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Volker Leppin

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Beschreibung

Griechische Mönche gelangten durch Askese zur Ruhe in Gott, Bernhard von Clairvaux ließ sich vom Gekreuzigten umarmen, und Mechthild von Magdeburg gab sich ihrem Bräutigam Christus hin. Volker Leppin erzählt die Geschichte der christlichen Mystik ganz neu, indem er die Mystik, verstanden als die Suche nach der unmittelbaren Nähe Gottes, im Zentrum des Christentums verortet – und nicht an seinen Rändern. Seine souveräne, meisterhaft geschriebene Darstellung bietet damit zugleich einen frischen Blick auf das Christentum insgesamt, das bis heute die Mystik als treibende Kraft braucht. Mystikerinnen und Mystiker fühlten sich Gott so nah, dass Unterschiede zwischen Klerikern und Laien, Männern und Frauen für sie hinfällig wurden. Oft hing es von Zufällen ab, ob sie deshalb als Reformer und Erleuchtete verehrt wurden wie Franziskus von Assisi und Hildegard von Bingen oder in Ketzereiverdacht gerieten wie Marguerite Porete und Meister Eckhart. Volker Leppin zeigt in seiner glänzenden Darstellung, wie die frühchristliche Lehre in Verbindung mit der platonischen Philosophie mystische Weltbilder und Heilswege geformt hat, die zum Kern orthodoxer Spiritualität wurden, im Westen aber hoch umstritten blieben, auch im Protestantismus. Dass die Mystik im 19. und 20. Jahrhundert für antimoderne Ideologien eingespannt wurde, hat sie erneut suspekt gemacht. Doch die Frage nach Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen und eine wachsende Distanz zur Kirche zeigen, dass Mystik für das Christentum gerade in der Moderne überlebenswichtig ist.

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Volker Leppin

Ruhen in Gott

Eine Geschichte der christlichen Mystik

C.H.Beck

Zum Buch

Griechische Mönche gelangten durch Askese zur Ruhe in Gott, Bernhard von Clairvaux ließ sich vom Gekreuzigten umarmen, und Mechthild von Magdeburg gab sich ihrem Bräutigam Christus hin. Volker Leppin erzählt die Geschichte der christlichen Mystik ganz neu, indem er die Mystik, verstanden als die Suche nach der unmittelbaren Nähe Gottes, im Zentrum des Christentums verortet – und nicht an seinen Rändern. Seine souveräne, meisterhaft geschriebene Darstellung bietet damit zugleich einen frischen Blick auf das Christentum insgesamt, das bis heute die Mystik als treibende Kraft braucht.

Mystikerinnen und Mystiker fühlten sich Gott so nah, dass Unterschiede zwischen Klerikern und Laien, Männern und Frauen für sie hinfällig wurden. Oft hing es von Zufällen ab, ob sie deshalb als Reformer und Erleuchtete verehrt wurden wie Franziskus von Assisi und Hildegard von Bingen oder in Ketzereiverdacht gerieten wie Marguerite Porete und Meister Eckhart. Volker Leppin zeigt in seiner glänzenden Darstellung, wie die frühchristliche Lehre in Verbindung mit der platonischen Philosophie mystische Weltbilder und Heilswege geformt hat, die zum Kern orthodoxer Spiritualität wurden, im Westen aber hoch umstritten blieben, auch im Protestantismus. Dass die Mystik im 19. und 20. Jahrhundert für antimoderne Ideologien eingespannt wurde, hat sie erneut suspekt gemacht. Doch die Frage nach Gemeinsamkeiten mit anderen Religionen und eine wachsende Distanz zur Kirche zeigen, dass Mystik für das Christentum gerade in der Moderne überlebenswichtig ist.

Über den Autor

Volker Leppin ist Professor für Historische Theologie an der Yale University sowie Mitglied der Sächsischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Für seine Forschung zum späten Mittelalter wurde er u.a. mit dem Ruprecht-Karls-Preis der Universität Heidelberg, dem Hanns-Lilje-Preis der Göttinger Akademie der Wissenschaften und dem Gerhard-Hess-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

Inhalt

Einleitung: Was ist christliche Mystik?

1.«Christus in mir»: Das vorweggenommene Ende

Jesus: Zwischen Diesseits und Jenseits

Paulus: Endzeit jetzt

Die Gemeinde: Gottes Wirklichkeit auf Erden

2.Gegenwelten

Mit Paulus und Platon: Das Christentum als philosophische Schule

Simon Magus und Valentinus: Eine besondere Nähe zu Gott

Erkenntnis ist Erlösung: Die Valentinianer

3.Den Geist einfangen

Montanus: Der Geist wandert aus

Clemens von Alexandrien und Origenes: Gnosis wandert ein

Der Mensch wird Gott

Gregor von Nyssa, Plotin und Proklos: Der unvermeidliche Platon

Pseudo-Dionysios Areopagita: Ein Apostelschüler im vierten Jahrhundert

Himmlische und kirchliche Hierarchien

4.Neue Eliten

Askese und Mystik im osten

Liturgie und Bilderverehrung in der orthodoxen Spiritualität

Herzensgebet und Hesychasmus

5.Das lateinische Mittelalter gewinnt Gestalt

Aurelius Augustinus: Welterkenntnis und kontemplatives Leben

Benedikt von Nursia und Gregor der Große: Klöster als Orte der Kontemplation

Pseudo-Dionysios macht Karriere im Westen

6.Christus macht der Seele den Hof

Cluny und Cîteaux: Neuer asketischer Ernst

Bernhard von Clairvaux: Der verliebte Abt

Zisterziensische Etüden: Sich leeren und umarmen lassen

Gewalt und Mystik: Bernhards Kampf gegen Muslime und Scholastiker

Hildegard von Bingen: Geschmeide und Visionen

Die Gebildeten von Parisund die erste gotische Kathedrale

7.Geliebt an Seele und Leib

Die Liebesmystik der Beginen

Hadewijch und Mechthild: Dichterinnen der Liebe

Der Kreis von Helfta: Mystische Freundinnen

Marguerite Porete und die Verurteilung der Beginen

Neue Geschlechterrollen und Politik: Die Macht der Mystikerinnen

8.Mystik und Wissenschaft: Zwei Welten in einer

Thomas von Aquin und Dietrich von Freiberg:Scholastik und Mystik

Franziskus von Assisi und Bonaventura:Augustinische Erleuchtung

Gregor Palamas: Mystik des Ostens, Logik des Westens

Nikolaus von Kues:Das Zusammenfallen der Gegensätze

Johannes Reuchlin: Mit jüdischer Weisheit zum christlichen Gott

9.Gottesgeburt in der Seele

Meister Eckhart: Am Umkreis der Ewigkeit

Johannes Tauler: Gott ruft Schuster und Bauern

Heinrich Seuse: Das Leiden Christi spüren

Die stille Revolution der Gottesfreunde

10.Askese im Alltag

Devotio moderna: Die Popularisierung mystischer Ideen

Frömmigkeitstheologie auf Katheder und Kanzel

Die monastische Mystik der Kartäuser

11.Eine neue Kirche bauen

Martin Luthers Neuakzentuierung der Mystik

Ignatius von Loyola: Übungen zur Klärung der Seele

Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz:Klösterliche Askese und Mystik

