Rüpel in Roben - Tomek Lehnert - E-Book

Rüpel in Roben E-Book

Tomek Lehnert

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Beschreibung

Wenn ein spiritueller Führer/Meister des tibetischen Buddhismus stirbt, hinterlässt er oftmals hinweise über seine nächste Inkarnation, damit diese gefunden und ausgebildet werden kann, seine Aufgaben/Pflichten wieder aufzunehmen. Als der sechzehnte Karmapa, das Oberhaupt der Karma Kaygü Linie, 1981 starb, begann unmittelbar die Suche nach seinem Nachfolger. Dies ist die Geschichte der politischen Verworrenheiten/Einflüssen und Intrigen, die mit seiner Auffindung in Zusammenhang standen. Daher sollte es (das Wiederfinden) keine leichte Aufgabe werden, wie es aus der Sicht eines westlichen Betrachters erzählt wird.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Impressum

Verlag

Buddhismus Heute des Buddhistischen Dachverbands Deutschlands (KKD) e.V.

Heinkelstr. 27, 42285 Wuppertal

Copyright 1998 © Tomek Lehnert

Veröffentlicht bei: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.co.uk

ISBN 978-3-7375-7033-6

Die englische Originalausgabe erschien 1998 bei

Blue Dolphin Publishing, Nevada City, California, USA

Übersetzung: Erik Weiss, Daniel Johnson, Peter Speier und Susi Steed

Gesamtgestaltung, Satz: MAC

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Vorwort

Am Morgen des 13. Dezember 1981 wachte Polen - mein Heimatland - in einer bestürzenden Realität auf. Wenige Stunden zuvor, um Mitternacht, hatte die kommunistische Regierung die Nation mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes überrascht. Gespenstische Fernsehsprecher in Polizeiuniformen grüßten die fassungslosen Zuschauer mit Androhungen von langen Gefängnisstrafen und sogar dem Tod für all jene, die es wagen sollten, den neuen Militärgesetze Widerstand entgegenzusetzen. Die einfachsten Grundrechte unserer Landsleute wurden außer Kraft gesetzt. Die Regierung hatte vor, die „Bewegung Solidarität“ zu vernichten und so das Land wieder in eine sowjetische Umlaufbahn zu befördern.

Trotz der bedrohlichen Nachrichten, die in allen staatlichen Massenmedien auftauchten, gingen am nächsten Tag Tausende auf die Straßen, um gegen das rigorose Durchgreifen der Kommunisten zu protestieren. Fabriken schlossen ihre Tore und Studenten besetzten die Universitäten. Als wir uns in Danzig (Gdansk), meiner Heimatstadt und der Geburtsstätte der „Solidarität“, mit der berühmt-berüchtigten Bereitschaftspolizei „Zomo“ Straßenschlachten lieferten, hatten wir - vielleicht etwas naiv - die Hoffnung, daß unsere frisch erworbene Freiheit siegen könnte.

Zehn Tage später rollten Panzer in die Danziger Leninwerft, die letzte Festung der Protestierer. Die paar hundert Arbeiter, die das Werk noch besetzt hielten, wurden zusammengetrieben, geschlagen und verhaftet. Eine Handvoll Studenten, meine Freunde, die sich innerhalb des Werksgeländes verbarrikadiert hatten, teilten das Schicksal der Arbeiter. Die Regierung verkündete triumphierend, daß die anti-sozialistischen Elemente ausgemerzt worden seien und somit die „Gewerkschaft Solidarität“ - die Wiege des Imperialismus - abgeschafft sei. Eine dunkle Wolke zog sich über Polen zusammen und wir sahen wie sich unsere Träume in Nichts auflösten.

Wenn ich heute auf diese Tage zurückblicke, so erinnere ich mich an die Gefühle der Frustration und des Zorns, die die meisten von uns in Polen hatten. Für unsere Gruppe von Freunden in Danzig sollte aber die bittere Stimmung des Landes bald einer freundlicheren Denkweise weichen. Die trostlose und unruhige Realität mit der wir konfrontiert waren, löste eine gründliche Selbstbeobachtung und die Suche nach bleibenden Werten aus. Anfänglich noch scheu, streckten wir unsere Hände nach einer uralten östlichen Philosophie aus. Sechs Monate Ausnahmezustand später - als ob er auf unser neu gefundenes spirituelles Interesse antworten wollte - erreichte ein buddhistischer Lama unsere aufrührerische Stadt. Für uns ergab sich damals in dem abgeschotteten Land eine einmalige Gelegenheit. Uns war bewußt, daß das kommunistische Polen nicht gerade der ideale Nährboden für religiöse Lehrer war und so eilten wir zur Akademie der Künste um den buddhistischen Meister Ole Nydahl zu treffen.

Der athletische Däne der auf die Bühne sprang und den paar hundert Zuschauern ein breites Lächeln zuwarf zerstreute sogleich jedermanns Vorstellung von einem Guru. Er riß Witze, machte sich über die verachtete Obrigkeit lustig und - nicht im geringsten von den Geheimpolizisten eingeschüchtert, die sich unter die Menge gemischt hatten - ließ keinen Zweifel aufkommen, was er über die kommunistische Diktatur dachte. Sofort sahen meine Freunde und ich jemanden, mit dem wir uns identifizieren konnten. Aber als der westliche Lama zum Kern seines Vortrages kam, wurde sein persönliches Erscheinungsbild noch hundertfach von seiner Botschaft übertroffen. Die Logik, Klarheit und Weisheit des Buddhismus beeindruckte uns zutiefst. Hier wurde uns ein einzigartiges Werkzeug angeboten, um das Leben zu meistern, ein System, das die Störungen des Bewußtseins in Vollkommenheit umwandelte. Und was noch wichtiger war, wir konnten jeden Aspekt unserer Aktivität in das Streben nach Befreiung und Erleuchtung mit einbeziehen. Nun konnten wir das Unrecht bekämpfen, ohne dabei die Unterdrücker hassen zu müssen. Der Lama betonte, daß man seinen Alltag meistern kann, wenn man frei von den blendenden Emotionen ist, „die verhindern, daß wir sehen was wirklich da ist“. Völlig überzeugt nahmen wir den Buddhismus wie enthusiastische Idealisten an, die einen noblen Kampf verloren hatten, nur um statt dessen eine andere wertvolle Aufgabe zu finden.

Dies war der Beginn meiner spirituellen Reise, die mich an der Seite von Lama Ole auf die vielbevölkerten Wege mehrerer Kontinente bringen sollte. Ich begleitete Ole und seine Frau Hannah auf ihrer Odyssee, den tibetischen Buddhismus in die moderne Welt zu bringen. Es war eine faszinierende Herausforderung, ein Wettlauf gegen die Zeit, um das unvergleichliche Wissen Tibets zu retten, bevor die kommunistischen Chinesen es endgültig zerstören würden. Es war ein Unternehmen das nicht nur ein tiefes Vertrauen in das buddhistische System, sondern auch ein unerschütterliches Vertrauen in die hohen tibetischen Lamas mit sich brachte, die dieses System übertrugen. Die Rinpoches - so der Name der ehrwürdigen Lehrer - waren Beispiele einer großen Verwirklichung. Auch wenn sie noch nicht ganz die endgültige Erleuchtung erreicht hatten, so waren sie dennoch auf dem besten Weg dort hin. Zumindest dachten wir das.

Dann kam das Jahr 1992, ein Jahr, an das man sich noch lange in den Annalen des tibetischen Buddhismus erinnern wird. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brach eine peinliche und unerbittliche Fehde zwischen den Lamas unserer Karma Kagyü-Linie aus. Während die ganze buddhistische Welt ihren Atem anhielt, konnte man beobachten, wie eine Gruppe von Kagyü-Meistern bedenkliche Vorwürfe erhob. Es tauchten Beweise auf, die auf eine heimliche Verschwörung die Kagyü Schule zu übernehmen hindeuteten. Eine bedeutende Persönlichkeit der Linie wurde mit dem kommunistischen China in Verbindung gebracht. Verrat war das Wort, das einem in den Sinn kam.

Es war mehr, als viele im Westen vertragen konnten. Wir hatten das Gefühl, daß unser Idealismus verraten worden war. Und wieder sah ich Panzer, die durch die Tore der Danziger Werft ratterten. Es gab keine Alternative, man mußte sich gegen diesen Mißstand auflehnen. Schon von Beginn an protestierten und kämpften Lama Ole und Hannah gegen diese Manipulation. Während der nächsten Jahre stellten sie sich gegen Regierungen, Würdenträger und mächtige Organisationen und versuchten, die Verschwörer zu entlarven und die Kagyü Schule zu schützen - ein Unterfangen, das mit hohen Risiken und Schwierigkeiten verbunden war.

