Rottet die Bestien aus! - Sven Lindqvist - E-Book

Rottet die Bestien aus! E-Book

Sven Lindqvist

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Beschreibung

Auf einer Reise durch die Sahara setzt sich Sven Lind­qvist mit der Kolonialzeit auseinander. Dem Selbstbild Europas als »Wiege des Fortschritts« stellt er die brutale europäische Expansionspolitik entgegen, die im Namen einer vermeintlichen biologischen und intellektuellen Überlegenheit sowie eines ebenso fragwürdigen zivilisatorischen Auftrags den Weg frei gemacht hat für immer neue Gewalt­tätigkeiten. Als Beleg führt Lindqvist Zitate von Kriegsherren, Eroberern, Publizisten, Philosophen, Historikern, Sozial- und Naturwissenschaftlern an (u. a. Winston Churchill, Herbert Spencer, Charles Darwin), die mit eigenen poetischen Notizen und Verweisen auf literarische Werke (v. a. Joseph Conrad und H. G. Wells) verwebt werden. Das Buch wurde in 15 Sprachen übertragen und bildete eine der Grundlagen für den gleichnamigen vierteiligen Filmessay des Regisseurs Raoul Peck. Neue, autorisierte Übersetzung aus dem Schwe­dischen von Sandra Nalepka.

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Seitenzahl: 268

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Sven Lindqvist, Rottet die Bestien aus!

Sven Lindqvist (1932–2019) war ein schwedischer Schriftsteller und Literaturhistoriker und lehrte u. a. an der Universität Stockholm. Er bereiste u. a. Lateinamerika, China und Afrika und verfasste mehr als 30 Bücher, meist dokumentarischer Art, in denen er sich mehrfach mit Themen wie Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus und Krieg auseinandersetzte.

Sandra Nalepka, geb. 1970, wuchs zweisprachig schwedisch-deutsch in Stuttgart und Linz auf. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Genf zog sie nach Wien, wo sie ein Psychologiestudium abschloss und heute u. a. als Übersetzerin aus dem Schwedischen tätig ist.

Raoul Peck, geb. 1953 in Port-au-Prince, Haiti, ist Filmregisseur und Drehbuchautor und beschäftigt sich filmisch immer wieder mit seiner karibischen Heimat und Afrika. Er studierte in den USA, Frankreich und an der Filmhochschule in Berlin. I am Not Your Negro brachte ihm 2017 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester Dokumentarfilm ein. 2021 realisierte er den vierteiligen Filmessay Exterminate All the Brutes (Rottet die Bestien aus!).

Sven Lindqvist

ROTTET DIE BESTIEN AUS!

Eine Reise auf den Spuren des europäischen Völkermords

Aus dem Schwedischenvon Sandra Nalepka

Mit einem Vorwortvon Raoul Peck

Alexander Verlag Berlin

Diese Übersetzung erscheint mit freundlicher Unterstützung des Swedish Arts Council.

© Alexander Verlag Berlin 2023

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin

www.alexander-verlag.com | [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Utrota varenda jävel.

© Sven Lindqvist, 1992. Published by arrangement with Agence littéraire Astier-Pécher. All rights reserved.

Lektorat: Marilena Savino. Dank an Christin Heinrichs-Lauer

Satz und Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Coverabbildung: »König Prempehs Unterwerfung. Die endgültige Demütigung«, The Graphic, 1896

Alle Abbildungen © Lina Löfström Baker, of the Swedish National Library, außer Illustration Knox, the Anatomist, Edinburgh, 1964: © Wellcome Collection

Porträt von Sven Lindqvist: © Casper Hedberg

ISBN 978-3-89581-611-6 (eBook)

Für

Olof Lagercrantz,

der mit dem Herz der Finsternis reiste

und

Etienne Glaser,

der den Adolf in Hitlers Kindheit spielte

Eigentlich sollte man alle Juden und Neger ausrotten. – Wir werden siegen. Die anderen Rassen werden verschwinden und aussterben.

Weißer Arischer Widerstand, Schweden 1991

Ihr könnt sie ausrotten. Aber die Kinder der Sterne werden niemals Hunde sein.

Somabulana, Rhodesien 1896

Zu Entscheidungen für oder gegen die Wahl rassistisch konnotierten Vokabulars im Rahmen dieser Übersetzung:

In der schwedischen Originalvorlage, an der Sven Lindqvist in den späten 1980er-Jahren zu arbeiten begann, findet sich damals allgemein übliches Vokabular. Was ein durch und durch antirassistischer Mensch wie Lindqvist zu jener Zeit so formulieren konnte, befremdet hingegen heute beim Lesen. Sprache ist fluid. Was recht ist und was nicht, folgt u. a. aus unseren Reflexionen über die Geschichte und all ihrer Unmenschlichkeiten. Verbale Entwürdigungen, wie sie etwa in den Jahrhunderten der europäischen Kolonialisierung gebräuchlich waren, nicht mehr zu perpetuieren, ist das Ergebnis bewusster Entscheidungen infolge dieser Reflexion.

Dem Rechnung zu tragen, habe ich in meiner Übersetzung versucht.

Dennoch wollte ich in einigen Textpassagen das degradierende Vokabular beibehalten, um beim Lesen die damit vermittelte Menschenverachtung der von Lindqvist behandelten historischen Persönlichkeiten spürbar zu machen, nämlich in jenen Passagen, die die damalige rassistische Gesinnung zu Wort kommen lassen. Und natürlich in allen Zitaten.

