Rudolf Steiner - Christoph Lindenberg - E-Book

Rudolf Steiner E-Book

Christoph Lindenberg

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Rowohlt E-Book Monographie Rudolf Steiner ist einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Entwürfe anderer Wissenschaft, neuer Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft gehören zum spirituellen Unterstrom unserer Kultur. Diese Darstellung seines Lebens, Denkens und Wirkens rückt die Entwicklung Steiners vom Naturwissenschaftler und Goetheforscher zum Vertreter der Theosophie und schließlich zum Begründer und Organisator der modernen Anthroposophie in ein neues Licht. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 223

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christoph Lindenberg

Rudolf Steiner

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Rowohlt E-Book Monographie Rudolf Steiner ist einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Seine Entwürfe anderer Wissenschaft, neuer Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft gehören zum spirituellen Unterstrom unserer Kultur. Diese Darstellung seines Lebens, Denkens und Wirkens rückt die Entwicklung Steiners vom Naturwissenschaftler und Goetheforscher zum Vertreter der Theosophie und schließlich zum Begründer und Organisator der modernen Anthroposophie in ein neues Licht.

Über Christoph Lindenberg

Christoph Lindenberg, Jahrgang 1930, wuchs im Landschulheim am Solling bei Holzminden auf, studierte in Göttingen und Freiburg und war von 1955 bis 1980 Waldorflehrer. Seit 1980 arbeitete er als Historiker und lehrte am Seminar für Waldorfpädagogik in Stuttgart. Lindenberg starb am 20. April 1999.

Inhaltsübersicht

Der Anfang des WegesKindheit und JugendDie Wiener Zeit 1879–1890Innere EntwicklungZur Anthropologie der FreiheitÜbergangIm Wirbel BerlinsJahrhundertwendeDer Weg in die TheosophieVon der Theosophie zur AnthroposophieSchritte auf dem Weg zur Erweiterung der ErkenntnisDer Aufbau der deutschen Theosophischen GesellschaftDie Trennung von der Theosophischen GesellschaftKünstlerische ImpulseAnthroposophie als MenschenkundeImpulse für die PraxisDie Dreigliederung des sozialen OrganismusDie Freie WaldorfschuleMedizinDie letzten JahreZeittafelZeugnisseBibliographieBibliographie und HilfsmittelWerkeErinnerungen von ZeitgenossenDarstellungenUntersuchungenNamenregisterAnmerkungen

Der Anfang des Weges

Kindheit und Jugend

Rudolf Steiner war armer Leute Kind. Er hat von der Armut in seinem Elternhaus nie viel Aufhebens gemacht, meist erwähnt er die kärglichen Verhältnisse, in denen er aufwuchs, nur nebenher. Einmal jedoch, im Jahre 1919, als in einer Diskussion jemand, der die Armut nur vom Hörensagen kannte, allerlei von den Verhältnissen kleiner Postbeamter erzählte, brach es aus ihm hervor: … ich habe gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen, daß ich selber mit den Proletariern gelebt habe, daß ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat, mit den Proletariern auch hungern lernte und mußte.[1] Diese Herkunft unterscheidet Steiner von den meisten seiner berühmten oder bekannten Zeitgenossen, die gleich ihm um das Jahr 1860 in der Donaumonarchie geboren wurden: Sigmund Freud (1856), Edmund Husserl (1859), Gustav Mahler (1860), Theodor Herzl (1860), Arthur Schnitzler (1862) und Hermann Bahr (1863). Sie alle stammten aus bürgerlichen oder großbürgerlichen Verhältnissen, sie alle wuchsen wie selbstverständlich in die Kunst- und Bildungswelten der Spätzeit der Doppelmonarchie hinein, einige besuchten die vorzüglichen Wiener Gymnasien, die ihren Zöglingen jene ästhetisch-intellektuelle Kultur vermittelten, aus der dann die Wiener Moderne in all ihren Spielarten erwuchs. In der Familie Steiner hingegen gab es keine nennenswerten kulturellen Traditionen, kein Bücherregal und erst recht keinen Bücherschrank. Auch spielte die Religion keine Rolle, da sich der Vater als Freigeist verstand. So wuchs Steiner von kulturellen Einflüssen unbegünstigt und unbehelligt auf.