Dieses Buch ist eine Chronik unserer Suche nach der Wahrheit. Es entstand aus einem unwiderstehlichen Verlangen, sich nicht dem Betrug und der Tyrannei zu beugen, etwas wofür die Menschen in Polen äußerst empfindsam gewesen waren. Es ist auch ein Versuch Tibet zu entmystifizieren und den Konflikt unter einer historischen Perspektive zu betrachten. Vielleicht schockiert dieses Buch einige wegen dem kompromißlosen Stil und den herben Schlußfolgerungen, aber die dargelegten Fakten verlangen nach einer rigorosen Analyse und ebensolcher Kritik. Zur selben Zeit ist dieses Werk aber auch eine Einladung, die wahren Schätze die Tibet bewachte zu ergründen: die Belehrungen Buddhas, die immer vollkommen sind. Es gibt sehr viel Eisen, aber nur wenig Gold und das Königreich im Himalaya bildete da keine Ausnahme. Der Leser dieser Seiten ist aufgefordert, das Gold vom Eisen zu trennen und der Zukunft des Buddhismus eine reine und unerschütterliche Form zu geben.

La Jolla, Kalifornien

21. Mai 1998

Danksagung

Dieses Buch wäre nicht ohne die unschätzbare Hilfe von Freunden rund um die Welt möglich gewesen. Während viele zur endgültigen Fassung beitrugen, mochte ich vier Leute erwähnen, die mir wertvollen Rat gaben, Mut machten und meinen ersten literarischen Versuch in eine lesbare Form brachten. Einen ganz herzlichen Dank an Euch, Stephen james, Don Marshall, Brooke Webb und Lara Brainstein aus Cambridge (England), Sydney (Australien), San Francisco (USA) und Montreal (Kanada).

Fur die ausgezeichnete Übersetzungsarbeit möchte ich meinen deutschen und österreichischen Freuden Erik Weiss, Daniel Johnson, Peter Speier und Susi Steed danken. Speziellen Dank an Mac für seine Wichtige Unterstützung seit Beginn dieses Projekts.

Besetzung der Darsteller

Rangjung Rigpe Dorje, der 16. Karmapa,

Oberhaupt der Karma Kagyü Schule des Tibetischen Buddhismus

Shamar Rinpoche oder Künzig Shamarpa oder Shamarpa,

Hauptschüler Karmapas

Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama,

hoher spiritueller Führer und König Tibets

Thaye Dorje, der 17. Karmapa,

von Shamar Rinpoche anerkannt

Tai Situ Rinpoche oder Situ Rinpoche oder Situpa,

zweithöchster Schüler Karmapas

(hier zusammen mit Urgyen Trinley)

Urgyen Trinley,

von Tai Situ Rinpoche und vom

kommunistischen China als 17. Karmapa

anerkannt und bestätigt durch den Dalai Lama

Jamgön Kongtrul Rinpoche oder Jamgön Rinpoche oder Jamgön Kongtrul,

hoher Kagyü-Lama und enger Schüler Karmapas

Goshir Gyaltsab Rinpoche

oder Gyaltsab Rinpoche oder Gyaltsabpa,

hoher Kagyü-Lama und enger Schüler Karmapas

Topga Yulgyal order Tobga Rinpoche oder Tobgala,

Generalsekretär von Rumtek

und vom Karmapa Charitable Trust

Lopön Tsechu Rinpoche order Tsechu Rinpoche,

hoher Lama und Vertrauter des 16. Karmapa

Akong Tulku,

Kagyü-Lama, der in Schottland lebt; Situ Rinpoches Abgesandter zu den kommunistischen Chinesen

Tenga Rinpoche,

bekannter Kagyü-Lama, der in Kathmandu lebt

Lama Ole Nydahl,

erster westlicher Schüler des 16. Karmapa, Gründer von

über 600 buddhistischen Zentren im Westen

Einführung

Als das Telefon auf der Insel Kauai klingelte, ahnten wir nicht, daß dies der Beginn eines gewaltigen Sturmes sein würde - ein Sturm, der durch die Karma Kagyü-Linie des Tibetischen Buddhismus fegen, ihre Grundmauern erschüttern und der Politik des mittelalterlichen Tibet einen letzten Stoß versetzen sollte. Ein tropischer Strand war wohl kaum der richtige Schauplatz für ein Drama mit Hintergrund im Himalaya, dennoch rollte eine größere Krise auf die Küsten Hawaiis zu. Mitten in einer von Oles arbeitsreichen Belehrungstouren, eingelullt von der Schönheit der Pazifikinsel, waren wir nicht wirklich auf die Neuigkeiten vorbereitet, die da kommen sollten.

Elf Zeitzonen entfernt in Deutschland schlug Sys - Oles Sekretärin - Alarm. Ein mysteriöser Brief aus Asien war in allen unseren Zentren in Europa angekommen. Mit einer bunten Marke aus Nepal und einer kaum leserlichen Adresse, sah der Brief nach einem weiteren höflichen Kontaktversuch tibetischer Mönche mit dem Westen aus. Als aber die Leute in unseren Zentren den Text genauer studierten, wurde ihre Überraschung nur noch von ihrem Mißfallen übertroffen. Der Brief entbehrte jeder Höflichkeit und der Kontakt den er suchte, beinhaltete politische Intrigen und sektiererische Kämpfe.

Die Autoren, eine obskure Gruppe tibetischer Händler aus dem Kathmandu-Tal namens “Derge Association” nahmen sich kein Blatt vor den Mund. Was sie zu sagen hatten, sollte den tibetischen Buddhismus in ein noch nie dagewesenes Durcheinander stürzen. Mit Drohungen und unverschämten Forderungen wollten sie die Aufhebung einer Jahrhunderte alten Tradition erzwingen, die dazu gedient hatte, die aufeinanderfolgenden Inkarnationen des Gyalwa Karmapa - des geistigen Oberhaupts der Karma Kagyü-Linie Tibets - anzuerkennen.

Unsere Freunde in Europa, die mit dem korrupten Einfluß von Politik auf die Religion noch nicht vertraut waren, rannten erstaunt an ihre Telefone. Sys erreichte uns als erste. Ihr Berichte glich einer Wortkaskade und sie machte kaum eine Pause um Luft zu holen. Als sie fertig war, schauten wir uns ungläubig an. Überhaupt nicht an solch zwielichtigen Affären gewöhnt, die seit Jahrhunderten einen wesentlicher Bestandteil des Himalaya-Königreiches darstellten, glaubten wir der Himmel bräche über uns zusammen. Das heilige Tibet benahm sich auf einmal gar nicht mehr so heilig.

Lama Ole Nydahl schien als einziger die wahre Bedeutung zu erfassen. Irgend jemand, der sich hinter dieser Gruppe nepalesischer Händlern verbarg, versuchte die Karma-Kagyü-Linie zu spalten. Dieser Brief war nur der erste sichtbare Schuß. Das, was eigentlich auf dem Spiel stand und zwischen den Zeilen dieser Nachricht lauerte, war viel bedeutsamer als die Identität der Angreifer. Ihr Angriff traf die Linie mitten ins Herzen. Ihr heimliches Ziel, das bis zu diesem Zeitpunkt nur einem kleinen Kreis von Verschwörern bekannt war, war die Kontrolle über den nächsten Gyalwa Karmapa, den König der tibetischen Yogis.

Als erster wiedergeborener Lama Tibets, war Karmapa einzigartig unter den vielen Inkarnationen, die sich im Land des Schnees manifestiert hatten. Er wurde von seinem Volk als Buddha verehrt und hatte die Herrschaft über den ganzen östlichen Teil des Landes. In einer ununterbrochenen Folge von mehr als 900 Jahren besaß jede seiner Inkarnationen die vollständige Mittel Buddhas, um mit dem Geist zu arbeiten und es war nicht ungewöhnlich, daß Karmapa vor seinem Tod Anweisungen über die Umstände seiner nächsten Wiedergeburt hinterließ. Diese schriftlichen, manchmal auch mündlichen Hinweise beschrieben mit erstaunlicher Genauigkeit die Umstände seiner zukünftigen Wiederkehr.

Historisch gesehen spielten zwei notwendige Komponenten eine Rolle in dem heiklen Prozeß der Anerkennung des nächsten Karmapa: Die Taten der jungen Inkarnation und die Anweisungen, die sein Vorgänger hinterlassen hatte. Nachdem der 16. Karmapa 1981 gestorben war, glaubten also seine Schüler, daß auch er traditionsgemäß eine Reihe von Anweisungen hinterlassen hatte. Die brennende Frage nach seinem Tod war somit die Entdeckung seines spirituellen Testaments gewesen. Bei einem allgemeinen Kagyü-Treffen nach der Feuerbestattung im Jahre 1981 hatten seine engsten Schüler - vier hochgestellte Lamas - gemeinsam die verantwortungsvolle Aufgabe übernommen, den Vorhersagebrief ihres Lehrers und seine nächste Inkarnation zu finden.

„Die Briefkampagne“ aus Kathmandu kam für die Übertragungslinie zu einer sehr unsicheren Zeit. Elf Jahre waren seid dem Tod des 16. Karmapa vergangen und die 17. Inkarnation war nirgendwo in Sicht. Die vier Lamas, mit ihrer riesigen Pflicht betraut, schienen außerstande mit einer Lösung aufzuwarten. Die lange Wartezeit begann ihren Tribut zu fordern. Eine Anzahl politisch orientierter Gruppen tauchte in der buddhistischen Szene im Osten auf. Sie übertrafen sich gegenseitig in der Verbreitung absurder Gerüchte und beteiligten sich an einem Feldzug, der die Linienhalter zum Handeln nötigen sollte.