Sandra Nalepka, Juni 2023

Sven Lindqvist, 2018

Vorwort

Sven Lindqvist

Wenn ein Schriftsteller jahrelang Völkermorde, Waffensysteme, die gewalttätigen Wahnvorstellungen von Faschisten und die geistigen Muster jener studiert, die ohne auch nur den Schatten eines Zögerns die Planung von Massenmorden betreiben – wie lebt er dann im Lauf dieser Zeit? Wie geht es ihm, der täglich in die blutigen Senkgruben des Rassismus hinab- und dann wieder daraus hervorsteigt? Der die Aggressionen noch einmal, mit dem Schrecken eines Kindes im Innern, aufschreibt? Wie lebt er, der die Frage des Bösen untersucht, während seiner Recherchen? Und danach?*

Agneta Stark,

Lebensgefährtin von Sven Lindqvist

Rottet die Bestien aus! komprimiert auf meisterliche Art das gesamte Werk Sven Lindqvists.

Die Essenz seiner menschlichen Abenteuer, seiner geheimen Gedanken und seiner Weltsicht spiegeln sich in jeder Zeile, jeder Seite und jedem Kapitel dieses so einzigartigen Werks wider.

Das Resultat eines ganzen Lebens also, in dem Sven seine Leser nie hinters Licht geführt hat. Er hat sich mit seinem gesamten Wesen engagiert, physisch (er betrieb Kraftsport, wo immer ihm das möglich war) und intellektuell, und er hat zu jeder Zeit das Abenteuer des Menschseins ins Zentrum gestellt.

Andere Autoren haben von ihrer eigenen Odyssee über die Kontinente, ihrem Abstieg in die Hölle, ihren ersten Schritten in unerforschte Gebiete erzählt. Sven Lindqvist hingegen führt uns an andere Orte, indem er uns, wer immer wir sein mögen, mit uns selbst konfrontiert.

Er konfrontiert uns mit der wahren Geschichte des mörderischen Eurozentrismus und der völkermörderischen Herrschaft des europäischen Kontinents über den Rest der Welt sowie mit den Konsequenzen, die diese für das Leben und die Kulturen der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten gehabt haben. Es gibt nur wenige Autoren, denen dies auf so meisterliche, tiefgehende, ergreifende und persönliche Art gelungen ist.

Svens Prosa und Poesie hinterlassen beim Leser, ganz gleich, um wen es sich handelt, tiefe Spuren. Er erschüttert uns, zutiefst und im Wesen, weil sein Werk zugleich das Hier und das Anderswo, das Selbst und den Anderen, das Zentrum und die Peripherie anvisiert. Er zieht Folgerungen, die unmöglich ignoriert werden können. Man bleibt von ihm nicht unversehrt.

Und es ist diese einzigartige Herangehensweise, die mich gleich bei meiner ersten Begegnung mit Sven aufgewühlt hat, als ich dank des Hinweises eines befreundeten Verlegers sein Buch entdeckte. Ich habe dabei ein ganz seltenes Beben verspürt, das nur wenige Werke dieser Art und zu diesem Thema in mir auslösen können. Ich empfand, über den Altersunterschied, die Entfernung, die anderen Erfahrungen hinweg, eine bis dahin unbekannte Nähe, die mich sofort magnetisch anzog. Eine »humanistische Identität«, die sich mir unmittelbar mitgeteilt hat.

An diesem Punkt hat meine Freundschaft mit Sven begonnen. Ich musste ihm überhaupt nichts erklären, geschweige denn mich selbst. Genauso, wie ich sofort verstanden habe, warum er sprach, wie er sprach, und vor allem, warum er so LEBTE und leben wollte.

Diese Gemeinsamkeit des Schicksals, der Ziele, der Suche und des Blicks auf die Welt ist selten genug, um als unwahrscheinlich betrachtet zu werden. Aber dennoch waren diese wenigen Jahre, die er dann noch lebte, die Zeit einer Freundschaft von außerordentlicher und, paradoxerweise, beruhigender Intensität.

Er hatte sein Werk vollendet und ging in dem Wissen, dass es fortgesetzt werden würde.

Rottet die Bestien aus! ist in Wirklichkeit eine Geschichte des Kapitalismus. Dieses Buch verfolgt die Eroberungen seit der Ära der sogenannten Doktrin der Entdeckung, die von dem, was der Historiker Sven Beckert in seinem Werk King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus als Epoche des »Kriegskapitalismus« bezeichnet hat,* bis zu unserer heutigen Gesellschaft führten, der Karikatur eines wahnsinnigen Finanzkapitalismus, der global geworden ist und keinerlei Grenzen kennt. Es erzählt die Geschichte einer imperialen Eroberung, die alles auf ihrem Weg zerstören und in die Völkermorde des 20. Jahrhunderts münden wird; ein Blutbad, das auf den beiden »amerikanischen« Kontinenten begonnen hat, auf denen innerhalb von weniger als einem Jahrhundert 90 Millionen Menschen ausgerottet wurden. Dennoch behaupten gewisse Politiker in den Vereinigten Staaten heute immer noch, dieses Land sei ursprünglich »unberührt« und menschenleer gewesen.

