns Gott.“

Erwin spürte, dass die Männer ihm zuhörten. Es schien, als spreche er eine Wahrheit aus, die bis dahin noch niemand wagte, so klar zu formulieren.

„Nestor Machno macht keinen Hehl daraus, dass er uns von ukrainischem Boden vertilgen will und ich bin nicht geneigt zu glauben, dass seine Reden nur plumpe Propaganda sind. Ich habe ihn in Jekaterinoslaw gehört und ich sage euch: Dieser Mann ist gefährlich. Was tun wir also, wenn diese Banditen nach Osterwick kommen? Verlangt Gott nicht von uns, dass wir endlich unseren Selbstschutz organisieren und uns verteidigen?“

Ein erneutes Raunen ging durch die Menge, mündete in eine hitzige Debatte, in der nun alle gleichzeitig und völlig ungeordnet durcheinanderredeten. Die Erwähnung des Selbstschutzes traf die Männer Osterwicks an einem empfindlichen Punkt, legte die Bruchstelle in ihrer Gemeinschaft offen, die bisher nur durch ihr Vertrauen in göttlichen Beistand überdeckt worden war.

Heinrich Bergen, ein entschiedener Gegner des Selbstschutzes, war froh, dass sich die meisten Osterwicker bisher ebenso vehement gegen diese Idee gestemmt hatten wie er selbst. Doch er spürte, dass Erwins Worte einen Dammbruch erzeugten und ihre scheinbare Einheit als bloße Illusion entlarvten. Die Druckwelle der russischen Revolution ließ sich nicht länger aufhalten. Sie teilte ihre Gemeinschaft nun in klare Befürworter und Gegner des bewaffneten Kampfes.

Bisher war der Selbstschutz bloß eine ferne Idee gewesen. Etwas, worüber die jungen Männer hinter vorgehaltener Hand redeten, ein Mythos, den sie viel zu oft verklärten. Sie wagten nicht, sich in aller Offenheit darüber zu unterhalten. Zu sehr widersprach der Gedanke an gewaltsame Verteidigung dem Vorbild ihres Herrn Jesus Christus, der sich nicht einmal wehrte, als man ihn unschuldig ans Kreuz nagelte.

Vielleicht war es ein Fehler, nicht offen mit den jungen Männern gesprochen, die Vor- und Nachteile abgewogen, ausgiebig in der Bibel geforscht und nach dem Ratschluss Gottes gesucht zu haben. Heinrich saß schweigend auf seiner Bank und beobachtete die Brüder, wie sie nun hitzig diskutierten. Es erinnerte ihn an die Männer, die sich andernorts dem Selbstschutz angeschlossen hatten. Er befürchtete, dass dieser kleine, von den deutschen Soldaten gesäte Same nun auch in ihren Herzen aufging und seine tödliche Frucht hervorbrachte. Dabei erschien es doch so einleuchtend: Greift zu den Waffen und verteidigt euer Leben. Verteidigt eure Kinder und Frauen und schießt die Angreifer nieder, sodass sie nie wieder gegen eure Dörfer reiten. Heinrich wollte dieser Lüge keinen Glauben schenken. Schweren Herzens verließ er die Versammlung.

Nestor Machno

Jekaterinoslaw 1920

Kalinin und seine Männer fuhren zurück nach Jekaterinoslaw. Die ukrainischen Dörfer hatten aus ihrer Abneigung gegenüber den Tschekisten keinerlei Hehl gemacht – und so war ihm die Verhandlung mit den Deutschen zum Schluss ihrer Reise in unerwartet guter Erinnerung geblieben. Er war froh, diese anstrengende Woche hinter sich gebracht zu haben. Morgen würde er einer nachrückenden Brigade die Papiere mit den Abgabezahlen übergeben, dann lagen erst mal zwei freie Tage vor ihm. Anschließend wollte er weitere Dörfer im Gouvernement Jekaterinoslaw aufsuchen und den Bewohnern ihre Abgabequoten diktieren.