Steiner lebte bis zu seinem achtzehnten Jahr auf dem Lande, aber er war kein Landkind. Da sein Vater als Bahnbeamter immer wieder versetzt wurde, wurde er im dörflichen Milieu nicht heimisch. Schon als Zehnjähriger musste er bemerken, dass er ein Fremder im Dorfe[2] war und nicht dazugehörte. Bahnhöfe waren die Stätten seiner Kindheit, und durch die Interessen seiner Umgebung wurde er immer wieder auf den Eisenbahnbetrieb gelenkt: Es beschäftigten mich die Einrichtungen der Eisenbahn stark. Am Stationstelegraphen lernte ich die Gesetze der Elektrizitätslehre zunächst in der Anschauung kennen. Auch das Telegraphieren lernte ich schon als Knabe.[3] Als er später die höhere Schule in der nahen Stadt besuchte, gehörte er als «Auswärtiger» auch nicht zur Klassengemeinschaft, und ins Dorf gehörte er erst recht nicht. So werden in der Autobiographie Mein Lebensgang keine Jugendfreunde und keine Bubenstreiche erwähnt. Ein Mitschüler erinnert sich: «Tatsächlich wurde er bei allen losen Streichen, die wir anderen ausheckten und wofür wir bestraft wurden, stets selbstverständlich überhaupt nicht genannt.»[4]

Begonnen hatte diese Isolierung und Heimatlosigkeit mit dem Entschluss des Vaters Johann Steiner (1829–1910), seinen geliebten Beruf als Jäger und Förster aufzugeben und in der Fremde sein Glück zu suchen, um Franziska Blie (1834–1918) heiraten zu können. Er fand eine Anstellung als Telegraphist bei der österreichischen Südbahn, die ihn Anfang Januar 1861 nach Kraljevec im heutigen Kroatien versetzte. Dort, fern von allen Verwandten und Freunden der Eltern, wurde Rudolf Steiner am 25. Februar 1861 geboren. Zwei Tage später, am 27. Februar, der gemeinhin als sein Geburtstag gilt, wurde er getauft. In den ersten Lebensjahren war der Knabe fast ausschließlich der Pflege seiner sehr schweigsamen Mutter anvertraut, da der Vater in der Regel drei Tage und drei Nächte ununterbrochen im Dienst war, bevor er – völlig erschöpft – für 24 Stunden abgelöst wurde. 1862 wurde der Vater nach Mödling versetzt, Anfang 1863 wurde er Stationsvorsteher in Pottschach an der Semmeringbahn. Hier in Pottschach, im freundlichen Tal der Schwarza, lag Steiners Kinderland; hier wurden Steiners Geschwister Leopoldine (1864–1927) und Gustav (1866–1941) geboren; hier ergaben sich für die Eltern freundschaftliche Beziehungen zu den Müllersleuten und zum Pfarrer des Nachbarorts St. Valentin, einem Original, das gerne, wie die «Honoratioren» von Pottschach, Ankunft und Abfahrt der Züge verfolgte. Steiner erinnert sich mit Vergnügen an die Landschaft, den Schneeberg, die Raxalpe und den Wechsel, die das Tal im Süden, Westen und Norden umschlossen, an die Felder, Hecken und Wälder im Tal, das vielleicht zu den schönsten Flecken des österreichischen Landes[5] gehörte. Die glückliche Zeit in Pottschach währte sechs Jahre. Dann wurde der Vater nach Neudörfl nahe Wiener Neustadt versetzt. Dort lebte die Familie wieder ganz für sich, ohne nennenswerte Kontakte mit der dörflichen Umwelt, zumal eine drückende Sorge der Familie Anlass gab, sich eng zusammenzuschließen: Der Bruder Steiners, Gustav, war taubstumm und nicht vollsinnig, er bedurfte der ständigen Betreuung.