Sowohl Sven Lindqvist als auch der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot (in seinem unentbehrlichen Werk Silencing the Past)* haben gezeigt, wie diese Gründungserzählung zur tragenden geistigen Säule der imperialen Eroberungen wurde. Eine Erzählung, die insbesondere auch die Konstruktion rassifizierter Hierarchien und die entmenschlichende Darstellung der nichteuropäischen Völker ermöglicht, die den Grundstein dieser völkermörderischen Geschichte bilden. Und schließlich decken sie auf, wie Kolonialismus und Kapitalismus in der europäischen Geschichte bis hin zur Endlösung untrennbar miteinander verwoben sind.

Das ist es, was mich dazu bewogen hat, auf sie zurückzugreifen.

Beide Autoren enthüllen, wie das Verschweigen und die Lügen der offiziellen Geschichte, der Geschichte der angeblich »objektiven« Sieger, im ausschließlichen Interesse einer Minderheit integrale Teile von Erzählungen kaschiert, gelöscht und ausradiert haben. Diese Formen des Schweigens haben sich nachhaltig auf die heutige Welt, ihre Politik, ihren Diskurs und ihre nationalen und kulturellen Identitäten ausgewirkt.

Jede historische Erzählung ist ein politischer Akt, der eng mit der Macht und ihrer Aufrechterhaltung und somit auch mit der Rechtfertigung staatlicher Gewalt verbunden ist.

Wie vor ihm Frantz Fanon hat Lindqvist im Detail gezeigt, wie die koloniale Gewalt sowohl beim Opfer als auch beim Unterdrücker traumatische Spuren hinterlässt – einem Unterdrücker, der davon überzeugt ist, im Recht zu sein, weil ja er selbst die Geschichte schreibt, noch während sie sich mit grundlegenden existentiellen Konsequenzen für Täter und Opfer abspielt.

Es wird heute von einigen gern endlos über die Frage von Reparationen, Versöhnung oder »Vergebung« diskutiert.

Aber das heißt, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen. Solange es kein tiefes, klar herausgearbeitetes Verständnis, keine radikale Dekonstruktion des dominanten westlichen Denkens in all seinen Formen gibt, bin ich nicht der Meinung, dass eine »Verhandlung« mit jedweden heutigen Erben kolonialer, auf Völkermord beruhender Reichtümer angebracht oder auch nur möglich ist. Ich würde sogar sagen, dass solche »Verhandlungen« regelrecht geschmacklos wären, weil es ein weiteres Mal »dieselben« sind, die die Diskussion führen wollen – und sich das Recht anmaßen wollen, den Richter zu spielen.

In meinem Film Rottet die Bestien aus! sage ich, dass »Neutralität keine Option mehr ist«. Sven jedenfalls hat Partei ergriffen und sich mit Leib und Seele auf diese Reise begeben. Er schenkt uns hier ein Dokument, eine Bibel, eine Geografie, ein vollständiges Werk, das er aus dem tiefsten Inneren seines Wesens hervorgeholt hat.

Es ist radikal, existentiell und wegweisend.

»Das Grauen! Das Grauen!«, rief Kurtz.

Raoul Peck, Juni 2023

Deutsch von Michael Schiffmann

* Zitat aus Agneta Starks Beitrag »Sven« in Raoul Pecks Buch Exterminate All the Brutes zu seiner gleichnamigen Serie. Paris: Editions Denoël – Velvet Film 2021, S. 217.

* Sven Beckert, King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München: Verlag C. H. Beck 2014.

* Michel-Rolph Trouillot, Silencing the Past. Power and the Production of History. Boston: Beacon Press 1995/2015.

I

NACH IN SALAH

1

Du weißt bereits genug. Ich auch. Es mangelt uns nicht an Kenntnis. Uns fehlt der Mut, einzusehen, was wir wissen, und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen.

2

Tademait, die »Wüste unter den Wüsten«, ist das toteste Gebiet der Sahara. Vegetation ist nicht einmal ansatzweise vorhanden. Alles Leben ist ausgelöscht. Den Boden bedeckt nur jener schwarze, glitzernde Wüstenfirnis, den die Hitze aus den Steinen gepresst hat.

Der Nachtbus, der einzige Bus zwischen El Goléa und In Salah, braucht mit etwas Glück sieben Stunden. Einen Sitzplatz erkämpft man sich gegen einige Dutzend Soldaten in derben Kampfstiefeln, die ihre Anstell-Technik in der Nahkampfschule der algerischen Armee in Sidi Bel Abbès gelernt haben. Wer dabei unter einen Arm das Kernstück des europäischen Gedankens geklemmt hat, abgespeichert auf einer altmodischen Festplatte, hat das Nachsehen.

An der Abzweigung Richtung Timimoun wird warme Kartoffelsuppe mit Brot durch ein Loch in der Wand serviert. Danach ist der zuschanden gefahrene Asphalt zu Ende, der Bus fährt durch eine straßenlose Wüste weiter.

Es ist der reinste Rodeo. Der Bus gebärdet sich wie ein noch nicht zugerittenes Jungpferd. Mit scheppernden Scheiben und quietschenden Federn schaukelt, stampft und springt er vorwärts, jeder Stoß überträgt sich bis zur Hardware des Computers auf meinen Knien und zur organischen Software meiner Wirbelsäule, die einem Stapel schwankender Bauklötze gleicht. Wenn ich das Sitzen nicht mehr aushalte, klammere ich mich ans Gepäcknetz oder gehe in die Hocke.

Genau das habe ich gefürchtet. Genau danach habe ich mich gesehnt.