12.Ortlos am Rande der Konfessionen

Lutherische Orthodoxie und Devianz:Der Geist weht weiter, wo er will

Witwen, Bischöfe und der Streit um den Quietismus

Die amerikanische Freiheit und der Geist der Mystik

13.Gottes Nähe in allen Sinnen

Johann Arndt: Das Buch der Natur

Von Paul Gerhardt bis Angelus Silesius:Gottes Gegenwart in Musik und Dichtung

Das Verborgene malen: Jesusbräute und Schmerzensmänner

14.Die Stillen im Lande

Blaise Pascal: Die Vernunft des Herzens

Jean de Labadie: Die Frommen versammeln

Pietismus und Weltgestaltung

Erleuchtete Frauen und die Herrnhuter Brüdergemeine

15.Zwischen den Zeiten

Anschauungen: Idealismus und Romantik

Zwischen Antimodernismus und Moderne: Wunder, Wissenschaft und Politik

Mit Palamas gegen die Moderne und den Westen

16.Über alle Grenzen hinaus

Der Zeitgeist atmet Mystik: Das frühe zwanzigste Jahrhundert

Mystik und Meister Eckhart im Dienst des Dritten Reichs

Die Neubelebung der Mystik nach dem Zweiten Weltkrieg

Epilog: Was bleibt

Anhang

Dank

Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung: Was ist christliche Mystik?

1.«Christus in mir»: Das vorweggenommene Ende

2.Gegenwelten

3.Den Geist einfangen

4.Neue Eliten

5.Das lateinische Mittelalter gewinnt Gestalt

6.Christus macht der Seele den Hof

7.Geliebt an Seele und Leib

8. Mystik und Wissenschaft

9. Gottesgeburt in der Seele

10. Askese im Alltag

11. Eine neue Kirche bauen

12. Ortlos am Rande der Konfessionen

13. Gottes Nähe in allen Sinnen

14. Die Stillen im Lande

15. Zwischen den Zeiten

16. Über alle Grenzen hinaus

Epilog: Was bleibt

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Ikonenmalerei zu einem Lehrbuch des Johannes Klimakos

Für den asketischen Schriftsteller aus dem siebten Jahrhundert war die Himmelsleiter aus Josefs Traum Sinnbild des Aufstiegs zu Christus. Der Weg zur mystischen Einigung wird durch Tugenden unterstützt und vom Teufel gefährdet. Zwölftes Jahrhundert, Sinai, Katharinenkloster.

Byzantinische Christusikone

Nach neuplatonischer Vorstellung war im Bild der Abgebildete präsent. Der Segen Christi konnte sich so über das Bild auf die Menschen übertragen, die es verehrten. Mosaik, um 1000, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Theophanes der Grieche, «Verklärung Christi»

Auf dem Berg Tabor soll Jesus Christus seinen Jüngern von Licht durchdrungen erschienen sein. Diese Metamorphose bildet in der orthodoxen Frömmigkeit den Ausgangspunkt für zahlreiche Spekulationen über die Berührung zwischen irdischer und himmlischer Wirklichkeit. Ende des vierzehnten Jahrhunderts, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie.

«Die Vision des Heiligen Bernhard von Clairvaux»

Die Umarmung Bernhards durch Christus vom Kreuz herab wurde im Spätmittelalter zentraler Ausdruck zisterziensischer Frömmigkeit. Unbekannter Meister (Meister des Augustineraltars), 1487, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

«Der Mensch»

Illustration aus dem Liber divinorum operum der Hildegard von Bingen. Das Ineinander von Makrokosmos und Mikrokosmos stand im Mittelpunkt von Hildegards visionärem Denken. Um 1220–1230, Lucca, Biblioteca Statale.

«Die Engelschöre»

Illustration im Liber Scivias der Hildegard von Bingen. Die Vorstellung von himmlischen Chören durchzieht seit Pseudo-Dionysios die Geschichte der Mystik. Um 1175, Eibingen Abbey.

Chorraum der Kathedrale von Saint-Denis

Die nach dem Mystiker Dionysios vom Areopag benannte Abteikirche nördlich von Paris lässt, ähnlich wie die Darstellungen der Verklärung Christi, in ihrer lichtdurchfluteten Gestaltung etwas von der Präsenz des Jenseits im Diesseits erahnen.

Giovanni di Paolo, «Die Heilige Katharina von Siena vor Papst Gregor XI.»

Die Mystikerin, die dem Papst Weisungen gab, gewann aus ihren Visionen das Selbstbewusstsein, in die kirchenpolitischen Geschicke ihrer Zeit einzugreifen. Um 1447/49, Lugano, Sammlung Thyssen-Bornemisza.

Giotto di Bondone, «Die Stigmatisation des Heiligen Franziskus»

Der Poverello wurde durch die Wundmale zum «zweiten Christus». Die Predella zeigt berühmte Szenen der Franziskus-Vita: den Traum Papst Innozenz’ III. von der einstürzenden Lateranbasilika, die von Franziskus gestützt wird, die päpstliche Billigung der Ordensregel sowie die Vogelpredigt des Franziskus. Um 1295/1300. Paris, Musée du Louvre.

Meister Francke, Christus als Schmerzensmann

Die Betrachter sollen die Schmerzen Jesu schauen und nachempfinden. Für Heinrich Seuse und viele andere führte diese Passionsmystik zur unmittelbaren Identifikation mit Christus selbst. Nach 1423, Leipzig, Museum der Bildenden Künste.

Gian Lorenzo Bernini, «Die Ekstase der Heiligen Teresa»

In einer Vision durchbohrte ein amorhafter Engel Teresas Herz und versetzte sie so in religiös-erotische Verzückung. 1652, Rom, Cornaro-Kapelle in der Kirche Santa Maria della Vittoria.

Francisco de Zurbarán, «Der Heilige Lukas als Maler vor dem Gekreuzigten»

Durch die intensive Beziehung zwischen Christus und dem Maler, in dem man die Züge Zurbaráns erkannt hat, ist das Bild gemalte Mystik. Um 1650, Madrid, Museo del Prado.

Lucas Cranach der Ältere, «Die Verlobung der Heiligen Katharina»

Ein Dauerthema mystischer Bilder war die mystische Verlobung der Katharina von Alexandrien mit Christus. Um 1516–1518, Budapest, Szepmüveszeti Muzeum.

Seivert Lammers, «Aemilie Juliane als Jesusbraut»

Auch im Protestantismus, zumal mit dem Aufkommen intensivierter Frömmigkeit im siebzehnten Jahrhundert, lebte die Vorstellung von der bräutlichen Liebe zu Jesus fort. Die Gräfin Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt ließ sich umrahmt von Rosen und Passionsblumen mit ihrem geliebten Jesus porträtieren. Auf den Schriftbändern sind von oben nach unten die Worte zu lesen: «Jesus ist Dir – Dir ist Jesus», «Ich bin Dein und Du bist mein...», «Victoria nostra» und «Jesus ist Mir – Mir ist Jesus». Um 1676–1680, Thüringer Landesmuseum Heidecksburg.

Altarbild der Münchner Dreifaltigkeitskirche

Die Seitenwunde Christi galt als Zugang zu seinem Herzen. Die Karmelitin Maria Anna Lindmayr soll durch ihre Prophezeiungen die Stadt München vor Verheerungen geschützt haben. Zum Dank errichteten die Münchener Stände zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts die Dreifaltigkeitskirche und ließen das Altarbild von Andreas Wolff und Johann Degler malen.

