Ruhrzaster - Uwe Wittenfeld - E-Book

Ruhrzaster E-Book

Uwe Wittenfeld

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Beschreibung

Die Versuchung ist groß, die beiden Sicherheitsexperten können ihr nicht widerstehen. In einer Schweizer Bank kopieren sie die Daten aller deutschen Anleger, die ihr Geld am Finanzamt vorbeigeschmuggelt haben. Ihr Deal fliegt auf, sie können aber rechtzeitig fliehen. Ausgerechnet nach Bochum. In die Stadt, in der die Firma residiert, deren Geschäftsmodell die Minimierung von Abgaben an den Fiskus mithilfe der bestohlenen Bank ist. Auf beide Geschäftsführer dieser Firma werden Mordanschläge verübt. Die Inhaberin überlebt mit viel Glück, ihr Partner wird erschossen. Die Staatsanwaltschaft übernimmt den Fall, aber auch der Bundesnachrichtendienst mischt mit. Währenddessen erschüttert ein Korruptionsskandal mit bisher unbekannten Ausmaßen das Ruhrgebiet. Olga Paschke hatte sich ihren ersten Fall als Privatdetektivin etwas weniger spektakulär vorgestellt.

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Ruhrzaster-Olga Paschke ermittelt in Bochum

Ruhrzaster-TBHauptpersonen2. Bochum3. Frust4. Überwachung5. Hafenidylle6. Herberts Geständnis7. Magdalena8. Sabine9. Krisensitzung10. Frankfurt11. Bochum12. Olaf13. Asyl14. Zürich15. Klaus16. Zweifel17. Olga18. Beerdigung19. Abwicklung20. Lagebesprechung21. Schibulsky22. In Memoriam23. Staatsanwaltschaft Bochum24. Verhaftung25. Politische Fettnäpfe26. Kronzeuge27. Arbeitsessen28. Sommerloch29. Schlagzeilen30. Inselkoller31. Aus der Traum32. Kontosperrung33. Luftbilder34. Geburtstagcoverebook1ebook2ebook3ebook38ebook40ebook42tocebook41ebook39Impressum

Ruhrzaster-TB

Uwe Wittenfeld

Ruhrzaster

Hauptpersonen

Olga Paschke

zieht der Liebe wegen von Leipzig ins Ruhrgebiet.

Erwin Bosetzky

ist ein Bochumer Anwalt, der sich Skrupel bewahrt hat.

Hugo Koslowsky

fühlt sich wohl in Bochum und manchmal auch in Dresden.

Jenny Schmidt

mag Hugo und das Ruhrgebiet, lebt aber in Dresden.

Herbert Wollmeyer und Sabine Wuttke

wissen zu viel und bekommen Probleme.

Olaf Müller

fährt schwarz, weiß mehr als er sagt und stirbt.

Magdalena Moneto

hat zunächst wenig mit ihrer biblischen Namensgeberin gemein. Aber sie ist lernfähig.

Klaus Kipowsky

ist ein Spielkind geblieben, bis er in ein tödliches Spiel gerät.

Susanne Vries

Staatsanwältin in Bochum, die keine Steuersünder mag.

Stadtrat Meyers

will nur das Beste für seine schöne Stadt und für sich selbst.

Dr. Schulz

hat nichts mit Immobilien zu tun, auch wenn es auf seiner Karte steht.

Dieter Kreimeier

ist korrupt und bald tot.

Holger Schibulsky

verdient sich etwas dazu.

Roland Reiser

spielt den rasenden Reporter.

Janick Gustavson

ist fies und gemein.

Helmut Aschmüller

träumt von seiner Karriere und wird enttäuscht.

1. Ela (09.06.2014, Pfingstmontag)

Spät nachmittags war er in Frankfurt gelandet und hatte am Flughafen eine unauffällige Oberklassenlimousine gemietet. Zeit genug, um gegen Mitternacht in Bochum zu sein. Ausgerechnet im Pott war der letzte Auftrag zu erledigen. Hier war er aufgewachsen, in einer Zechensiedlung in Gelsenkirchen-Ückendorf. Normalerweise wäre er Kumpel auf einer Zeche oder Opelaner geworden, wie die meisten in der Familie. Da er in der Schule immer der Beste gewesen war, hatte sich sein Klassenlehrer dafür eingesetzt, dass er auf das Gymnasium kam. »Hömma, biste meschugge in Kopp? Red kein Schmonses, mach erst mal Asche«, hatte der Alte getobt. Schließlich hatte er sich beruhigt und war innerlich stolz, dass sein Sohn als Erster in der Familie das Gymnasium besuchte. Neun Jahre lang fuhr er dann jeden Schultag mit der Linie 2 bis Gelsenkirchen-Buer. Der Familienrat hatte beschlossen, dass er nach dem Abitur an der Ruhr-Universität in Bochum studieren sollte. Da konnte er ebenfalls mit der Straßenbahn hinfahren. Sein Vater erzählte allen, die es hören wollten und nach dem dritten Glückauf-Pils auch denen, die es nicht interessierte, dass sein Filius ein Abitur mit einem Durchschnitt von 1,5 gemacht hatte.

Er selbst als Betroffener wurde natürlich nicht gefragt, wie er sich den weiteren Lebensweg vorstellte. Er wollte nur weg von seinen Alten, weg aus diesem engen Zimmer, weg aus dieser spießigen Siedlung, weg aus dieser trostlosen Stadt, der nur ein königsblauer Fußballverein ein gewisses Image verschaffte. Wohin? Egal! Es konnte nur besser werden.

Nach dem Abi fuhr er mit einigen Kumpels an die niederländische Nordsee, setzte sich ab und heuerte in Rotterdam auf einem Schiff in Richtung Marseille an.

Seit damals war er nicht mehr im Ruhrgebiet gewesen. Fast stiegen ihm die Tränen in die Augen, als seine Jugend in Zeitraffer an seinem inneren Auge vorbeizog.

Die Fahrt verlief reibungslos. Trotz des tropischen Klimas, es waren mittlerweile 37°C, sorgte die Klimaanlage dafür, dass kein Tröpfchen Schweiß sein makelloses weißes Hemd und den Maßanzug verunstalten konnte. Er war auf dem Kölner Autobahnring, als sich der Himmel verfinsterte.

