Runen - Arnulf Krause - E-Book

Runen E-Book

Arnulf Krause

4,9

Beschreibung

Die germanischen Schriftzeichen der Runen umgab seit jeher ein Schleier des Geheimnisvollen. Diese Aura verstärkte der englische Fantasy-Autor J. R. R. Tolkien, indem die Fabelwesen seiner Mittelerde-Welt Runen als rätselhafte Symbole verwenden. Seine Romane und deren Verfilmungen haben so das Interesse an germanischer Kultur und Geschichte rapide verstärkt. Grund genug, erstmals ein wissenschaftlich fundiertes und verständliches Sachbuch über Runen vorzulegen. Arnulf Krause präsentiert in diesem marixwissen-Band eine unterhaltsame Geschichte der Schrift seit ihrem frühesten Auftreten und eine leicht einsichtige Einführung in ihren Gebrauch. Er zeichnet ihre Verwendung, wie z. B. bei den berühmten Runensteinen der Wikinger, nach und verfolgt ihre Renaissance in der Neuzeit. Kritisch setzt er sich mit dem völkischen und nationalsozialistischem Missbrauch auseinander, der den Schriftzeichen in Deutschland den Ruf rechtsextremer Attribute einbrachte – während sie in Skandinavien immer als authentisches Erbe angesehen wurden.

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Arnulf Krause

Runen

Geschichte – Gebrauch – Bedeutung

Inhalt

1. RUNEN HEUTE RUNEN IN DER LITERATUR UND EINE KURZE EINFÜHRUNG

Mondrunen und andere Runenrätsel

Was sind Runen?

Raunen Runen?

2. WIE WERDE ICH RUNENMEISTER? DIE RUNENSCHRIFT FÜR ANFÄNGER

Von Runenmeistern und Runenmeisterinnen

Das ABC der Runenschrift

3. DER RUNENGOTT ODIN MYTHEN, ZAUBER UND MAGIE

Die Herkunft der Schrift

Der Runengott Odin

Wodan und Odin in Runen

Donar bzw. Thor und andere Götter in Runeninschriften

Runenmagie

4. BRAUCHTEN DIE GERMANEN EINE SCHRIFT? DIE ÄLTESTEN RUNENFUNDE UND DIE FRAGEN NACH DEM URSPRUNG

Die ältesten Runen

Eine kleine Sensation

Reif für Runen? Die germanische Frühzeit

Woher stammen die Runen?

Wer erfand die Runenschrift?

Brauchten die Germanen Runen?

5. WAFFEN, RINGE, GÖTTERSCHEIBEN: DAS ÄLTERE FUTHARK

Runen für alle Germanen

Runen im Moor: die großen Mooropferfunde

Verschwunden: die Goldhörner

Als man Runen in Stein ritzte

Die runenkundigen Alamanninen

Runen mit Geschichten

Das Ende der alten Runenschrift

6. VON ISTANBUL BIS GRÖNLAND: DIE WIKINGER UND DAS JÜNGERE FUTHARK

Das jüngere Futhark und die Wikinger

Runen in aller Welt

Odin auf dem Menschenschädel

Der Rök-Stein: das Monument der Rätselrunen

Kumbl – die Zeit der Denkmäler

Ein Runenstein als nationale Urkunde

7. CHRISTEN UND ABENTEURER – DIE PRACHT DER LETZTEN RUNENSTEINE

Schweden im 11. Jahrhundert: massenweise Runensteine

Brücken zum Seelenheil, nicht für Odin

Held und Drache – der Wikingercomic

Die starken Runenfrauen

Die letzten Spuren Ingvars des Weitgereisten

Runen und die letzte große Fahrt

8. PROF. TOLKIENS LIEBLINGSRUNEN: DAS ENGLISCHE FUTHORC

England und Runen: altes Futhark – neues Futhorc

Das Wunder-Runenkästchen

Christen, Mönche, Runen

Das Runenkreuz von Ruthwell

9. RUNEN IM MITTELALTER: GELEHRTES UND DERBES

Runen im Kloster: Das Abecedarium Nordmannicum

Runen in Büchern

Kirchenrunen

Zeichen für alles: Die Runenhölzchen

Magie-Runen in Blei und Holz

10. RUNEN IM WILDEN WESTEN? VON RÄTSELN, MYSTERIEN UND VIELEN FÄLSCHUNGEN

Faszinosum Fälschung

Münchhausens Runen

Hoffnung, Zweifel, Unsinn

Runen an den Externsteinen?

Runen in Amerika?

