S(n)o(w) in Love - Maddie Sage - E-Book

S(n)o(w) in Love E-Book

Maddie Sage

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Beschreibung

Ein Schneesturm macht es kurz vor Weihnachten etlichen Menschen unmöglich, das Fest mit ihren Lieben zu verbringen. Unter ihnen ist auch Graham Moore, dessen Frau vor wenigen Monaten verstorben ist und der sich nichts sehnlicher gewünscht hätte, als die Feiertage mit seiner Familie zu verbringen. Aus der Hoffnung heraus, andere Menschen damit anzusprechen, hängt er im Supermarkt eine Einladung zum gemeinsamen Weihnachtsessen auf. Die junge Frau Becky und der Star-Architekt Andrew melden sich daraufhin bei ihm. Neben einigen Überraschungen hält der Abend die unterschiedlichsten Geschichten bereit ...

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1 Becky
2 Andrew
3 Hannah
4 Becky
5 Andrew
6 Hannah
7 Becky
8 »Rudolph«
9 Andrew
10 Becky
11 »Rudolph«
12 Becky
13 Andrew
14 Becky
15 Hannah
16 Becky
17 Hannah
18 ???
19 Becky
20 Nate
21 Andrew
22 Hannah
23 Becky
24 Andrew
25 Hannah
26 Nate
27 Becky
28 Andrew
29 Nate
30 Hannah
31 Nate
32 Becky
33 Andrew
34 Hannah
35 Becky
36 Nate
37 Becky
38 Graham
24. Dezember
Danksagung

Maddie Sage

 

S(n)o(w) in Love

 

 

 

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch und Hörbuch erschienen.

S(n)o(w) in Love

 

 

Copyright

© 2023 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

 

Lektorat: Vanessa Lipinski

Korrektorat: Désirée Kläschen

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von 123rf

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz,

 

VAJONA Verlag

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

ISBN: 978-3-98718-125-2

VAJONA Verlag

Für alle, die an Weihnachten

jemanden vermissen.

Ihr seid nicht allein.

 

 

Und für meine Großeltern.

Ich weiß, dass ihr stolz auf mich wärt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

23. Dezember

Markt und Straßen stehn verlassen,

Still erleuchtet jedes Haus,

Sinnend geh’ ich durch die Gassen,

Alles sieht so festlich aus.

 

– Joseph von Eichendorff

1 Becky

Dezemberflocken

 

»Verdammt, geht das nicht schneller voran? Manche Menschen haben um halb elf wichtige Termine, die sie nicht verpassen dürfen!«

Ein Typ in der Schlange wettert gegen unseren Service und hebt demonstrativ seinen mit einer Smartwatch bestückten Arm in die Höhe. Über das Klappern des Geschirrs und das laute Quatschen der Leute hinweg höre ich den Mann kaum. Was mir ganz recht ist, da ich ihm sonst vermutlich den Orangensaft ins Gesicht gekippt hätte.

Draußen vor den mit Tannenzweigen und Lichterketten geschmückten Fenstern rieselt unaufhörlich Schnee in dicken Dezemberflocken. Im Hintergrund ist leise ein kitschiges Weihnachtslied zu hören. In der Eile kann ich es nicht zuordnen, da ich gleichzeitig versuche, die Bestellung der Familie am Tresen aufzunehmen und den lästigen Gast zu ignorieren.

Ich wusste schon heute Morgen, dass dies ein anstrengender Tag werden würde. Meinen Wecker wollte ich am liebsten überhören, mein Rührei brannte an und in meinem Adventskalender steckte Vollmilchschokolade mit Erdnüssen – dabei war ich dagegen allergisch.

Im Café ist die Hölle los, alles tut mir weh und statt der vereinbarten Stunde helfe ich inzwischen bereits drei aus. Die Physiotherapeutin meinte, ich würde mir mit dieser Arbeit keinen Gefallen tun, doch ich kann unmöglich den ganzen Tag über in meiner Wohnung hocken und Däumchen drehen. Sollte ich etwa die vor dem Fenster rieselnden Schneeflöckchen zählen?

