Rufe niemals den Butzemann! - Stephan Doeve - E-Book

Rufe niemals den Butzemann! E-Book

Stephan Doeve

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Beschreibung

Jeder Tag in ihrer Hauptschule war für die Hauptschülerin Kerstin zur seelischen Qual geworden. Denn die Hänseleien ihrer neuen Klassenkameradin Anne wurden von Tag zu Tag schlimmer. Ihre schiefen Zähne im Oberkiefer und ihre roten Haare machten Kerstin zum beliebten Angriffsziel für die arrogante Anne. Der verzweifelten Kerstin blieb nur die Flucht in Tagträume. Darin stellte sie sich vor, dass Anne vom schwarzen Butzemann geholt wird. In alten Erzählungen ist der Butzemann eine in schwarz gekleidete Gestalt, welche in der Nacht die unartigen Kinder in sein Reich entführt. Eines Abends wird Anne von ihren Eltern schwer traumatisiert in ihrem Zimmer vorgefunden. Was war geschehen? Hatte der Butzemann wirklich versucht, Anne zu holen? Für Kerstin begann ein Wochenende unheimlicher Ereignisse.

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Rufe niemals den Butzemann!

Rufe niemals den Butzemann!Impressum

Rufe niemals den Butzemann!        

Schon den ganzen Tag regnete es. Die Wolken wurden an diesem Sommerabend immer dunkler und der Regen wurde immer mehr. Es schien, als haben sich alle Schleusen des Himmels zur Sintflut geöffnet und der Regen wollte kein Ende nehmen.

In dem frei stehenden Einfamilienhaus am Ende der Straße brannte nur noch in zwei Zimmern Licht. Dieses Licht beleuchtete schwach den Vorgarten, der von einer Wiese und Sträuchern bepflanzt war. Das Haus war von einer kleinen Mauer umgeben und das Gittertor am Eingang war genauso hoch wie die Mauer.

Aus einem Zimmer im Erdgeschoss brannte das Licht am hellsten. Dort saß Barbara, eine Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaltete den Fernseher aus. Sichtbar ermüdet, legte sie die Fernbedienung des Fernsehers auf den Wohnzimmertisch und machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Sie bemerkte nicht die große schwarze Gestalt, die am großen Fenster erschien und eine Hand an die Fensterscheibe legte. Als Barbara gerade die Treppe zur oberen Etage aufsteigen wollte, vernahm sie ein unheimliches Kratzgeräusch an einer Fensterscheibe im Wohnzimmer. Das Geräusch hörte sich so an, als würde jemand mit seinen langen Fingernägeln langsam an der Scheibe entlangfahren.

Barbara zuckte erschrocken zusammen und schaute in Richtung des Fensters, aber da war nichts zu sehen. Sie hatte in den letzten Wochen diese Geräusche schon mehrere Male am Fenster gehört, erschrak jedoch immer wieder. Da sie aus dem Fenster blickend jedes Mal nichts verdächtiges erkennen konnte, vermutete sie die frei laufenden Katzen aus der Nachbarschaft, die auf dem Fenstersims sprangen und an den Fensterscheiben kratzten.

Die alleinerziehende Mutter dachte auch diesmal an die Katzen und ging weiter die Treppe hoch.

Barbaras fünfzehn Jahre alte Tochter Kerstin hatte im ersten Obergeschoss ihr Zimmer. Normalerweise war das rothaarige Mädchen um diese Uhrzeit schon am schlafen, aber der Inhalt ihres neuen Buches zog Kerstin in ihren Bann. Das Buch handelte über alte Mythen und Legenden. Besonders die alten Legenden über den Butzemann hatten es ihr angetan. Diese ganz in schwarz gekleidete Schreckensfigur, die nachts in Kleiderschränken lauerte und die unartigen Kinder in sein düsteres Reich mitnahm. In der Neuzeit ist der Butzemann in einem Kinderlied zu einem lustigen Zwerg gemacht worden, der in einem Kreis herum tanzt. Dabei hat man vergessen, dass der Butzemann früher wirklich bei Kindern gefürchtet war. Die Eltern hatten ihren Kindern mit dem Butzemann gedroht, dass dieser sie holen kommt, wenn sie nicht artig waren. Mit einem kratzen an den Fensterscheiben kündigte sich der Butzemann an, indem er mit seinen Fingernägeln langsam über die Fensterscheibe streifte. In der Nacht kam dann der Butzemann aus dem Kleiderschrank und entführte die unartigen Kinder in sein Reich. Von dort ist noch kein Kind wieder zurückgekommen.

Bereits im 18. Jahrhundert wurden Erzählungen vom „Schwarzen Mann“ verbreitet und die Kinder glaubten daran. Im angloamerikanischen Raum wird er Boogeyman genannt.

Kerstin lag im Schlafanzug auf ihrem Bett und war vertieft in dem Buch, dass über Fabelwesen und Sagen aus alten Zeiten handelte. Sie fragte sich in Gedanken, ob der Butzemann heute darüber erfreut wäre, dass er zu einem kleinen Zwerg degradiert worden ist, über den die Kinder ein lustiges Lied singen. Und er würde bestimmt in unserer heutigen Zeit den Menschen zeigen, dass er immer noch existiert und keine alte Legende ist.