Der Weg, der unter den gegebenen Umständen aus dieser Lage herausführen konnte, war das Lernen. Hier lag die Initiative schon in Pottschach zunächst beim Vater. Mein Vater war darauf bedacht, daß ich früh lesen und schreiben lernte. Als ich das schulpflichtige Alter erreicht hatte, wurde ich in die Dorfschule geschickt.[6] Allein der Vater legte auch Wert darauf, dass sein Sohn nicht verbogen werde: Als Steiner nach wenigen Wochen des Schulbesuchs wegen einer Tat, die er nicht begangen hatte, bestraft werden sollte, nahm er ihn kurzerhand aus der Schule und versuchte, ihn selbst neben seinen Amtsgeschäften zu unterrichten. Eine ähnliche Situation wiederholte sich in Neudörfl. Als «Kirchenbub» leistete ich Dienst beim Messopfer, beim Nachmittagsgottesdienst, bei Leichenbegängnissen, bei Fronleichnamsfesten. Dieser Dienst nahm ein jähes Ende. Mehrere «Kirchenbuben», darunter auch ich, waren des Morgens zu spät zum Ministrieren gekommen. Diese alle sollten nun in der Schule Prügel bekommen. Ich hatte eine ganz unwiderstehliche Abneigung gegen solche und wußte mich derselben zu entziehen. Ich habe dieses Entziehen immer so durchgeführt, daß ich nie Prügel bekommen habe. Mein Vater aber war so entrüstet bei dem Gedanken, daß «sein Sohn» hätte geprügelt werden sollen, daß er sagte: «Jetzt ist es aus mit der Kirchendienerei. Du gehst mir nimmer hin.»[7] In Neudörfl sorgte dann der Vater dafür, dass sein Sohn – zusammen mit anderen Dorfbuben – «Extrastunden» erhielt. Als Nächstes ließ Johann Steiner seinen Sohn die höhere Schule in Wiener Neustadt besuchen. Das war nicht nur mit Einschränkungen für die Familie verbunden, sondern in den Kreisen, in denen man lebte, ganz außergewöhnlich. Schließlich dürfte es wiederum der Vater gewesen sein, der dem Sohn ein für Kinder von Südbahn-Angestellten bestimmtes Stipendium vermittelte, das Rudolf Steiner den Besuch der Technischen Hochschule in Wien ermöglichte.

Allerdings war Rudolf Steiner an alledem nicht unbeteiligt, er nutzte seine Chancen, wobei ihn seine künftige Karriere gar nicht, wohl aber seine Interessen und die Lust am Lernen motivierten. So wurde er von der dritten Klasse an «Vorzugsschüler», das heißt, die Eltern hatten kein Schulgeld mehr zu entrichten. Vom Oktober 1876 an musste Steiner regelmäßig Nachhilfeunterricht geben, und er konnte damit wenigstens ein Geringes zu dem beisteuern, was meine Eltern von ihrem kärglichen Einkommen für meine Ausbildung aufwenden mußten[8]. Der Nachhilfeunterricht war aber auch für Steiner selbst bedeutsam: Ich verdanke diesem Nachhilfeunterricht sehr viel. Indem ich den aufgenommenen Unterrichtsstoff an Andere weiterzugeben hatte, erwachte ich gewissermaßen für ihn. Denn ich kann nicht anders sagen, als daß ich die Kenntnisse, die mir selbst von der Schule übermittelt wurden, wie in einem Lebenstraume aufnahm.[9] Schließlich rechtfertigte Steiner die Aufwendungen seiner Eltern, indem er «mit Auszeichnung» maturierte und mit diesem Prädikat auch die Voraussetzung zur Gewährung eines Studienstipendiums erfüllte.

Charakteristischer als der Lerneifer des guten Schülers ist die Tatsache, dass Steiner, wo es irgend ging, sein eigener Lehrer war. Wenn das Wort Autodidakt nicht einen abschätzigen Beigeschmack hätte, könnte man sagen: Rudolf Steiner war ein leidenschaftlicher Autodidakt. Schon ganz früh fielen ihm die Bücher in die Hand, die Hinrich Borchert Lübsen zum Selbststudium der Infinitesimalrechnung geschrieben hatte, und er arbeitete sich so intensiv ein, dass er sein Mathematikstudium an der Technischen Hochschule Wien mit einem beachtlichen Vorsprung begann. Ebenso brachte er sich das Stenographieren bei; nach Aussage eines Klassenkameraden wurde er zu einem Stenographen, der mit jedem Vortragenden Schritt halten konnte. Da der Geschichtsunterricht in der Schule ebenso schlecht wie langweilig war, besorgte sich Steiner in einem Antiquariat zuerst Karl von Rottecks «Allgemeine Weltgeschichte», später Werke von Johannes von Müller und Tacitus. Begeistert las er die Dramen deutscher Klassiker, die ihm der Bahnarzt Carl Hickel auslieh. Als er herausfand, dass sein Deutschlehrer sich an der Philosophie Johann Friedrich Herbarts orientierte, verschaffte er sich das damals in Österreich vielgelesene «Lehrbuch der empirischen Psychologie» des Herbartianers Gustav Adolf Lindner – ein Buch, das auch Freud in die Psychologie einführte – und spickte seine Aufsätze zum Ärger des Lehrers mit der entsprechenden Terminologie.