Die Nacht unter dem Mond ist phantastisch. Stunde um Stunde zieht die weiße Wüste vorbei: Steine und Sand, Steine und Kies, Kies und Sand – alles schimmernd wie Schnee. Stunde um Stunde. Nichts geschieht, bis plötzlich ein Feuersignal im Dunkeln aufflackert als Zeichen für einen der Passagiere, den Bus anzuhalten, auszusteigen und loszugehen, geradewegs in die Wüste hinaus.

Das Geräusch seiner Schritte verschwindet im Sand. Er selbst verschwindet. Auch wir verschwinden in der weißen Finsternis.

3

Das Kernstück des europäischen Gedankens? Ja, es gibt einen Satz, einen kurzen und einfachen Satz, drei, vier Worte bloß, der die Geschichte unseres Kontinents, unserer Menschheit, unserer gesamten Biosphäre vom Holozän1 bis zum Holocaust zusammenfasst.

Er sagt nichts aus über Europa als Ursprungsort des Humanismus, der Demokratie und der Wohlfahrt auf unserem Erdball. Er sagt nichts aus über all das, worüber wir mit Recht so stolz sind. Er spricht bloß jene Wahrheit aus, die wir am liebsten vergessen wollen.

Ich habe diesen Satz viele Jahre lang studiert. Ich habe enorme Mengen an Material gesammelt, für deren Sichtung mir die Zeit fehlt. Ich würde gerne irgendwo in dieser Wüste verschwinden, wo mich niemand erreichen kann, wo ich alle Zeit der Welt habe. Verschwinden und erst wiederkommen, wenn ich erkannt habe, was ich bereits weiß.

4

Ich steige in In Salah aus.

Der Mond scheint nicht mehr. Der Bus nimmt seine Lichter und verschwindet. Rundherum kompakte Dunkelheit.

Es war außerhalb In Salahs, dass der schottische Forschungsreisende Alexander Gordon Laing überfallen und ausgeraubt wurde. Er bekam fünf Hiebe gegen den Kopf und drei gegen die linke Schläfe. Einer der Hiebe gegen den linken Wangenknochen zertrümmerte den Kiefer und spaltete das Ohr. Ein schrecklicher Schlag in den Nacken verletzte die Luftröhre, eine Kugel durch die Hüfte streifte das Rückgrat. Drei Hiebe gegen den rechten Arm und die Hand, drei gebrochene Finger, das Handgelenk zertrümmert etc. etc….2

Irgendwo weit draußen in der Dunkelheit flackert ein Feuer. Ich beginne, meinen schweren Computer und meinen noch schwereren Koffer Richtung Licht zu schleppen.

Kleine, rote, vom Wind hergetriebene Sandwehen kreuzen den Weg. Am Abhang hat sich der lose Sand in Haufen gesammelt. Ich gehe zehn Schritte, raste und gehe wieder zehn Schritte. Das Licht kommt nicht näher.

Es war im Januar 1825, dass Laing überfallen wurde. Aber Furcht ist zeitlos. Thomas Hobbes in seinem 17. Jahrhundert hatte ebensolche Angst vor der Einsamkeit, der Nacht und dem Tod wie ich. »(…) gäbe es den Galgen nicht, [wären] einige Menschen von so grausamer Natur«, sagte er zu seinem Freund John Aubrey, »daß sie mehr Gefallen daran fänden, einen anderen Menschen zu töten, als ich am Töten eines Vogels.«3

Das Feuer wirkt unverändert weit entfernt. Soll ich Computer und Koffer abstellen, um leichter vorwärtszukommen? Nein, ich setze mich in den Staub und warte auf die Morgendämmerung.

Hier unten, dem Boden nahe, erreicht mich plötzlich ein Windstoß, der den Duft von brennendem Holz mit sich führt.

Nimmt man die Düfte der Wüste intensiver wahr, weil sie so selten sind? Wird Holz in der Wüste konzentrierter und damit duftender, wenn es brennt? Das dem Auge so ferne Feuer kommt jedenfalls meiner Nase plötzlich sehr nahe.

Ich erhebe mich und stapfe weiter.

Mit einem großen Triumphgefühl erreiche ich schließlich die Männer, die am Feuer kauern.

Ich grüße. Frage. Und erfahre, dass ich hier völlig falsch bin. Umdrehen müsse ich, sagen sie.

Ich folge meinen Spuren zurück zur Bushaltestelle, wo ich ausgestiegen bin.

Und weiter Richtung Süden, in derselben Dunkelheit.

5

»Angst bleibt immer«, sagt Conrad. »Ein Mensch kann alles in sich ausrotten, Liebe und Haß und Glauben und sogar Zweifel; doch solange er am Leben hängt, kann er Angst nicht ausrotten.«4

Hobbes hätte dem zugestimmt. Hier reichen sie einander über die Jahrhunderte hinweg die Hände.

Weshalb reise ich so viel, wenn ich solche Angst davor habe? Weshalb reiste mein Kollege Artur Lundkvist, der sich ebenso fürchtete?

Vielleicht suchen wir in der Furcht eine gesteigerte Wahrnehmung, eine intensivere Form des Seins? Ich fürchte mich, also bin ich. Je mehr ich mich fürchte, desto mehr bin ich?

6

In In Salah gibt es nur ein einziges Hotel. Das große, teure, staatseigene Hotel Tidikelt, das, als ich es endlich gefunden habe, nicht mehr zu bieten hat als ein kleines, dunkles und eiskaltes Zimmer, dessen Heizung schon seit Ewigkeiten nicht mehr funktioniert.