Ein Runenstein aus Minnesota

11. VON RUNENFORSCHERN, GERMANENTÜMLERN UND ESOTERIKERN

Runen vor der Sintflut: Ihre Wiederentdeckung in Skandinavien

Runen und Romantik

Runen, Okkultismus und die völkische Bewegung

»Heil und Sieg« – Runenideologie im »Dritten Reich«

12. DER STÄNDIGE RUNENSTREIT: FUNDE UND IHRE DEUTUNGEN

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Bibliographie

Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen Runeninschriften

Abbildungsnachweis

1. RUNEN HEUTE

RUNEN IN DER LITERATUR UND EINE KURZE EINFÜHRUNG

Mondrunen und andere Runenrätsel

Mai 1863 in Hamburg: Der stadtbekannte Professor Otto Lidenbrock, als Mineraloge und Geologe unter Gelehrten und Kollegen hochgeachtet, stürzt überhastet in sein altes Haus in der Königstraße 19, wo er von Haushälterin Marthe und seinem Neffen Axel mit Bangen erwartet wird. Schließlich gilt der Hausherr als cholerisch-rastloser Pedant, der mit seinem umtriebigen Wesen alle und jeden schikaniert. Diesmal entpuppt er sich als polyglotter Literaturkenner, der in einem Antiquariat ein altes Manuskript aufgetan hat. Es stammt von der Hand des isländischen Gelehrten Snorri Sturluson und enthält dessen Geschichte der norwegischen Könige. Nun, viele Leserinnen und Leser werden den Fortgang kennen; denn es handelt sich bei der beschriebenen Szene natürlich um den Beginn von Jules Vernes (1828–1905) berühmtem Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde (Voyage au centre de la terre), der 1864 in Paris erschien. Darin steht keine technisch-utopische Innovation des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Handlung, etwa die Fahrt in einem Unterseeboot durch die Weltmeere oder ein Raketenflug zum Mond, sondern eine Expedition geradezu aberwitziger Ausmaße – eben die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Den Professor und den Ich-Erzähler Axel treibt es über Kopenhagen bis ins ferne Island im Nordatlantik. Dort lassen sie sich von dem stoischen Eiderjäger Hans zum Gletscher des Snæfellsjökull führen, einen derzeit und seinerzeit inaktiven Vulkan, in dessen Krater die drei Reisenden hinabsteigen. Der weitere Weg ist aus Roman und zahlreichen Verfilmungen hinlänglich bekannt: Er führt in die Tiefen unseres Planeten, durch Höhlenschlünde, vorzeitliche Meere und Magmaströme – bis die beiden Hamburger und der Isländer mehr oder weniger wohlbehalten vom Stromboli auf Sizilien wieder »ausgespuckt« werden. Diese abenteuerliche Romanreise würde hier nicht weiter interessieren, spielten Runenzeichen zu Beginn der Handlung nicht eine bedeutende Rolle. Denn Professor Lidenbrock schleppt ein Manuskript nach Hause, das vollständig in Runen(text) geschrieben ist. Nebenbei bemerkt: In der Tat sind mittelalterliche Runenmanuskripte erhalten geblieben, aber von Snorri Sturluson hat sich derartiges nicht gefunden, bediente sich der isländische Politiker und Gelehrte (1179–1241) doch des lateinischen Alphabets. Solch historische Fehler ändern natürlich nichts an der Qualität des Verne’schen Romans. Zudem ist es nicht Snorris Manuskript, das die Handlung ins Rollen bringt, sondern ein Pergamentzettel des Alchemisten Arne Saknussemm aus dem 16. Jahrhundert. Diese Figur hat Jules Verne übrigens erfunden. Unrealistisch ist sie nicht, denn die skandinavischen Gelehrten dieser Zeit beherrschten sehr wohl die Runenschrift und waren an ihr als antiquarischer Besonderheit brennend interessiert. Arne jedenfalls verfasste seine Mitteilung nicht nur in Runen, sondern auch noch in einer Geheimschrift. Axel bleibt es vorbehalten, deren Sinn – zu seinem Schrecken – zu entschlüsseln. Danach weist nämlich der isländische Alchemist den Eingang zur »Reise zum Mittelpunkt der Erde« eben in den Krater des Snæfellsjökull an einem ganz bestimmten Zeitpunkt des Jahres. Und dort unten stoßen die Reisenden in der Tat auf weitere Runenzeichen Arne Saknussems. Dem französischen Romancier, der dem technischen Fortschritt aufgeklärt und offen gegenüberstand, dienen die alten Runenzeichen als Medium des Geheimnisvollen und Rätselhaften – das sich aber mit Vernunft entschlüsseln lässt.

Bei dem englischen Altertumsforscher und Schriftsteller Montague Rhodes James (1862–1936) sieht das schon ein wenig anders aus. Der Kenner mittelalterlicher Manuskripte – deren Katalogisierung an den Universitäten von Cambridge und Oxford gehört zu seinen wissenschaftlichen Verdiensten – schrieb für sein Leben gern Geistergeschichten. Er siedelte sie an authentisch wirkenden Schauplätzen an und ließ ab und an einen spleenigen Gelehrten in einem Antiquariat ein altes Buch finden (Otto Lidenbrock lässt grüßen). Davon geht dann allerdings kein mit Verstand zu lösendes Geheimnis aus, sondern die Manifestation des Bösen und eine dunkle Bedrohung. In einer seiner Erzählungen greift er auf Runen zurück, worauf bereits der Titel hinweist: Casting the Runes (1911; deutsch Drei Monate Frist). Diese Horrorgeschichte wurde sogar 1957 in Großbritannien verfilmt. In Night of the Demon (deutsch Der Fluch des Dämonen) bekommt es ein amerikanischer Wissenschaftler mit englischen Teufelssektlern zu tun, die ihm prompt einen Zettel zustecken, auf dem Runen geschrieben stehen. Sie sollen einen Dämon heraufbeschwören und verheißen dem Amerikaner einen nahen Tod. Nun – alles geht gut aus und der böse Protagonist wird letztendlich anstelle des Forschers vom Dämon zerrissen. Aber den Runen haftet hier etwas Dunkles und Bedrohendes an, sie dienen schlichtweg als Medium böser Mächte.

Verne und James – zwei Beispiele für die Verwendung der Runenzeichen als rätselhaftes literarisches Motiv. Daneben fanden sie seit der Romantik auch andernorts Verwendung. So schreibt der deutsche Romantiker Ludwig Tieck (1773–1853) sein symbolreiches Kunstmärchen Der Runenberg (1804) nicht über die Runen als Schriftzeichen, wohl aber um die zutiefst damit zusammenhängende Wortbedeutung des »Geheimnisses« (dazu unten mehr). Zwanzig Jahre später veröffentlicht der schwedische Bischof Esaias Tegnér (1782–1846) mit der Frithiofs saga (1825) nicht nur den ersten Weltbestseller der schwedischen Literatur, sondern auch ein Epos, in dem ab und an Runen geritzt werden. Kein Wunder, handelt das Werk doch von einer sentimental-verklärten Liebesgeschichte aus der fernen Wikingerzeit. Je mehr sich die germanischsprachigen Länder in Skandinavien, aber auch Deutschland und England mit ihrer Geschichte poetisch und nationalpolitisch auseinandersetzten, umso mehr wurden Runen als die archaischen und ideologischen Relikte der germanischen Vorzeit und der frühmittelalterlichen Wikinger wahrgenommen. Wie sehr dieses Interesse gerade in den deutschsprachigen Ländern zum Missbrauch der alten Zeichen geführt hat, wird noch in einem späteren Kapitel zu beleuchten sein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedenfalls genossen die Runen zumindest in Deutschland einen schauderhaften Ruf. Denn in den ideologischen Pseudowissenschaften des »Dritten Reiches« galten sie gleichsam als staatstragende Ideogramme. Dies fand einen prägnanten Ausdruck darin, dass man in jener Zeit sogar das allgegenwärtige Hakenkreuz als runische Eigentümlichkeit ansah. Dementsprechend griffen nach 1945 diverse neofaschistische Gruppen auf andere »echte« Runenzeichen zurück. Runen waren darum übel beleumdet und wurden ihrer mutmaßlich rechtslastigen Symbolik wegen heftigst angefeindet.