Wie hoch Steiner die Bedeutung des Lernens für seine Jugend veranschlagt, lässt sich aus seiner Autobiographie erschließen: Dort schildert er seine Lehrer viel ausführlicher als seine Eltern. Die Lehrerporträts beginnen mit dem alten Dorfschullehrer in Pottschach, dem das Schule-Halten eine lästige Beschäftigung war[10], sie setzen sich fort in der Schilderung des Hilfslehrers in Neudörfl, Heinrich Gangl, der, ein vorzüglicher Zeichner, Steiner zum Zeichnen anhielt, bis zu den Lehrern an der Oberrealschule in Wiener Neustadt. Uneingeschränkte Anerkennung zollt er seinem Mathematik- und Physiklehrer. Sein Unterricht war von einer außerordentlichen Geordnetheit und Durchsichtigkeit.[11] Er war sein Ideal und Vorbild für sein mathematisches Denken. Ebenso rühmt er den Geometrielehrer. Das Zeichnen mit Zirkel, Lineal und Dreieck wurde mir durch ihn zu einer Lieblingsbeschäftigung.[12] Der Chemielehrer war ein ausgezeichneter Mann. Er gab den Unterricht fast ausschließlich experimentierend. Er sprach wenig. Er ließ die Naturvorgänge für sich sprechen.[13] In seiner Autobiographie schweigt Steiner über den miserablen Unterricht in den Fremdsprachen und in Naturgeschichte, dafür widmet er dem gescheitesten Professor[14], mit dem er auf Kriegsfuß stand, wieder längere Passagen. Insgesamt ergibt sich das Bild, dass Steiner durch die Realschule in Wiener Neustadt einen ausgezeichneten Zugang zur Mathematik und zu den exakten Naturwissenschaften erhielt; Literatur, Geschichte – mit Ausnahme des Unterrichts in der letzten Klasse Sprachen und Biologie hingegen wurden ihm eher vermiest. Aber ich versuchte mir diesen Unterricht durch alles das zu beleben, was ich ausserhalb desselben mir angeeignet hatte.[15]

In die Kindheit und Jugend fallen auch Erlebnisse und Fragen, in denen man den Ansatz der späteren Anthroposophie erkennen kann. Am Beginn stand wahrscheinlich eine bestürzende okkulte Erfahrung des siebenjährigen Knaben. Einen tiefen Eindruck machte auf den Knaben das folgende Erlebnis. Die Schwester meiner Mutter war auf tragische Art (Selbstmord) gestorben. Der Ort, an dem sie lebte, war ziemlich weit von dem unsrigen entfernt. Meine Eltern hatten keine Nachricht. Ich sah, sitzend im Wartesaal des Bahnhofs im Bilde das ganze Ereignis. Ich machte einige Andeutungen in Gegenwart meines Vaters und meiner Mutter. Sie sagten nur «Du bist a dummer Bua.» Nach einigen Tagen sah ich, wie mein Vater nachdenklich wurde durch einen erhaltenen Brief, wie er dann, ohne mein Beisein nach einigen Tagen mit meiner Mutter sprach und diese dann tagelang weinte. Von dem tragischen Ereignisse erfuhr ich erst nach Jahren.[16]

Wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Tatsachen: Auch in einem zweiten Bericht über dieses Erlebnis bemerkt Steiner: Der Knabe hatte niemanden in der Familie, zu dem er von so etwas hätte sprechen können, und zwar aus dem Grunde, weil er schon dazumal die herbsten Worte über seinen dummen Aberglauben hätte hören müssen.[17] Das Kind musste so mit dem bedrückenden Erlebnis allein fertig werden. Überdies scheint dieser Einbruch des Außernormalen der Auslöser einer kindlichen Hellsichtigkeit gewesen zu sein, denn Steiner berichtet, dass von jenem Ereignis an für den Knaben ein Leben in der Seele[18] anfing, dem sich die Geister, die in der Natur wirken, offenbarten.