Am Autobahnkreuz Breitscheid bog er auf die A52 in Richtung Essen ab. Aus dem Hitzegewitter hatte sich ein veritabler Gewittersturm entwickelt. Ganze Batterien von Blitzen zuckten aus den Wolken. Als er aus dem A52-Tunnel in Essen auftauchte und auf die A40 abbog, dachte er, dass Hollywood den Weltuntergang nicht besser hätte inszenieren können. Abgerissene Äste flogen durch die Luft und blieben teilweise auf der Autobahn liegen. Fasziniert beobachtete er, wie die Bäume sich im Wind bogen.

Ein bestimmt 20 Meter hoher Baum in der Nähe der Abfahrt Gelsenkirchen verlor seine feste Verbindung mit dem Erdreich. Zunächst neigte sich der Stamm wie in Zeitlupe, um dann immer schneller zu fallen und schließlich in die Windschutzscheibe einer unauffälligen Oberklassenlimousine zu krachen. Der Lärm der berstenden Scheibe und des sich verbiegenden Blechs ging im allgemeinen Sturmgeräusch unter.

Der leere Sack des Fahrerairbags flatterte im Wind. Blut lief von der Unterkante des glaslosen Fahrertürfensters über den hochglanzpolierten Lack und tropfte auf den Asphalt des Ruhr-Schnellweges.

Nachdem der Sturm sich gelegt hatte, war die Nacht vom Lärm röhrender Motorsägen und Martinshörnern erfüllt. Für die Menschen zwischen Düsseldorf und Essen sollten auch die nächsten Tage nicht nur zu einer akustischen Geduldsprobe werden. Die Bahn und viele Nahverkehrsunternehmen hatten den Verkehr eingestellt, Straßen waren gesperrt. Freuen konnten sich die Kinder, da die Schulen zunächst geschlossen blieben.

Die zerschmetterte Limousine an der Abfahrt Gelsenkirchen wurde, nachdem der einquetschte Fahrer geborgen worden war, auf das Gelände eines Abschleppunternehmens zur weiteren polizeilichen Untersuchung transportiert. Dass sich überhaupt jemand die Zeit nahm, das Fahrzeug zu inspizieren, lag daran, dass es noch nicht gelungen war, den getöteten Fahrer zu identifizieren. Die Papiere, mit denen er den Wagen in Frankfurt gemietet hatte, waren auf einen Paul Enkerting aus Wien ausgestellt. Eine Person dieses Namens gab es jedoch in ganz Österreich nicht.

Der Techniker fand im Kofferraum einen Aluminium-Koffer. Der Inhalt bestand aus einem zerlegten Präzisionsgewehr mit Schalldämpfer und Laserzieleinrichtung sowie einem Briefumschlag mit einem Foto und einer Adresse in Bochum.

2. Bochum

Sie saß auf einem unbequemen Holzstuhl an einem abgewetzten Tisch. Darauf standen lediglich eine Lampe, ein Telefon und ein Mikrofon. »Frau Olga Paschke, geboren in Leipzig, wohnhaft seit drei Jahren in Mülheim an der Ruhr?« Ihr Blick wanderte vom Fördergerüst des Bergbaumuseums hinter dem Fenster hin zu der ihr gegenübersitzenden Polizistin.

»Ja.«

Die Frau fixierte sie. »In welchem Verhältnis standen Sie zu Olaf Müller?«

Olga kam die Situation sehr surreal vor. Noch vor einer Stunde hatte sie im ›Summa Cum Laude‹ im Uni-Center gesessen, mit einer Freundin eine Pizza gegessen und über Gott und die Welt geredet. Jetzt befand sie sich in einem Verhörraum des Polizeipräsidiums Bochum an der Uhlandstraße.

»Olaf Müller? Wer soll das sein?«

Ihr Gegenüber starrte sie missmutig an. »Der Olaf Müller, der Ihnen seine Tasche in der U35 übergeben hat!«

»Ich habe den Mann heute zum ersten Mal gesehen. Die Tasche ist liegen geblieben, als er aus dem Zug gezerrt wurde. Ich wollte sie bei der Bogestra abgeben.« Was sollte ihr hier untergeschoben werden?

Die Frau schaute sie hämisch an. »Warum sind Sie dann abgehauen?«

»Ich konnte wohl kaum wissen, dass die nicht besonders freundlich aussehenden Typen für die Staatsmacht arbeiten.«

Sie überlegte, ob es ratsam war, weiter zu diskutieren. Sie entschied, das Gespräch hier zu beenden.

»Ich möchte meinen Anwalt sprechen«, sagte sie. Ihre Vernehmerin schaute sie einen Moment lang missgelaunt an. Dann drehte sie das Telefon und schob es über den Tisch.

Olga wählte eine Bochumer Nummer. Es klingelte dreimal, bis der Hörer am anderen Ende abgenommen wurde. »Anwaltskanzlei Bosetzky. Was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, Erwin, hier ist Olga. Ich brauche dich dringend. Sofort!«

»Was ist denn passiert? Wo steckst du?«

»Im Polizeipräsidium an der Uhlandstraße. Die wollen mir etwas anhängen.«

»Vorsicht, junge Frau,« warf ihr Gegenüber ein.

»Ich bin in einer halben Stunde bei dir. Solange sagst du nichts!«

»Danke, Erwin.« Sie legte den Hörer auf.

Nach einer realen Stunde, die etwa drei gefühlten entsprach, die sie alleine im Verhörraum verbracht hatte, öffnete sich die Tür und Erwin stand im Rahmen. Sie sprang auf und nahm ihn in die Arme.