Besonders die Stelle im Buch, wo der Butzemann aus den Kleiderschränken kommt, um die unartigen Kinder zu holen, fand Kerstin gruselig. Sie schloss ihre Augen und stellte sich vor, wie dunkle Rauchschwaden aus dem Kleiderschrank kamen und der ganz in schwarz gekleidete Butzemann majestätisch heraustrat. Die ebenfalls schwarze Kapuze hatte er tief in seinem Gesicht. Nur seine rote Augen konnte man sehen, die bedrohlich funkelten. Er trat leise an das Bett des Kindes und streckte seine knorrigen Hände aus. Dann packte er das schreiende Kind, zog es von dessen Bett herunter und verschwand mit seiner menschlichen Beute wieder im Kleiderschrank. Und mit dem Butzemann verschwanden auch die Rauchschwaden. Das Kind blieb für immer verschwunden, denn er behielt es für immer in seinem finsteren Reich.

Kerstin war völlig in ihrer Fantasie versunken, sodass sie nicht bemerkte, wie ihre Mutter plötzlich vor ihrem Bett stand.

„Mensch Mama“, fuhr Kerstin erschrocken auf, „wie wäre es denn mal mit anklopfen? Du weißt doch, wie schreckhaft ich bin. Soll ich in meinem Alter noch einen Herzanfall bekommen?“

„Nun stell Dich mal nicht so an, meine Hübsche“, sagte ihre Mutter lächelnd. „Du weißt, dass morgen eine Klassenarbeit in Mathematik ansteht und Du morgens sowieso immer schwer aus dem Bett kommst. Und Deine gruselige Lektüre trägt sicher nicht zu einem erholsamen Schlaf bei.“

Kerstin rückte die runde Brille auf ihrer spitzen Nase zurecht und sah ihre Mutter skeptisch an.

„Warum nennst Du mich immer eine Hübsche?“, fragte Kerstin spöttisch. „Viele in der Schule nennen mich wegen meines Aussehens "Hexenmädchen.“ Sie fragen mich ständig, wann ich denn endlich auf dem Scheiterhaufen als Hexe verbrannt werde. Manche sagen, die würden sogar das Holz für meinen Scheiterhaufen spenden. Meine knallroten Haare, Millionen von Sommersprossen und vor allem meine schiefen Zähne, machen mich nicht gerade zur angesagtesten Person an der Schule. Und wenn Dein Gespräch mit Frau Lehnert nichts gebracht hat, was oder wer hilft mir dann noch?“

Barbara setzte sich zu ihrer Tochter aufs Bett, strich deren schulterlangen roten Haare zur Seite und sagte in einem ruhigen Ton zu ihr: “Glaube mir Kerstin, Du bist ein hübsches Mädchen und das sage ich nicht nur, weil ich Deine Mutter bin und Dich lieb habe. Deine Klassenlehrerin ist genauso arrogant wie Deine neue Klassenkameradin Anne, die Dich am meisten demütigt. Ich wurde als Kind auch wegen meines Aussehens gehänselt und mir hat auch niemand geholfen. Ich musste damit alleine klarkommen und es in mich hineinfressen. Meine Eltern war es vollkommen egal, wie ich in der Schule behandelt wurde. Immer wenn ich von der Schule nach Hause kam und meiner Mutter von den Hänseleien meiner Mitschüler erzählte, bekam ich von ihr nur einen Satz zu hören.“

„Und was für ein Satz war das?“, fragte Kerstin mit einem neugierigen Blick.

Ihre Mutter holte tief Luft und sagte im ruhigen Ton: „Meine Mutter sagte immer, ich sollte mich anständig benehmen. Und damit war das Gespräch immer beendet. Das hat mich bis heute geprägt und teilweise denke ich heute noch daran. Außerdem glaube ich, dass diese Anne nicht umsonst von ihrer letzten Schule geflogen sein soll. Bestimmt hat sie dort auch auf schwächere Mitschüler herum gehackt.“

Kerstin schaute ihre Mutter kurz an und schaute wieder in ihr Buch. Doch schon nach wenigen Blicken sah sie wieder vom Buch auf und fragte ihre Mutter: „Mama, glaubst Du eigentlich an den Butzemann? Du weißt schon, der große schwarz gekleidete Mann, der nachts aus dem Kleiderschrank kommt und die bösen Kinder in sein Reich holt.“

Zuerst dachte Kerstin, dass ihre Mutter anfangen würde zu lachen, doch diese machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Hat Dir meine Mutter nicht mehrere male erzählt, das ihr angeblich der Butzemann in ihrer Kindheit begegnet ist? Oder hast Du das etwa vergessen, meine kleine Büchermaus?“

„Nein, das habe ich nicht vergessen“, antwortete Kerstin und machte ein verwundertes Gesicht. „Oma hat mir oft erzählt, dass der Butzemann eines Nachts aus ihrem Kleiderschrank kam und sie holen wollte. Im letzten Moment konnte sie sich aber von ihm losreißen und schreiend aus ihrem Zimmer zum Schlafzimmer ihren Eltern flüchten. Sie ist bis heute der festen Überzeugung, dass der Butzemann sie wirklich holen wollte.“

„Ja, das stimmt“, entgegnete Barbara und diese atmete tief durch. „Ihre Eltern hatten ihr natürlich nicht geglaubt und sie hatten damals im Krieg ganz andere Sorgen. Es war im Dezember 1944 und ihre Eltern glaubten an einer Art Trauma, aufgrund der Bombenangriffen der Alliierten. Aber hat meine Mutter Dir auch erzählt, was geschehen war, als ihr Haus noch in derselben Nacht von einer Bombe getroffen wurde?“