Nun wäre es mehr als nur oberflächlich anzunehmen, dass diese vom Üblichen abweichenden Erfahrungen für ihn nur erfreulich gewesen wären. Wie sollte er seine Erlebnisse einordnen? Wie unterschied er sich von den Menschen, die er kannte? Träumte oder wachte er? Einen ersten Schritt zur Klärung solcher Fragen konnte er nach dem Umzug der Familie nach Neudörfl machen. Während der «Extrastunden» bei seinem Schulmeister Heinrich Gangl entdeckte er in dessen Zimmer ein Geometriebuch, das er entleihen durfte. Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich. Daß man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir inneres Glück. Ich weiß, daß ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.[19]

In den klaren und überschaubaren Formen reiner geometrischer Gedanken gewann der Neunjährige jene innere Sicherheit, die sich selbst trug. Hier fand der Knabe geistig festen Boden, von dem aus er mit seinen übersinnlichen Erfahrungen fertig werden konnte. Im Laufe der Zeit bildete er sich eine Art kindlicher Weltanschauung. Er unterschied die Dinge und Vorgänge im äußeren Raum vom Seelenraum, der der Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist[20]. Die Geometrie lieferte ihm nun die Rechtfertigung der Annahme einer geistigen Welt. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt ist ebensowenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die Rechtfertigung, von der geistigen Welt ebenso zu sprechen, wie von der sinnlichen … Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und solche, «man nicht sieht».[21]

Dieses sehr einfache, zunächst mehr gefühlte als bewusst formulierte Weltbild des Kindes begegnete bald den Vorstellungen der modernen Weltanschauungen. Das begann scheinbar harmlos. Eines Tages erschien Franz Maráz, von 1863 bis 1873 Pfarrer in Neudörfl, in der Schule und versammelte die «reiferen» Schüler um sich, entfaltete eine Zeichnung, die er gemacht hatte, und erklärte uns an ihr das kopernikanische Weltsystem. Er sprach dabei sehr anschaulich über die Erdbewegung um die Sonne, über die Achsendrehung, die schiefe Lage der Erdachse und über Sommer und Winter, sowie über die Zonen der Erde. Ich war ganz von der Sache hingenommen, zeichnete tagelang sie nach, bekam dann von dem Pfarrer noch eine Spezialunterweisung über Sonnen- und Mondfinsternisse und richtete damals und weiter alle meine Wißbegierde auf den Gegenstand.[22] Durch das kopernikanische System wurde Steiner erstmals mit einem Weltbild konfrontiert, das das Sonnensystem und seine Mechanik wie von außen beschreibt und zunächst im Widerspruch zur unmittelbaren Erfahrung des menschlichen Erlebens steht. Etwa zwei Jahre später – er besuchte bereits die Realschule in Wiener Neustadt – kam ihm der «Jahresbericht» der Schule (1873) in die Hand. Da stieß er auf einen Aufsatz des Schuldirektors Heinrich Schramm: «Die Anziehungskraft betrachtet als eine Wirkung der Bewegung». In diesem Aufsatz und einem Buch «Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen», das Steiner bald erwarb, vertrat Schramm nun einen extrem konsequenten Atomismus, der jegliche in die Ferne gehende Kraftwirkung leugnete und sogar die Schwerkraft als «mystische» Hypothese ablehnte. Schramm ging von zwei Axiomen aus: «1. Es existiert ein Raum und in diesem eine Bewegung durch längere Zeit. 2. Raum und Zeit sind kontinuierliche homogene Größen; die Materie aber besteht aus gesonderten Teilchen (Atomen).»[23] Der junge Steiner versuchte, in wiederholten Anläufen den Inhalt dieses Buches, das zum Teil in mathematischer Sprache geschrieben war, zu erfassen und wurde so mit einem Weltbild bekannt, in dem die schiere Bewegung von Atomen (von subatomaren Teilchen war zu jener Zeit noch keine Rede) als Ursache aller Naturerscheinungen vorgestellt wurde. Interessanterweise bemerkt nun Steiner in diesem Zusammenhang: Es bildete sich mir eine Gedankenbrücke von den Lehren über das Weltgebäude, die ich von dem Pfarrer erhalten hatte, bis zum Inhalte dieses Aufsatzes.[24] Er ahnte also etwas von der Gemeinsamkeit der beiden, rein mechanischen Weltbilder, und die geometrische Klarheit, in der sie entfaltet wurden, war ihm bedeutsam, denn gerade in diesen Jahren erlebte er durch den Mathematik-, Physik- und Geometrieunterricht das Wohltuende der mathematischen Klarheit.