Die „Derge Association“ war nur eine dieser vielen Gruppen. Was sie jedoch von den anderen unterschied, war der Versuch, einen von Karmapas früheren Schüler, Tai Situpa, den anderen drei Lamas vorzuziehen. In ihrem Brief, der in Umlauf gebracht worden war und in dem sie sich anmaßten, die Mehrheit der Kagyü-Praktizierenden zu vertreten, behaupteten sie unverblümt, daß nur die jeweilige Inkarnation des Tai Situ Rinpoche (*Fußnote: Rinpoche ist ein Ehrentitel, der soviel heißt wie “Kostbarer” und der oft an buddhistische Meister verliehen wird) das historische Recht gehabt hätte, den nachfolgenden Karmapa anzuerkennen. Sie baten Tai Situ eindringlich, sofort von seinem einzigartigen Recht Gebrauch zu machen. Diese Forderung war ein abrupter Abschied von alten Gewohnheiten. In der Vergangenheit war es immer jene Person mit der größten geistigen Verwirklichung, die über ihre Träume und Visionen sprechen würde, um so den heiklen Prozeß, einen wiedergeborenen Tulku zu finden, zu unterstützen. Kein Lama hatte das alleinige Recht, Inkarnationen zu identifizieren und schon gar nicht die aufeinanderfolgenden Karmapas zu finden, die sich letzten Endes immer durch ihre Taten zu erkennen gaben.

Nun plante jedenfalls irgendwer eine Revolte. Eine größere Auseinandersetzung innerhalb der Linie stand bevor. Man bezeichnete Tai Situ als den einzigen, der berechtigt sei, den jungen Karmapa zu identifizieren, während seine drei Kameraden als Verhinderer bezeichnet wurden, die das ganze Vorhaben blockieren wollten. Zum ersten Mal seit sie der Öffentlichkeit im Osten solche Überlegungen einzutrichtern versuchten, dehnten die Kaufleute aus dem Kathmandu-Tal ihren Aktionsradius jetzt auch nach Westen aus. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug ihre Nachricht in der Szene der europäischen Buddhisten ein.

Während wir regungslos Sys Worten lauschten und versuchten ihren Ausführungen zu folgen, schätzte Lama Ole ruhig die Situation mit den Worten ein: „Das bedeutet Krieg”. Wir sollten während der nächsten zwei Jahre noch herausfinden, wie treffend seine Worte waren. An diesem Morgen des 17. März 1992 fielen die ersten Schüsse im Karma-Kagyü-Krieg. Ole erkannte dies mit seinem militärischen Instinkt sofort. Von da an eskalierte die Situation zusehends. Ein harter, kompromißloser Kampf sollte sich entfalten. Die Protagonisten, hochrangige und angesehene tibetische Lamas, verstrickten sich in Auseinandersetzungen und Schlammschlachten, die eher zu ehrgeizigen Politikern als zu religiösen Lehrern gepaßt hätten. Der kommende Konflikt sollte die Reife und Entschlossenheit Tausender buddhistischer Praktizierender auf der ganzen Welt prüfen. Er sollte die Landschaft des tibetischen Buddhismus im Westen verändern. Die Auswirkungen auf den Osten sind noch gar nicht voll abzuschätzen.

Als sich die Situation zuspitzte und - wie wir in diesem Buch erfahren werden - als sich die überschlagenden Ereignisse fast zur Übernahme der Kagyü-Linie durch das kommunistische China geführt hätten, beschäftigte uns alle eine brennende Frage: Wie konnte das nur passieren? Wie konnte eine Gruppe hochentwickelter Wesen, an der spirituellen Spitze einer Linie, Angelegenheiten, die das Wohlergehen und Wachstum ihrer Schüler betrafen, in solch einen unordentlichen Zustand bringen?

Heute, nach Jahren sorgfältiger Auswertung der Ereignisse, liegt die Antwort klarer auf der Hand, als wir das ursprünglich dachten. So seltsam es auch für moderne westliche Ohren klingen mag: die gegenwärtige Loyalität, die Rivalitäten und Feindseligkeiten der Lamas im Himalaya haben direkte Verbindung mit dem, was in Tibet und auch in China vor mehreren hundert Jahren geschah. Die Tibeter sind, wie alle Menschen - die hohen Lehrer mit eingeschlossen - ein Produkt der sozialen und politischen Bedingungen, in welche sie hineingeboren wurden. Ihre Handlungen und Geistesgewohnheiten sind in großem Maße von früheren Erlebnissen bestimmt. Um nun die Gründe und die Vielfalt ihrer Probleme zu erkennen, muß man in die Geschichte Tibets eintauchen. Diese besondere Geschichte beginnt Mitte des 18. Jahrhunderts in den dunklen Gängen des majestätischen Potala Palastes in Lhasa - Residenz der Dalai Lamas. Sie führt uns durch eine Reihe von Ereignissen hin zu den heutigen tibetischen Lagern und Klöstern im Himalaya und auch zu den modernen tibetischen Zentren im Westen.

Als 1959 die ehrwürdigen Rinpoches, Lamas und Mönche Tibet verlassen mußten und zuerst nach Indien und dann in den Westen kamen, waren sie vom Feudalismus geprägt. Sich brachten nicht nur die gesammelten Werke Buddhas mit - die kraftvollsten Mittel, um mit dem Geist zu arbeiten - sondern auch ihre eigenen Probleme. Deswegen liegt der Schlüssel zum Verständnis ihres bisweilen recht eigenartigen Verhaltens im Westen, in der Geschichte Tibets, eines bis zur chinesischen Invasion hermetisch abgeschlossenen Landes. Es ist das Land des Schnees längst vergangener Tage, sagenumwoben und eingehüllt in Mythen und Halbwahrheiten, das die Hintergründe des gegenwärtigen Dramas im tibetischen Buddhismus erhellen kann.

Dieses Buch versucht weder eine radikale Lösung zu bieten, noch hat es zum Ziel „keinen Stein auf dem anderen zu lassen“. Es ist der persönliche Erlebnisbericht eines Menschen, der Zeuge dieser Krise war, ein chronologischer Bericht über den Zeitraum von zwei Jahren, in denen das „Kagyü-Haus“ beinahe unter die Kontrolle des kommunistischen Chinas geraten wäre. Der Leser kann, bei genauerer Betrachtung der ungewöhnlichen Vorkommnisse, nach und nach Einblick in die Motive dieser Auseinandersetzung erlangen. Wenn man diese dann mit den alten sozialen Strukturen Tibets vergleicht, wird man zu einer etwas objektiveren Bewertung der Hauptcharaktere in dieser Verschwörung gelangen und sich darüber bewußt werden, daß es gefährlich ist, auf solche Charaktere blind hereinzufallen. Lassen wir Fakten für sich selbst sprechen und folgen wir der Geschichte und dem Menschenverstand. Möge die Vergangenheit die Rätsel der Gegenwart enthüllen und als Lektion für die Zukunft dienen.

KAPITEL 1 Das Königreich

Über Jahrhunderte war Isolation das bestimmende Merkmal Tibets. Die geographische Unzugänglichkeit des Landes und das echte Bedürfnis seiner Bewohner nach wenig Kontakt schufen ideale Voraussetzungen für diese Abgeschlossenheit. Als die siegreichen chinesischen Dynastien die Souveränität über ihre fernen Nachbarn beanspruchten und Lhasa unterwerfen und zur Anerkennung ihrer reizenden Oberherrschaft zwingen wollten, gaben die Tibeter nicht klein bei. Ungeachtet Pekings gewaltsamen Vorgehens gelang es dem Bergland, weiterhin ungestört und von der Außenwelt vergessen zu existieren. Die wilden Mongolenhorden, die Mitte des 17. Jahrhunderts große Teile des Landes zerstört hatten, waren eher ein Werkzeug in den Händen einer politischen Fraktion gewesen, um deren Rivalen zu unterwerfen, als ein tatsächlicher Aggressor von außen - ein Werkzeug, das zwar außer Kontrolle geraten war, aber trotzdem nicht mehr war als ein Werkzeug, das Politiker in ihrem Kampf um Macht eingeführt hatten. So waren im Verlauf der Geschichte Tibets Eindringlinge ein ungewohnter Anblick und das Land blieb bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts so abgeschlossen, wie es zur Zeit war, als um das Jahr 750 der Buddhismus zum ersten mal Einzug in das Himalaya-Königreich hielt. Wegen dieser Abgeschlossenheit war es den Tibetern möglich gewesen, über ein Jahrtausend lang das zu bewahren, was tausend Jahre zuvor mehrere moslemische Invasionen in Nordindien äußerst gewissenhaft zerstört hatten: Die vollständigen Belehrungen Buddhas.