Alles ist wie immer in der Sahara: Der Geruch nach starken Desinfektionsmitteln, das Quietschen ungeölter Türangeln, die halb heruntergerissenen Vorhänge. Ich kenne diese wackelnden Tische, deren viertes Bein zu kurz ist, und den Sandschleier auf der Tischplatte, dem Kissen, dem Waschbecken. Ich kenne den Wasserhahn, der voll aufgedreht langsam zu tröpfeln beginnt, bis er nach einem halben Zahnputzbecher mit einem müden Seufzer aufgibt. Ich kenne das militärisch straff gespannte Bettzeug, das keine Füße zulässt, zumindest nicht aufgestellte, und das zur Hälfte unter die Matratze gesteckt ist, sodass die Decke nur bis zum Nabel reicht. Alles, um bis zuletzt die unberührte Jungfräulichkeit des Bettzeugs zu verteidigen.

O. K., reisen muss man vielleicht. Aber wieso ausgerechnet hierher?

7

Das Geräusch schwerer Holzprügel. Sie treffen den Kehlkopf. Ein Geräusch wie von zerdrückten Eierschalen, und dann das Gurgeln, wenn die Geschlagenen verzweifelt nach Luft ringen.

Am Vormittag wache ich endlich auf, noch immer voll angezogen. Das Bett ist rot vom Sand, den ich vom Bus mitgebracht habe. Jeder Schlag zertrümmert einen weiteren Kehlkopf. Der letzte wird meinen zertrümmern.

8

Das Hotel liegt eingebettet in Sandwehen, einsam an einer verlassenen Straße über eine verlassene Ebene. Ich wate hinaus in den tiefen Sand. Die Sonne knallt unerbittlich herab. Das Licht macht genauso blind wie die Dunkelheit. Die Luft zerbirst an meinem Gesicht wie eine dünne Eisdecke.

Bis zur Post ist es eine halbe Stunde, von dort nochmal so lange bis zur Bank und zum Markt. Die Altstadt kauert sich zusammen, unzugänglich für Sonne und Sandstürme, doch die Neustadt liegt schütter verstreut und versucht durch moderne Städteplanung die saharische Ödnis zu maximieren.

Die rotbraunen Lehmfassaden im Stadtkern werden von weißen Säulen und Portalen, weißen Zinnen und Mauerkronen aufgelockert. Der Stil nennt sich »sudanesisch«, »schwarz«, nach »Bled es Soudan«, das »Land der Schwarzen«. In Wahrheit handelt es sich um einen Phantasiestil, von den Franzosen für die Pariser Weltausstellung 1900 kreiert und danach hier in der Sahara ausgepflanzt. Die moderne Stadt ist international betongrau.

Der Ostwind bläst mir brennend ins Gesicht, als ich zum Hotel zurückkehre. Dort sind vor allem Fernfahrer und Ausländer, zumeist Deutsche, alle auf dem Weg »rauf« oder »runter«, wie auf einer Treppe. Alle erkundigen sich untereinander nach Weg, Benzin, Ausrüstung, alle sind vom Gedanken getrieben, so schnell wie möglich weiterzukommen.

Ich klebe die Landkarte an die Wand und betrachte die Entfernungen. Es sind 290 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Westen, Reggane. Es sind 400 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Norden, El Goléa, von wo ich gekommen bin. Es sind 500 Kilometer Luftlinie bis zur nächsten Oase im Osten, Bordj Omar Driss. Es sind 660 Kilometer Wüstenstraße bis zur nächsten Oase im Süden, Tamanrasset. Es sind 1000 Kilometer Luftlinie bis zum nächsten Meer, dem Mittelmeer, und 1300 Kilometer Luftlinie bis zum nächsten Fluss, dem Niger. Es sind 1500 Kilometer bis zum Meer im Westen. Im Osten liegt das Meer so weit entfernt, dass es bedeutungslos ist.

Immer, wenn ich die Entfernungen betrachte, die mich umgeben, wenn mir bewusst wird, dass ich hier am Nullpunkt der Wüste bin, durchfährt mich ein starkes Glücksgefühl. Genau deshalb bleibe ich.

9

Wenn ich die Kiste doch nur zum Laufen bringen könnte! Die Frage ist, ob sie die Erschütterungen und den Staub überlebt hat. Die Disketten sind nicht größer als Ansichtskarten. Beinahe hundert Disketten sind es, luftdicht verpackt, eine ganze Bibliothek, die zusammen nicht mehr wiegt als ein Buch.

Ich kann jederzeit an beliebiger Stelle eintauchen in die Geschichte des Vernichtungsgedankens – ab den Anfängen der Paläontologie, als Thomas Jefferson es noch für unbegreiflich hielt, dass auch nur eine einzige Art aus der »Haushaltung der Natur« verschwinden könne, bis zur heutigen Erkenntnis, dass bereits 99,9 Prozent aller Arten ausgestorben sind, die meisten davon in großen, beinahe alles Leben auslöschenden Massenvernichtungen.5

Die Diskette wiegt fünf Gramm. Ich schiebe sie in das Laufwerk und schalte ein. Der Bildschirm flackert, und jener Satz, den ich so lange studiert habe, leuchtet mir in dem finsteren Zimmer entgegen.

Finsternis – das Wort »Europa« leitet sich von einem semitischen Wort ab, das genau das bedeutet.6 Der Satz, der da am Bildschirm leuchtet, ist wahrhaft europäisch. Der Gedanke lag schon seit geraumer Zeit in der Luft, bis er um den Jahreswechsel 1898–1899 endlich von einem polnischen Schriftsteller formuliert wurde, der oftmals auf Französisch dachte, aber auf Englisch verfasste: Joseph Conrad.