»Na, na. Wenn das Karl sieht.« Erwin lächelte sie an. »Was passiert mit mir?«

»Keine Angst. Es wird jetzt ein Protokoll aufgesetzt. Das lesen wir in Ruhe durch. Ist es in Ordnung, unterschreibst du. Dann nehme ich dich mit.«

Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

»Außer einem Verstoß gegen die BoStrab kann man dir meiner Meinung nach nichts vorwerfen. Die Zivilfahnder waren schließlich inkognito unterwegs. Dass einer von ihnen vor die Bahn gelaufen ist, kann man dir nicht anlasten.«

Olga schaute ungläubig. »Aha, Zivilfahnder. Was ist die BoStrab oder wie das heißt?«

»Das ist die Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung.« Er holte sein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte auf der Glasscheibe herum. »Hier ist es. § 58 Benutzen und Betreten der Betriebsanlagen und Fahrzeuge. In Absatz 1 steht: (1) Personen, die nicht Betriebsbedienstete sind, dürfen Betriebsanlagen und Fahrzeuge, soweit sie nicht dem allgemeinen Verkehrsgebrauch dienen, nicht betreten oder sonst benutzen. Sie dürfen besondere und unabhängige Bahnkörper nur an den dafür bestimmten Stellen überqueren.«

Olga fiel ein Stein vom Herzen. Das klang nach Geldstrafe statt Gefängnisaufenthalt. »Danke.«

Eine weitere Stunde später war das Protokoll unterschrieben. Olga und Erwin fuhren in seine Kanzlei und begossen den Schreck mit einem Glas Rotwein.

»Was war denn jetzt in der Tasche von diesem Olaf irgendwie?«, fragte Olga ihren alten Freund, den sie noch nie als Anwalt eingespannt hatte. »Gute Frage. Es wird wohl um mehr als Ladendiebstahl gegangen sein, wenn die hier mit einem Dutzend Fahndern auflaufen. Aber das ist nicht unser Problem. Ich denke, die wissen mittlerweile selbst, dass du nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort warst.«

»Pffft.«

»Keine Ursache, das ist mein Job. Jetzt bringe ich dich nach Mülheim. Vielleicht hat dein allerliebster Karl noch seinen leckeren Roten im Keller.«

Er hatte, und zwar reichlich. Schnell war klar, dass Erwin nicht zurückfahren konnte. Die Theorien über das, was Olaf Müller auf dem Kerbholz hatte, wurden von einem Glas zum nächsten immer abstruser.

Vor mehr als zwei Jahren war Olga aus Leipzig in das Ruhrgebiet gezogen. Schuld daran, dass sie der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war, den Rücken gekehrt hatte, war ihr Lebensgefährte Karl. Der war nach Sachsen gekommen, um Licht in den mysteriösen Tod seiner ehemaligen Lebensgefährtin Trixi, der Schwester ihrer besten Freundin Jenny, zu bringen. Karls Freund Hugo hatte sich dabei in Jenny verliebt. Der wohnte noch immer in Bochum, Jenny war jedoch in Sachsen geblieben. Die beiden gaben ein kleines Vermögen für Benzin und Flugtickets aus. Auch Erwin hatte sie damals kennengelernt.

Am nächsten Morgen war die Stimmung am Frühstückstisch sehr gedämpft. Alle kämpften noch mit den Auswirkungen des Rotweins.

Als Erwin sich verabschiedete, fragt er Olga beim Hinausgehen: »Sag mal, bist du eigentlich mit deinem Job zufrieden?«

Wie kam er denn jetzt darauf? Viele ihrer Bekannten hatten ungläubig geschaut, als sie ihnen gesagt hatte, sie wäre Buchhalterin. Sie machte kaum den Eindruck, als würde sie gut zwischen Berge von Papieren passen und Zahlen berechnen. Das Problem war, sie selbst glaubte es auch nicht. Es hatte sich einfach so ergeben. Als sie mit der Schule fertig war, lag ihre Lebensplanung noch im Nebel. Die Option Studium war versperrt gewesen. Ihre Eltern waren nicht sonderlich von den Zielen der SED angetan und Olga hätte niemals freiwillig ein Blauhemd angezogen. Wie der Zufall es wollte, wurde in dem Kombinat, in dem ihre Mutter arbeitete, eine Ausbildungsstelle in der Buchhaltung frei. Mangels Alternativen sagte sie zu. Nach der Wende waren ihre Kenntnisse aus der Planwirtschaft nicht mehr gefragt. Durch Weiterbildungsmaßnahmen und viel Fleiß war ihr der Umstieg in das neue Wirtschaftssystem jedoch relativ schnell gelungen und sie verbrachte ihren Arbeitstag immer noch zwischen Papierbergen. »Ach Erwin. Es ist ein Job, keine Berufung. Ich bekomme Geld dafür, aber Buchhaltung ist nichts, was mich glücklich macht. Zu viele Zahlen und zu wenig Menschen.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Vielleicht sollte ich besser Detektivin werden, wo ich sowieso schon immer in merkwürdige Geschichten verwickelt werde.«

Erwin lächelte. »Das war eine harte Sache damals in Dresden. Lass uns mal in Ruhe darüber reden. Ich habe da etwas im Hinterkopf, was dir bestimmt gefallen könnte. Ich melde mich!«

Er stieg in sein Auto und fuhr davon. Olga schaute ihm ratlos nach.

3. Frust

Es gibt so Tage, da weiß man schon, während man vom Wecker unsanft aus seinen Träumen in den Alltag katapultiert wird: Das Aufstehen lohnt nicht, heute wird alles schiefgehen. Die Hand sucht hektisch nach der lärmenden Höllenmaschine, findet sie schließlich, um sie mit lautem Gepolter vom Nachtschrank auf den Fußboden zu befördern. Der Deckel springt ab, die Batterien rollen unter das Bett. Endlich Ruhe!

Mit Müh’ und Not hatte ich mich durch den trostlosen Tag geschleppt und saß jetzt an der Theke des Café Fridolin. Ich starrte in ein halb gefülltes Weizenbierglas und pflegte meine schlechte Laune. Der Vorteil dieses Ladens war schon immer, dass man hier seine Ruhe haben konnte. Niemand nervte, die Musik war dezent und in den letzten 30 Jahren war es nicht nötig, sich an eine neue Einrichtung zu gewöhnen. Der richtige Ort also, um nahe Bochums Innenstadt den eigenen Frust zu reflektieren und zu ersäufen.

Das gelang an diesem Tage aber nur zwei Weizenbier lang. Dann wurde die Eingangstür geöffnet und kurze Zeit später der Hocker zu meiner Rechten bezogen.