Dass die Runen mittlerweile eine Rehabilitation erfahren haben, ist dem Lebenswerk eines englischen Gelehrten geschuldet: John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973) lehrte unter anderem an der Universität Oxford die mittelalterliche englische Sprache und Literatur. Aber nachhaltigen Ruhm hat er durch seine Fantasy-Romane The Hobbit: Or There and Back Again (1937; deutsch Der Hobbit oder Hin und Zurück, 1998) und The Lord of the Rings (1954/55; deutsch Der Herr der Ringe, 1969/70) errungen; ein Ruhm übrigens, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts durch Peter Jacksons Verfilmungen der Romane als Doppeltrilogie ungeahnte globale und digitale Dimensionen annahm (Der Herr der Ringe 2001–2003, Der Hobbit 2012–2014). Sowohl in der Romanvorlage als auch in der Verfilmung des Hobbits finden Runen Verwendung, werden auf Haustüren geritzt und auf alten Karten mühsam entschlüsselt. Tolkien greift allerdings nicht auf beliebige historische Zeichen zurück, sondern benutzt seine eigenen Runen. Denn mittlerweile ist hinlänglich bekannt, dass der englische Wissenschaftler in seiner Freizeit über ein halbes Jahrhundert an einer eigenen fiktiven Welt bastelte, die wir heute unter dem Namen Middle-earth (›Mittelerde‹) kennen – obwohl Tolkiens Phantasiewelt viel größer war und darum weit darüber hinaus reichte. Er bevölkerte sie mit einer Unzahl von Wesen wie Zwergen, Elben, grässlichen Orks, kleinwüchsigen Hobbits und Menschen. Zahlreiche Elemente sind historischen Vorgaben keltischer sowie germanischer Mythen und Sagen verpflichtet, denn Tolkien siedelte sein Fantasy-Universum sehr bedacht in einer historischen Frühzeit Nordwesteuropas an. Insbesondere beherrschte er die altgermanischen Sprachen vom frühen Gotischen über das Altenglische bis zum Altnordischen, die dann neben keltischen Idiomen und dem Finnischen in seine Welt einflossen. Der Gelehrte aus Oxford verstand sich nämlich erst in zweiter Linie als Geschichtenerzähler; zuerst sah er sich immer als Erfinder von Sprachen (unter denen das »Elbische« gleichsam sein Meisterstück wurde). Und von der Kenntnis der alten germanischen Sprachen war es lediglich ein kleiner Schritt zur Verwendung der Runenschrift – die Tolkien in ihren diversen Reihen vorzüglich beherrschte. Darunter standen ihm die altenglischen Futhorc-Runen (vgl. Kap. 8) besonders nahe, deren etliche er zu einer kalligraphischen Schönschrift gestaltete. In »Mittelerde« benutzen vor allem die Zwerge die Runen, »besonders in persönlichen oder geheimen Aufzeichnungen« (Hobbit, S. 7). Tolkien schrieb ihnen gleich mehrere Runenarten zu, die Angerthas Daeron (›Lang-Runenreihen von Daeron‹), Angerthas Moria (›Lang-Runenreihen von Moria‹) und sonst wie heißen. Mit diesen die Schrift betreffenden Tiefen von Mittelerde hat Tolkiens gewöhnlicher Leser zwar nichts zu tun, an dessen dwarfrunes (›Zwergenrunen‹) kommt er indes nicht vorbei. Der Verfasser stellt seinem Hobbit (eigentlich als Kinderbuch konzipiert) nämlich eine kurze Einführung über die verwendeten alten Schriftzeichen voran, die sich auf eine von Tolkien selbst gezeichnete Karte im Buch-Innendeckel bezieht – »Thrors Karte« ist gewissermaßen eine Schatzkarte voll von rätselhaften Runen. Dies gilt vor allem für die moonrunes (›Mondrunen‹), die sich überhaupt erst bei Mondlicht lesen lassen, manchmal sogar nur während der Mondphase, in der die Runen geschrieben wurden. Übrigens sind Runen auch auf Grabinschriften und Schwertklingen zu lesen, womit Tolkien den authentischen historischen Vorbildern folgt. Bei den »Mondrunen« ließ er seiner Phantasie freien Lauf; aber wer weiß: zahlreiche Runenfunde und -inschriften mit komplizierten Verschlüsselungen harren noch ihrer Dechiffrierung. Vielleicht war Tolkien der realen Forschung bereits ein gutes Stück voraus!

Was sind Runen?

Nach dem von den Brüdern Grimm initiierten und mittlerweile klassischen Wörterbuch der deutschen Sprache sind unter Runen »schriftzeichen der germanischen geheim- und zauberschrift« zu verstehen. Obwohl sogar eine jüngere Definition sich dem Wörterbuch anschließt und Runen als »ein esoterisches Mittel mystisch orientierter Kommunikation« (Harald Haarmann. Universalgeschichte der Schrift. Frankfurt/Main 1990, S. 462) beschreibt, möchte man sie heute doch nüchterner sehen. Darum sind unter Runen erst einmal germanische Schriftzeichen zu verstehen – nicht mehr und nicht weniger. Im Gegensatz zu älteren Einschätzungen gelten sie nicht (nur) als geheimnisumwittert und magisch, sondern eben auch als geeignet zur Übermittlung profaner und nüchterner Alltagsbotschaften. Dadurch nimmt man dem vielberufenen Runenzauber freilich nichts, denn so manche Inschrift stellt für die Forschung eine harte Nuss dar, die nicht immer geknackt werden kann: magisch-sakral oder profan ist dann die entscheidende Frage. Was aber sind denn nun »germanische Schriftzeichen«? Letzteres soll im folgenden Kapitel (Die Runenschrift für Anfänger) eine Klärung erfahren. Vorweg seien allerdings die Begriffe »Germanisch« und »Germanen« kurz beleuchtet.