Kurtz, eine der Hauptfiguren in Herz der Finsternis, beendet seinen Aufsatz über die »zivilisatorische Aufgabe« der Weißen bei den »Wilden« in Afrika mit einem handschriftlichen Postskriptum, das die eigentliche Aussage seiner hochtrabenden Rhetorik zusammenfasst.

Es ist dieser Satz, der mir hier am Bildschirm nun entgegenstrahlt:

»Exterminate all the brutes!«

10

Das lateinische terminus heißt übersetzt »Grenze«, extermino »über die Grenze treiben, verbannen, entfernen«. Davon leitet sich das englische Wort exterminate ab, das »über die Grenze des Lebens in den Tod treiben« bedeutet, »aus dem Leben entfernen«.

Hierzu gibt es im Schwedischen [wie auch im Deutschen]* keine direkte Entsprechung. Wir müssen »ausrotten« sagen, obwohl das eigentlich ein völlig anderes Wort ist, das im Englischen extirpate heißt und vom lateinischen stirps kommt, »Wurzel, Stamm, Geschlecht, Familie«.

Sowohl im Englischen als auch im Schwedischen [und Deutschen] ist dem Verb bereits eingeschrieben, dass es sich selten auf ein einzelnes Individuum, sondern meist auf ganze Gruppen bezieht, wie etwa Brennnesseln, Ratten oder Völker.

Die Fortsetzung all the brutes wird in der alten schwedischen Übersetzung zu »alle Ungeheuer« [in der alten deutschen Übersetzung von 1926 zu »all die Hunde«, A. d. Ü.]. Natürlich kann brute auch »Ungeheuer« bedeuten. Aber es bedeutet vor allem »Tier«, mit Betonung auf dem Animalischsten der Tiere. Afrikaner wurden als Tiere bezeichnet, seit den allerersten Kontakten, als die Europäer sie als »rude and beastlie«, »like to brute beasts« und »more brutish than the beasts they hunt« beschrieben.7

Die schwedische Neuübersetzung berücksichtigt, dass brute auch ein Schimpfwort ist und schreibt »das ganze Pack«. Das ist eine zu milde Formulierung. Ich möchte die brutale Kraft des Originalsatzes beibehalten und übersetze: »Rottet die Bestien aus!«

11

Vor einigen Jahren glaubte ich, die Quelle für Conrads »exterminate all the brutes« bei dem großen liberalen Philosophen Herbert Spencer gefunden zu haben.

In Social Statics (1851) schreibt er, dass der Imperialismus der Zivilisation genützt habe, indem er die Erde von den niederen Rassen befreite: »Die Kräfte, die den Entwurf vollkommener Glückseligkeit im Auge haben und die nicht zurückschrecken vor gelegentlichem Leid, werden all jene Teile der Menschheit ausrotten [exterminate], die ihnen bei der Erfüllung ihrer Idee im Wege stehen (…) Ob Mensch, ob Tier [brute] – was als Hindernis erkannt ist, das muß weg.«8

Hier finden sich die zivilisatorische Rhetorik von Kurtz und die beiden Schlüsselwörter »exterminate« und »brute«. Zudem wurde der Mensch explizit dem auszurottenden Tier gleichgestellt.

Ich dachte, eine hübsche kleine wissenschaftliche Entdeckung gemacht zu haben, die es wert wäre, eines Tages als Fußnote in die Literaturgeschichte einzugehen. Kurtz’ Satz wurde durch Spencers Vernichtungsphantasien »erklärt«. Diese wiederum waren, so glaubte ich, in seiner Persönlichkeit begründet, vielleicht damit erklärbar, dass alle seine Geschwister gestorben waren, als er noch ein Kind war. Eine bequeme und beruhigende Schlussfolgerung.

12

Wäre ich hier stehengeblieben in dem Glauben, bereits genug zu wissen, hätte ich mich verrannt. Aber ich machte weiter.

Schnell stellte sich heraus, dass Spencer mit seiner Auffassung keineswegs alleine war. Sie war weit verbreitet und fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Anhänger. So konnte der deutsche Philosoph Eduard von Hartmann im zweiten Band seiner Philosophie des Unbewußten (1869), den Conrad in der englischen Übersetzung von 1884 las, folgendes schreiben:

»So wenig dem Hunde, dem der Schwanz abgeschnitten werden soll, ein Gefallen damit geschieht, wenn man ihn allmählich Zoll für Zoll abschneidet, so wenig Menschlichkeit liegt darin, den Todeskampf der aussterbenden Wilden künstlich zu verlängern.«

Der wahre Menschenfreund könne nicht anders, so Hartmann weiter, als das Aussterben der wilden Völker beschleunigt wissen zu wollen und auf dieses Ziel hinzuarbeiten.9

Was Hartmann hier formulierte, war zu jener Zeit geradezu banal. Weder er persönlich noch Spencer waren unmenschlich. Aber ihr Europa war es.

Der Satz »Rottet die Bestien aus« liegt nicht weiter vom Herzen des Humanismus entfernt als Buchenwald vom Goethehaus in Weimar. Diese Einsicht ist beinahe völlig verdrängt worden – auch von den Deutschen, die alleine ihren Kopf für einen Vernichtungsgedanken hinhalten mussten, der im Grunde europäisches Allgemeingut ist.