Die ersten Kontakte mit dem Westen entstanden im 19. Jahrhundert, als das russische und das britische Reich, im gegenseitig Mißtrauen, um Einfluß in dieser entlegenen Gegend wetteiferten. Europäische Forscher brachten Geschichten von mysteriösen religiösen Systemen, heiligen Lamas und riesigen Klöstern mit nach Hause. Englische Soldaten wußten weit weniger Wunderbares zu berichten. Colonel Younghusband, der 1904 eine Expedition anführte um Lhasa zu erobern, löschte mit einer Handvoll seiner Männer fast die ganze tibetische Regierungsarmee aus. Die militärische Macht der Tibeter blieb eindeutig hinter ihrer spirituellen Kraft zurück.

Nach dieser ersten Kontaktaufnahme nahm sich sofort ein Durcheinander von Spiritualisten, Theosophen und dergleichen des Königreiches an. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die europäische Öffentlichkeit mit exotischen Berichten von fliegenden Yogis überschüttet und mußte Abhandlungen über undurchsichtige spirituelle Lehrer verdauen, die ihren Ursprung angeblich im Land des Schnees hatten. Die Erzählungen, die die Runde machten beflügelten zwar die Phantasie der Leser, hatten aber wenig mit den wirklichen Schätzen zu tun, die Tibet hütete. Als Quelle des Mystischen ausgebeutet, wurde das Land bald zu einem Synonym für alles Übernatürliche.

Ungefähr zur selben Zeit gelang einer Anzahl anerkannter Orientalisten aus Skandinavien und dem kaiserlichen Rußland der Weg in die verbotene Stadt Lhasa. Sie trafen auf eine reiche, von einem einzigartigen religiösen System unterstützte Kultur. Zum ersten Mal kam der Westen mit Buddhas vollständigen Methoden um mit dem Geist zu arbeiten in Berührung. Die Entdeckung der Wissenschaftler blieb jedoch die exklusive Domäne von Elite-Universitäten und ihre Forschungen wagten sich nicht über den Bereich intellektueller und wissenschaftlicher Spekulation hinaus. Auf einen größeren und praktischeren Einfluß der Lehre mußte Europa noch weitere fünf Jahrzehnte warten. Erst 1959, als die Tibeter von den kommunistischen Barbaren brutal aus ihrer heilen Welt gerissen wurden, wurde ein echter und dauerhafter Kontakt mit ihrer Kultur möglich.

Während der späten Sechziger kam die Zeit für den Durchbruch. Zwei Westler erschlossen Neuland: es waren Hannah und Ole Nydahl, die begierig darauf waren, sich der buddhistischen Lehren anzunehmen und diese im Westen einzuführen. Die Verbindung, die sie knüpften, führte geradewegs an die allerhöchste Spitze der tibetischen Hierarchie.

Im Dezember 1969 hielt der 16. Gyalwa Karmapa, Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus, Einzug in Kathmandu, gerade als Hannah und Ole aus Dänemark kommend in der Stadt eintrafen. Die jungen Idealisten befanden sich auf ihrer dritten Reise in die nepalesische Hauptstadt, um von dort „Substanzen“ mit nach Hause zu nehmen, die das Bewußtsein der Menschheit verändern konnten. Sie führten eine Gruppe skandinavischer Avantgardekünstler und -rebellen an und waren zutiefst davon überzeugt, daß Drogen jedermanns „Pforten der Wahrnehmung“ öffnen und der Menschheit eine letztendliche Wahrheit zeigen könnten. Gerade erst in Kathmandu angekommen, zog sie ein inneres Rufen auf die Spitze des majestätischen Swayambhu-Berges, eben als Karmapa im Begriff war, eine Zeremonie auszuführen. Später würden sie selbst erzählen, wie in dem Augenblick während der Zeremonie, als Karmapa seine Hände auf ihre Köpfe legte, alles in Licht explodierte. Der Lama wurde groß wie tausend Sonnen und augenblicklich wußten sie, daß ihre Suche abgeschlossen war.

Diese ungewöhnliche Begegnung war der Anlaß einer intensiven Lehrzeit im östlichen Himalaya. Als erste westliche Schüler Karmapas wurden Hannah und Ole in die Belehrungen und einzigartigen Praktiken des tibetischen Buddhismus eingeführt. (*FN: Lama Ole Nydahl „Die Buddhas vom Dach der Welt“ + Verlag etc.) Sie waren auf dem besten Weg, ihre Vision aus den sechziger Jahren zu verwirklichen. Später würde Ole, inzwischen selbst ein Lama, daran gehen, mehr als zweihundert buddhistische Kagyü Zentren auf der ganzen Welt zu gründen. Mit Hannah und anderen Begleitern an seiner Seite würde er pausenlos von Zentrum zu Zentrum reisen und so die große Weisheit des Buddhismus in den Westen bringen. Die treibende Kraft hinter der Verwirklichung dieses Traums war die Hingabe zu Karmapa, eine Hingabe, die sich anfänglich auf alles Tibetische erstreckte. Jeder, der aus dem Land des Schnees stammte, wurde als hochspirituell verehrt, jeden Tibeter hielt man für einen verwirklichten Yogi und jeder Glatzkopf in Roben war sowieso halb erleuchtet. Es war genau diese reine Sicht, die mithalf, den idealistischen Westen mit der Idee zu inspirieren, das Shangri-La - das Objekt der Begierde der sechziger Generation - wäre in Reichweite.

Andere, die in den folgenden Jahren auf den tibetischen Zug aufsprangen, nährten die heiligen Visionen mit noch größerem Enthusiasmus und wesentlich weniger Kritikfähigkeit. Was ihnen an Wissen und wirklicher Übertragung fehlte, versuchten sie durch Eifer wettzumachen. Besonders das alte Tibet wurde als eine Art Himmel auf Erden verehrt. Alles aus der Zeit vor der chinesischen Invasion, was einen tibetischen Stempel trug, wurde hingebungsvoll vergöttert und idealisiert. Es war eine edle Antwort auf die kommunistischen Greueltaten und die hysterische chinesische Propaganda, die das eroberte Land als eine feudale, rückständige und tyrannische Gesellschaft beschrieb. Daraus ergab es sich, daß die Vorstellung, alles Tibetische sei heilig, zum gemeinsamen Tenor der ersten Generation tibetischer Buddhisten im Westen wurde. Diese vielversprechenden jungen Leute nahmen sich des tibetischen Buddhismus genauso wie des Landes Tibet an. Niemand wollte sich auf die Seite der kommunistischen Aggressoren stellen und die Tibeter erfuhren zur Abwechslung einmal die überwältigende Aufmerksamkeit der westlichen Idealisten, nachdem sie in einer Zeit der Not die Nichtbeachtung durch Politiker der ganzen Welt erlebt hatten.

Nach Jahrzehnten offizieller Gleichgültigkeit sahen schließlich die Verfechter der tibetischen Sache ihren Kampf gerechtfertigt. Als der Dalai Lama 1989 den Friedensnobelpreis gewann, nahmen sich die westlichen Massenmedien Tibets an und brachten die Schrecken der chinesischen Invasion ans Tageslicht. Berühmtheiten scharten sich um den selbst zu einer Berühmtheit geworden Dalai Lama, der daraufhin begann, in seiner halboffiziellen Funktion als Führer Tibets die Welt zu bereisen. Zur selben Zeit ließen die Verfechter eines freien Tibets, die durch diese Entwicklung Oberwasser bekamen, den unkritischen Glauben an das heilige Himalaya-Königreich ungehindert wachsen.

Unterschied sich dieses harmonische Bild sehr von der Wirklichkeit? War das alte Tibet tatsächlich eine Nation von Wahrheitssuchenden und frommen Männern, die nur im Sinn hatten, ihre Lamas und Klöster zu unterstützen? War es wirklich ein Land, wo Milch und Honig flossen, dessen Menschen friedlich miteinander lebten und sich streng an die edlen buddhistischen Richtlinien hielten? Historische Tatsachen sprechen gegen diese himmlische Vorstellung. Tibet war, trotz der Aura von Mystik die seine Geschichte umgab, ein feudalistisches Land, vielleicht menschlicher und sicherlich glücklicher als andere feudale Gesellschaften, aber auf keinen Fall ein idyllischer Ort.

Die Landschaft des alten Tibets war von Kriegen, politischen Intrigen und blutigen Fehden übersät. Jahrhunderte lang übten zwei alte buddhistische „Rotmützen“-Schulen (*FN: Die dritte Schule ist die Nyingmapa), die Sakya und die Kagyü, abwechselnd unumstritten die Macht über das Land aus. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts trat eine neue Macht in Erscheinung und begann, den politischen Status quo zu bedrohen: die Gelugpas oder „Die Tugendhaften“, ein reformierter buddhistischer Orden der „Gelbmützen“, der um das Jahr 1410 n.Chr. von einem Schüler des 4. Karmapa gegründet worden war. Unter der Führung des mächtigen 5. Dalai Lamas und seiner verantwortlichen Minister, luden die Gelugs im Jahre 1638 den mongolischen Kriegsherren Gushri Kahn nach Tibet ein. Sie wollten dadurch die Macht der Kagyüs brechen, die Regierung übernehmen und sich ihren Einfluß über Kham im Osten und das aufständische Tsang im Süden des Landes sichern. Den Mongolenhorden wurde freie Hand gewährt und so machten sie eine große Anzahl von Nyingma Klöstern entweder dem Erdboden gleich oder konvertierten sie zur Gelug-Schule. Der 10. Karmapa mußte fliehen und sich in ein zehnjähriges Exil begeben, nachdem sein Lager von einer Armee angegriffen worden war, die unter dem Befehl eines Ministers des Dalai Lama stand. Die Schule der Tugendhaften setzte ihre Vorherrschaft mit Feuer und Schwert durch.