Antonio Ciseri, «Die Vision des Herzens Jesu der Seligen Marguerite Marie Alacoque»

Von der Mystikerin Marguerite Marie Alacoque ging im siebzehnten Jahrhundert eine Herz-Jesu-Frömmigkeit aus, deren Wirkung bis weit in das neunzehnte Jahrhundert reichte. 1888, Florenz, Chiesa del Sacro Cuore.

Gabriel von Max, «Die ekstatische Jungfrau Katharina EmmericK»

Im frühen neunzehnten Jahrhundert stritten sich anlässlich der mystischen Erfahrungsberichte der Anna Katharina Emmerick traditionelle katholische Religiosität und moderne Analysen um die Deutung der ekstatischen Phänomene. 1885, München, Neue Pinakothek.

Einleitung: Was ist christliche Mystik?

Christen sind Bürger zweier Reiche: Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits. Hier sind sie zu Hause, dort gehören sie hin. Niemand weiß das besser als die Mystiker, die das Jenseits schon im Diesseits gegenwärtig machen wollen. So scheinen sie die Christen par excellence zu sein.

Und doch wurde den Mystikern das Christsein immer wieder abgesprochen: Verfolgungen und Hinrichtungen ziehen sich durch die Geschichte der christlichen Mystik. Nicht jeder, der mystisch dachte und lehrte, nicht jede, die zu ihren mystischen Überzeugungen stand, wurde gleich verbrannt. Schnell aber war man mit dem Verdacht mangelnden Glaubens bei der Hand. Häresieverfahren sollten ihn seit dem Mittelalter erhärten. Und noch im zwanzigsten Jahrhundert kam der Vorwurf aus prominentem evangelischem Munde, eigentlich sei die Mystik die Schwester des Atheismus.[1]

Katholiken und Protestanten sind sich einig, jedenfalls in der westlichen Christenheit: Mystik ist etwas Gefährliches. Gefährlich für das kirchliche Amt, gefährlich für die christliche Lehre, gefährlich für den biblischen Glauben. Gefährlich, weil sie Grenzen überschreitet: soziale Grenzen, metaphysische Grenzen, religiöse Grenzen.

Wer sich der Mystik nähert, erkennt schnell, dass er es hier mit einer religiösen Haltung zu tun hat, die Gott nicht in der Ferne sieht, im Himmel oder im Jenseits, sondern als den Nahen, der direkt und unmittelbar bei den Glaubenden ist. Für die Mystiker sind das himmlische, göttliche und das irdische, weltliche Reich nicht voneinander getrennt, sondern das Reich Gottes und damit Gott selbst ist für sie hier auf Erden präsent. Auch ohne spezielle mystische Vorstellungen gibt es für Christinnen und Christen immer wieder die Möglichkeit der Nähe Gottes, ja, seiner Gegenwart.[2] In Jesus Christus ist er sichtbar geworden: Der im Neuen Testament angelegte und in der Theologie des vierten und fünften Jahrhunderts vollends dogmatisch entfaltete Gedanke, dass Gott auf Erden erschien, drückt eine Fasslichkeit Gottes aus, die schon in der Zeit des frühen Christentums nur schwer nachvollziehbar war und doch den Mittelpunkt christlichen Glaubens ausmacht. Himmelfahrt und Auferstehung allerdings markieren ein Ende dieser Präsenz, jedenfalls in ihrer klar fasslichen körperlichen Form. Der Kulturphilosoph Michel de Certeau hat daher Mystik gerade aus dieser Absenzerfahrung erklärt:

In der christlichen Tradition ruft ein uranfänglicher Mangel an Körper unaufhörlich Institutionen und Diskurse hervor, die die Wirkungen und Substitute dieser Abwesenheit sind: kirchliche Körper, doktrinelle Körper usw. Wie kann man, im Ausgang vom Wort, vom Sprechen, Körper bilden, Körper sein? Diese Frage ruft die unvergessliche Frage voll unbeschreiblicher Trauer herauf: «Wo bist du?» Diese Fragen sind es, die die Mystiker bewegen.[3]

Certeau liefert damit eine geniale Erklärung für das Bemühen der Christen darum, die Gegenwart Christi greifbar und spürbar werden zu lassen. Mystik stellt dafür nicht die einzige Möglichkeit dar. Die eucharistische Feier auf dem Altar brachte in jedem Abendmahlsgottesdienst neu die Gegenwart Christi zur Geltung, ja, es waren überhaupt die Sakramente, die die fortdauernde Nähe Gottes sichern sollten. Doch die Mystiker gingen darüber hinaus. Ihnen wurde Gott auf eine höchst individuelle Weise nahe, in ihnen selbst wurde er neu Wirklichkeit. Das musste nicht in Widerspruch zum Sakrament treten, denn oft diente es sogar der Vertiefung sakramentaler Frömmigkeit. Und doch wurde die Spannung zwischen Jenseits und Diesseits darin stärker spürbar als in den Sakramenten, und die Welt des irdischen Glaubens wurde umso mehr als einengend empfunden. Die Mystik überschreitet in ihrer Unmittelbarkeit übliche Formen der Frömmigkeit, indem sich im Individuum eine exzeptionelle Nähe Gottes ereignet. Das erklärt, warum es immer wieder zu Konflikten mit Vertretern der Mystik kam, obwohl dieses Denken nicht mehr ausdrücken will als die zweifache Zugehörigkeit christlicher Existenz.

Das macht näherungsweise den Kern von Mystik aus. Eine Definition von christlicher Mystik ist damit noch nicht gegeben – und kann auch im Folgenden nicht geboten werden. Es kann nur darum gehen, das Phänomen etwas präziser zu beschreiben. Bis heute tut sich die Forschung mit einer Definition von Mystik schwer, weil sich unterschiedliche Disziplinen – neben der Theologie vor allem Germanistik, Religionswissenschaft und Philosophie – Phänomenen widmen, die als «Mystik» bezeichnet werden. Schon der alltägliche Gebrauch von «Mystik» ist alles andere als spezifisch. Noch einigermaßen positiv wird «mystisch» für Geheimnisvolles gebraucht, schon eher abwertend dann für Unverständliches, Irrationales. Aus fachlicher Sicht wird man hier leicht einwenden können, dass hinter solchen Verwendungen des Begriffs eher das griechische Wort mysterion, «Mysterium», steht als «Mystik». Doch das hilft ebenso wenig weiter wie die kaum aussagekräftige Ableitung des Begriffes «Mystik» vom griechischen Verb myein, «schließen».[4] Denn das Substantiv «Mystik» selbst ist erst in den europäischen Sprachen der Moderne, zunächst wohl Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in Frankreich, entstanden. Es knüpfte an eine seit der Spätantike, genauer seit Pseudo-Dionysios Areopagita, zu fassende Rede von theologia mystica, «mystischer Theologie», an. Und das darin steckende griechische Wort mystikos wiederum bezeichnet nach gängigen lexikalischen Definitionen dann eben doch Dinge, die Geheimnisvolles betreffen. Der griechische Historiker Thukydides etwa (gest. zwischen 399 und 396 v. Chr.) verwandte in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges völlig selbstverständlich ta mystika als Parallelbegriff zu ta mysteria.[5]

Im Christentum kam es allerdings tatsächlich zu einer spezifischen Verwendung des Begriffes mystikos. Der alexandrinische Theologe Origenes (gest. 253 n. Chr.) sprach von einer «mystischen» Auslegung der Heiligen Schrift. Dabei ging es darum, den Wörtern einen tieferen Sinn abzugewinnen. Die jenseitige Wirklichkeit Gottes ist nach diesem «mystischen Verständnis» zwar präsent, bleibt aber verborgen, wenn Menschen ihr nicht genug Aufmerksamkeit entgegenbringen. Auch damit ist allerdings noch keine inhaltliche Bestimmung von «Mystik» gegeben.