»Tach, Hugo. Wie isset?«

»Hallo, Erwin. Muss!«

»Und selbst?«

»Muss.«

Erwin war ein ruhiger, einfühlsamer Zeitgenosse. Aber heute war mir sogar seine Anwesenheit zu viel.

»Hugo Koslowsky pflegt wieder den Frust über das Leben, das Universum und den ganzen Rest.«

»Erwin, du nervst. Ich kenne die Antwort auf die ultimative Frage des Lebens, des Universums und des ganzen Rests. Sie lautet 42.«

»Und du bist Marvin, der depressive Roboter und wir sitzen hier im Restaurant am Ende des Universums?«

»Zumindest das Zweite könnte stimmen. Ich staune. Du hast neben deinen Gesetzestexten und Urteilsbegründungen Zeit gehabt, Douglas Adams zu lesen?«

Er grinste. »Das ist doch Allgemeinbildung.«

»Danke für den Fisch.«

Erwin blickte mich mitleidig an. »Ja, ja. Don’t panic!«, sagte ich. »Aber ich habe mein Handtuch vergessen.«

»Oje! Dann wird mir einiges klar.«

Es ging einfach nicht, über den ›Anhalter durch die Galaxis‹ zu philosophieren und ernst zu bleiben. »Wir trinken jetzt einen Pangalaktischen Donnergurgler und anschließend versuche ich, eine halbwegs normale Konversation mit dir zu haben«, schlug ich vor.

Erwin nahm mich beim Wort und bestellte bei der Bedienung zwei Pangalaktische Donnergurgler. Sie sah ihn einige Sekunden lang verwirrt an und fragte sich wahrscheinlich, ob die beiden merkwürdigen Typen den maximal zulässigen Füllstand nicht schon längst überschritten hatten. Aber dann entspannten sich ihre Züge. Sie fing an zu lachen und verschwand.

Als sie wieder auftauchte, lachte sie immer noch.

»Jungs, ihr kennt die Wirkung?«

Als wir synchron unsere Köpfe schüttelten, erinnerten wir sie wahrscheinlich an die beiden Köpfe von Zaphod Beeblebrox, den Erfinder des Pangalaktischen Donnergurglers.

»Die Wirkung ist, als werde einem mit einem riesigen Goldbarren, der in Zitronenscheiben gehüllt ist, das Gehirn aus dem Kopf gedroschen. Ich habe euch gewarnt.«

Wir schauten uns an, nahmen das Cocktailglas in die Hand und schütteten den blauen Inhalt in einem Schwung in den Mund.

»Brrr!« Ich schüttelte mich. »Ich hoffe, das Gehirn ist noch drin.«

Erwin kämpfte mit seinen Gesichtszügen. »Boooaah. Einer reicht aber. Willst du mir eventuell sagen, was mit dir los ist?«

»Ach, es ist eigentlich nichts Konkretes. Manchmal geht mir meine ganze Situation mit dem Hin und Her zwischen Bochum und Dresden halt etwas auf den Wecker.«

»Olga und Karl haben das Problem gelöst, indem Olga von Leipzig nach Mülheim gezogen ist. Du schwärmst immer so von Dresden. Zieh doch einfach um. Jenny muss ja dort bleiben.«

»Dann könnte ich nicht mit dir an dieser Theke sitzen. Wie du weißt, ist das hier ne verdammt harte Galaxis. Wenn man überleben will, sollte man immer wissen, wo sein Handtuch ist!«

»Vielleicht ist der Job zu stressig. Du möchtest lieber einen ruhigen Bürojob von morgens acht bis nachmittags um vier und 30 Tage Urlaub im Jahr? Dazu eine Eigentumswohnung mit kleinem Garten, die bis zur Rente abbezahlt ist?«

Ich schaute Karl mitleidig an.

»Bist du verrückt? Das könnte ich keinesfalls ertragen.«

»Ach nee. Nicht? Dachte ich mir fast. Du hast finanzielle Probleme?«

»Nöö. Ich werde es niemals zu Reichtum bringen, aber die Knete reicht aus. So als Freiberufler kann man sich seine zwölf Arbeitsstunden am Tag frei einteilen.«

»Macht dir der Job keinen Spaß oder besteht die Gefahr, dass du bald auf der Straße stehst?«

»Nein. Alles gut.«

»Aha. Das hört sich sehr nach Luxusproblemen an. Verdammt, Hugo, worum geht es denn dann?«

»Wenn du mich so fragst, keine Ahnung. Manchmal habe ich eben den Frust. Und wo ist Jenny? Natürlich in Dresden.«

Wir schwiegen uns einen Moment lang an. Aber ich merkte, dass Erwin etwas loswerden wollte.

»Ich würde gerne mit dir über Olga reden.«

»Erwin, lass die Finger von ihr. Karl und sie sind ein Traumpaar.«

»Don’t panic. Ich will nichts von ihr, und wenn, hätte ich sowieso keine Chance. Es geht um ihren Job.«

»Schon merkwürdig, dass diese Powerfrau ausgerechnet Buchhalterin ist. Jazzsängerin oder Zirkusartistin, das wäre noch einleuchtend.«

»Das sehe ich auch so. Das Problem aber ist, dass es ihr mittlerweile selbst so geht. Ich glaube, sie langweilt sich in ihrer Firma zu Tode.«

»Was ist deinem Juristenhirn zur Minderung dieses Missstandes eingefallen?«

»Ich erkläre dir mal, was ich mir überlegt habe. Das ist bisher lediglich die Rohfassung, und bitte behalte das zunächst einmal für dich. Also noch kein Wort zu Olga, Jenny oder Karl.«

»Klar.« Ich schaute ihn verwundert an. »Schieß los!«

»Du kennst doch mein Büro?«

»Als ich zum ersten Mal dort war, lagst du blutüberströmt in einem Chaos von Papier und wurdest von Uniformträgern bewacht. Dann redete noch eine Kommissarin auf dich ein, die stinksauer war, dass man sie aus dem Schauspielhaus gezerrt hatte.«

»Ich habe in den letzten Jahren aufgeräumt.« Er lächelte. »Zum nächsten Ersten wird das Nachbarbüro frei und der Vermieter hat gefragt, ob ich es mitmieten würde.«