»Du weißt, ich würde dich gern gehen lassen, aber du siehst, dass das gerade unmöglich ist«, beteuert meine Chefin Judy immer wieder mit einem entschuldigenden Schmollen, bevor sie sich der Zubereitung des Cinnamon Cappuccino widmet.

Das sehe ich und es gefällt meinem Körper kein bisschen, aber das sage ich ihr nicht, da ich die Arbeit hier eigentlich mag und fürs Erste behalten möchte. Wenn Judy von den Worten meiner Physiotherapeutin wüsste, hätte sie mich längst wieder nach Hause geschickt.

Dabei weiß ich nicht einmal, wie lange ich noch hier in Northshire bleiben werde. Länger als über die Feiertage? Oder würde ich spätestens nach Silvester wieder verschwinden?

Kommt wohl darauf an, wie viel Schnee in den nächsten Tagen noch vom Himmel fällt und wie lange dieser meint, liegenbleiben zu müssen. Bisher sieht es jedenfalls danach aus, als würde es weiße Weihnachten geben. Etwas, wovon ich als Kind immer geträumt und was ich doch nur selten erlebt hatte. Oftmals war in New York die Zeit nach den Feiertagen die schönste, wenn ich mit meinen Leuten vom Tanzstudio im Laternenlicht noch durch die Parks schlenderte. Doch das gehört der Vergangenheit an, denn meine Gegenwart findet in einer Kleinstadt in England statt, in der ich kaum weiter vom Big Apple entfernt sein könnte.

»Träumen Sie bei der Arbeit?«

Wenn der wüsste.

Der Typ, der es eilig hat, ist als Nächster dran und stiert mich wütend an.

Ich setze ein falsches Lächeln auf und lasse seine Unhöflichkeit einfach an mir abprallen. Eine Fähigkeit, die ich bereits in den ersten Tagen meines neuen Jobs hatte erlernen müssen. Als ob das Zubereiten von Latte Art nicht schon anstrengend genug gewesen wäre.

Ich atme tief durch und richte mich an den nervtötenden Mann mit angegrauten Haaren, der einen maßgeschneidert wirkenden Anzug und im Glanz der Lichterketten schimmernde Manschettenknöpfe trägt. Seine Augenbrauen zieht er zu einer wütenden Linie zusammen.

»Wird’s bald?«

»Ich wünsche Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen«, sage ich betont freundlich. »Was darf es für Sie sein?«

»Zwei Zimtschnecken und einen großen, schwarzen Kaffee mit der stärksten Röstung, die Sie haben.« Bei seiner Bestellung sieht er mich nicht an, sondern ist in sein Handy vertieft, auf dem er wie wild herumtippt.

Ein nettes ›Bitte ‹ hätte es auch getan.

Ich seufze und werfe meiner Kollegin Dina einen angesäuerten Blick zu. Für die routinierte Bearbeitung brauche ich keine drei Minuten und stelle dem superbeschäftigten Typen die Bestellung vor die Nase. Ich tippe alles in der Kasse ein und schiebe die Tüte mit den Zimtschnecken weiter über den Tresen, da er keine Anstalten macht, sich zu rühren.

»Neun Pfund einundachtzig, bitte«, bringe ich in meinem freundlichsten Ton hervor.

Er zuckt zusammen und sieht mich an, als hätte ich behauptet, die weihnachtlichen Gebäckstücke gegenüber bei Wilfred’s wären besser als hier im Little Pastry.

Ich räuspere mich. »Sir?«

»Vor Weihnachten zieht ihr die Preise wohl noch mal richtig an, was?«, giftet er mir entgegen.

Perplex sehe ich ihn an, weil ich mit einer so fiesen Frage nicht gerechnet hätte. Sicher, nicht alle Gäste sind freundlich, aber mit solch argwöhnischen Kunden war ich bisher – zum Glück – selten aneinandergeraten. Die meisten zeigen Verständnis für die stressige Arbeit als Barista – gerade in der Vorweihnachtszeit.