Die Volksbezeichnung der Germanen versteht man mittlerweile als eine Sammelbezeichnung für eine Vielzahl von Stämmen, deren Gemeinsamkeiten erst im Verlauf der letzten 500 Jahre v. Chr. greifbar werden. Sprachhistorisch und damit für die Runen von großer Relevanz entwickelt sich in dieser Zeit das gemeinsame Urgermanisch aus dem Indogermanischen oder Indoeuropäischen, dem die meisten europäischen Sprachen angehören. Daraus bilden sich letztlich die modernen germanischen Sprachen (in Skandinavien Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Färöisch und Isländisch; das Englische, schließlich Deutsch und Niederländisch, um die verbreitetsten zu nennen). Namentlich greifbar sind die Germanen erst seit dem 1. Jahrhundert v. Chr., als sie Gaius Julius Caesar in seiner Schrift Über den Gallischen Krieg (58–51 v. Chr.) berühmt machte. Seitdem sind die Germanen in den beiden Jahrhunderten um die Zeitenwende im nördlichen Deutschland und im südlichen Skandinavien archäologisch wie historisch identifizierbar. Auch wenn die betreffenden Stämme niemals eine politische Einheit bildeten, zeichnen sich doch in sprachlicher und kultureller Hinsicht deutliche Gemeinsamkeiten ab. Diese bestanden in nah verwandten Sprachen, im Fehlen einer urbanen Kultur mit städtischen Zentren und Münzwesen, in einer vom Adel und seinen Kriegergefolgschaften geprägten Stammesgesellschaft, in ähnlichen religiösen Vorstellungen und Gottheiten, in der Kunst des »Germanischen Tierstils« und nicht zuletzt im Gebrauch der Runenschrift. Die germanischen Stämme zeichnen sich nachweislich von ca. 120 v. Chr. bis 1100 n. Chr. durch Wanderungen und Landnahmen aus, aber auch durch gegenseitige Bündnisse und Zusammenschlüsse. Als erste gelangten die Kimbern und Teutonen aus Dänemark ab 113 v. Chr. bis nach Oberitalien, wo sie von den Römern unter großen Mühen geschlagen wurden. Den Abschluss der germanischen Völkerwanderungen bildeten die Raubzüge, Landnahmen, Auswanderungen und militärischen Interventionen der skandinavischen Wikinger (Wikingerzeit 793–1066 n. Chr.), die nachhaltig auf den Britischen Inseln, im Nordatlantik (Island, Grönland u. a.), in der Normandie (nach den Normannen, den »Nordmännern« bezeichnet) sowie im Baltikum und Russland agierten. Besondere Bedeutung erlangten die im 3. Jahrhundert n. Chr. sich zusammenschließenden Großstämme der Alamannen, Franken und Sachsen, später die Thüringer und Bajuwaren. Gleichzeitig bildeten sich in Osteuropa Stammesbündnisse, wie die West- bzw. Ostgoten, Burgunden und Vandalen. Diese Ostgermanen begründeten während der Völkerwanderungszeit (375–568 n. Chr.) auf römischem Reichsgebiet vorübergehend eigene Reiche: die Westgoten in Südwestfrankreich respektive Spanien, die Vandalen in Nordafrika, die Ostgoten in Italien und die Burgunden am Mittelrhein bzw. in der nach ihnen benannten Region um den Genfer See und Ostfrankreich. Die aus dem Rhein-Weser-Gebiet über den Rhein vorgedrungenen Franken gründeten gegen 500 n. Chr. das nach ihnen benannte Reich, das sich rund 300 Jahre später unter Karl dem Großen über Frankreich, das westliche Deutschland, Oberitalien sowie weitere Gebiete Europas erstreckte und zu einer Keimzelle des mittelalterlichen Abendlandes wurde. Auch die um 450 n. Chr. nach England ausgewanderten Angeln, Sachsen und Jüten begründeten dort mit ihren sieben Königreichen langwährende Herrschaften.

Die germanischen Stämme gliedert man in verschiedene Untergruppen: Die West- bzw. Südgermanen setzen sich zusammen aus den Elbgermanen (u. a. Langobarden, Hermunduren und Semnonen), den Nordseegermanen (Friesen, Angeln und Sachsen) und den Rhein-Weser-Germanen (Franken). Aus ihnen bildeten sich die späteren Großstämme der Franken, Alamannen, Sachsen, Thüringer, Bajuwaren und Langobarden. Die Nordgermanen in Skandinavien entwickelten sich zu den Völkern der Dänen, Schweden, Norweger, Isländer und Färöer. Zu den Ostgermanen gehörten insbesondere die West- und Ostgoten, die Vandalen, die Burgunden und Rugier. Unter all diesen Stämmen war der Gebrauch von Runen verbreitet, allerdings zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlich starker Verwendung. Je nachdem muss bei Runeninschriften zwischen den diversen germanischen Sprachen unterschieden werden, etwa gemeingermanisch, gotisch, altenglisch, altnordisch oder altsächsisch.

Die Germanen kannten vor der erst viel späteren Annahme des Christentums und dem damit verbundenen Gebrauch des lateinischen Alphabets weder Manuskripte bzw. Bücher noch eine geläufige Buchschrift. Was sie sich mitzuteilen und zu erzählen hatten geschah mündlich – und das nicht selten über mehrere Generationen hinweg. Umso bemerkenswerter ist es, dass sie dann doch mit Sicherheit nachweisbar seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. eigens entwickelte Schriftzeichen verwendeten. Die Runen dienten dementsprechend nicht als Buchschrift, sondern wurden für Inschriften genutzt. Über ein ganzes Jahrtausend finden sie sich auf den unterschiedlichsten Gegenständen in wechselndem Umfang. Diese Inschriften reichen von einem einzigen Zeichen bis zur längsten bis dato gefundenen Runenritzung, die mit sage und schreibe 750 Zeichen einen längeren Text umfasst (Runenstein von Rök). Über viele Jahrhunderte verwendet man jedoch nur kurze Inschriften, die etwa auf Schwertklingen, Lanzenblättern, Schmuckstücken wie Ringen und Fibeln sowie auf Gebrauchsgegenständen, bspw. Kämmen oder Holzmöbeln, zu finden sind. Mit den Brakteaten verzieren die Schriftzeichen prachtvolle Medaillons aus Gold, die als Amulette getragen wurden. Sogar auf einem menschlichen Schädelfragment ist man auf Runen gestoßen, die offensichtlich magischen Zwecken dienten (Schädelknochen von Ribe). Die Germanen ritzten ihre Zeichen demgemäß auf ganz unterschiedlichen Materialien wie Metall (Gold, Silber, Eisen, Bronze u. a.), Knochen, Leder und Holz, wobei letzteres leider nur selten erhalten geblieben ist.