»Und?«

»Für mich brauche ich es nicht. Da kommt jetzt Olga ins Spiel. Sie hat Spaß daran, die Detektivin zu geben. Erinnere dich nur an ihren Undercover-Einsatz in Dresden. Und ich könnte ab und zu durchaus jemand gebrauchen, der private Ermittlungen durchführt.«

Mit ungläubigem Blick schaute ich Erwin an. »Die Zwei aus Bochum. Du als Dr. Lessing und Olga als Matula?«

»Na ja. So ungefähr. Am Anfang könnte Olga ja auch noch für mich, für dich, vielleicht sogar für Jenny als Buchhalterin arbeiten.«

»Ein weiterer Pangalaktischer Donnergurgler und ich finde die Idee gut. Aber wichtiger ist, was Olga davon hält.«

Erwin schaute jetzt ziemlich schelmisch. »Olga gehört genau wie du nicht zu den Leuten, die acht Stunden am Tag bis zur Rente einer geregelten Arbeit nachgehen wollen. Auch wenn sie das zurzeit macht.«

Erwin hatte mit Sicherheit recht.

»Aber«, fuhr er fort, »wir – und damit meine ich uns beide, Jenny und Karl – müssen bereit sein, sie zu unterstützen, wenn es zeitaufwendig oder kompliziert wird.«

»Und sie ab und zu aus dem Schlamassel ziehen. Ich bin dabei, Erwin. Du sprichst mit Olga. Jenny wird als Olgas beste Freundin bestimmt von Olga selbst um Rat gefragt.«

4. Überwachung

Vom Auftraggeber wusste er, dass die beiden in einem Hotel direkt am See in der Nähe des Opernhauses wohnten. Er würde für den Weg das Tram 11 bis zum Bellevue nehmen und dann am See entlang an den Quaianlagen spazieren. Er lag richtig mit seiner Vermutung. Sie stiegen in den ersten Wagen, er in den zweiten. Durch die Scheiben der schwach besetzten Bahn konnte er sehen, wie sie sich gegenübersaßen und heftig miteinander diskutierten. Er stand bereits an der Tür, als das Tram die Quaibrücke passierte. Am Bellevue stiegen die beiden aus und gingen Richtung See. Er trat auf den Bellevueplatz und folgte den beiden. Das im Neubarock erbaute Eden au Lac war schon seit über 100 Jahren der Inbegriff für Luxus, für ihn damit unerschwinglich. Er würde jetzt am Seeufer warten, bis sie das Hotel wieder verlassen würden. Es dauerte eine Stunde. Er wartete, bis die Rezeption gut ausgelastet war, und ging dann ruhig zum Aufzug. Beide Zimmer lagen nebeneinander. Mit einem Elektropick öffnete er zunächst die Zimmertür des Mannes. Bevor er den Raum durchsuchte, stellte er sich eine Minute ans Fenster und genoss den Blick über den See. Die Durchsuchung brachte kein Resultat, was er aber auch nicht erwartet hatte. Er installierte den Sender und inspizierte noch das Zimmer der Frau, genauso ergebnislos. Auf dem Parkplatz versah er die beiden silbernen BMWs mit einem Peilsender und rief seinen Mitarbeiter an. Der würde sich mit dem Kleintransporter, der außen die Werbung eines Elektroinstallationsbetriebes trug, innen aber mit moderner Abhörtechnik ausgestattet war, auf einem Parkplatz in der Nähe des Hotels einrichten.

5. Hafenidylle

Er öffnete die Augen. Immer noch saß er auf dem gleichen Stuhl, im gleichen Café, am gleichen Schiffsanleger. Schon seit mehreren Tagen, jeden Nachmittag von 13 bis 17 Uhr. Wenn kein spannendes Buch oder zumindest eines in einer dem Leser vertrauten Sprache zur Verfügung steht, ist das viel Zeit, um seine Mitmenschen zu beobachten und Gedankenexperimente anzustellen.

Konnte man aus der Betrachtung der Umwelt und der Passanten innerhalb von fünf Minuten feststellen, wo auf dem Planeten Erde sich dieses Café befand? Nicht, dass das für ihn irgendeine Bedeutung hätte, er wusste schließlich genau, wo er war, auch ohne das GPS seines Smartphones zu benutzen.

Zeit läuft: Er saß an einem Schiffsanleger neben einem kleinen Hafenbecken, das hauptsächlich für Motorboote verwendet wurde. Zunächst das Gewässer: Das Meer? Wohl kaum, denn etwa zwei Kilometer gegenüber erhoben sich sehr imposante Berge aus dem Wasser. Das gibt es zwar in Norwegen, aber der typische Salzgeruch in der Luft fehlte. Rechts und links war nicht abzusehen, wie weit das Gewässer reichte. Ein großer Bergsee? Höchstwahrscheinlich! Wo lag dieser See? In den Alpen? Aller Voraussicht nach! Und wo dort? Eine touristische Hochburg schien es zu sein, denn viele Menschen im unverkennbaren Touristenoutfit waren unterwegs, häufig in Gruppen.

»Nu macht doch mal zu, ihr lahmen Enten. Sonst fährt der Kahn ohne uns. Wir haben ja nich ma Tickets«, rief ein wohlbeleibter Mittvierziger in kurzen Hosen und Achselshirt. »Los, Erna, nu mach mal hinne.« Die Angesprochene kämpfte sich mit ihrem Nachwuchs, der aus zwei Teenies bestand, durch das Gewühl. Zudem war an ihr noch ein völlig aus der Puste gekommener Rauhaardackel vertäut. Deutsch war hier die meistvertretene Sprache, wobei ruhrdeutsche, schwäbische, bayerische und auch sächsische Mundart zu vernehmen war. Ab und zu hörte man englische oder italienische Laute. Er schaute sich die Bebauung rund um den Hafen an. Gebäude in Pastelltönen, teilweise mit Arkaden. Das konnte weder bayerisch noch österreichisch sein. Das Ganze sah sehr italienisch aus, aber zu gut gepflegt, um in den Süden Italiens zu passen. Er machte den Praxistest beim Ober des Cafés. »Aqua Minerale, per favore.«

»Mit oder ohne Kohlensäure?«, war die Gegenfrage.