Für ihn entstanden damit Rätselfragen: Er war sich eines selbständigen geistigen Erlebens bewusst – wie aber war dieses Erleben mit den ihm überlieferten, rein mechanischen Vorstellungen zusammenzubringen? Wie verhielt sich die Natur, die er naiv erlebte, zu diesen Vorstellungen und zu seinem eigenen Erleben? Ich empfand, ich müsse an die Natur heran, um eine Stellung zur Geisteswelt zu gewinnen, die in selbstverständlicher Anschauung vor mir stand.[25] Zunächst fand er keine Brücke zwischen diesen drei Elementen: dem inneren klaren Geist-Erleben, der tatsächlich vorhandenen Natur und den naturwissenschaftlichen Vorstellungen über die Natur.

Von solchen Fragen bewegt, entdeckte Steiner im Frühjahr 1877 in einer Buchhandlung die soeben erschienene Reclam-Ausgabe von Immanuel Kants «Kritik der reinen Vernunft». Von Kant wusste er damals nicht das Geringste, aber er muss eine Vorstellung von dem, was das Wort Vernunft bedeutete, gehabt haben. Ich strebte auf meine knabenhafte Art danach, zu verstehen, was menschliche Vernunft für einen wirklichen Einblick in das Wesen der Dinge zu leisten vermag.[26] Nachdem er einige Wochen Kreuzer auf Kreuzer gelegt hatte, konnte er das Buch kaufen. Damit begann das Kant-Studium: in freien Stunden, während des extrem langweiligen Geschichtsunterrichts und in den Sommerferien wurde Kant gelesen. Ich las wohl manche Seite mehr als zwanzigmal hintereinander.[27] Ich verhielt mich zu Kant damals ganz unkritisch, aber ich kam durch ihn nicht weiter.[28] Denn Kant gab ihm auf seine Frage, wie das Denken wirklich an die Natur herankomme, keine befriedigende Antwort. Schon damals dürften für Steiner das Denken und die Erfahrung nicht einfach fertige Gegebenheiten gewesen sein, die man so, wie sie sind, hinzunehmen hat. Er fühlte, dass das Denken entwicklungsfähig sei und dass die Erfahrung immer weiter vertieft werden könne. So stieß er sich an Kants statischer Betrachtungsweise. Aber ich merkte damals diesen Anstoß kaum. Ich empfand, daß das Denken zu einer Kraft ausgebildet werden könne, die die Dinge und Vorgänge der Welt wirklich in sich faßt. Ein «Stoff», der außerhalb des Denkens liegen bleibt, über den bloß «nachgedacht» wird, war mir ein unerträglicher Gedanke. Was in den Dingen ist, das muß in die Gedanken des Menschen hinein, das sagte ich mir immer wieder.[29]