Je näher sie der Stadt kamen, umso verwunderter stellten sie fest, auf keine Kontrollposten zu stoßen. Weder Geschützfeuer noch MG-Salven waren zu hören, und es schien, als seien alle Kampfhandlungen eingestellt worden. Auf den Gebäuden wehten die Fahnen der Roten Armee, ein untrügliches Zeichen, dass die Weißen endlich geschlagen waren. Erleichterung machte sich unter Kalinins Männern breit. Erst als sie auf das Gelände der Kaserne einbogen, wurden sie am Kontrollpunkt von zwei Männern in Frauenkleidern angehalten. Sie trugen wallende Ballonkleider über den schmutzigen Uniformen und ihre Gesichter schillerten in allen erdenklichen Rottönen.

Kalinin konnte sich keinen Reim auf diese grotesken Gestalten machen. Sie verströmten eine penetrante Duftmischung aus Rosenöl und Alkohol. Ohne ihre Gewehre hätte man sie glatt für geistesgestört gehalten. Doch die Männer besaßen die Dreistigkeit, die Tschekisten nach ihren Papieren zu fragen. Kalinin wollte gerade ansetzen, ihnen den Marsch zu blasen, als er merkte, dass sie nur leise in sich hineinkicherten. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn, ihrem Kommando weiteren Nachdruck verleihen.

Ohne sich weiter um sie zu kümmern, fuhren die Tschekisten auf den Kasernenhof, der übersät war von mehreren Hundert schlafenden und betrunkenen Männern. Sie lagerten an unzähligen Feuerstellen, die sich über das gesamte Areal verteilten. In diesem Chaos gab es kein Durchkommen, ohne Gefahr zu laufen, etliche der dort liegenden Männer zu zerquetschen.

Kalinin stieg aus, um sich einen Überblick zu verschaffen. Wer waren diese Vagabunden und wie hatten sie sich Zutritt zur Kaserne verschaffen können? Wo war General Fjodrov? Niemand schien seine Anwesenheit zu registrieren, als er langsam den Kasernenhof überquerte. Die, die nicht schliefen, zogen sich unter lautem Gegröle ihrer Kameraden Frauenkleider an, trugen Puder und Schminke auf und ließen ohne Pause die Wodkaflaschen kreisen. Hier und da flogen die leeren Flaschen in hohem Bogen davon, zerschellten achtlos zwischen den lagernden Männern. Kalinin trat mehrmals auf Glasscherben, die knirschend unter seinen Sohlen zerbrachen.

„Wer bist du und was willst du hier?“ Kalinin war überrascht, eine klare und deutliche Stimme zu vernehmen, die dennoch so gar nicht zu dem kleinen Mann passte, der sich ihm unvermittelt in den Weg gestellt hatte.

„Major Kalinin. Ich will zu General Fjodrov.“

Der kleine Mann sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als ob ihn die Sonne blendete. So sieht wohl Diensteifer aus, dachte Kalinin schmunzelnd, weil der Mann trotz seines großspurigen Gehabes keinerlei Autorität ausstrahlte. Er sprach wahrscheinlich nur deshalb mit Kalinin, weil er als Einziger noch nüchtern war.

„Da hinten.“ Er zeigte mit seinem Arm, der von einer viel zu kurzen, schmutzigen Uniformjacke bedeckt wurde, auf ein Ziegelsteingebäude am Ende des Kasernenhofs. „Da hinten sitzen die Roten.“

Als Kalinin und seine Männer das Gebäude erreichten, wurde ihnen sofort geöffnet. Hier verfehlte die Uniform der Tschekisten nicht ihre Wirkung. Keiner der anwesenden Rotarmisten wäre auf die Idee gekommen, Kalinin nach seinem Ausweis zu fragen.

„Wo ist General Fjodrov?“, herrschte Kalinin die Soldaten an.