Um das Rätsel abzukürzen: Der von deutschen Touristen dominierte Ort hieß Malcesine und lag am Gardasee. Es war unnötig, italienisch zu beherrschen. Die Mitarbeiter der zahlreich vorhandenen Gastronomie beherrschten die Sprache der Gäste ausgezeichnet.

Er war kein Tourist. Aber was machte er dann hier? Wenn er das so genau wüsste. Er hatte sich abgesetzt, ohne ein konkretes Ziel vor Augen zu haben, war abgehauen vor einigen unangenehmen Zeitgenossen, die dafür sorgen wollten, dass er endgültig den Mund hielt. Für die Flucht hatte er die Bahn und nicht das Flugzeug gewählt. Der Hauptbahnhof lag direkt in der Stadt. Er war schwerer zu überwachen als der Flughafen Kloten. Er kaufte ein Ticket für einen Interregio Richtung Verona. Seine Widersacher gingen höchstwahrscheinlich davon aus, dass er zurück nach Deutschland wollte. Das war natürlich richtig, aber so einfach sollten sie ihm nicht auf die Spur kommen. Er fuhr zunächst in die entgegengesetzte Richtung. Mit dem Linienbus war er von Verona über Bardolino schließlich in das malerische Örtchen Malcesine gekommen. Dort mietete er ein Zimmer in einem kleinen Hotel.

Er sollte eine Person treffen, die ihn auf einem sicheren Weg zurück nach Deutschland begleiten würde. Die Anweisungen lauteten, jeden Tag von 13 bis 17 Uhr in diesem Café zu sitzen und die Augen offen zu halten. Das tat er jetzt bereits seit vier Tagen. Die Kellner begrüßten ihn schon mit Handschlag und hielten seinen Lieblingstisch frei. Fast hatte er das Gefühl, die Spatzen kannten ihn auch längst und warteten darauf, dass er einen Eisbecher bestellte und sie mit der zerkrümelten Waffel fütterte.

Um 14:35 Uhr legte ein Personenschiff aus Limone an. Direkt vor ihm blieb eine Frau stehen, die einen geschlossenen Regenschirm in die Höhe hielt. Sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Herzog-Reisen Wanne-Eickel‹. Circa 40 Personen versammelten sich um sie. Den meisten von ihnen hörte man ihre Pottherkunft deutlich an. Die Reiseleiterin dozierte etwa fünf Minuten über die Geschichte Malcesines und die Verhaftung Goethes auf seiner Italienreise. Die ersten hundert Fotos wurden auf Speicherchips zwischengelagert und die ganze Truppe setzte sich lärmend in Bewegung zum nächsten touristischen Highlight, wahrscheinlich zur Burg.

»Hallo. Ich bin Olga.«

Er drehte den Kopf zur Seite und sah in zwei blaue Augen. Sie gehörten einer Frau, die auf dem Nachbarstuhl Platz genommen hatte. Er musterte sie ausführlich.

»Ich komme im Auftrag von Erwin und soll Sie hier abholen.«

»Spricht man jetzt in Bochum sächsisch?«

»Ich schon. Man wird ja wohl mal umziehen dürfen.«

»Wer sagt mir, dass ich Ihnen vertrauen kann?«

»Ich und ihr gesunder Menschenverstand. Anderenfalls können Sie auch gerne weiterhin jeden Tag von 13 bis 17 Uhr hier sitzen, Touristen beobachten und Spatzen füttern. Ich fahre mit dem Schiff in einer Stunde nach Limone, ob Sie mitkommen oder nicht.«

»Angenommen, ich vertraue Ihnen, wie geht es dann weiter?«

»Haben Sie die Reisegruppe eben gesehen?«

»Fürst-Reisen aus Castrop-Rauxel?«

»Fast. Herzog-Reisen aus Wanne-Eickel. Im Bus ist noch ein Platz frei. Wenn jemand fragt, erzählen Sie, Sie hätten einen Freund hier besucht und möchten zurück nach Bochum. Gehen Sie in Ihr Hotel und holen Sie das Gepäck. Die Truppe fährt mit dem Schiff in einer Stunde und morgen dann gen Heimat ins Ruhrgebiet.«

»Kann ich Erwin anrufen?«

»Geben Sie mir Ihr Telefon!«

Er gab es ihr. Sie öffnete es, entfernte den Akku und zog die SIM-Karte heraus, um sie ins Hafenbecken zu werfen. Den Rest des Gerätes legte sie auf den Boden, stand auf und stellte sich mit dem Hacken des rechten Schuhs darauf. Ein gut vernehmbarer Knack war zu hören. »Die Batterie muss getrennt entsorgt werden. Das ist sonst eine Umweltsauerei«.

Ihm blieb der Mund offen stehen, Text fiel ihm momentan nicht ein. Olga förderte aus ihrer Handtasche schließlich ein neues Telefon hervor, das sie ihm gab. »So, jetzt ab ins Hotel. Ich warte hier auf Sie.«

Eine halbe Stunde später war er mit seiner Tasche zurück, setzte sich neben Olga, gab ihr die Hand und sagte: »Ich bin Herbert. Erwin hat mich gerade angerufen. Ich spiele mit.«

Olga lächelte. »Ob es ein Spiel ist, bleibt noch abzuwarten.«

Die Reisetruppe war freundlich, gesellig, laut und trinkfest. Herbert wollte nicht auffallen. Er war bei allen Spielchen dabei. Beim Alkoholkonsum und den Annäherungsversuchen einzelreisender Damen hielt er sich jedoch zurück. Trotzdem war er froh, dass er nach zwei Tagen in Bochum aus dem Bus steigen konnte, wo Olga ihn zu Erwin brachte. Während der ganzen Zeit hatten sie so getan, als wenn sie sich erst auf dem Schiff kennengelernt hätten. Bisher war ihm noch nicht genau klar geworden, welche Rolle eigentlich Olga in dem Spiel spielte. Als sie vor Erwins Bürotür in der Kortumstraße standen, sah er dann das Messingschild an der Tür des Nachbarbüros.