Schließlich wären noch die zweifelsohne spektakulärsten Runenträger zu nennen, nämlich zu diesem Zweck aufgerichtete Steine sowie natürliche Felsblöcke und -platten. Diese aufwändige Sitte pflegten anscheinend nur die Nordgermanen, bei denen sie seit der Völkerwanderungszeit nachweisbar ist. Höhepunkt und Blütezeit der Runensteine ist aber erst die Epoche der Wikinger vom Ende des 8. bis ins 11. Jahrhundert. Mit dem Schwerpunkt Dänemark und Schweden, erheblich weniger in Norwegen, errichteten die Skandinavier regelrechte Runendenkmäler, die oftmals mit reichen Ornamenten und Bildmotiven verziert wurden. Zumeist dienen die Inschriften dem Gedenken von Verstorbenen, nicht selten unter Hinweis auf ihre ruhmreichen Taten. Auf dem großen Runenstein von Jelling rühmt sich um 960 der damals noch lebende dänische König Harald Blauzahn seiner politischen Taten, was dieses prächtige Monument zu einer steinernen Gründungsurkunde Dänemarks macht. Harald rühmt sich insbesondere der Einführung des Christentums, und in der Tat schienen die neue Religion und die alte Runenschrift (deren Schöpfung immerhin dem Gott Odin zugeschrieben wurde) gut miteinander auszukommen. Niemals sind mehr Runensteine gesetzt worden als im 11. Jahrhundert im schwedischen Uppland von christlichen Auftraggebern! Folgerichtig fanden die Runen auch später noch im mittelalterlichen Skandinavien Verwendung, so auf Kirchenglocken und liturgischen Geräten, selbst auf Taufbecken und das unter Anrufung Gottes und Marias. Aber schließlich wird der sogenannte epigraphische Gebrauch der Runen vollends von der lateinischen Schrift verdrängt. Übrig bleiben die Buchrunen der Pergament- und späteren Papierhandschriften, die dem Interesse von Gelehrten zu verdanken sind. Bereits um 800 verzeichneten Kleriker Runen in ihren Manuskripten – im Bewusstsein es mit einer heidnischen Schrift zu tun zu haben, deren Kenntnis und Anwendung die Missionierung im Norden wohl erleichtern sollte. Dem folgte eine gelehrte Tradition, die auf Island noch bis ins 18. Jahrhundert hinein zu bezeugen ist. Die Bauern im abgelegenen schwedischen Dalarna sollen sogar noch bis ins 19. Jahrhundert das Runenschreiben als Volksbrauchtum gepflegt haben, wobei es zweifelhaft ist, ob sich die verwendeten Zeichen in dieser Form auch schon für die Wikingerzeit belegen lassen. Bleibt noch hervorzuheben, dass wir für das erwähnte Jahrtausend epigraphischen Runengebrauchs von drei Runenreihen ausgehen: Unter allen Germanenstämmen fand das sogenannte ältere Futhark Verwendung; bei den Südgermanen bis ins 7. Jahrhundert n. Chr., bei den Nordgermanen bis gegen 800, die dann zum jüngeren Futhark wechseln, das als die Runenreihe der Wikinger weite Verbreitung fand. Angelsachsen und Friesen entwickelten parallel dazu mit dem Futhorc eine eigene Reihe von Runenzeichen.

Wo hat man die diversen Objekte mit Runenritzungen gefunden? Zuerst einmal natürlich in jenen Gebieten, in denen Germanen auf kurz oder lang siedelten. Das gilt für Mitteleuropa, aber auch für weiter östlich gelegene Länder, wo die Ostgermanen während der Völkerwanderung zumindest vorübergehend eine Heimat fanden, sowie für weite Teile Skandinaviens. Den umtriebigen Wikingern des frühen Mittelalters ist es geschuldet, dass Runeninschriften auch weiter entfernt entdeckt werden konnten. Demnach reicht das Verbreitungsgebiet von Grönland im Norden bis nach Piräus und Istanbul im Süden, von Irland im Westen bis zum Dnjepr und dessen Mündungsgebiet im Osten. In diesem riesigen Gebiet fanden sich bislang rund 6500 Runendenkmäler, also Gegenstände ganz unterschiedlicher Größe mit mal kürzeren, mal längeren Inschriften. Die meisten entstanden im Skandinavien der Wikingerzeit, nämlich mehr als 90 %: In Schweden zählt man 3600 Runeninschriften (darunter 2500 Runensteine), gefolgt von Norwegen (1600) und Dänemark (850). Island und Grönland bieten immerhin noch jeweils um die 100 Inschriften, während es in anderen Wikinger-Siedlungsgebieten wie den Färöer- und Orkney-Inseln sowie Irland insgesamt nur ein paar Dutzend sind. Dagegen fanden sich bislang nur etwa 370 im älteren Futhark verfasste Inschriften, davon etwa 80 in Deutschland und anderen Ländern des Kontinents südlich Skandinaviens. Den ostgermanischen Goten rechnet man lediglich 10 zu. Auch die Futhorc-Funde sind mit 110 an der Zahl recht überschaubar (davon 90 in England).

Raunen Runen?