Die äußerst zersplitterte politische Szene wurde daraufhin in zwei Hauptgruppen unterteilt. Die erste Gruppe, die den Gelugs sehr nahestand, umfaßte sowohl Zentral- als auch Süd- und Westtibet und stellte das Einflußgebiet der Regierung in Lhasa dar. Die zweite, eine lose Anhäufung von Königreichen, mit jeweils einem eigenen Anführer am Steuerruder, breitete sich über Osttibet aus. Sie hielt nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Hauptstadt mit allen Mitteln aufrecht, sondern auch ihre Ergebenheit gegenüber den Kagyüs und den Nyingmapas, die dritte alte Buddhistische Schule der „Rotmützen“.

Die von den Gelugs dominierte Zentralregierung gab sich größte Mühe, die freigeistigen Khampas von Osttibet unter die direkte Autorität Lhasas zu stellen und sie auf diesem Wege zum “Gelbmützen”-Orden zu bekehren. Die Gelugpa-Hierarchie setzte alle Hebel in Bewegung, um dieses Ziel zu erreichen und hinterließen ein Erbe an Verrat, Einschüchterung und Eroberung.

Nachdem sie sich mit den Mongolen verbündet und den Kagyü-Herrscher besiegt hatte, zwang die Verwaltung des Dalai Lamas den anderen drei buddhistischen Schulen strikte Kontrollen auf. Karmapa und die Kagyüs wurden zur Zielscheibe strenger Gesetzen und diskriminierender Steuern. Bis auf eine kleine Anzahl wurden alle Kagyü-Klöster in der Nähe von Lhasa zur Gelugpa-Tradition bekehrt. Zwei verschlüsselte Direktiven „Setze den Stern unter Druck!“ und „Melke das weibliche Yak!“ wurden in die Landesgesetze eingefügt und oft in offiziellen Erlässen beschworen. Es war ein gut gehütetes Geheimnis, von einem Minister an dessen Nachfolger weitergereicht, daß der rätselhafte „Stern“ in Wahrheit Karmapa war, während mit dem „weibliche Yak“ die Drikung gemeint waren, ein Zweig der Kagyü-Linie. Nachdem er so die alten Schulen in die Knie gezwungen hatte, befürchtete der 5. Dalai Lama eine Kagyü-Revolte und begab sich und sein Königreich in den Schutz der Ching, Herrscher von China. Er wurde mit offenen Armen empfangen. Der Kaiser gewährte ihm nicht nur seinen großzügigen Schutz, sondern führte auch ein System von zwei sich abwechselnden Monarchen ein: es waren dies der Dalai und Panchen Lama. In den Augen der Kagyüs war diese Unterwerfung vor dem Chinesischen Thron gleichbedeutend mit Verrat. Diesen Vertrauensbruch haben sie dem Dalai Lama bis heute nicht verziehen.

Ein weiteres, berüchtigtes Beispiel der Gelug-Gewalt waren die Machenschaften des Phawankapa im 19. Jahrhundert. Als eine Leuchte für manche in seiner Linie und eine abscheuliche Persönlichkeit für andere, inszenierte dieser Kreuzritter für die Gelug-Sache eine breit angelegte Kampagne gegen die Nyingmapa-Tradition. Es gelang ihm, die Reihen der alten Rotmützen-Schule so durcheinanderzubringen, daß “Diamant-Schneider” und andere wertvolle Übertragungen beinahe ganz verschwanden.

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Die soziale Struktur des alten Tibets wurde in großem Maße durch das Tulku-Wesen bestimmt, einer Tradition der Anerkennung von fortlaufenden Wiedergeburten eines Lamas. Das Phänomen von einer Reihe aufeinanderfolgenden Inkarnationen kommt von dem buddhistischen Prinzip, daß Wesen endlos oft wiedergeboren werden. Die Tulku-Tradition wurde vor 900 Jahren von Karma Pakshi eingeführt, der als kleines Kind erklärte, die Wiedergeburt des kurz zuvor gestorbenen Karmapas Düsum Khyenpa zu sein. Von diesem Zeitpunkt an kehrte Karmapa in einer ununterbrochener Folge von Verkörperungen wieder, die von vor 900 Jahren bis zum heutigen Tag reichen. In gleicher Weise begannen auch andere hoch verwirklichten Lamas sich bewußt wiedergebären zu lassen und wurden dann von ihren verwirklichten Schülern wiedererkannt. So traten die erleuchteten Eigenschaften eines Lamas Leben für Leben in Kontakt mit seinen Schülern. Hunderte von verschiedenen Tulku-Linien zeigten sich in Tibet und das ganze System diente als einzigartiger Mechanismus, eine ungebrochene Übertragung von Buddhas Belehrungen zu bewahren.

Im Laufe der Jahrhunderte jedoch gelangten die Klöster und ihre Tulkus zu immer mehr Wohlstand und begannen, beträchtlichen Einfluß auf das politische und soziale Leben des Landes auszuüben. Eine Reihe von Tulkus übernahmen zusätzlich zu ihren Rollen als religiöse Lehrer auch Aufgaben als politische Figuren. Die Inkarnation eines prominenten Tulkus zu finden und sie zu ihrem alten Kloster zu bringen, bedeutete Machtgewinn. In vielen Fällen ließen noch dazu die Kriterien, nach denen eine Inkarnation anerkannt wurden, viel Platz für Schachzüge, was dazu führte, daß dieser Prozeß zu einem Werkzeug des politischen Machtkampfes wurde. Die traditionellen Überprüfungsmethoden, bei denen die jungen Hoffnungsträger Gegenstände aus dem Besitz ihrer früheren Inkarnation erkennen mußten, wurden oft unterlassen. Nicht immer wurden herausragende Meister zu Rate gezogen. Politischer Einfluß, Geld oder einfache Waffengewalt wurden die entscheidenden Faktoren und die Bedeutung der authentischen Tulkus begann abzunehmen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, daß sich zwei oder mehr Kandidaten - jeweils von einer mächtigen Gruppe unterstützt - offen und gewaltsam um einen bekannten Tulku-Sitz stritten. Während die jungen Anwärter eher wenig Ahnung von dem Kampf hatten, der hinter ihrem Rücken stattfand, waren ihre mächtigen Paten hingegen bereit einen Krieg anzufangen, um ihren Kandidaten siegen zu sehen.

War der Thron für einen Bewerber einmal gewonnen, begann seine Ausbildung in strenger Übereinstimmung mit der Rolle, die er in späteren Jahren spielen sollte. Umgeben von einer reinen Männergesellschaft aus Tutoren und Dienern, war der junge Tulku im allgemeinen sehr strenger Disziplin ausgesetzt und befand sich ausschließlich in der Obhut seiner eifersüchtigen Vertrauten. Dies sollte es dem Tulku nicht nur ermöglichen, die Übertragungen von Buddhas Belehrungen in ihrer reinsten Form zu erhalten, sondern so konnte man ihn, den wertvollsten Besitz des Klosters, auch beschützen. Viel zu oft jedoch führte diese Abgeschiedenheit dazu, daß der Tulku über das Leben außerhalb seiner Klostermauern kaum Bescheid wußte. Gleichzeitig spielten die Menschen um ihn herum eine viel größere Rolle, als es das Wohlergehen seines Amtes erfordert hätte und verfolgten nicht selten über den Kopf ihres Meisters hinweg ihre eigenen Ziele.

Diese Zustände waren der ideale Nährboden für fremde Einmischung. Wie zu erwarten war, ließ sich China diese einmalige Möglichkeit, auf die tibetische Politik Einfluß zu nehmen, nicht entgehen und förderte das Wohlergehen von jenem Tulku, der am besten zu ihren Bedürfnissen paßte. Kein Titel, egal ob der höchste oder der unbedeutendste, war von dieser Störung durch das Reich der Mitte gefeit. Mit einem interessierten Auge auf das Land des Schnees, aber voller Verachtung für dessen religiöser Ehrlichkeit, zwangen die unbarmherzigen Herrscher den Tibetern ihre eigene, manchmal total absurde Wahl für die höchsten Positionen von Dalai und Panchen Lama auf.