Zu Recht ist die religionswissenschaftliche Forschung heute vorsichtig gegenüber den phänomenologischen Versuchen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geworden, eine «Wesensbestimmung» der Mystik zu erarbeiten. Sie sind in der Gefahr, historische Kontexte aus dem Auge zu verlieren[6] und so ungewollt Vorannahmen und Vereinnahmungen in das Verständnis der Mystik einzutragen. Dies hat zu Abwehrreaktionen und Versuchen der Neudefinition geführt. Die vielleicht provokanteste Reaktion auf die Schwierigkeit, einen unbelasteten Mystikbegriff zu finden, war die These des Philosophiehistorikers Kurt Flasch, letztlich sei selbst Meister Eckhart (gest. 1328) kein Mystiker gewesen.[7] Das zielte auf einen der bekanntesten Vertreter der Mystik – und damit auf diese selbst. Unterschwellig schob Flasch «Mystik» damit in den Raum diffuser Erfahrung und beanspruchte die wahrhaft denkerische Durchdringung des Phänomens für die Philosophie. Die Grundlage dafür sieht er in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit aristotelischem Denken und dessen neuplatonischer Weiterentwicklung vor allem im arabischen Raum, vor deren Hintergrund sich Eckharts Denken erklären lasse.[8] Das spricht allerdings nicht dagegen, dass Meister Eckhart ein Mystiker war, sondern weitet die Perspektiven auf die Mystik – und macht darauf aufmerksam, dass der Begriff bis heute unscharf ist.

Es gibt eine vortheoretische Vorstellung von Mystik, aus der Kurt Ruh eine Lösung entwickelt hat, die von genialer Einfachheit zu sein scheint:[9] Er macht Rezeptionslinien zum Ausgangspunkt seiner Begriffsbestimmung. Das heißt: Dort, wo Texte rezipiert werden, die man vergleichsweise eindeutig als mystisch einordnen kann, kann man einen Zusammenhang mystischer Literatur identifizieren. Dass diese Lösung unbefriedigend ist,[10] liegt letztlich an der Offenheit von Rezeptionsvorgängen: Wer einen Text rezipiert, tut dies ja nicht unbedingt zur Gänze, ja, vielleicht nur in Nebengedanken oder auch falsch. Vielleicht bezieht sich die Rezeption auf Aspekte des Textes, die man nicht mystisch nennen würde. Letztlich wird man auch mit einem solchen Verfahren nicht umhinkommen, inhaltlich zu sagen, worum es sich bei Mystik handelt.

Eine nähere Bestimmung von Mystik wird zu berücksichtigen haben, dass der Begriff bestimmte Vorstellungen von Gott und vom Menschen enthält und dass Mystiker immer wieder zunehmend seit dem hohen Mittelalter den Anspruch erheben, sich hiermit auf Erfahrungen beziehen zu können. Erfahrung, zumal eine so innerliche Erfahrung, wie sie immer wieder in der Mystik benannt wird, verschließt sich jedoch dem beschreibenden Zugriff von außen. Ja, letztlich kann die Behauptung von Erfahrung für andere stets nur genau das sein: eine Behauptung. In der Welt derer, über die hier zu sprechen ist, ist sie Realität, und als solche mentale Wirklichkeit wird sie auf den folgenden Seiten auch im Wechsel zwischen Analyse und unkommentierter Nacherzählung zum Sprechen gebracht. Wichtig für diese Darstellung ist allein der Anspruch, bestimmte Erfahrungen machen zu können, der offenbar mit Resonanz rechnen konnte. Wer von mystischen Erfahrungen sprach, fiel nicht aus dem Rahmen des sozial Akzeptierten, sondern konnte damit rechnen, dass Zeitgenossen diese Erfahrung für authentisch hielten und vielleicht sogar darauf hofften, sie teilen zu können. Auch heute gilt der Modus der Rede aus Erfahrung vielfach noch als eine eigene Form der Beglaubigung. Diese Beglaubigungskraft der Erfahrung wird man als ein Moment historischer Wirksamkeit vieler mystischer Berichte in Rechnung zu stellen haben. Das in die Deutung einzubeziehen, heißt nicht, sich diese Auffassungen zu eigen zu machen. Gegenstand der Darstellung kann nur sein, in welcher Weise von Erfahrungen gesprochen wird und wie diese von Zeitgenossen aufgenommen wurden. Es kann nicht darum gehen, psychologisierend zu unterstellen, dass bestimmte Personen tatsächlich die Erfahrungen gemacht hätten, von denen literarisch stilisiert berichtet wird. Solche Erzählungen zeigen aber, wie der mentale Resonanzraum beschaffen war, in den sie hineinsprachen.

Mystik ist auch nicht ausschließlich Erfahrung und nicht nur in Äußerungen zu greifen, in denen von Erfahrung die Rede ist. Das hat nicht zuletzt der vehemente Einspruch von Kurt Flasch gegen Meister Eckharts Einordnung als Mystiker offengelegt. Gerade wenn man den Begriff der Mystik nicht aufgeben will, wird man ihn also so weit fassen müssen, dass er auch Reflexionsvorgänge einschließt. «Mystik» umfasst in diesem Sinne sowohl eine Frömmigkeit, die eine bestimmte Erfahrung für sich beansprucht, als auch eine mystische Theologie, die Gottes Nähe ohne expliziten Erfahrungsbezug reflektiert. Bernard McGinn, von dem die bisher umfassendste Geschichte christlicher Mystik stammt, hat entschieden davor gewarnt, «Erfahren und Verstehen» auseinanderzureißen:[11] Manchmal lässt sich beides nicht genau unterscheiden – jedenfalls wäre es kaum sinnvoll, alles, was von Erfahrung spricht, aus der Theologie auszusondern. Die Stärke und Größe mystischer Theologie kann gerade darin liegen, Reflexion und Erfahrung aufeinander zu beziehen.