Ob diese Frage töricht ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schwingt bei dem Wort »Rune« eine Geschichte und Bedeutung mit, die ihm seit langem eine geradezu magisch-mystische Aura verleiht (man vergleiche nur oben Tiecks Runenberg). Andererseits bleibt festzuhalten, dass man im Deutschen den Gebrauch dieses Wortes verlernt hatte. Im 17. Jahrhundert schließlich nahmen deutsche Gelehrte die eifrigen Runenforschungen ihrer skandinavischen Kollegen zur Kenntnis. Diese kannten das Wort und bezeichneten damit die Schriftzeichen ihrer Altvorderen. In Deutschland tat man es ihnen gleich und entlehnte einfach das nordische Wort ins Deutsche. Seitdem findet es sich zunehmend in der gelehrten und schöngeistigen Literatur, so schreibt etwa Justus Georg Schottelius (1612–1676) in seinem Werk Teutsche Sprachkunst (1641) von »runen und skalder«. Damit griff man allerdings nicht auf ein der deutschen Sprache völlig fremdes Wort zurück, sondern erahnte und entdeckte eine sehr alte Verwandtschaft.

Im 6. Jahrhundert n. Chr. bietet sich der italienische Dichter Venantius Fortunatus, Bischof von Poitiers, als Kronzeuge des Wortes an. Er reiste viel im fränkischen Merowingerreich umher und lernte so manche germanische Eigenart kennen. Darum erwähnt er auch eine barbara runa (›barbarische Rune‹), die man auf eschene Tafeln schreiben bzw. ritzen könne. Dass er damit völlig richtig ein germanisches Wort zitiert, belegt dessen Vorkommen in den altgermanischen Dialekten: In der frühesten Überlieferung des Gotischen heißt es im 4. Jahrhundert n. Chr. rūna, ebenso wie später im Altenglischen, Altsächsischen und Althochdeutschen. Dem altnordischen Wort rún wird die Bedeutungsvielfalt ›geheimes Wissen, magisches Zeichen, Schriftzeichen, Buchstabe, Schrift‹ zugeschrieben (Walter Baetke. Wörterbuch der altnordischen Prosaliteratur). Die Grundbedeutung aller dieser Wortformen scheint »Geheimnis« gewesen zu sein. So findet es noch im hochmittelalterlichen Mittelhochdeutsch Verwendung (rûne; vgl. althochdeutsch rūnen ›heimlich flüstern‹). Dass »Runen« und »raunen« eng zusammengehören, belegt unser neuhochdeutsches Wort Geraune, das nämlich als gotisch garūni und altsächsisch sowie althochdeutsch girūni ›Geheimnis‹ und ›geheime Beratung‹ bedeutete. Dieses Geheimnisvolle liegt ebenso unserem Verb »raunen« zugrunde wie der Alraune des Volksglaubens, der Wurzel der Mandragora, der man wegen ihrer menschenähnlichen Gestalt ganz besondere Wirkungen zuschrieb. Warum war aber nun das Wort Rune der neuhochdeutschen Sprache verlorengegangen? Weil sie es in der wahrscheinlichen Bedeutung der alten Schriftzeichen überhaupt nicht mehr kannte. Als rūna wäre es nach der Lautentwicklung ohnehin zu »Raune« geworden, was unterblieb. Deshalb verwenden wir im Deutschen (wie auch im Englischen) das alte nordgermanische Wort, dem eine grundsätzliche Nähe zum Geheimnis nicht abzusprechen ist.

2. WIE WERDE ICH RUNENMEISTER?

DIE RUNENSCHRIFT FÜR ANFÄNGER

Von Runenmeistern und Runenmeisterinnen

Beginnen wir mit einem Runenstein, der zu den ältesten seiner Art zählt, vielleicht sogar der älteste überhaupt ist: Der Stein von Einang erhebt sich mit einer Höhe von knapp anderthalb Metern in der Landschaft Valdres in der südostnorwegischen Region Oppland im Innern des Landes. Dieses Gebiet östlich des 46 km langen Binnensees Slidrefjord zeichnet sich durch eine archäologische Besonderheit aus. Es befindet sich dort eines der größten Gräberfelder Norwegens, das uns in die Zeit vor 1500 Jahren zurückführt. Mehr als 650 Grabhügel sind bis heute erkennbar (ursprünglich müssen es erheblich mehr gewesen sein). Vor bzw. während der Völkerwanderungszeit befand sich hier, nördlich des heutigen Oslo, offensichtlich eine zentrale Begräbnisstätte der einheimischen Nordgermanen. Die Reste der üblichen Grabbeigaben, unter anderem Schildbuckel und Schwerter, sprechen dafür, dass hier zahlreiche Krieger bestattet wurden. Inmitten der mal kleineren, mal größeren Grabhügel thronte der Stein von Einang auf einem der gewaltigsten, dessen Durchmesser 15 m betrug. Solche großen Hügelgräber kennzeichneten die Bestattungsorte der regionalen Häuptlings- und Adelsschicht. Manchmal errichtete man auf der Spitze eines Grabhügels einen sogenannten Bautastein, dessen Höhe mehrere Meter betragen konnte. Der Stein allein gemahnte zur Erinnerung an den Toten. Dieser Tradition folgte auch der Einang-Stein, allerdings mit einer Neuerung: In seinen Schiefer ritzte man gut sichtbare, etwa 7 cm hohe Runenzeichen. Deren Reihenfolge verläuft von oben nach unten; die ersten Runen sind mit abgesplittertem Schiefer verloren gegangen. Doch glaubt man, dass die Inschrift folgendermaßen lautete:

[ekgo(oder u)] daga[s]tiR runo faihido, ›Ich Gudagast malte die Rune.‹

Ein Mann namens Gudagast (der Name muss erschlossen werden) nennt sich also als derjenige, der diese Inschrift »gemalt« hat (zu »malen« und »ritzen« vgl. unten). Man geht davon aus, dass dieser Mann ein Runenmeister war, der sich hier vielleicht gegen 400 n. Chr. gleichsam verewigt hat. Außerordentlich bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass sich auf dem Grabhügel nur dieser eine Bautastein erhob mit eben jener Runeninschrift. Der Name des Toten wird nicht genannt, von seinen Ruhmestaten als Krieger ist nichts zu lessen. Nur der Runenmeister Gudagast bleibt mit seinen Runen der Nachwelt erhalten. Das spricht für seine Bedeutung, denn er vollbrachte sein Werk vor den Verwandten des Toten, womöglich mit Wissen des ganzen Stammes.