»Sie sind nicht von hier, oder?«, frage ich stattdessen zurück, bemüht um einen ruhigen, besonnenen Ton, um den ich allerdings mehr als kämpfen muss. »Dann wüssten Sie nämlich, dass die Preise das ganze Jahr über kaum gestiegen sind. Trotz Inflation.«

Außerdem sieht er mit seiner Kleidung und den protzigen Accessoires nicht unbedingt wie jemand aus, der sich ständig über zu teuren Kaffee beschwert. Aber was weiß ich schon. In New York gibt es Leute, die in schuhkartongroßen Apartments wohnen, dafür aber in den Anzug ihres Lebens und kostspielige Uhren investieren, um den Schein aufrechtzuerhalten.

»Ist mir auch relativ egal«, brummt er und hält mir seine Kreditkarte hin, mit der er vor meinem Gesicht herumwedelt.

Warum hält er dann nicht einfach die Klappe, sondern muss einen dämlichen Kommentar abgeben?

Ich greife nach dem Lesegerät und stelle es vor ihm hin, damit er seine Karte auflegen, bezahlen und endlich verschwinden kann. Viel lieber bediene ich die Familie hinter ihm, denn der Junge klebt schon minutenlang an der Vitrine. Was ich zwar normalerweise nicht ausstehen kann, da Kinder entweder Fettflecken oder Spucke auf dem Glas hinterlassen, doch da morgen Christmas Eve und der Kleine sicher so aufgeregt ist, wie ich es in seinem Alter war, mache ich gern eine Ausnahme.

»Vielen Dank für Ihren Besuch.« Ich lächle dem Anzugträger entgegen. »Genießen Sie Ihren Kaffee und das Gebäck. Ich wünsche Ihnen wunderbare Festtage!«

Er rollt mit den Augen, packt seine Karte weg und schnappt sich die Papiertüte und den Becher. Irgendwie hoffe ich, dass er seinen superwichtigen Termin verpassen wird. Wer so unfreundlich ist und drängelt, hat es nur verdient, zu spät zu kommen. Für ein wenig Freundlichkeit ist meiner Meinung nach immer Zeit, egal wie sehr man im Stress ist.

»Danke, Ihnen auch«, bekommt er immerhin raus, bevor er sich endgültig umdreht und in der Menge der anstehenden Menschen verschwindet.

»Ich war kurz davor, ihm wegen der Preise einen Spruch zu drücken«, ruft Judy mir zu und zurrt ihren dunkelbraunen Zopf am Hinterkopf enger. »Was für ein Grinch.«

»Das kannst du laut sagen.«

Ich atme ein weiteres Mal tief durch, um mich wieder ein wenig zu entspannen und mir ins Gedächtnis zu rufen, dass es hauptsächlich vernünftige Gäste gibt, die Verständnis dafür haben.

Einen nach dem anderen bediene ich, verliere jegliches Zeitgefühl und komme mir wie bei einer Fließbandarbeit vor, da jeder Handgriff sitzt und die Bestellungen ineinander übergehen. Die Erschöpfung meiner Füße macht sich erst bemerkbar, als der größte Ansturm vorüber ist und ich mich zum ersten Mal für eine Pause auf einen der mit hellgrauem Stoff gepolsterten Holzstühle sinken lasse.

Als ich auf die Uhr schaue, bekomme ich fast einen Schreck, da es beinahe Mittag ist. Ich habe viel länger gearbeitet, als meine Physiotherapeutin gutheißen würde. Aber heute ist eine Ausnahme, denn Judy brauchte mich und würde mich vermutlich gleich noch fragen, ob ich spontan morgen ebenfalls aushelfen könnte.

»Zimtschnecke?«

Dina hält mir das Gebäck mit einer Serviette entgegen und reicht mir in der nächsten Sekunde noch einen Vanilletee, den Judys Grandma zusammenmischt und der der Renner hier im Café ist.

Hungrig beiße ich von der Zimtschnecke ab und bewundere wieder einmal, was Judy und ihr Mann täglich zaubern, um ihre Gäste glücklich zu machen. Sie hebt Dina und mir jeden Tag etwas auf. Wenn ich nicht arbeiten bin, bringt sie mir eine Papiertüte mit Köstlichkeiten vorbei, denn ich wohne nur wenige Häuser vom Café entfernt. Im Vergleich zu New York City sind die Mieten hier im Osten Englands spottbillig. Mein Apartment verfügt sogar über eine Fußbodenheizung, für die ich nun im Winter und bei diesem anhaltenden Schneefall mehr als dankbar bin.