In diesen Gefühlen und Ahnungen des sechzehn- bis siebzehnjährigen Steiner kann man den Grundansatz seiner späteren Philosophie sehen. Der Ansatz besteht zunächst in der Frage: Welche Stellung hat das bewusste menschliche Erleben und das Denken in der Welt? Bei dem Versuch, sich diese Frage zu beantworten, hat sich Steiner offensichtlich auch auf die ihm entgegentretende materialistische Naturdeutung eingelassen und sie keineswegs gleich abgewiesen. Drei Jahre nach dem Ende seiner Schulzeit schreibt er: Ich habe einstmals mich ganz in die mechanisch-materialistische Naturauffassung hineingelebt, hätte auf ihre Wahrheit ebenso geschworen, wie es viele andere der Jetztzeit machen; aber ich habe auch die Widersprüche, die sich aus derselben ergeben, selbst durchlebt. Was ich vorbringe, ist daher nicht bloße Dialektik, sondern eigene innere Erfahrung.[30] Diese Aussage kann sich nur auf die Schulzeit beziehen, da aus der späteren Zeit hinreichend deutliche Zeugnisse einer geistig-idealistischen Orientierung vorliegen. Wie Steiner sich als Schüler den Materialismus widerlegt hat, welche einzelnen Widersprüche er im Materialismus entdeckte, wissen wir nicht. Nur eines kann man mit Sicherheit sagen: Ihm war eine geistige Welt eine selbstverständliche Anschauung, ihm war klar, dass sich geistige Wahrheiten wie geometrische Anschauungen aus sich selbst begründen. Dass die materiellen Prozesse, die zu ihrer Vermittlung dienen, für den geistigen Inhalt weitgehend gleichgültig sind, konnte er sich am Telegraphen verdeutlichen: Der Inhalt eines Telegramms ist sein geistiger Gehalt, dieser bleibt derselbe, ob er auf Papier geschrieben, ob er durch den Morsetelegraphen oder durchs Telephon vermittelt wird. Das materielle Substrat, das die Botschaft transportiert, bestimmt den Inhalt nicht, sondern vermittelt ihn nur, mal durch Schallwellen, mal durch Elektrizität, mal durch Schriftzeichen. Aber in welchem Verhältnis steht diese Natur zum Geist – was ist Natur? Mit dieser Frage verließ der Maturant Steiner die Schule.

Die Wiener Zeit 1879–1890

Die Südbahn-Direktion war kulant. Zum 1. August 1879 versetzte sie Johann Steiner auf einen kleinen Bahnhof in der Nähe Wiens, damit sein Sohn von dort aus die k.k. Technische Hochschule besuchen könne. So kam Rudolf Steiner im August 1879 zum ersten Mal nach Wien. Vom Südbahnhof kommend, überquerte er die Ringstraße, an der in jenen Jahren die in allen möglichen historisierenden Stilen errichteten Prachtbauten ihrer Fertigstellung entgegengingen. Sein Ziel aber waren die Buchhandlungen der Innenstadt. Hier erwarb er sich, wonach er sich schon lange sehnte: eine Reihe philosophischer Bücher. Die zwei Monate, die ihm bis zum Beginn des Studiums blieben, vergrub er sich in die Philosophie des deutschen Idealismus, von der in Österreich sonst kaum die Rede war. Namentlich von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre erhoffte er sich eine Rechtfertigung und Klärung seiner Erlebnisse und Gedanken. Sein besonderes Interesse richtete sich auf das menschliche «Ich» als dem Geist im Menschen. So galt seine Lektüre der «Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre» weniger dem historischen Fichte als der Selbstklärung, und Steiner begann Fichtes Wissenschaftslehre für sich umzuschreiben. Dabei entdeckte er zunächst, daß das von Fichte postulierte «Ich» immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn man es zum Objekt der Betrachtung machen will[31]. Aber, so sagte sich Fichte-Steiner, obwohl das aktuelle Ich nicht objektivierbar ist, kann man sich der geistigen, gedanklichen Tätigkeit doch bewusst werden: … wir können nicht wissen, was es ist, sondern nur was es tut. Das Ich ist durch sein Tätigsein[32] gegeben. Das nächste Problem, das sich für Steiner stellte, war, von dem so gefassten Ich den Übergang zur Welt zu finden. Hier scheiterte er. Das Fragment bricht ab. In seiner Autobiographie erinnert er sich: Daß das «Ich», das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein.[33] Natürlich sind solche Studien nicht unbedingt die angemessene Vorbereitung für den Studienbeginn an einer Technischen Hochschule, und hätte Steiner sich auf diese inneren Fragen beschränkt, so hätten sie ihn leicht stolpern lassen. Zum Glück aber hatte Steiner viele und weitgespannte Interessen, die ihn in das Wiener Leben hineinführten, und einen gesunden Menschenverstand, der ihm sagte, dass er sein Brotstudium[34] zunächst pflichtgemäß betreiben müsse – hing doch von den fünf Prüfungen, die er am Ende jedes Semesters zu absolvieren hatte, die Weiterzahlung seines Stipendiums ab.