Im Jahre 1796 erzwang der 7. Ching Lu, ein Kaiser der Ching Dynastie, einen Erlaß, in dem eine neue Prozedur zur Anerkennung von Inkarnationen in Tibet festgelegt wurde. Diejenigen, die auf die Wiedergeburt eines berühmten Abtes oder Lamas warteten, mußten sich nicht mehr um kryptischen Zeichen oder langwierige Suchreisen kümmern. Statt dessen sollte ein vom chinesischen Kaiser eingesetzter Rat einfach eine Anzahl geeigneter Kandidaten für einen freien Tulku-Sitz aussuchen. Alle Anwärter sollten dann herausgeputzt und für die Funktion eines geistigen Führers ausgebildet werden. Um letzten Endes dann die richtige Inkarnation aus den Reihen der Bewerber herauszufinden wurde eine Lotterie durchgeführt. In seiner Güte bot der Kaiser neben dem Edikt auch gleich eine goldene Vase an, die bei der Ziehung verwendet werden sollte. Der Name der Inkarnation wurde durch Zufall von einer Reihe von Namen gezogen, die zuvor auf Eßstäbchen geschrieben und in die Vase geworfen worden waren. Der gütige Kaiser vergaß nicht zu erläutern, daß dieses Ritual vor einem Thangka - einem religiösen Rollbild - stattzufinden habe, das niemand anderen darstellte als den ruhmreichen 7. Ching Lu selbst. Sein Vertreter sollte bei dieser entscheidenden Zeremonie auch den Vorsitz führen. Obwohl es den Tibetern oft gelang, die Ergebnisse der Ziehung durch Bestechung und andere Maßnahmen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, war in Zukunft ihre freie Wahl, zumindest wenn es um die hohen Gelug-Tulkus ging, eingeschränkt. Offiziell wurden die Inkarnationen der „Gelbmützen“ von nun an vor dem Bild Ching Lus ausgewählt, das sie von der Wand herab anstarrte. Zur gleichen Zeit, jedesmal, wenn der Oberste Führer von Tibet eine öffentliches Verlautbarung machte, würde er gehorsam erklären: „Ich bin der Dalai Lama, eingesetzt von Ching Lu...“. Von dem Tag an, an dem der energische Lu sein Edikt präsentierte, bis zum Jahre 1959, als das Himalaya-Königreich den Chinesen in die Hände fiel, begannen alle Dokumente der tibetischen Regierung mit dieser Phrase. Ohne das Land selbst erobert zu haben, gelang es Peking somit, Lhasa eine unheilvolle und weitgehend unwillkommene Partnerschaft aufzudrängen. Der Dalai Lama und Cheng Lu stellten für den örtlichen Geschmack zweifellos zwei recht eigenartige Bettgenossen dar.

Durch in- und ausländischen Einmischung wurde die Wahl eines Tulku aufgrund religiöser Kriterien im Laufe der Jahrhunderte eher zur Ausnahme als zur Regel. Natürlich zeigten sich auch authentische Lamas. Die tibetische Geschichte ist reich an Beispielen für verwirklichte Tulku-Linien und theoretisch war das ganze System darauf ausgelegt, solche Wesen zu finden und sich um sie zu kümmern. Doch nachdem es Jahrhunderte lang mißbraucht wurde, ermöglichte das selbe System, daß eine große Anzahl von Tulkus entweder zu politischen Marionetten oder zu absoluten Prinzen wurde. Erstere waren ein Werkzeug in der Hand ihrer Vertrauten, die, während sie ihre eigenen Intrigen spannen, sehr darauf achtete, sich bei dem Tulku Gehör zu verschaffen. Letztere wurden selbst zu Politikern, niemandem gegenüber verantwortlich und von denen beraten, die gerade in ihrer Gunst standen und so sprangen sie oft unvorbereitet in die unbeständigen Gewässer politischer Leidenschaft. Die Tatsache, daß ihre Äußerungen in vielen Fällen den Status von Gesetzen hatten, machte die Sache nur noch schlimmer. Begriffe wie Transparenz, Verantwortlichkeit und Demokratie, die Eckpfeiler einer modernen Gesellschaft im Westen, waren unbekannte Vorstellungen im alten Tibet. Schon der bloße Gedanke an eine repräsentative Regierung oder an kleine Abstriche der absoluten Macht - Vorstellungen, denen sich die Amtsgewalten im Westen schon längst unterworfen hatten - wurde in Tibet und dem Rest Asiens verabscheut. Als Konsequenz wurde das Land oft von einem Haufen ungeeigneter Leute regiert, deren einzige Qualität darin bestand, daß sie einen Titel trugen, oder eng mit einem bekannten Namen verbunden waren.

Die Mehrheit der Bevölkerung, sowohl die freigeistigen Nomaden im Osten, als auch die eher braven Bewohner von Zentraltibet, lebte in einem gewissen Maß unter feudaler Abhängigkeit und Unterwerfung, wobei die persönliche Freiheit nur so weit reichte, wie es der direkte Vorgesetzte oder der Abt erlaubte.

Die bevorzugte Methode offizieller Bestrafung war die Auspeitschung, um die etwas widerspenstigen Individuen in Schach zu halten. Folter in ihrer grausamsten und unmenschlichsten Form war an der Tagesordnung. Von den Vertretern der Ching Dynastie zur Zeit des 5. Dalai Lamas nach Tibet gebracht, kam sie dort sofort zur Anwendung, als drei Minister des Dalai Lamas verhaftet wurden und man sie öffentlich zerstückelte. Obwohl die Folter durch den 13. Dalai Lama geächtet wurde, blieb sie trotz seines Verbotes weiterhin erhalten, bis 1959 die Kommunisten ihre eigene unmenschlichen Art der Unterdrückung einführten. Die grausamen Fotos von Männern mit abgehackten Gliedern, Zeugen einer brutalen Routine im alten Tibet, waren also nicht einfach nur kommunistische Propaganda.

Die Erziehung und der Zugang zur Informationen waren die alleinige Domäne der Klöster, wodurch einem großen Teil der Bevölkerung nicht einmal die einfachste Bildung ermöglicht wurde. Für die meisten Tibeter bedeuteten die höchsten Belehrungen über die Natur aller Dinge - die Essenz des Buddhismus - lediglich einen oberflächlichen Glauben an oft sehr einfache Grundsätze, geprägt durch Angst und karmische Vergeltung oder einfach nur durch blindes Vertrauen in ihre Rinpoches. Obwohl ihr Vertrauen in ein System, das in seiner Essenz und Ganzheit so völlig positiv ist, ihnen ein grundsätzlich befriedigendes und glückliches Leben ermöglichte, muß man jedoch - der historischen Wahrheit zuliebe - eingestehen, daß der größte Teil der Tibeter eine rückständige, ungebildete und abergläubische Existenz führte. Die damaligen Werte erweisen sich in der heutigen Welt als weitgehend belanglos.

Weshalb Tibet damals dennoch so außergewöhnlich war, war die Tatsache, daß es dem Land gelang, die kompletten Belehrungen Buddhas in einer lebendigen und ununterbrochenen Übertragung zu bewahren. Diese beinhalteten sowohl die höchsten Erklärungen über die absolute Natur der Wirklichkeit, als auch die entsprechenden Methoden, um sie zu erkennen. Und während der Durchschnitts-Tibeter sich eher um seine Alltagsgeschäfte kümmerten, ohne viel an die höchste Wahrheit zu denken - solche tiefgründigen Angelegenheiten überließen sie eher ihren Lamas und den Institutionen - praktizierte eine kleine Anzahl von Menschen die vorhandenen, einzigartigen Techniken und erzielten so höchste Resultate. Von ein paar Millionen Tibetern gelang es einer Handvoll ehrwürdiger Lamas und Yogis, Generation für Generation, das höchste Potential des menschlichen Geistes zu erreichen.

Diese Übertragung lebendiger Erleuchtung ist somit Tibets wichtigster Beitrag zur kollektiven menschlichen Weisheit, während die sozialen und politischen Bedingungen, unter denen die Suche nach Erleuchtung stattfand, Tibet völlig von der heutigen modernen Gesellschaft unterscheidet.

Die folgende Geschichte muß man also unter diesen speziellen Voraussetzungen sehen. Die Fäden dieser Verschwörung sind tief mit den tibetischen Annalen verwoben und führen uns 200 Jahre zurück nach Lhasa. Als Hauptakteure treten hohe Tulkus und Lamas auf, die plötzlich durch den unberechenbaren Lauf der Geschichte in die moderne Welt versetzt wurden. Sie bilden den Kern des alten Feudalsystems und sind dennoch gezwungen, oder zwingen sich selbst, sich in der modernen Welt zu behaupten. Ihr unerwartetes Eintreten in das 20. Jahrhundert - ungeachtet ihrer Verwirklichung - führt unweigerlich zu einem Konflikt. All die feinen Zutaten für diesen Konflikt brodeln bereits und können jederzeit explodieren: Die unvereinbaren Gegensätze zwischen dem autokratischen Tibet und dem demokratischen Westen. Der Nachdruck, den der Buddhismus auf Logik, Vernunft und klares Denken legt, und der blinde Glaube, daß alle Lamas allwissend sind und kaum den allgemein menschlichen Bedingungen unterliegen. Die heilige Verehrung, die Tibet von vielen im Westen entgegengebracht wird und die Leidenschaft der Tibeter für politische Intrigen. Was dieses explosive Gemisch entzünden könnte ist ein Hauch von persönlicher Abneigung, Feindseligkeit und letztlich Haß - die Würze in einem trockenen geschichtlichen Prozeß.