»Was machst du morgen eigentlich, Becky?«

Dina fällt ein Krümel aus dem Mund, der auf dem dunklen Holzboden zwischen uns landet.

Ich zucke mit den Schultern. »Wahrscheinlich werde ich erst eine Runde FaceTime mit meiner Familie hinter mich bringen und mir dann Kevin allein zu Haus reinziehen. Kannst du noch einen dieser kitschigen Netflix-Filme empfehlen? Da kommen doch jedes Jahr zu Weihnachten gefühlt zehn neue raus.«

Meine Kollegin grinst und gönnt sich einen Schluck ihrer heißen weißen Schokolade, auf die sie eine riesige Portion Sahne mit Streuseln geladen hat. Auf ihrer Oberlippe erscheint ein kleiner weißer Bart, den sie mit der Zunge wegschleckt.

»Kennst du schon den mit diesem Prinzen?«

»Welchen von den zwanzig?«

Sie winkt lachend ab. »Okay, vergiss es.«

Schweigend essen wir unsere Zimtschnecken weiter und beobachten dabei das Treiben im Café, das nach den ersten Vormittagswellen langsam abflacht. Die meisten Leute haben sich bereits einen oder zwei Tage vor Weihnachten freigenommen, um die Zeit mit ihren Liebsten verbringen zu können. Etwas, das Mom und Dad auch stets getan haben, auch wenn ihr Terminkalender oft voll war. Doch an den Feiertagen und kurz davor ließen meine Mutter ihr Cello und mein Vater sein Saxofon stehen, um für meine Schwester und mich ein wunderbares Fest auf die Beine zu stellen. Meist kam unsere ganze Familie in der Wohnung zusammen, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, bis ich vor zwei Jahren mit zwanzig ausgezogen war.

»Und du?«, wende ich mich an Dina, da mir in diesem Moment wieder einmal bewusst wird, wie sehr ich meine Eltern und Gracie vermisse. Es ist das erste Weihnachtsfest, das ich völlig allein verbringen würde, dabei habe ich die Menschen stets bemitleidet, die in dieser Zeit einsam sein müssen. »Was machst du morgen und die nächsten Tage?«

Dina lächelt und trinkt noch einen Schluck aus ihrer Tasse. »Bei uns ist immer alles komplett durchgetaktet, weil Jeffreys Familie ja drei Orte weiter wohnt und wir unsere beiden Familien besuchen wollen. Dann noch die Bescherung mit den Kindern … Wir wechseln jedes Jahr durch, bei wem wir am ersten Feiertag sind und bei wem am zweiten. Jeder bringt was zum Essen mit und wir gehen geschlossen in die Kirche.«

»Klingt nach ziemlich viel Stress«, schlussfolgere ich aus ihrem tiefen Seufzen.

Ihre Augen glänzen und sie lässt den Blick verträumt über den weihnachtlich dekorierten Innenraum des Little Pastry wandern. Von der Decke hängen beleuchtete Schneeflocken, auf den Tischen stehen Weihnachtssterne, die sich teils in den gläsernen Töpfen an den Wänden wiederfinden, und über der Tür hängt ein dicker Mistelzweig. Den Tresen und die Vitrine mit Köstlichkeiten zieren etliche Lichterketten, Tannenzweige und goldene Christbaumkugeln.

»Aber es ist positiver Stress und ich mag dieses Traditionelle, das wir unseren Kindern damit vermitteln wollen.« In ihrer Stimme liegt nichts als Wärme. »Ich liebe es, an Weihnachten mit allen zusammenzukommen und für ein paar Stunden zu entschleunigen. Der Alltag hat einen doch viel zu oft im Griff und macht, dass man die kleinen, wichtigen Dinge im Leben vernachlässigt, dabei liegt das Glück doch meistens vor der Tür.«

»Da hast du wohl recht«, murmle ich und verdränge die aufkommenden Gedanken an mein Leben in New York, das ich fürs Erste hinter mir lassen musste. Wenn ich an meinen schmerzenden Rücken erinnert werde, wird mein Herz jedes Mal schwer und ich wünschte, ich könnte zu dem Moment zurückreisen, an dem alles aus den Fugen geraten war. So wie in diesen Sekunden, in denen mir klar wird, dass ich heute eigentlich viel zu viel gemacht habe. Aber ich habe bis Silvester frei, deswegen will ich Judy in der stressigen Phase noch ein wenig helfen.