Olga and Friends

Private Ermittlungen

Bochum – Dresden

Inhaberin: Olga Paschke

Herbert kannte Detektivbüros nur aus dem Fernsehen. Aber so wie bei Philip Marlowe oder Josef Matula sah es hier bei Olga nicht aus. Es gab einen Schreibtisch mit einem Monitor und einer Tastatur sowie ein Regal mit Akten. Sonst fehlte alles, was dem Raum das Aussehen eines Büros geben könnte. Man meinte, sich in einem hellen, freundlichen Wohnzimmer zu befinden. Dominiert wurde der Raum von einem großen runden Tisch, um den zwei Ledersofas und vier Sessel gruppiert waren. Olga dirigierte Herbert in einen davon. Sie verschwand durch eine Tür, die wahrscheinlich zu einer Küche führte, denn er hörte das Klappern von Geschirr. Jetzt war das typische Geräusch einer vollautomatischen Kaffeemaschine, die Bohnen mahlte und anschließend das Pulver aufbrühte, zu hören. Sie kam mit einem Tablett mit drei Tassen Café Crème zurück und setzte sich ihm gegenüber.

Die Eingangstür wurde aufgeschlossen. Erwin kam mit einer Keksdose unter dem Arm herein. Er stellte die Dose auf den Tisch und umarmte Herbert, der aufgestanden war.

»Mensch Alter! Wie lange ist das her? Jetzt sehen wir uns erst wieder, wenn du so richtig in der Scheiße steckst.«

Olga unterbrach ihn. »Bevor ihr hier eure gemeinsamen Jugenderlebnisse auferstehen lasst, möchte ich zunächst wissen, worum es geht. Ich wollte zwar immer mal zum Gardasee, aber weder mit dem Bus noch in einer Gruppe von 40 Leuten. Also spuckt es aus, was hast du ausgefressen, Herbert?«

Während die Reisegruppe aus dem Ruhrgebiet gerade über den Brenner in Richtung Innsbruck fuhr, rollte ein schwarzer Alfa Romeo auf den Parkplatz unterhalb der Kirche von Malcesine. Zwei makellos gestylte Herren in schwarzem Anzug, weißem Hemd und dunkler Krawatte entstiegen der Limousine. Man konnte sie für Geschäftsleute halten.

Nachdem sie beide eine verspiegelte Sonnenbrille aufgesetzt hatten, entsprachen sie aber auch dem Vorurteil, das mancher Fernsehzuschauer von Mitgliedern der ehrenwerten Familie hat. Sie schlenderten zum Zentrum des Ortes, blieben vor einem Geldautomaten stehen und schauten sich um.

»Hier?«, fragte der eine.

Der andere nickte nur.

»Die Hotels?«, fragte wieder der Erste.

Ein weiteres Nicken.

»Andiamo! In einer Stunde am Hafen!«

Bereits 40 Minuten später saßen die beiden in der Eisdiele am Hafenbecken und schauten über den Gardasee. Ein Foto lag auf dem Tisch.

»Niemand kann sich an den erinnern. Irgendwo muss er doch geschlafen haben.«

»Sollen wir warten, bis wir alle Hotelportiers angetroffen haben, die gerade keinen Dienst hatten?«

»Certo che no! Der Typ hat gestern das Geld abgehoben. Vielleicht war er nur auf der Durchreise.«

»Ich glaube kaum, dass er jetzt ein paar Tage Urlaub einlegt. Wie kommt man denn von hier weg, wenn man kein Auto hat?«

»Bus, Taxi oder Schiff.«

Sie schauten wieder über den See. Der Kellner erschien. »Ihr Kaffee. Bitteschön!«

»Due caffè, per favore, heißt das. Wir sind doch in Italien, wenn ich mich nicht irre.« Der Ober wurde blass und wechselte ins Italienisch. »Scusi. Naturalmente.«

Er sah das Foto auf dem Tisch liegen. »Oh, mein Stammkunde. Leider ist er abgereist.«

Er konnte jetzt sein eigenes Konterfei in vier verspiegelten Brillengläsern sehen.

»Wo ist er?«, fragte einer der beiden Brillenträger.

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen. Bei mir reicht es, vorher zu bezahlen, wenn man gehen will. Vielleicht ist er mit dem Schiff nach Limone gefahren.«

»Haben Sie das gesehen?«

»Nein.«

»Woher wollen Sie das dann wissen?«

»Er saß sonst immer alleine hier. Aber als er zum letzten Mal da war, saß eine Frau neben ihm.«

»Und?«

»Was und?«

»Wie sah sie aus? Was hatte sie mit ihm zu tun? Spuck’s aus!«

»Ich habe sie mir nicht so genau angesehen, weil …«

»Weil was?«

»Sie hat sein Telefonino genommen und es kaputt getreten. Stellen Sie sich das einmal vor. Die Karte hat sie sogar in den See geworfen. Als das Schiff ablegte, waren die beiden verschwunden.«

Die Anzugträger schauten einander an.

Vierzig Minuten später passierte ein schwarzer Alfa Romeo das Ortseingangsschild von Limone.

6. Herberts Geständnis

Herbert räusperte sich. »Wisst ihr, das ist eine komplizierte Geschichte.«

»Nun fang mal an. Wegen dir habe ich tagelang in einem Bus mit einer Horde Touris verbracht. Warum war es dir nicht möglich, wie ein normaler Mensch in Zürich in ein Flugzeug oder einen Zug zu steigen, um hierher zu kommen?«

»Ich muss da etwas weiter ausholen, um das Ganze zu erklären. Meine Firma in Frankfurt vertreibt Sicherheitslösungen für Datenverarbeitungsanlagen. Wir konzipieren unter anderem redundante Serversysteme, Back-up-Systeme zur Datensicherung, sichern die Netzwerke vor Angriffen von außen oder durch die eigene Belegschaft. Ich erspare mir hier langweilige technische Details, die sind auch unwichtig. Bei unserer Arbeit bei der Bank kommen wir dabei mit den sensiblen Daten der Kunden in Berührung. Das liegt nun einmal in der Natur der Sache.«

»Müsst ihr nicht vorher eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben?«, fragte Erwin.