Auch damit ist allerdings noch nicht präzise bestimmt, welche Erfahrung zur Mystik zu rechnen ist und welche nicht. Man kann sich dem Begriff und dem damit gemeinten Phänomen allerdings weiter nähern, wenn man von einer Gruppe von mystischen Texten ausgeht, wie sie Kurt Ruh vor Augen stand. Der literarische Zusammenhang allein reicht allerdings nicht, das Phänomen zu erschließen. Im Folgenden geht es um Texte, die um die Vorstellung einer exzeptionellen Nähe zu Gott kreisen, die durch ihre Unmittelbarkeit die üblichen Frömmigkeitsformen überschreitet und im Individuum realisiert wird. Diese Annäherung hat zu der Auswahl der Autoren und Texte geführt, um die es in diesem Buch gehen soll. Im Wechselspiel zwischen einer immer näheren Begriffsbestimmung und dem immer neuen Blick in die Quellen kann man dann wenigstens Merkmale christlicher mystischer Texte fassen und so das Phänomen eher umschreiben als hart definieren. Als prägend für das, was im Folgenden als «christliche Mystik» beschrieben wird, erscheinen die folgenden acht Merkmale:

Erstens ist mystischen Texten eine Betonung der geistlichen Wirklichkeit Gottes eigen. Sie bestreiten nicht, dass Gott physisch im irdischen Jesus präsent war. Leitend ist für sie aber eine Gotteskonzeption, die Verbindungen zwischen der Geistlichkeit Gottes und den geistigen Möglichkeiten des Menschen für möglich hält. So können Grenzen von Zeit und Raum überschritten werden. In dieser Bestimmung ist in der feinen Unterscheidung von «Geistlichkeit» und «geistigen» Möglichkeiten schon ein Grundproblem mystischer Texte angesprochen, das zu den Schwierigkeiten ihrer genaueren Erfassung beiträgt: «Geistlich» ist eine religiöse Kategorie, in welcher es um die Seinsweise Gottes geht, die sich auf besondere Art im Heiligen Geist ausdrückt. «Geistig» hingegen sind Menschen in einem Teil ihres Daseins schon in einem elementaren Verständnis, insofern sie mehr sind als nur Leib und Materie. Der Geist ermöglicht es Menschen, über sich hinauszugehen, zu denken, zu verstehen und zu imaginieren. Es geht also um eine Seinsweise, die grundsätzlich auch dort gegeben sein kann, wo ein expliziter Bezug auf Gott oder religiöse Phänomene weder beabsichtigt noch auch nur angedeutet ist, und die sich vor allem durch den Unterschied zu bloßer Materialität auszeichnet.

Zum Zweiten ermöglicht eben die geistliche Verfasstheit Gottes die Erfahrung seiner unmittelbaren Nähe. Wie ausgeführt, ist von außen lediglich der Anspruch auf eine solche Erfahrung oder eben ihre Möglichkeit zu greifen. Es geht nicht um die Beschreibung oder Erschließung von Erfahrungen, sondern allein um die Rede von Erfahrungen und den darin erhobenen Anspruch, dass sowohl diese Erfahrungen als auch ihr Inhalt real waren und sind, sowie um die Reflexion dieser Erfahrungen. Nähe wird in ihrer höchsten Intensitätsform als Einung, unio, verstanden. Eine Fixierung mystischer Konzepte auf eine solche unio, noch dazu im Sinne einer wesenhaften Einung, würde aber die Vielfalt der Vorstellungen unangemessen reduzieren.

Indem es die Geistlichkeit Gottes ist, die die Erfahrung der Nähe ermöglicht, unterscheidet sich drittens diese Erfahrung von üblichen «äußeren» Begegnungsformen. Sie kann sich auf zwei Weisen ereignen: durch eine innerliche Erfahrung, in welcher Gott im mystisch Glaubenden präsent wird, oder, scheinbar im Gegenteil, durch äußerste Entrückung, in welcher der oder die Glaubende, meist durch Visionen oder Ähnliches, in die Wirklichkeit Gottes eintritt. Beides sind räumliche Metaphern für ein Geschehen, das Raumgrenzen gerade aufhebt. Ermöglicht wird dies durch den geistig-geistlichen Charakter des Geschehens. Dieser Unterschied ist zunächst wichtig gegenüber äußeren Formen der Heilsvermittlung in materiegebundener Form wie den Sakramenten. Er hat aber auch Bedeutung für die Abgrenzung mystischer Literatur von religiöser Literatur zu Grenzüberschreitungen anderer Art: Nicht alle Visionen sind mystisch, sondern allein jene, die auf die Erfahrung der Nähe Gottes hinzielen. Das ist etwa bei apokalyptischen Visionen offenkundig, die von zeitlich Fernem berichten, könnte aber bei sehr scharfer Handhabung dieses Kriteriums unter Umständen auch dazu führen, dass etwa Hildegard von Bingen nicht zum Kreis der Mystikerinnen und Mystiker zählen würde – warum sie dieser Tradition in diesem Buch dennoch zugeschlagen wird, wird weiter unten (siehe Seite 159–161) erläutert.

Die Erfahrung der Nähe Gottes ist viertens nichtkognitiv, vor- oder überbegrifflich, oftmals nur im Paradox fassbar. Gottes Nähe wird erfahren und hernach auch in Worte gefasst, vielfach aber mit der Versicherung, dass diese Worte und die ihnen zugrundeliegenden Begriffe unzureichend sind, das Geschehnis zu erfassen. Daher erfolgt oft ein Rückgriff auf Bilder, denen als Metapher schon die Differenz zwischen begrifflich Gesagtem und der erfahrenen Realität eigen ist.

Diese Erfahrung der Nähe Gottes ist fünftens nur möglich, wenn der glaubende Mensch sich grundlegend verändert. Oft wird das zugespitzt so formuliert, dass seine hiesige irdische Identität aufgehoben wird. Dabei kann man «aufheben» durchaus in der berühmten Hegel’schen Dialektik in seiner dreifachen Bedeutung verstehen: Die individuelle Identität wird verneint, emporgehoben und eben darin bewahrt. Das bedeutet: Alles Zufällige, Irdische wird abgestreift, weil es von Gott trennt, so wie das Materielle vom Geistigen trennen muss. Das ist das Aufheben im Sinne der Verneinung. Es ermöglicht das Aufgehobenwerden zu Gott – und weil zur Identität nicht allein jene zufälligen Momente gehören, sondern auch und vor allem die Ebenbildlichkeit zu Gott, wird in einem höheren Sinne die Identität gerade da bewahrt, wo ihre zufälligen Momente verneint werden.

Dies ist offenkundig ein prozesshaftes Geschehen. Daher gehört zu den Reflexionen über Mystik sechstens oft ein Nachdenken über den Weg, auf dem sich diese dreifache Aufhebung vollzieht. In der Regel setzt er als ersten Schritt eine Reinigung (purgatio) voraus, eben jene verneinende Aufhebung des zufälligen Ichs, und schreitet von dieser über die Erleuchtung (illuminatio) bis zur Einung (unio) voran. Gerade hier ist der Bezug auf traditionelle Formen des sakramental begleiteten Christentums besonders stark – und heikel –, da sich die Reinigung auch als Buße beschreiben lässt und dann sorgfältig austariert werden muss, ob hier dasselbe gemeint ist wie im Sakrament der Buße. Beides, mystische Reinigung und Reue in der Buße, sind jedenfalls Vorgänge, in denen der Mensch sich bei allem Streben nach einer Einung der tiefen Distanz zu Gott bewusst ist und diese, oft unter Selbstbezichtigungen, für sich annimmt. Sie vollziehen sich immer neu.

Ein siebtes wichtiges Element, das mit der Aufhebung der Identität zusammenhängt, ist daher, dass diese nur momenthaft geschehen kann und somit auch die Nähe nur momenthaft erfahren wird. Mystikerinnen und Mystiker beanspruchen nicht eine dauerhafte Änderung ihrer selbst, sie kehren immer neu in ihre alte Existenz zurück. Sie bleiben sich dessen bewusst, dass der Normalfall der Gottesbeziehung gerade nicht die Nähe ist, sondern eine große Distanz des Menschen von Gott. Mystische Frömmigkeit bedeutet daher eine Pendelbewegung zwischen den Momenten der Distanz von Gott und den Momenten äußerster Nähe, welche oft auch paradox aufeinander bezogen sind.