13

Über deutsche Wüstenreisende erreicht mich hin und wieder das Echo eines Streits in Deutschland, der sich um die jüngere Vergangenheit dreht. In diesem sogenannten »Historikerstreit« geht es um die Frage: Ist die Ausrottung der Juden durch die Nazis »einzigartig«, singulär, oder nicht?

Ernst Nolte schrieb in einem Aufsatz, »die sogenannte Judenvernichtung des Dritten Reiches« sei eine »Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original«. Das Original, so Nolte, seien die Vernichtung der Kulaken in der Sowjetunion in den 1920ern und Stalins Säuberungen in den 1930ern gewesen. Sie habe Hitler kopiert.

Darauf replizierte Habermas, und somit war der Streit im Gange.

Der Gedanke, dass die Judenvernichtung durch die Kulakenvernichtung verursacht worden sei, scheint sich nicht durchgesetzt zu haben; viele wenden ein, dass alle historischen Ereignisse in diesem Sinne »einzigartig« und keine Kopien seien. Dennoch sind sie vergleichbar. Auf diese Weise werden sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede zwischen der Judenvernichtung und anderen Massenmorden deutlich. Einige davon, angefangen bei den türkischen Massakern an den Armeniern im frühen 20. Jahrhundert, bis hin zu den Gräueltaten unter Pol Pot, wurden erwähnt, zumeist im Vorbeigehen.

Aber niemand spricht von der Vernichtung des südwestafrikanischen Herero-Volkes durch die Deutschen, als Hitler ein Kind war. Niemand erwähnt die vergleichbaren Völkermorde durch Franzosen, Briten, Amerikaner. Niemand weist darauf hin, dass ein wesentlicher Aspekt des europäischen Menschenbildes zur Zeit von Hitlers Kindheit die Überzeugung war, dass die »niederen Rassen« schon von Natur aus der Vernichtung geweiht seien. Ihnen dabei ein bisschen Tempo zu machen, war reine Barmherzigkeit der »höheren Rassen«.

Alle deutschen Historiker, die an dieser Debatte teilnehmen, scheinen in dieselbe Richtung zu blicken. Niemand blickt nach Westen. Das allerdings hatte Hitler getan. Was Hitler erschaffen wollte, als er sich auf der Suche nach »Lebensraum« gen Osten wandte, war eine kontinentale Entsprechung zum britischen Imperium. Die Vorbilder für jene »verzerrte Kopie«, die die Judenvernichtung ist, fand er bei den Briten und anderen westeuropäischen Völkern.10

* Die sprachliche Situation ist im Deutschen vergleichbar (A. d. Ü.).

EIN VORPOSTEN DES FORTSCHRITTS

»exterminating all the niggers«

14

Am 22. Juni 1897, demselben Jahr, in dem in Deutschland der Begriff »Lebensraum« geboren wurde, erreichte die britische Expansionspolitik ihren Höhepunkt.11 Das größte Imperium der Weltgeschichte feierte sich selbst in einem unvergleichlichen Überschwang.

Die Repräsentanten aller von den Briten unterdrückten Völker und Territorien – beinahe ein Viertel der Welt und ihrer Einwohner – versammelten sich in London, um Königin Victoria zum sechzigsten Jahrestag ihrer Thronbesteigung zu gratulieren.12

Zu jener Zeit existierte eine Zeitschrift mit dem Namen Cosmopolis, die sich mit unübersetzten Beiträgen auf Deutsch, Französisch und Englisch an Gebildete in ganz Europa richtete.

Vor diesem qualifizierten europäischen Publikum wurde Victoria mit Darius, Alexander dem Großen und Augustus verglichen. Keiner dieser antiken Kaiser konnte eine Gebietserweiterung vorweisen, die mit jener unter Victorias Herrschaft vergleichbar gewesen wäre.

Ihr Imperium war um dreieinhalb Millionen Quadratmeilen und einhundertfünfzig Millionen Untergebene gewachsen. Es hatte China, das bis dahin mit vierhundert Millionen Einwohnern als das bevölkerungsreichste Imperium auf Erden galt, einge- und überholt.

Die übrigen Großmächte Europas, so wurde argumentiert, hätten die militärische Stärke des britischen Imperiums vielleicht nicht klar genug erkannt. In den Briten würden mehr Kampfgeist und soldatische Disziplin als in irgendeinem anderen Volk stecken. Was die Flotte angehe, so sei hier das Imperium nicht nur überlegen, nein, es habe die absolute Herrschaft über die Meere.

Die Briten wurden nach all ihren Erfolgen nicht überheblich, sondern blieben demütig der Überzeugung, dass diese – in der Geschichte vielleicht einmaligen – Erfolge Gottes außerordentlicher Gnade geschuldet waren.

Sowie, selbstverständlich, der Person der Königin. Mag sein, dass die moralische Kraft ihres Charakters nicht mit wissenschaftlicher Präzision gemessen werden konnte, aber es stand außer Zweifel, dass ihr Einfluss enorm war.