»Klar. Zusätzlich werden wir noch von den Sicherheitsbehörden überprüft.«

»Wie hast du denn das als ehemaliger Anarcho und Hausbesetzer geschafft? Wir alten Jusos rollen doch die Sahnetorte von innen auf?« Erwin grinste, aber Herbert ließ sich nicht beirren und redete weiter.

»Wir stießen zufällig auf Datensätze von deutschen Firmen sowie Einzelpersonen, die uns merkwürdig vorkamen.«

»Was bedeutet das?«, fragte Olga.

»Naja, das Geld befand sich auf Offshorekonten in der Schweiz, auf den Kaimaninseln oder in Bahrain. Es ist am Finanzamt vorbeigeschmuggelt worden.«

»Das kann man nachprüfen?«, wollte Erwin wissen.

»Ja, aber ich verschone euch wieder mit technischen Details. Für uns war klar, dass es sich hier um Steuerflucht handelt.«

»Wer ist wir? Wart ihr zu mehreren in der Bank?«, fragte jetzt Olga.

»Ja, ich war mit meiner Kollegin Sabine dort. Wir wohnten im gleichen Hotel und haben natürlich abends darüber gesprochen. Sie hat noch rumgeblödelt, wir könnten die Informationen dem deutschen Finanzminister oder zumindest dem in Düsseldorf verkaufen. Nordrhein-Westfalen hat ja schon häufig für solche Daten Millionenbeträge gezahlt. Danach würden wir das Geld auf ein eigenes Offshorekonto transferieren und bis an unser Lebensende unter Palmen liegen.«

»Habt ihr?«, bohrte Olga weiter.

Herbert schaute aus dem Fenster. »Die Bochumer Einkaufszone sieht nicht nach Palmenidylle aus, höchstens wie Nachkriegstristesse.«

Erwin wurde ungeduldig. »Herbert, auch in der Schweiz sind die Gedanken frei. Ihr habt dann doch wohl etwas mehr gemacht als nur zu träumen.«

»Oh ja, darauf kannst du wetten. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob ich es bereue, wenn ich sehe, wie es gerade hier im Ruhrgebiet an allen Ecken fehlt. Da gibt es Großverdiener, die so viel Zaster haben, dass sie kaum wissen, wie sie ihn verprassen können. Aber um Himmels willen keine Steuern zahlen. Hätte ich Millionen auf meinem Konto, würde ich gerne einen Teil davon für die Allgemeinheit spendieren. Mit dem Problem werde ich allerdings nie in Kontakt kommen.«

»Hört, hört. Etwas soziales Gewissen ist auch unter dem Nadelstreifenanzug zurückgeblieben«, stellte Erwin fest. »Ihr habt die Daten also geklaut! Und jetzt gibt es irgendwo eine CD, die ein paar Leute dringend zurückhaben wollen.«

»CD? Nein. So ein großes Ding hätten wir da nie herausschmuggeln können. Die Informationen quasi materielos über das Internet hinauszuschmuggeln war aber auch unmöglich. Die Netzwerke sind, nicht zuletzt durch unsere eigene Mitarbeit, stark gesichert. Das wäre sofort aufgefallen.«

Weder Olga noch Erwin kannten sich im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung gut aus. Olga hatte jedoch den richtigen Riecher. »Eine Speicherkarte! So ein Ding, das man in Mobiltelefone oder Kameras steckt.«

Herbert grinste. »Klar! Eine Micro-SD-Karte. Die Teile sind etwa so groß wie ein Daumennagel.«

»Die habt ihr einfach ins Handy gesteckt und seid rausmarschiert?«, fragte Erwin.

»Du glaubst doch nicht, dass du dein Telefon da mitnehmen darfst. Das bleibt beim Empfang. Sabine hatte eine ziemlich abgedrehte Idee. Sie hat einen Tampon präpariert, die Karte reingesteckt und – ähem – na ihr wisst schon, was man damit normalerweise macht.«

Erwin und Olga schauten sich zunächst ungläubig, dann grinsend an.

»Mensch, Herbert«, sagte Erwin, »mit dem Coup geht ihr in die Kriminalgeschichte ein. Der erste Datendiebstahl in einem Tampon.« »Haha!« Herbert war ›not amused‹, aber er setzte seine Geschichte fort. »Abends haben wir eine Kopie gemacht und sind dann in die Hotelbar gegangen, um uns kräftig einen auf die Lampe zu gießen.«

»Wie ist man euch denn auf die Schliche gekommen?«, wollte Olga wissen. »Gute Frage. Das Sicherheitssystem registriert im Prinzip natürlich alle Zugriffe. Wir dachten, wir hätten das System unter Kontrolle, weil wir es schließlich selbst installiert haben. Es ist aber aufgefallen, wie auch immer.«

Erwin schaute Herbert nachdenklich an. »Woran habt ihr gemerkt, dass eure Aktion bemerkt worden ist?«

»Am nächsten Tag wurden wir nicht in die Bank gelassen. Angeblich gäbe es irgendwelche internen Untersuchungen und wir sollten doch bitte den Tag nutzen, um die schöne Stadt Zürich zu genießen. Als wir nach unserer Sightseeingtour abends wieder ins Hotel kamen, erschien mir das Chaos in meinem Zimmer etwas anders als am Morgen. Ich hatte einfach so ein komisches Gefühl. Eine halbe Stunde später hatte ich die Wanze gefunden. Nachdem ich Sabine informiert hatte, packten wir ein paar Sachen und gingen zu den Autos. Wir haben nicht gesprochen. Ich zeigte ihr nur den Sender. Der Rest war dann klar.«

»Seid ihr zusammen abgehauen?«, fragte Olga.

»Nein. Wir sind beide einfach aufgebrochen. Ich dachte mir, wer Wanzen installiert, kann mich auch beobachten oder mein Fahrzeug mit einem Peilsender ausstatten. Deshalb bin ich nur zum Bahnhof gefahren. Das Auto habe ich in eine Tiefgarage gestellt. Anschließend bin ich eine halbe Stunde durch die Menschenmenge gelaufen, bis ich relativ sicher war, dass ich nicht verfolgt werde. Kurz vor Abfahrt des Zuges bin ich auf den Bahnsteig gerannt und in den Schnellzug nach Verona gesprungen. Dann mit dem Bus zum Gardasee. Den Rest kennt ihr.«