Schon in den hier verwendeten Begriffen zeigt sich der spezifisch christliche Charakter der so beschriebenen Mystik, der sich schließlich auch darin äußert, dass, achtens, diese momenthaften Erfahrungen einer unmittelbaren Nähe Gottes in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden, der sie als Vorwegnahme des Eschatons, der letzten Verwirklichung des Heils, erscheinen lässt. Der Mensch, der die Nähe Gottes erfährt, erlebt darin Gott in einer Weise, die den Glaubenden insgesamt erst am Ende der Zeiten geschenkt werden wird.

Mit diesen acht Gesichtspunkten soll christliche Mystik umschrieben werden. Eine harte Definition ist dies nicht. Schon gar nicht ist sie so zu verstehen, dass nur das als mystisch gelten könne, was alle acht Kriterien erfüllt. Es ist hier mit einem Mehr und Weniger zu rechnen, bei dem, wie am Beispiel Hildegards angedeutet, manche Gestalt je nach Gewichtung aus dem Rahmen der Mystik fallen oder in ihn hineingehören kann. Eine trennschärfere Definition zu versprechen, wäre kaum angemessen.

Wem dies unbefriedigend erscheint, mag dieses Buch getrost beiseite legen – denn dann würde er die folgenden Ausführungen über ein spannungsvolles In- und Gegeneinander in der Geschichte des Christentums, die gerade auch davon leben, dass manches in ihnen unbestimmt bleiben muss, wohl kaum mit Gewinn verfolgen können. Diese Spannung resultiert daraus, dass die Überschreitung der Grenze zwischen glaubendem Individuum und Gott zu sozialen und religiösen Grenzüberschreitungen führt. Diese haben die Mystik immer wieder verdächtig gemacht. Heute sind vielleicht gerade die Überschreitungen von konfessionellen und religiösen Bindungen Ausdruck der dauerhaften Potenziale von Mystik. Sie resultieren unmittelbar aus den beschriebenen Merkmalen christlicher Mystik im engeren Sinne. Ihnen ist gemeinsam, dass sie letztlich die Vorstellung von einem personalen, handelnden Gottes, wie er für die biblische Überlieferung grundlegend ist, nicht zwingend brauchen. Selbst Jesus Christus kommt zwar in vielen Ausprägungen der Mystik, besonders der Passionsmystik des späten Mittelalters, an zentraler Stelle vor – es geht aber immer wieder auch ohne ihn. Wo die Grenzen überschritten werden, drohen die Unterschiede zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen gleichgültig zu werden. «Pantheismus» lautet ein häufiger Vorwurf an die Mystik: eine Auffassung zu vertreten, die alles als Gott und Gott als bloßes Sein sieht. Manche Mystiker haben dem Vorwurf Nahrung gegeben, am prominentesten Meister Eckhart, der den weithin akzeptablen Satz «Gott ist Sein» umkehrte in: «Das Sein ist Gott.»[12] Wie soll man von einem Gott, der mit dieser Welt selbst eins wird, noch die Lenkung aller Geschicke in der Welt erwarten? Und: Wie soll man noch zu ihm beten? Das Problem wird nicht kleiner, wenn man den Pantheismus zu einem Panentheismus abschwächt: Gott sei in allem Seienden und gehe doch nicht in ihm auf. Das Gegenüber, mit dem sich Macht und Hilfe, Schutz und Drohung durch den christlichen Gott verbinden, scheint auch dann zu schwinden.

In der Mystik wird immer wieder betont, dass kein Begriff geeignet ist, Gott zu fassen. Je unbegrifflicher Gott verstanden wird, desto weniger plausibel werden die Unterschiede zwischen begrifflich bestimmten religiösen Systemen. Konfessionen und Religionen scheinen sich näher zu kommen. In einer zusammenwachsenden Welt, in der die Religionen mehr voneinander lernen sollten als sich voneinander abzugrenzen, klingt dies hochattraktiv. Allerdings ist zu bedenken, dass in der christlichen Mystik die Unterschiede immer nur momenthaft aufgehoben werden. Wer aus dem Raum mystischer Erfahrungen wieder heraustritt, findet sich in der Welt des Begrifflichen und damit auch der Unterschiede zwischen den Religionen wieder. Letztlich liegt eines der wichtigsten Probleme der christlichen Mystik genau darin: In ihren grundlegenden Texten wird etwas begrifflich beschrieben, was in einer Sphäre jenseits der Begriffe seinen Ort hat. Mystische Texte teilen die Schwierigkeit von Liebesgedichten. Sie wollen etwas mitteilen, was im Letzten gerade nicht mitteilbar ist, weil es hochgradig individuell ist. So haben sie dann doch Anteil an der Sprache der Dogmen, der Konfessionen und der religiösen Systeme. Letztlich sind es immer die kultischen und liturgischen Vollzüge einer konkreten Religion, die mystische Erfahrungen und Reflexionen darüber ermöglichen, auch wenn sie in dieser Erfahrung transzendiert werden. Eine reine Mystik unabhängig von einem begrifflichen und praktischen religiösen Kontext gibt es nicht. Mystik ist immer die konkrete Äußerungsform einer bestimmten Religion. Deswegen wird im Folgenden eine Geschichte der christlichen Mystik geboten, keine allgemeine, mehrere Religionen umfassende Geschichte der Mystik.

Neben der auf das Christentum begrenzten Kompetenz des Verfassers ist in diesem Zusammenhang ein Problem der Forschungsgeschichte zu benennen: Heutiges freudiges Erstaunen darüber, dass es «Mystik» in vielen Religionen gibt, ist zumindest auch ein Resultat der Weise, wie in den Anfängen der modernen Religionswissenschaft, die zu guten Teilen von vormaligen christlichen Theologen betrieben wurde, Begriffe aus dem Christentum auf andere Religionen übertragen wurden.[13] Die Vorstellung von «Mystik» ist auf dem Boden des Christentums entwickelt worden. Das schließt nicht aus, ähnliche Phänomene in anderen Religionen zu finden und ebenfalls «Mystik» zu nennen. Aber die Sicherheit, dass es sich im Grunde um das Gleiche handelt, die es in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert noch gab, ist einer größeren Vorsicht gewichen. So kam es auch in der Religionswissenschaft zu einer «Fundamentalkritik an der Verwendung des Mystikbegriffes», wie Marvin Döbler formuliert.[14] Von einer nichtchristlichen Mystik zu sprechen, kann auch etwas Vereinnahmendes haben. Jedenfalls wäre im Einzelnen genau zu überprüfen, ob der Begriff den beschriebenen Phänomenen ihrem Selbstverständnis nach gerecht wird oder nicht – solche Überlegungen könnten dann irgendwann zu einem Blick auf die Verschränkung von Religionen untereinander geweitet werden, die neben anderem auch mystische Frömmigkeit betrifft.