»Becky, du hast Feierabend. Den Rest schaffen Dina und ich auch allein, oder?« Judy kommt lächelnd auf uns zu, doch ihr Gesicht verzieht sich rasch wieder zu einer ernsten Miene. »Allerdings habe ich noch ein kleines Attentat auf dich vor.«

Ich trinke den letzten Schluck meines Tees und weiß schon, worum sie mich bitten wird.

»Könntest du morgen früh eventuell aushelfen? Mir ist klar, dass ich das nicht verlangen sollte, weil du hier bist, um dich auszuruhen, aber du hast gesehen, was heute Vormittag los war. Und James ist krankgeschrieben, bis morgen werde ich auf die Schnelle keine Aushilfe finden können.« Sie klingt so zerknautscht, wie sie mich ansieht. Auf ihrer Stirn haben sich einige Falten gebildet, die sie älter wirken lassen als sechsundvierzig.

»Ist kein Problem«, beteuere ich, obwohl meine Knochen mich dafür wohl am liebsten im Stich lassen wollen. Ich mute ihnen viel zu, doch in meiner Wohnung rumsitzen, wenn ich weiß, dass Judy auf mich angewiesen ist, könnte ich ebenso wenig. Davon abgesehen, dass ich keine Ahnung hätte, wie ich die Zeit bis zum Telefonat mit meiner Familie überbrücken sollte. »Wieder um halb acht?«

Sie nickt, dann wandert ihr Blick dankbar von mir zu Dina. »Dafür bekommt ihr auf jeden Fall einen Bonus und eine Tüte voller Leckereien. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen sollte.«

Besser, ich erwähne nicht, dass ich selbst nicht wüsste, was ich ohne diesen Job hier machen sollte. Dann würde ich vermutlich wie in New York den lieben langen Tag im Bett liegen, Netflix schauen, Schokolade futtern und Däumchen drehen. Genau das, was ich für die Tage zwischen Weihnachten und Silvester geplant habe.

»Das machen wir doch gern.« Dina lächelt unsere Chefin an und stellt unsere leeren Tassen in die Spülmaschine. Sie schaut nach draußen, wo weiterhin dicke Flocken vom Himmel fallen. »Wenn das so weitergeht, kriegen wir die Ladentür morgen ohnehin nicht auf. Wie viel mehr will es denn noch schneien?«

»Hey, nichts gegen weiße Weihnachten«, sage ich kichernd und betrachte den rieselnden Schnee ebenfalls.

»Grundsätzlich habe ich nichts gegen ein bisschen Schnee im Winter.« Dina kratzt sich am Kinn. »Aber diese völlig zugeschneiten Landschaften sind nur was für Pinterest oder Laptophintergründe. In der Realität sorgt der ganze Schnee für ein riesiges Chaos. Man kann nirgendwo mehr hin und hat an jeder zugefrorenen Ecke Angst, einen Unfall zu bauen.«

»Ist Entschleunigung nicht dein Ding?«, ziehe ich sie ein wenig auf.

»Schon, ja. Aber nicht auf Zwang und erst recht nicht, weil irgendein Wettergott meint, es mit dem Puderzucker da draußen zu übertreiben.« Sie schaut mich so ernst an, dass ich nicht anders kann, als in lautes Lachen auszubrechen.

Judy grinst ebenfalls, bevor sie sich einer Kundin zuwendet, die am Tresen steht und ausgiebig die Menükarte studiert, die in geschwungener Kreideschrift über unseren Köpfen hängt. Es ist keine riesige Auswahl, dafür aber eine besondere, in die die meisten Gäste sich erst einfinden müssen. Manche haben eben noch nie etwas von Marshmallow Dream Coffee oder Cinnamon Apple Tree Chocolate gehört. An manchen Tagen im November und Dezember bin ich es leid gewesen, den Leuten zum hundertsten Mal erklären zu müssen, um was es sich bei den Getränken oder Süßspeisen handelt. Doch meistens macht es mir Freude, sie über die Spezialitäten des Cafés zu informieren.