»Die heutige Zeremonie«, schrieb ein Auslandskorrespondent, »bedeutet einen größeren Triumph als alle jemals zuvor gefeierten: Mehr nationale Vitalität, mehr Handel, mehr Urbarmachung von Land, mehr Unterdrückung von Bestialität, mehr Friede, mehr Freiheit. Dies ist nicht Überschwänglichkeit, es ist simple Statistik.«

»Die Nation betrachtete bewusst und entschlossen ihre kolossale Macht, ihren kolonialen Fortschritt, ihre lebendige Einigkeit, ihr weltumspannendes Territorium und jubelte darob.«

»Die Hurrarufe bedeuteten: Wir waren nie stärker. Lasset die ganze Welt erkennen, dass wir in der Zukunft nicht schwächer zu werden gedenken!«

So klang es 1897. Die deutschen und französischen Beiträge stimmten in die Jubelchöre mit ein. Alle blickten in dieselbe Richtung. Deshalb war die Erzählung, die diese Jubiläumsausgabe einleitete, von solch beispielloser Schockwirkung.

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Die Hauptfiguren sind zwei Europäer, Kayerts und Carlier, die von einem zynischen Direktor einer Handelsgesellschaft an einer kleinen Handelsstation am großen Fluss abgeladen werden.

Ihre Lektüre besteht aus einer vergilbten Zeitung, die in schwülstigen Worten »Unsere koloniale Expansion« preist. So wie in der Jubiläumsausgabe von Cosmopolis, werden die Kolonien hier wie eine heilige Tat im Dienste der Zivilisation dargestellt. Der Artikel lobpreist jene Eigenschaften der Pioniere, die Licht, Glauben und Handel an »die finsteren Orte« der Welt bringen.

Zuerst glauben die beiden Kompagnons diese großen Worte. Aber nach und nach merken sie, dass Worte nur Laute sind, »sounds«. Außerhalb der Gesellschaft, die sie geschaffen hat, fehlt den Lauten jegliche Substanz. Nur solange ein Polizist an der Straßenecke steht, solange es in den Geschäften Essen zu kaufen gibt, solange die öffentliche Meinung dich im Blick hat – nur so lange sind deine Laute gleichbedeutend mit Moral. Gewissen hat Gesellschaft als Voraussetzung.

Bald sind sie zu Sklavenhandel und Massenmord bereit. Als der Proviant zur Neige geht, geraten sie über einem Zuckerstück in Streit. Kayerts flieht um sein Leben, im Glauben, sein Kamerad sei mit einer Pistole hinter ihm her. Als sie unversehens aufeinandertreffen, schießt Kayerts, wie er glaubt, in Notwehr – und erkennt erst zu spät, dass er in der Panik einen Unbewaffneten getötet hat.

Aber was macht das schon. Begriffe wie »Tugend« und »Verbrechen« sind ja nur Laute. Jeden Tag sterben Menschen zu Tausenden, denkt Kayerts, wie er da neben dem Leichnam seines Kompagnons sitzt, vielleicht sogar zu Hunderttausenden, wer weiß das schon? Einer mehr oder weniger kann kaum von Bedeutung sein, zumindest nicht für ein denkendes Wesen.

Er, Kayerts, ist ein denkendes Wesen. Bisher hat er wie der Rest der Menschheit eine Menge Unsinn geglaubt. Jetzt denkt er zum allerersten Mal wirklich. Jetzt weiß er. Jetzt zieht er den Schluss aus dem, was er weiß.

Als der Morgen anbricht, zerreißt ein unmenschlicher, vibrierender Schrei den Nebel. Der Dampfer der Handelskompanie, auf den beide Männer seit Monaten gewartet haben, ist zurück!

Der Direktor der »Großen Zivilisierungsgesellschaft« geht an Land und findet Kayerts aufgeknüpft am Grabkreuz seines Vorgängers. Er scheint in Habachtstellung zu hängen, aber noch bis in den Tod zeigt er seinem Direktor die Zunge.

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Und nicht nur dem Direktor. Kayerts zeigte seine schwarze, geschwollene Zunge der gesamten Jubiläumsfeierei, die sich in den Zeitungsspalten rund um diese Erzählung abspielte, und all der imperialistischen Ideologie, die dort triumphierte.

Es war ganz natürlich, dass Joseph Conrads Ein Vorposten des Fortschritts bei seiner erstmaligen Publikation in Cosmopolis als ein Kommentar zum Jubiläum gelesen wurde. Doch war die Erzählung bereits ein Jahr zuvor geschrieben worden, während Conrads Hochzeitsreise in der Bretagne im Juli 1896. Sie war eine der ersten Erzählungen Conrads überhaupt.

Das Material hatte er während seines Aufenthalts im Kongo gesammelt. Er war selbst mit einem Dampfschiff des Handelsunternehmens den Fluss hinaufgefahren, hatte die kleinen Handelsstationen gesehen und die Erzählungen der anderen Passagiere gehört. Einer von ihnen hieß Keyaerts.13

Dieses Material hatte Conrad schon seit sechs Jahren. Weshalb aktualisierte er es ausgerechnet jetzt? Die Kongodebatte kam erst 1903, also sechs Jahre später, wirklich in Gang. Was hatte Conrad ausgerechnet im Juli 1896 dazu bewogen, sowohl seine Hochzeitsreise als auch den Roman, den er damals in Arbeit hatte, abzubrechen, um stattdessen eine Erzählung aus dem Kongo zu schreiben?

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Ich bin umgezogen, miete nun ein billiges Zimmer im ehemaligen Hotel Badjouda gegenüber vom Eingang zum Markt und esse bei Ben Hachem Moulay im »Restaurant der Freunde«. In der Abenddämmerung sitze ich unter den dünnfädig benadelten Bäumen an der großen Straße, trinke Milchkaffee und beobachte die Menschen, die vorbeigehen.