KAPITEL 2 Die Rivalen

Vor zweihundert Jahren, in der Zeit der Regentschaft zwischen dem 7. und dem 8. Dalai Lama, hatte der mächtige Verwalter des Dalai-Thrones eine Verordnung erlassen, die den 10. Shamarpa aus Tibet verwies. Shamar Tulku wurde öffentlich beschuldigt, er habe Nepal zu einer Invasion seines Landes angestiftet. Alle ihm von den Manchu-Kaisern verliehenen Titel wurden widerrufen, und seine Kagyü-Klöster wurden von Regierungstruppen überfallen und zwangsweise zur Gelugpa-Tradition bekehrt. Shamarpas zeremonielle rote Krone wurde beschlagnahmt und vermutlich unter einem Gebäude in Lhasa vergraben. Es ging das Gerücht um, der 13. Dalai Lama habe sie über ein Jahrhundert später Nikolaus II, dem letzten russischen Zaren, zum Geschenk gemacht. Wie auch immer, bis heute hat ihr Eigentümer die Krone nicht wiedergesehen oder zurückerhalten. Schließlich wurde offiziell ein Erlaß herausgegeben, der Shamarpas Wiedergeburt ausdrücklich verbot - für westliche Gemüter eine recht bizarre Idee.

Jahrhunderte lang hatte sich Shamarpa, der wichtigste Schüler der aufeinanderfolgenden Gyalwa Karmapas und der zweithöchste in der spirituellen Hierarchie der Kagyü-Linie, an der Seite seines Lehrers wiedergebären lassen. Als im Jahre 1638 der 5. Dalai Lama und die Gelug-Hierarchie die Macht übernahmen, wurde sowohl Shamar Tulku als auch Karmapa das Ziel offizieller Einschränkungen und auferlegter Schwierigkeiten. Hundert Jahre später erfuhr die Kagyü-Linie dank der beträchtlichen Aktivität des 8. Tai Situ, eines weiteren nahen Schülers Karmapas, eine Wiederbelebung im fernen Kham. Weit entfernt vom inquisitorischen Blick der Regierungsminister und unter dem Schutz eines lokalen Königs, blühte Situ Rinpoches Kloster Palpung im Osten des Landes auf. Shamarpa - ein Meister der Logik, sowie ein Bruder des damaligen Panchen Lama, des zweithöchsten in der Gelugpa-Hackordnung - war entschlossen, den Erfolg, den Tai Situ in Kham errungen hatte, in Zentraltibet zu wiederholen. Da er jedoch von seinem Hauptsitz Yangpa Chen aus, der nur eine Tagesreise von Lhasa entfernt war, agieren mußte, besaß er wenig Handlungsfreiheit. Um sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen, tat er sich mit seinem Bruder zusammen. Der Panchen Lama, der selbst einen Groll gegen die Gelug-Politiker hatte, weil sie ihm den Thron Tibets verweigerten, war ein perfekter Verbündeter. Seit der chinesische Kaiser dem 5. Dalai Lama und seinem Königreich eine rotierende Monarchie aufgezwungen hatte, hatten die Panchen Lamas vergeblich darauf gewartet, die Zügel der Macht in die Hand zu bekommen. Die herrschenden Kräfte in der Hauptstadt beobachteten die neue Verbindung mit begründeter Besorgnis. Daß sich der zweithöchste Mann der Kagyüs mit einem Anwärter auf den Thron zusammentat, bedeutete eine direkte Herausforderung der Gelug-Herrschaft. Als dann die beiden Brüder Kontakt mit dem Raj in Indien aufnahmen und eine britische Delegation in Tashi Lhünpo, dem Hauptkloster des Panchen südlich von Lhasa, beherbergten, entschloß sich die Regierung zu handeln. Der Panchen Lama wurde mit einem Auftrag nach Peking versetzt, wo er auf mysteriöse Weise verstarb. Seines Bruders Schutz beraubt, floh Shamarpa nach Nepal und wurde sofort beschuldigt, ein Komplott gegen sein Land zu schmieden. Und obwohl er im Konflikt zwischen Nepal und Tibet vermittelte, waren seine Tage als berühmter Tulku gezählt. Als Kampf zwischen den beiden Himalaya-Staaten ausbrach, sah Tenpai Gönpo, ein einflußreicher Gelug-Minister, eine ideale Gelegenheit gekommen, um die Regierung und die „Gelbhut-Schule“ ein für alle mal von einem gefährlichen Rivalen zu befreien. Shamarpa wurde öffentlich für Tibets schmerzlichen Rückschlag in der militärischen Auseinandersetzung verantwortlich gemacht und zum Verräter erklärt. Bald darauf wurde es ihm offiziell untersagt sich wiedergebären zu lassen. Seine Klöster wurden übernommen und seine engsten Mitarbeiter gefoltert und getötet.

Als Opfer einer politischen Intrige ließ sich Shamarpa in den folgenden zweihundert Jahren unter der schützenden Obhut Karmapas heimlich wiedergebären. Die Mantras, die gegen seine Wiedergeburt rezitiert wurden, hatten wenig Effekt. Die Anordnung jedoch, die ihn aus den Augen der Öffentlichkeit verbannte, wurde streng durchgesetzt. Die Zentralregierung, die ihre politische Vorherrschaft schützte, stellte sicher, daß kein Shamar-Tulku formell anerkannt wurde. „Schwarz wurde weiß, das Wirkliche unwirklich. Zu dieser Zeit war es nicht machbar, irgendeinen Shamarpa anzuerkennen oder zu inthronisieren. Alles wurde geheimgehalten. Die Inkarnationen erschienen, wurden aber nicht offenbart.“ So kommentierte der 16. Karmapa diese schwierige Zeit.

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Ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts brauten sich dunkle Wolken am Horizont Tibets zusammen. Nachdem die dekadente Manchu-Dynastie im Reich der Mitte von der Macht vertrieben worden war, und der Versuch einer Republik in einer mit den Japanern ausgehandelten demütigen Niederlage endete, ergriff in China 1949 ein noch viel unbarmherzigeres und repressiveres Regime die Macht. Die siegreichen Kommunisten, die neuen Herren in Peking, hatten eines mit ihren Vorgängern gemein: Die tiefe Überzeugung, daß Tibet ein wesentlicher Bestandteil Chinas sei. Sie besaßen jedoch weniger Skrupel und ein bedrohlicheres und fanatischeres menschliches Kraftpotential, um den jahrhundertealten Traum Pekings zu verwirklichen: die gewaltsame Vereinigung Tibets mit dem Mutterland.

Der dynamischen Persönlichkeit von Thubten Gyatso, dem 13. Dalai Lama, gelang es trotz allem, die Souveränität Tibets zu bewahren. Er war entschlossen, sich China vom Leib zu halten und reichte den Kagyüs und den anderen Linien eine Hand zur Zusammenarbeit. So wurde der 15. Karmapa nach jahrhundertelangem Ausschluß als Partner und Freund in Lhasa willkommen geheißen. Zum Wohle der nationalen Einheit wurden die harten Gesetze, die auf rivalisierende Schulen abzielten, gelockert. Auch Shamarpa profitierte vom neuen politischen Klima. Wenn auch der niederträchtige Bann gegen seine Wiedergeburt nicht aufgehoben wurde, wurde er doch während der Amtsdauer des 13. Dalai Lamas an der Seite Karmapas toleriert. Diese Nachsicht wurde aber nicht von allen gebilligt. Die ultrakonservativen Fraktionen, die die drei riesigen Gelug-Klöster von Lhasa vertraten, fanden es nicht weise, die anderen Linien als gleichwertig zu behandeln und unterliefen permanent die Bemühungen des Dalai Lamas, eine gemeinsame nationale Front sicherzustellen.

Während der auf den Tod Thubten Gyatsos im Jahre 1933 folgende Regentschaft und bevor Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, erwachsen wurde, fehlte dem Land eine starke Hand, um die Kräfte in den Griff zu bekommen, die Tibet in die moderne Welt zogen. Es wurden keinerlei politische Reformen durchgeführt. Das Land, schwach und militärisch unfähig, versuchte nicht einmal, eine einigermaßen moderne Truppe auf die Beine zu stellen, ebensowenig suchte es nach internationalen Sicherheitsgarantien. Blinder Glaube an die Dharmapalas, die buddhistischen Transformationen alter Götter Indiens und Tibets, die durch rituelle Anrufung dem heiligen Königreich in Zeiten der Gefahr beistehen sollten, wurden als ausreichender Schutz gegen einen Aggressor angesehen. Der kommunistisch-chinesische Aufmarsch in den späteren Vierziger Jahren an der östlichen Grenze bereitete der zentraltibetischen Regierung nur wenig Sorge und die Zeichen der sich anbahnenden Tragödie wurden weitgehend ignoriert. Statt dessen war die sektiererische Herrschaft in Lhasa wieder einmal damit beschäftigt, den drei anderen buddhistischen Schulen ihre Oberherrschaft aufzuzwingen.