Die wissenschaftliche Vorsicht bei der Übertragung des Mystikbegriffs auf andere Religionen schließt nicht aus, dass Mystiker selbst religiöse Grenzüberschreitungen erfahren. Nach diesen religiösen Grenzüberschreitungen wird im Folgenden zu fragen sein, aber auch nach den sozialen: Mystiker haben sich immer wieder von der Welt abgesondert, haben sie nicht selten verachtet. Die «Welt» schloss dabei oft die Kirche ein, zu der viele Mystikerinnen und Mystiker ein schwieriges Verhältnis entwickelten. Und die Kirche hat diese potentiellen oder tatsächlichen Kritiker ihrerseits immer aufs Neue ausgeschlossen, in die Ecke der Häresie gedrängt, verurteilt und verbrannt.

So könnte man eine Geschichte der Mystik als die Geschichte von Sonderlingen verstehen, am Rande der Kirche und der Gesellschaft, mehr auf der Flucht aus der Welt als in ihr wirksam. Doch Mystikerinnen und Mystiker blieben als Bürger zweier Reiche auch Teil dieser Welt und ihrer Kultur. In allen Konflikten waren sie doch von ihrer Kirche geprägt. Wie diese lernten sie von der Philosophie, sie nahmen die Bilder auf, die die Literatur ihrer Zeit ihnen vermittelte, sie meditierten vor den Gemälden der Künstler und prägten wiederum deren Motive.

Wer in Distanz zur «Welt» tritt, gewinnt auch einen anderen Blick auf sie. Dieser Blick war von der Überzeugung geprägt, Gott und damit der Wahrheit näher zu sein als die anderen. Mystiker erhoben den Anspruch, dass das, was sie vertraten, eigentlich für alle gelte, nur dass die anderen es noch nicht erkannt hätten. So sahen sie sich immer wieder als die eigentlichen Christen oder Christinnen, oft auch als die eigentlichen Philosophen und Welterklärer. Je deutlicher sie sich als solche gaben, desto stärker wurde, oft durch Abwehr und Verteidigung hindurch, ihre Wirkung in der Kirche und manchmal auch darüber hinaus. Weltflucht war nur die eine Seite ihres Handelns, die andere Seite war der Ruf nach Überwindung «dieser Welt» – und wo diese nicht gleich überwunden werden konnte, sollte sie sich doch verändern, sollte sich messen lassen an dem hohen, letzten Ziel christlicher Existenz: dem Ruhen in Gott. Mit dieser Mahnung blieben die mystisch Frommen bei aller Weltflucht für ihre Kirche doch stets ein Stachel im Fleisch.

1.«Christus in mir»: Das vorweggenommene Ende

Jesus: Zwischen Diesseits und Jenseits

Schnell scheint sich die Skepsis neuzeitlicher Theologen, ob es christliche Mystik überhaupt geben könne oder dürfe, zu erledigen, wenn man in die alte Lutherbibel schaut. «Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch», heißt es in der 1912 gedruckten Fassung in Lukas 17,21. Jesus selbst, so scheint es, wird zum Zeugen dafür, dass alles Heil und alle Verheißungen ihren Ort im Innern des Menschen haben, dass hier eine unmittelbare Nähe Gottes Wirklichkeit wird, die ihresgleichen sucht. Doch es hat seine guten Gründe, dass sich genau diese Formulierung in den neueren Übersetzungen, sei es nun die revidierte Lutherbibel oder die katholisch getragene Einheitsübersetzung, nicht findet. In beiden heißt es stattdessen «mitten unter euch». Den Hintergrund hierfür bildet das stärker gewordene Bewusstsein der Forschung dafür, dass man Jesus nur recht verstehen kann, wenn man ihn im Kontext der Religion versteht, in der er aufgewachsen ist. Jesus von Nazareth war Jude, genauer: Er führte eine innerjüdische Erneuerungsbewegung an. Mit dieser Einbettung der Botschaft Jesu in seine frühjüdische Umwelt wurde immer klarer, dass das griechische entos hymon an dieser Stelle nicht «inwendig in euch» bedeutet, sondern «mitten unter euch».

Jesus brachte damit zum Ausdruck, was man als präsentische Eschatologie bezeichnet, eine Vorwegnahme der Endzeit im Hier und Jetzt, wie sie später auch für mystische Theologien prägend werden sollte. Bei Jesus aber lag der Akzent stärker auf dem zukünftigen Element. Seine Botschaft trug klar die Züge apokalyptischer Prediger seiner Zeit: Das Ende ist nahe und wird gewaltsam und erschreckend in diese Welt einbrechen. Wer heute das Vaterunser spricht, kann dies in der Zeile «Dein Reich komme» noch erahnen, die der Hoffnung Ausdruck gibt, dass die Welt vergeht und sich die göttliche Herrschaft an ihre Stelle setzt. Wie dies geschehen wird, hat Jesus gleichfalls wort- und bildreich ausgedrückt: Die Sonne wird sich verfinstern, der Mond wird seinen Schein verlieren, so heißt es in Markus 13,24, und gleich darauf wird der Menschensohn in den Wolken kommen. Diese Welt stand vor einer gewaltigen Umkehrung aller Verhältnisse, und das künftige Geschick, auch das drückte Jesus deutlich aus, entschied sich für jede und jeden Einzelnen daran, wie er sich zu Jesus verhalten werde: Wer sich zu ihm bekenne, so verkündete er, zu dem werde sich auch der Menschensohn bekennen (Mt 10,32). Mit ihm war also eine Entscheidungssituation in die Welt gekommen, die der Botschaft Johannes’ des Täufers, dass das Gericht nahe sei, neue Dringlichkeit gab: Die Entscheidung, ob man in die künftige Herrlichkeit kommen werde, fiel hier und jetzt.

Schon das machte das Eschaton, das Ende der Zeit, für die Gegenwart der Zeitgenossen Jesu bedeutsam. Die präsentische Eschatologie aber hing noch an anderem: «Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz» (Lk 10,18), sagte Jesus, als seine zweiundsiebzig Boten zurückkehrten. Der Sieg über den Satan also war durch die Verkündigung des Gottesreiches eigentlich bereits errungen. Der letzte Kampf war schon siegreich geschlagen. Und es gab sichtbare Zeichen hierfür: «Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen» (Lk 11,20). Auch hier klingt der Kampf gegen die bösen Mächte an, vor allem aber die machtvolle Durchsetzungskraft Gottes. Die ersten Anhänger Jesu standen durch solche Worte in der Spannung von «schon» und «noch nicht»: Das Reich Gottes ist schon Wirklichkeit geworden, aber noch hat es sich nicht ganz und für alle sicht- und spürbar durchgesetzt. Noch leben Christinnen und Christen in einer Welt, der die Gegenwart des Reiches Gottes nicht anzumerken ist.

Das ist nicht Mystik. Aber es erzeugt eben jene Spannung, von der die Mystik später leben sollte: das Bewusstsein, dass in dieser Welt gegen allen äußeren Anschein das Reich Gottes schon da ist. Wenn irgendwo, dann lässt sich hier nachvollziehen, dass Mystiker Christen par excellence sind: Der Einbruch der Wirklichkeit Gottes in diese Welt, den Jesus verkündigt hat, bleibt für sie spürbar. Das Wissen darum ist nicht auf die Vermittlung durch heilige Schriften und kirchliche Amtsträger angewiesen, sondern bleibt unmittelbar. Man könnte auch sagen: Christliche Mystik ist eine Frömmigkeitsform, die die von Jesus Christus verkündigte und gelebte präsentische Eschatologie auf Dauer stellt. Das geht aber nur auf eine Weise, die nicht, wie alles Materielle, endlich ist. Sie muss geistig sein. Genauer: geistlich.