„General Fjodrov und die 32. Division der Roten Armee sind weiter nach Süden gezogen, um den Weißen den Todesstoß zu versetzen, Major Kalinin. Ich freue mich, Sie hier in Jekaterinoslaw wiederzusehen.“ Der Mann, der ihn so begrüßte, war Major Poljakow. „Kommen Sie bitte mit in mein Büro, dann erkläre ich Ihnen, was sich hier während Ihrer Abwesenheit ereignet hat.“

Kalinin folgte dem Mann, setzte sich auf einen Stuhl und wartete auf den Bericht.

„Jekaterinoslaw wurde vor drei Tagen dem Befehl Nestor Machnos unterstellt. Seine Männer haben den Auftrag, die Stadt zu sichern, während unsere Truppen den Weißen hinterherjagen.“

Kalinin musste lachen: „Sichern? Diese Männer sollen Jekaterinoslaw sichern? Das sind betrunkene Bauern, denen man eine Waffe in die Hand gedrückt hat. Und die sollen jetzt eine ganze Stadt sichern?“

Poljakow zuckte mit den Schultern. „Wir sind im Krieg. Und im Krieg kann man sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen. Außerdem haben sie sich als äußerst nützlich bei der Eroberung dieser Stadt erwiesen. Ohne ihre Hilfe hätten wir die Weißen nicht so schnell vertrieben.“ Er entzündete eine Zigarette und bot sie – ohne einen Zug zu nehmen – Kalinin an.

Kalinin lehnte ab. „Was soll dieser Aufzug? Warum die Frauenkleider und die ganze Schminke?“

„Sie greifen sich alles, was sie in die Finger bekommen. Egal was es ist. Sie rauben die Bevölkerung aus, haben selbst aber eine Heidenangst davor, bestohlen zu werden. Deshalb ziehen sie die Kleider an. Lächerlich, nicht wahr?“ Poljakow blies den Rauch seiner Zigarette an die Decke. Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich.

Kalinin konnte es nicht fassen. „Und wieso gebieten Sie diesem Treiben keinen Einhalt?“, fragte er den Major.

„Einhalt? Wir sollen diesem Mob Einhalt gebieten? Wie stellen Sie sich das vor, Major Kalinin? Unsere Einheit besteht nur noch aus zwanzig Mann. Als wir gestern einen Trupp losschickten, um die Lage in der Stadt zu sondieren, kamen die Männer völlig verstört zurück. Sie mussten tatenlos mit ansehen, wie sich diese Banditen auf einen Mann stürzten, ihn mit ihren Säbeln buchstäblich in Stücke hackten. Und heute …“ Der Major stockte kurz. „Heute haben sie hier auf dem Kasernenhof zwei Frauen vergewaltigt. Sie haben sie irgendwo aufgegriffen, hierher gezerrt und wie Beutestücke ihren geifernden Kameraden vorgeworfen. Erst wollten wir eingreifen, doch uns wurde unmissverständlich klargemacht, dass wir uns aus ihren Angelegenheiten raushalten sollen. So blieb uns nichts anderes übrig, als tatenlos abzuwarten. Vermutlich sind die beiden Frauen längst tot. Was hätten Sie in einer solchen Situation getan, Major Kalinin? Wie hätten Sie dieser Horde Einhalt geboten, ohne sich selbst von ihnen aufschlitzen zu lassen? Das da draußen sind keine Menschen, denen man mit zwanzig Mann Einhalt gebieten könnte. Das sind Bestien, denen man besser nicht in die Quere kommt.“

Major Poljakow schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schaute Kalinin fest in die Augen. Seine selbstsichere Fassade bröckelte. Man sah ihm deutlich an, dass er kurz davor stand, unter dem Druck zusammenzubrechen. Seine Mundwinkel zuckten, als er sich mit einer nervösen Geste die Haare aus dem Gesicht strich.

„Wo ist Machno?“, fragte Kalinin nach einer langen Pause.