Zu allem Unglück kam noch hinzu, daß diese Himalaya-Theokratie außerhalb des sino-mongolisch-indischen Dreiecks praktisch unbekannt war. Die freien Weltmächte hatten wenig Lust, sich mit China wegen irgendeiner entlegenen und verlassenen Gegend anzulegen. Dieser Mangel an Entschlossenheit kam Peking zugute und machte Tibet zu einer viel zu leichten Beute. Aber selbst wenn die tibetische Regierung in einer Anstrengung in letzter Minute ihre kleinlichen Rivalitäten abgeschüttelt und einen nationalen Widerstand organisiert hätten, wäre sie mit Sicherheit kein ernstzunehmender Gegner für die Volksbefreiungsarmee gewesen. Die bloße Größe des Angreifers wäre schon überwältigend gewesen. In typisch tibetischer Manier zeigte sich jedoch kein Erwachen des Volkes, und in seinen letzten Jahren erlebte das Land statt eines Aufrufs zu den Waffen vielmehr nur endlose Fehden und schließlich Verrat.

Als die kommunistischen Chinesen im Oktober 1950 Osttibet angriffen und anschließend das restliche Königreich infiltrierten und übernahmen, waren die Tibeter nicht auf der Hut. Unfähig oder nicht willens eine gemeinsame Front gegen den Angreifer zu errichten, blieb die tibetische Regierung auffallend passiv. Die einzig kampfbereiten - die Khampas - brauchten Waffen, die ihnen die herrschenden Kräfte nicht zu Verfügung stellten. Statt dessen wurden die Waffenlager in Chamdo, im Osten des Landes, auf Befehl des Regierungsbeamten und Verräters Ngabö in die Luft gejagt. Ohne den sich schnell nähernden chinesischen Truppen Widerstand entgegenzusetzen, sorgte Ngabö dafür, daß die Widerstandskämpfer im Osten ohne Waffen blieben. Von Lhasa im Stich gelassen, seiner militärischen Führung beraubt und ohne eine fähige Kampftruppe, fiel Kham in nur wenigen Wochen den Kommunisten in die Hände.

Die tibetische Regierung wiederholte 1951 ihre katastrophale Darbietung aus dem Jahre 1950 und unterzeichnete im Mai unter der Führung des sechzehnjährigen 14. Dalai Lama den umstrittenen Siebzehn-Punkte-Plan, in dem Tibet formal die chinesische Oberhoheit akzeptierte, wenn dem Land auch eine lokale Autonomie zugestanden wurde. Als sich 1959 die Bevölkerung von Lhasa endlich gegen die chinesische Armee erhob, konnte sie mit ihrem Kampf nichts mehr von dem rückgängig machen, was die Politiker bereits auf dem Papier verschenkt hatten. Der verzweifelte Aufstand wurde brutal niedergeschlagen und Tibet verschwand von der politischen Weltkarte. Die Kommunisten hatten jetzt freie Hand, um den Völkermord an der tibetischen Nation zu beginnen. Der junge Dalai Lama und seine engsten Begleiter flohen im letzten Moment, als die Chinesen die Hauptstadt besetzten. Seine Flucht setzte einen Massenexodus von Mönchen und Lamas über den Himalaya in Gang. Jahre zuvor hatte schon der 16. Karmapa, mit mehr Voraussicht, seine Leute auf die Flucht vorbereitet und erreichte wie geplant mit seinen vier engsten Schülern und anderen Tulkus das Königreich Bhutan im Ost-Himalaya.

Nachdem sie in Indien angekommen waren, befanden sich die Vertreter der vier Schulen plötzlich auf der gleichen Stufe. Die Macht der Gelugpas und die Vorherrschaft der zentraltibetischen Regierung hatten sich über Nacht verflüchtigt. Alte Fehden verblaßten im Vergleich zum Ausmaß der gegenwärtigen Katastrophe. Die vom Glück begünstigten Lamas, denen es gelungen war, die schwere Prüfung der chinesischen Invasion und die Qual einer Himalaya-Überquerung zu Fuß im Winter zu überleben, hatten nun die große Aufgabe, das, was sie von der Zerstörung Tibets hinübergerettet hatten, im Exil wieder aufzubauen. Beeinflußt durch die Freundschaft mit dem 16. Karmapa und weil er einsah, daß Zusammenarbeit nun lebenswichtig war, beschloß der 14. Dalai Lama den zweihundert Jahre alten Bann aufzuheben. Nach Jahrhunderten der Abwesenheit wurde Shamar Tulku wieder offiziell anerkannt, diesmal auf indischem Boden. Für einen Moment sah es so aus, als ob das Ausmaß des Desasters und der Status der verzweifelten Flüchtlinge in einem verarmten Land die Tibeter dazu zwingen würde, Vernunft anzunehmen und zusammenzuarbeiten.

Wie sich später jedoch herausstellen sollte, war nicht einmal der totale Zusammenbruch des Landes Unglück genug, um die kollektive Tendenz der Nation zum Streit zu beugen. Kaum hatte sich der Staub nach der Katastrophe wieder gelegt, wurden die Fehden der alten Tage in ihrer alten Inbrunst wieder aufgenommen. Das alte Lhasa-Regime, verborgen hinter seinem neuen Namen als „Tibetische Exilregierung“ und von seinem neuen Sitz in Dharamsala im West-Himalaya aus regierend, führte die alte Tagesordnung der Feindschaft gegen die anderen buddhistischen Schulen weiter. Die Mitglieder dieser illustren Gesellschaft nahmen mit dem gleichen fehlgeleiteten Enthusiasmus die Vorurteile, Rivalitäten und Kämpfe der Vergangenheit wieder auf. Insbesondere die Khampas galten als ernsthafte Bedrohung des neuen Bestrebens der Gelugpa-Administration: alle Exiltibeter zu vertreten und zu kontrollieren.

Gyalo Döndrup, der unverfrorene Bruder des Dalai Lama, beschloß, daß die beste Antwort auf Maos Invasion und die Zerstörung ihres Landes sei, Tibet und die tibetische Exil-Politik an die neuen kommunistischen Gegebenheiten anzupassen. Dreist schlug er vor, die alten buddhistischen Schulen und die ganze opulente religiöse Show abzuschaffen, und so die hohen Lamas auf den Boden der Realität zu bringen. „Keine Throne mehr, keine Rituale mehr und auch kein Goldbrokat“ soll er geäußert haben. Seine Worte pflanzten Ängste in die Herzen der Lamas. Als weitere Einzelheiten des ausgearbeiteten Planes bekannt wurden, war klar, daß ein Coup gegen drei der vier Schulen ausgeheckt wurde. Die neue religiöse Organisation, die die traditionellen Linien ablösen sollte, sollte von der Gelug-Hierarchie kontrolliert werden. Die besorgten Lamas eilten zu Karmapa und baten ihn um Hilfe.

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Nachdem Karmapa von der Herrscherfamilie eingeladen worden war, sich in dem Königreich Sikkim im Ost-Himalaya niederzulassen, gründete er 1961 das Kloster Rumtek. Es wurde bald zu einem wichtigen Studienzentrum und nahm eine zu Dharamsala gleichwertige Stellung ein. Seine zwei engsten Schüler - der wieder eingesetzte Künzig Shamarpa und der Tai Situ - sowie der frisch eingebundene Jamgon Kongtrul und Goshir Gyaltsab wurden unter seiner direkten Führung in dem neuen Kloster und Institut ausgebildet.

Obwohl sich Karmapa mit Bestimmtheit von tibetischer Politik fernhielt, zählte seine Stimme, was die Angelegenheiten dieser Region betrafen. Er wurde von verschiedenen Nationen des Himalaya hoch verehrt und für die Khampas war sein Wort Gesetz. Die kriegerischen Osttibeter wie auch eine Anzahl von Lamas, die unter den Druck der Exilregierung geraten waren, suchten an seiner Seite Beistand und Unterstützung. Die neueste Initiative Dharamsalas, alle Schulen in einer Organisation aufgehen zu lassen, bedrohte die Schulen in ihrer Selbständigkeit. Wenn dieser Schritt durchgeführt worden wäre, so hätte dies das Ende vieler einzigartiger buddhistischer Praktiken bedeutet, die jede Linie als ihre Besonderheit über Jahrhunderte bewahrt hatte. Da sie nicht das geringste Interesse daran hatten, von dem großen Bruder verschluckt zu werden, gründeten dreizehn große tibetische Siedlungen - überwiegend Flüchtlinge aus Kham - eine politische Allianz und wählten Karmapa zu ihrem spirituellen Oberhaupt. Ein mächtiger und oppositioneller Gegenpol zum Dalai Lama und der offiziellen Linie von Dharamsala war entstanden. Die neue Koalition wehrte sich erfolgreich gegen die Idee, die religiöse Vielfalt Tibets abzuschaffen, und schließlich mußte der irregeleitete Plan aufgegeben werden. Die Regierung aber konnte Karmapas kompromißlose Haltung in dieser Auseinandersetzung ebensowenig verzeihen, wie seine Mißachtung der Autorität des Dalai Lamas und so wurden die Kagyüs zur Zielscheibe geschmackloser Angriffe. Als 1976 Gungthang Tsultrim, der politische Führer der Allianz, ermordet wurde und sein Attentäter gestand, auf Anweisung der tibetischen Exilregierung gehandelt zu haben, lebten sich Rumtek und Dharamsala noch weiter auseinander. Die anfängliche Freundschaft zwischen dem Dalai Lama und Karmapa wurde unter den schmerzlichen Tatsachen begraben.