Paulus: Endzeit jetzt

«Jesus war Begründer einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die erst nach seinem Tod zu einer neuen Religion wurde», so fasst der Neutestamentler Gerd Theißen zusammen, was man hierzu sagen kann.[1] Die entstehende Religion machte Jesu Kreuzigung und Auferstehung zu Grunddaten ihres Glaubens und teilte mit Jesus die Überzeugung von der überwältigenden Gnade Gottes. Von ihr erzählte Jesus etwa in dem Gleichnis vom «Schalksknecht», dem sein Herr eine Unmenge von Schulden erließ – und der sich nur deswegen Strafe zuzog, weil er diese Freigebigkeit nicht weiterreichte, sondern einen Mitknecht, der ihm Weniges schuldete, in den Schuldturm werfen ließ (Mt 28,23–35).

Die begriffliche Ausgestaltung dieser Botschaft verdankt das Christentum maßgeblich Paulus, und er gab auch der christlichen Mystik besondere Impulse. Paulus war wie Jesus als Jude aufgewachsen, freilich in einem anderen Milieu. Um sich selbst zu legitimieren, berichtete er von seiner Beschneidung als Säugling und von seiner Ausbildung in der Religionsschule der Pharisäer (Phil 3,5). Zeitweilig verfolgte er sogar die Christen. Doch dann bekannte er sich, wie er wiederum selbst erzählte, durch eine Offenbarung zu Jesus (Gal 1,16). Viel vom Christentum wusste er da wohl noch nicht – eigentlich nur, dass es aus Sicht des Judentums abzulehnen war. Erst im Laufe einer langen Entwicklung ist bei ihm die Überzeugung von Gottes Gnade zu dem geronnen, was in die Dogmatik als «Rechtfertigungslehre» eingegangen ist: die Lehre, dass der Mensch nicht dadurch vor Gott gerecht wird, dass er die vom Gesetz vorgeschriebenen Werke erfüllt, sondern durch den Glauben an Jesus Christus (Röm 3,28).

Diese Lehre begleitete die folgenden Jahrhunderte vor allem der westlichen Christenheit und stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen in der Reformationszeit. Dabei bildete sie nach den Worten Albert Schweitzers (1875–1965), der weiter unten selbst noch als Vertreter christlicher Mystik erscheinen wird (siehe Seite 415), nur einen «Nebenkrater» in der Theologie des Apostels.[2] Sicher wollte Schweitzer seine evangelischen Kollegen, für die die Rechtfertigungslehre gut lutherisch im Mittelpunkt der Theologie des Paulus stand, mit dieser Formulierung provozieren, aber sie verweist doch auf eine Einsicht, die in jüngerer Zeit immer mehr Raum gewinnt: dass klassische Bilder von Paulus und dem Judentum seiner Zeit revidiert werden müssen. Dazu gehören nicht allein die Hinweise der sogenannten «New Perspective on Paul», dass die Fixierung auf die Vorstellung vom Gesetz, wie sie die traditionelle Paulus-Auslegung bestimmte, das historische Frühjudentum der Zeit des Paulus wie auch diesen selbst kaum trifft.[3] Noch bedeutsamer ist die Einsicht, dass Paulus nicht der rastlose Begründer des Christentums unter den Völkern war, als der er in der Apostelgeschichte und in seinen Briefen erscheint. In ihnen wirkt er wie der, der permanent zu entscheiden und andere zu maßregeln hat. Der sich nicht einmal von Petrus etwas sagen lässt, einem der ersten Jünger, und schon gar nicht von irgendwelchen Vertretern der Gemeinden. Es scheint hier so, als sei es allein sein Werk, dass aus der innerjüdischen Erneuerungsbewegung am fernen Rand des römischen Imperiums eine Bewegung geworden ist, die am Ende die Kraft hatte, das ganze Reich zu verändern. Doch heute wissen wir – gerade auch durch Hinweise im Neuen Testament selbst –, dass Paulus alles andere als konkurrenzlos war. Er selbst erwähnt immer wieder feindlich gesinnte christliche Missionare in seinen Briefen. Aus der Gemeinde von Korinth berichtet er ausdrücklich, dass es dort zu Parteiungen gekommen sei: Manche hätten sich auf ihn, Paulus, berufen, manche aber auf Petrus, wieder andere auf den sonst wenig bekannten Apollos (vgl. Apg 18,24–28), obwohl es doch, so die wahrscheinlichste Deutung des Verses, die einzig richtige Behauptung eines Christen sei, zu Christus zu gehören (1 Kor 1,12). Dass bis heute Paulus als übermächtige Gründerfigur erscheint, hat vor allem damit zu tun, dass die im zweiten christlichen Jahrhundert beginnenden Kanonisierungsprozesse ihm besonders viel Platz eingeräumt haben: Dreizehn Paulus-Briefe, großenteils von ihm selbst, zum Teil auch von Späteren unter seinem Namen verfasst, wurden in das Neue Testament aufgenommen, und die Apostelgeschichte ist selbst Ausdruck dieser überwältigenden Wertschätzung. So war Paulus für die Entstehung des Christentums wohl weit weniger bedeutend, als Freunde wie Feinde meinen. Richtig ist aber, dass die dogmatische Normierung des Christentums in der Antike allein schon aufgrund seiner hohen Präsenz im Neuen Testament nicht an ihm vorbeikam.

Es ist bemerkenswert, dass Albert Schweitzer seinen Hinweis auf die Rechtfertigungslehre als «Nebenkrater» ausgerechnet in einem Buch gibt, in dem er sich der Mystik des Apostels Paulus widmet. Er wollte fort von dogmatischen Festlegungen, die in das frühe Christentum projiziert wurden, hin zu einem Verständnis, das dem Impetus der frühen Christenheit besser gerecht wurde. Und der lag nach seiner Wahrnehmung bei Paulus vor allem in dem Bewusstsein der Erlösung durch Jesus Christus und der daraus resultierenden neuen Haltung zum Sein und zum Leben.

In diesem Bewusstsein teilte Paulus die Überzeugung, die die Verkündigung Jesu geprägt hatte: dass das Ende nahe sei. So eindringlich war diese Botschaft, dass unter den Christen in Thessaloniki Sorge aufkam, als einige aus ihrer Gemeinde starben, noch ehe Christus wiedergekommen war. Paulus konnte sie beruhigen: Die Verstorbenen würden genauso mit Christus die Auferstehung erleben, wie die Lebenden ihm in der Entrückung entgegenkommen würden. Paulus ließ keinen Zweifel daran, dass er sich selbst zu denen rechnete, die noch zu ihren Lebzeiten das Kommen Christi erfahren würden (1 Thess 4,13–17).

Mit demselben griechischen Wort – harpazein –, das er hier für die nahe Endzeit verwandte, beschrieb Paulus auch eine eigene Entrückungserfahrung:

Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß er nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. (2 Kor 12,2–5)

Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass der Mensch, von dem Paulus hier spricht, er selbst ist, aber eben, wie er zugleich betont, doch nicht er selbst, sondern er in einer anderen Existenzweise. Und genau darin zeichnet sich eine Struktur ab, die nicht fern von einigen der Merkmale ist, die oben als charakteristisch für Mystik beschrieben wurden.