Als mittelloser Student «vom Lande» kommend, konnte sich Steiner nur schritt- und ausschnittsweise in das Wiener Leben hineinfinden. Es gab viele Bereiche, die er dort nicht kennenlernen sollte: Die aristokratischen und industriellen Kreise blieben ihm ebenso verschlossen wie die Welt der Industriearbeiter. Noch weniger fand er den Weg zu den rauschenden Bällen oder in das Milieu der Operette, wo Johann Strauß seine Triumphe feierte. Zu den Dingen, die Steiner jedoch sehr bald zu verfolgen begann, gehörte das politische Leben in Wien. Kurz bevor er nach Wien kam, hatte ein politischer Wettersturz stattgefunden. Die Deutsch-Liberalen, die schon seit dem Wiener Börsenkrach vom Mai 1873 abgewirtschaftet hatten, erlitten im Sommer 1879 eine Wahlniederlage. Der Kaiser ernannte daraufhin am 12. August seinen Jugendfreund Eduard Graf Taaffe zum Ministerpräsidenten. Taaffe stützte sich auf eine Koalition von Polen, Tschechen und konservativen Katholiken, die – so empfand man es – gegen die deutschen Interessen regierte. Steiner verfolgte die sich verschärfenden Spannungen und Gegensätze. Ich war damals bei mancher interessanten Parlamentsdebatte auf der Galerie des österreichischen Abgeordneten- und Herrenhauses[35], wo sich die nationalen Konflikte entluden. Bald wurde er Mitglied, dann Bibliothekar und schließlich Vorsitzender der politisierenden Deutschen Lesehalle an der Technischen Hochschule. Anregend und aufregend war vieles, was sich da unter der Jugend im Zusammenhang mit den Vorgängen im öffentlichen Leben Österreichs abspielte. Es war die Zeit, in der sich die nationalen Parteien in immer schärferer Ausprägung bildeten. Alles, was später in Österreich immer mehr zur Zerbröckelung des Reiches führte, konnte damals in seinen Keimen erlebt werden.[36] An den traurigen Schicksalen mancher Studiengenossen verfolgte Steiner, wie der herrschende öffentliche Geist erst Hoffnungslosigkeit und dann einen tiefen, lähmenden Pessimismus hervorrief, der manche Existenz scheitern ließ.[37] Das Wiener Kleinbürgertum aber reagierte bald mit jener spezifischen Aggressivität, die dann – etwa ab 1885 – den Nährboden des rassistischen Antisemitismus Georg von Schönerers und Karl Luegers bereitete.

Wien war nicht nur ein politisches Zentrum, sondern gerade in den achtziger Jahren wieder ein Zentrum der europäischen Musik. Hier lebten Johannes Brahms, Anton Bruckner und Hugo Wolf. In Wien fand die bisher weitgehend unerfüllte Sehnsucht Steiners nach Musik Erfüllung. Aus einigen Bemerkungen in seiner Autobiographie und an anderen Orten kann man entnehmen, dass er nicht selten Konzerte, Opern und Kammermusik gehört hat. Schon als Student nahm er an den damals leidenschaftlichen Kämpfen um Richard Wagner Anteil. Dabei griff Steiner die Wagner’sche Musik scharf an: Ich sprach von der Wagner’schen Barbarei, die das Grab alles wirklichen Musikverständnisses sei.[38] Eine «Tristan»-Aufführung erschien ihm ertötend langweilig.[39] Seine Liebe galt der reinen Musik, die nichts als Musik sein wollte[40]. Welche spezifische Musik Steiner damit gemeint hat, muss offenbleiben, 1892 nennt er Ludwig van Beethoven seinen Lieblingskomponisten. Nach 1904 hat Steiner sich einige Male positiv über Wagners Intentionen geäußert, aber es dürfte bezeichnend sein, dass er im Rahmen der von ihm entwickelten Ton-Eurythmie viele choreographische Formen zu Bach, Beethoven, Brahms, Händel und Mozart geschaffen hat – zu Musikstücken von Wagner keine einzige!