Als man Anton Kalinin und seine Männer am nächsten Morgen in die große Messe führte, verschlug es ihnen fast den Atem. Die Fenster waren verschlossen und mit schwarzer Farbe überstrichen, sodass kein Tageslicht hereinfiel. Es stank nach Schweiß, Alkohol, Exkrementen und Verwesung. Kalinin zog sich instinktiv den Kragen seines Pullovers über die Nase. Er hörte vereinzelte Schreie, aber seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er nichts erkannte. Er wollte schon umdrehen, weil er zweifelte, dass man sie tatsächlich zu Nestor Machno führte. Doch da Major Poljakow persönlich um diesen Termin gebeten hatte, blieb ihm keine Wahl, als den Wachen zu folgen.

Langsam begriff Kalinin, dass sie sich in einem riesigen Lazarett befanden. Auf dem Boden wanden sich blutüberströmte Menschen in ihren Ausscheidungen. Die, die sich nicht mehr bewegten, waren offensichtlich schon tot. Weder Ärzte noch Pfleger kümmerten sich um die Männer, woraus Kalinin schloss, dass man die Verwundeten sich selbst überließ. Er wusste aus eigener Fronterfahrung, dass nur die wenigsten Soldaten direkt auf dem Schlachtfeld starben. Die meisten kamen mit lebensgefährlichen Verletzungen in irgendein überfülltes Lazarett, nur um dort Tage später qualvoll zu verenden. Manchmal gab es fähige Sanitäter, die das Leiden ein wenig lindern konnten, doch viel zu oft mangelte es auch ihnen an Medikamenten und Ausrüstung. Hier in diesem provisorischen Lazarett gab es nichts von alledem.

Machnos Männer führten sie in ein höher gelegenes Stockwerk, wo sich ein weiterer großer Saal vor ihnen öffnete. Diesmal ohne abgedunkelte Fenster. In dem Raum befanden sich an die hundert Soldaten, teils stehend, teils an den Wänden sitzend. Sie trugen keine einheitlichen Uniformen, aber die Art und Weise, wie sie ihre Waffen hielten, ihr klarer Blick und ihre aufrechte Haltung wiesen sie als Soldaten mit Kampferfahrung aus. Vielleicht Offiziere, dachte Kalinin, der sich fragte, ob diese Männer auch jedes Mal durch das Lazarett laufen mussten, um hierher zu gelangen. Er verbuchte diesen Umweg als erste Schikane seines Gastgebers.

Man wies sie an, auf einer Bank Platz zu nehmen und zu warten, bis man sie aufrief. Kalinin versuchte zu erkennen, was sich am anderen Ende des Raumes abspielte, wohin die Blicke aller Anwesenden gerichtet waren. Niemand hatte ihr Eintreten bis jetzt zur Kenntnis genommen, denn dort saß Nestor Machno an einem großen massiven Schreibtisch und hörte sich den Bericht des vor ihm sitzenden Mannes an. Leider sprach der so leise, dass Kalinin ihn nicht verstehen konnte, aber er sah, wie Machno ihn fixierte. Starren Blickes, ohne mit den Wimpern zu zucken, saß er regungslos auf seinem Stuhl, leicht nach vorne gebeugt und aufs Äußerste angespannt. Sein auffällig langes Haar hing ihm lose bis auf die Schultern herab und war in einem Scheitel aus dem Gesicht gekämmt. Es sah fast aus, als trüge er einen Turban. Kalinin musste an einen Vulkan denken, der kurz vor dem Ausbruch stand.

Über was sprachen die beiden? Er bekam keine Antwort auf seine Frage. Stattdessen erhob sich Machno von seinem Stuhl, ging mit ausladenden Schritten um den Tisch herum und packte den verängstigten Mann am Kragen. Ihre Gesichter berührten sich fast, als Machno den Mann anschrie: „Nie wieder! Hast du gehört? Nie wieder werde ich solche Inkompetenz dulden!“ Er drückte den Mann zurück in seinen Stuhl und stieß ihn dann mit einem kräftigen Fußtritt zu Boden. Der hob, nach Gleichgewicht suchend, die Arme, konnte aber nicht verhindern, dass er hintenüber kippte und laut krachend aufschlug. Trotz der Demütigung war er erkennbar erleichtert, auf allen vieren wieder zurück in die Reihe seiner Kameraden kriechen zu dürfen.