Von den Runen muss eine eigentümliche Macht ausgegangen sein, die Schutz und Frieden des Grabes gewährleistete. Das heißt zum einen, dass die Inschrift die Ruhe des Toten vor Grabfrevel sicherte (Grabbeigaben lockten auch unter den Germanen Diebe an); zum anderen verhieß sie jedoch auch den umwohnenden Menschen Schutz vor dem Toten, der als Wiedergänger umgehen konnte. Dieser Glaube ist durchaus unter den Germanen bezeugt. Die Anbringung von Runen war hier also kein harmloser Akt, den jedermann beherrschte. Ein Runenmeister musste her, der hohe Verantwortung trug und insofern ein hoch geachteter Mann war.

Das altisländische Wort rúnameistari ist erstmals in einer Pergamenthandschrift aus der Zeit um 1325 überliefert (Codex Wormianus der Snorra Edda). Fast ein Jahrtausend nach der Runenritzung des Einang-Steines hat man den Runenmeister zumeist mit dem Runenschreiber gleichgesetzt. Und so wollen wir es auch in diesem Kapitel handhaben. Aber nach allem, was man weiß, waren eben die alten Runenmeister ganz anders aufgestellt. Allein das Schreiben von Runen, die rein technische Ausführung also, gehörte zu ihren geringsten Aufgaben, die sie womöglich sogar als Auftragsarbeit weitergaben. Ob das Einritzen in Stein oder Metall, das Schneiden in Holz oder das Meißeln in Stein – dafür waren handwerkliches Geschick und eine sichere Hand gefragt. Streng genommen musste ein Runenschreiber gar nicht die Runen beherrschen, er konnte genauso gut nach einer Vorlage und den Anweisungen des Meisters arbeiten. Dieser hingegen musste zweifellos die germanische Schrift beherrschen, aber er musste auch über jenes tiefgründige Wissen verfügen, das Thema dieses Kapitels und weiterer Teile dieses Buches ist. Dieses Wissen befähigte ihn, eine Inschrift unter vielerlei Gesichtspunkten zu entwerfen: etwa, wer der Tote war und was seine Nachkommen wünschten, wo sich sein Grab befand und was dies für die Gemeinschaft der Sippe oder des Stammes bedeutete.

Dafür benötigte der Runenmeister die genaueste Kenntnis darüber, welchen Laut eine Rune überhaupt repräsentierte. Dies entsprach unserer Verwendung des lateinischen Alphabets, machte aber nur einen Teil des Runenwissens aus. Denn wie wir noch sehen werden, stand die einzelne Rune nicht nur für einen Laut, sondern auch für einen ganz bestimmten Begriff. Von dem, was damit an Wissen verbunden war, kennen wir zweifelsohne nur einen Bruchteil. Jedenfalls gehörte es zum Herrschaftswissen und umfasste etliche Aspekte des Gemeinschaftslebens wie Abstammung, Mythen, Götterglaube und magische Rituale. Darum dürften die Meister und ihre Schüler erheblich mehr als bloße »Schreiberlinge« gewesen sein. Sie gehörten zur Geisteselite ihrer Gemeinschaft, deren Wissen vom Weltganzen bis zum kürzesten Runenstrich reichte. Wahrscheinlich umgab den Runenmeister so etwas wie eine religiöse Aura. Seine Schriftzeichen wurden nämlich auf den Gott Odin zurückgeführt, der sich gemäß dem Mythos für ihren Erwerb selbst geopfert hatte. Insofern konnten Runen als göttliche Zeichen verstanden werden. Diesen religiösen Aspekt verstärkte das Wissen um magische Runen und ihre Wirkung, womit man folglich die höheren Mächte zwingen und Heil oder Unheil bewirken konnte.

Auf dem Stein von Einang deutet alles auf einen machtvollen Runenmeister hin. Bei vielen anderen Inschriften kann man sich einer solchen Zuweisung allerdings nicht sicher sein; denn der Begriff ist bekanntlich erst viel später üblich geworden. In Runeninschriften findet er sich nicht! Dafür sprechen dann allenfalls sogenannte Runenmeister-Formeln, in denen jemand seinen Namen nennt, dazu noch einen Decknamen wie zum Beispiel ungandiR, ›der Zauberlose‹, und das Ganze mit einem Verb verbindet, das dem Wortfeld der Schreib- bzw. Ritztechnik zugeschrieben werden kann. Das sind vor allem *wrītan (›reißen, ritzen, anbringen‹; vgl. englisch to write), *faihian (›färben, malen‹) und *wurkian (›herstellen, fertigen‹; vgl. »wirken«). Dem folgt dann nicht selten noch ein Objekt wie »Runen« (Ich N. N. ritzte die Runen). Solche oder ähnliche Formulierungen kann man vor allem auf schwedischen Runensteinen des 11. Jahrhunderts lesen. Mehr als 100 überlieferte Einzelnamen sprechen von ebenso vielen Runenmeistern. Diese dürften zu jener Zeit ihren ursprünglich magischen Nimbus längst verloren und nur als gute Handwerker gegolten haben.

Wiederum ein halbes Jahrtausend früher stoßen wir auf ein Wort, das in Runenritzungen den Runenmeister bezeichnete und bis heute von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben ist. Das bezeugt ein weiterer eindrucksvoller Runenstein, der Stein von Järsberg, unweit des Nordufers des Vänersees in der mittelschwedischen Provinz Värmland gelegen. Dort erhebt sich der Gneisgranit fast zwei Meter über den Boden. Wahrscheinlich war er ursprünglich Teil eines beeindruckenden Steinkreises, der am uralten Verbindungsweg zwischen dem schwedischen Mälarsee und dem norwegischen Vestfold (am Oslofjord) einen markanten Blickfang darstellte. Dort reisten Menschen zwischen zwei wohlhabenden Zentren ihrer Länder. Ob das etwas mit der Errichtung des Steins zu tun hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls scheint er kein Grab gekennzeichnet zu haben, als er irgendwann um das Jahr 500 n. Chr. aufgestellt wurde. Die Runen, bis zu 13 cm hoch, lassen sich in wechselnder Richtung wie folgt lesen:

UbaR h[a]itē HrabnaR h[a]itē ek erilaR rūnōR wrītu, ›Ub heiße ich, Hrabn heiße ich, ich Eril schreibe die Runen‹. Der mutmaßliche Runenmeister nennt sich hier mit drei Namen: »Ub« stellt man gern zum altnord. úfr, ›tückisch‹, und versteht es als seinen Decknamen. »Hrabn« (›Rabe‹) ist ein häufiger Personenname, wonach der Meister so genannt worden sein dürfte. »Eril« schließlich ist sein Titel und auf den kommt es uns an. Denn als erilaR, ›Eril‹, bezeichneten sich die alten Runenmeister mit einem Wort, das nur in acht Inschriften des 6. Jahrhunderts n. Chr. überliefert und wohl als Berufs- und Standesbezeichnung zu verstehen ist. Immer findet es in der Formulierung ek erilaR ›ich Eril‹ Verwendung. Die Ursprünge des Wortes sind ebenso unbekannt wie seine eigentliche Bedeutung. Manchmal stellt man es in Zusammenhang mit dem germanischen Stammesnamen der Eruler bzw. Heruler (dazu mehr in Kap. 4). Auch mit der späteren altnordischen Häuptlingsbezeichnung Jarl wollte man es verwandt sehen (was mittlerweile jedoch als unwahrscheinlich gilt). Bleibt nur, was die Skandinavier um das Jahr 500 n. Chr. darunter verstanden – und das war die weitreichende Standesbezeichnung des Runenmeisters. Einige der Inschriften bestehen sogar nur aus der Formulierung ek erilaR, etwa auf der knapp 14 cm langen Fibel von Bratsberg im norwegischen Telemark. Dieser silberne Prachtschmuck für eine wohlhabende Adlige trug auf seiner Rückseite eben jene Wendung. Sollte der Eril-Name der Trägerin Glück bringen oder sie vor bösen Mächten schützen?

Sehr wahrscheinlich beherrschten auch Frauen die Runenmeisterschaft, obwohl sich dies nicht eindeutig klären lässt. Allerdings genossen Seherinnen und Wahrsagerinnen unter den Germanen seit frühesten Zeiten hohen Respekt. Mit der Erfindung und Verbreitung der Runenschrift könnten insofern auch sie auf deren Magie zurückgegriffen haben. Die runenkundigen Wikinger kannten solche weisen Frauen unter der Bezeichnung Völva (eigentlich ›Stabträgerin‹). Um das Jahr 1000 soll eine solche Seherin namens Thorbjörg litilvölva (›die kleine Seherin‹) in den grönländischen Wikingerkolonien ihrem Geschäft nachgegangen sein. Die isländische Saga von Erik dem Roten (Eiríks saga rauđa) schildert in epischer Breite ihren Besuch auf einem Bauernhof, wo sie sich auf einen Zauberstuhl setzt, man ihr ein Zauberlied singt und sie schließlich die Zukunft weissagt. Runen werden in dieser literarisch ausgeschmückten Szenerie nicht erwähnt, aber sie hätten vorzüglich zu Thorbjörg gepasst. Von Grönland wechseln wir nun auf die Baar an den Ostrand des Schwarzwaldes: Dort finden wir unter den Alamannen Beweise dafür, dass Frauen zumindest Runen ritzen konnten. Bei Neudingen wurden die Reste eines Grabes geborgen, in dem um 530 n. Chr. eine wohlhabende Alamannin mit reichen Beigaben bestattet worden war. Darunter befanden sich sogar Holzmöbel und die Reste eines Webstuhls. Auf einem 43 cm langen Holzteil entdeckte man darüber hinaus eine Runeninschrift: lbi imuba hamale bliþguþ uraitruna, ›Liebes (liubi) von Imuba für Hamal (oder von Hamal für Imuba), Blidgund schrieb die Runen‹. Eine Frau (Imuba) oder der Mann (Hamal) wünscht dem Partner bzw. der Partnerin alles Liebe. Diese sehr persönliche Mitteilung bedurfte offensichtlich einer Runenritzerin namens Blidgund, was die weibliche Runenkompetenz beweist.

Ein prägnantes Beispiel bietet der zwei Meter hohe Runenstein von Jättendal im schwedischen Hälsingland (nördlich des Mälarsees). Dort ließen im 11. Jahrhundert zwei Kinder für ihren verstorbenen Vater dieses granitene Denkmal zum Gedächtnis setzen. Und wer »malte« das Ganze in den Stein? Es war eine Frau namens Gunnborga, genannt die Gute. Überhaupt spielen Frauen dieser Gegend bei der Errichtung von Runensteinen eine herausragende Rolle; zumeist zwar als Auftraggeberinnen, aber die eine oder andere dürfte eben auch runenkundig gewesen sein.

Beispiele für weibliches Geheimwissen über Runen bietet die spätere Literatur vor allem in Island. In den Heldenliedern der Älteren Edda (niedergeschrieben um 1270) erweckt der Nibelungenheld Sigurd die Walküre Sigrdrifa aus ihrem Dauerschlaf. Als Dank dafür nennt sie ihm eine Fülle von Runenweisheiten, etwa »Rederunen«, »Bierrunen« oder »Siegrunen« (Sigrdrifalied 6: »Siegrunen musst du kennen, wenn du Sieg haben willst, und auf den Griff des Schwerts ritzen, einige auf die Spitze, einige auf das Schwertblatt, und nennen musst du zweimal Tyr«). Die Heldin Gudrun ritzt gar Geheimrunen, um ihre Brüder Gunnar und Högni vor ihrem Mann zu warnen (Grönländisches Atlilied 4). Und dann ist es Högnis Frau Kostbera, die die Runen entschlüsseln kann (Grönländisches Atlilied 9: »Kundig war Kostbera, sie kannte die Runen …«). Auch Zauberinnen, wohlhabende Bauersfrauen und Ammen sind in den isländischen Sagas der Runenschrift kundig (die Beispiele finden sich in der Bósa saga, der Egils saga und der Grettis saga). Bei aller literarischen Ausmalung belegen sie das enge Verhältnis der Frauen zu den Runen. Nichts spricht folglich gegen die Vorstellung von Runenmeisterinnen.