»Dann will ich mich mal auf den Weg machen. Nicht dass der Wettergott keine Ruhe gibt und ich morgen nichts zu essen habe.« Ich hieve mich von meinem Stuhl hoch und ein schmerzhafter Blitz zieht mir vom Scheitel bis zur Sohle. Mit einem erzwungenen Lächeln verdränge ich das Stechen in meinen Seiten und binde die Schürze von meinem Körper los. Wenn ich nicht dringend noch einkaufen müsste, wäre ich auf direktem Weg nach Hause gegangen und hätte mich mit einer Thermoskanne Tee ins Bett gelegt. Allerdings musste ich heute Morgen feststellen, dass sowohl mein Kühlschrank als auch mein Vorratsregal völlig leer waren, was über die Feiertage sicher nicht besonders clever wäre. »Außerdem will ich mir für die beiden Feiertage etwas kochen, zu dem ich meinen Eierpunsch trinken kann«, füge ich hinzu. Ich habe noch den selbst gemachten Eggnog bei mir zu Hause stehen, da ich vergessen hatte, die letzten Flaschen mit in das Paket für meine Eltern zu legen.

Dina lächelt. »Der, für den du extra einen Abend lang in der Küche gestanden hast, um für all deine Bekannten hier in Northshire zum Nikolaustag ein kleines Präsent zu haben? Ich habe den Eggnog geliebt.«

Morgen würde ich Dina und Judy noch eine Flasche mitbringen. Es ist nur eine Kleinigkeit, doch ich weiß nicht, was ich ihnen sonst schenken soll. Immerhin ist es selbst gemacht und nach unserem traditionellen Familienrezept zubereitet.

»Pass bloß auf, dass du dich nicht lang hinlegst, so frostig wie der Boden ist«, warnt mich Dina mit einem Nicken in Richtung der Schaufenster.

»Du klingst wie meine Mom.«

»Dann musst du eine ziemlich schlaue Mom haben.« Sie reckt das Kinn in die Höhe.

Mit einem krampfhaften Lächeln auf den Lippen verschwinde ich in den Aufenthaltsraum, klaube meine Sachen zusammen.

Dina hat mit ihren einunddreißig Jahren entweder schon so einiges erlebt oder ist einfach nur sehr weise. Wobei sie meint, das käme vom vielen Lesen. Aber ich denke, sie trägt eine harte Vergangenheit mit sich herum, nach der ich mich nicht zu fragen traue. Schließlich geht es mich nichts an. Jeder hat eben sein eigenes Päckchen zu tragen. So wie ich auch.

Atemlos stütze ich mich für einen winzigen Augenblick auf dem dunklen Holztisch ab und kämpfe gegen das Brennen an, das sich von meinem Rücken aus im ganzen Körper ausbreitet. Die Anzeichen sind eindeutig. Ich spüle die Schmerztablette mit einem Schluck Wasser hinunter, schnappe mir meinen dicken Mantel, den Schal und die Mütze aus meinem winzigen Spind und kehre zurück zum Tresen. Die Pille wirkt erst in ein paar Minuten – bis dahin muss ich vor Judy und Dina weiter so tun, als wäre es kein Problem für mich, morgen wieder zur Arbeit zu kommen, obwohl ich es damit nur schlimmer machen werde.

Meine Chefin hält mir eine prall gefüllte Papiertüte entgegen, die ich annehme, und diesmal ist mein Lächeln nicht aufgezwungen. Es knistert, als ich die Tüte in meinen Jutebeutel packe. »Danke.«

»Gern, meine Kleine.« Judy schenkt mir einen liebevollen Blick und deutet mit der Zuckerstange in ihrer Hand auf die Ladentür. »Ruh dich aus.«

»Mach ich«, beteuere ich. »Bis morgen, ihr beiden!«

Ich schlinge den Schal um meinen Hals und platziere die Mütze auf meinem Kopf. Vor dem Ausgang bleibe ich kurz stehen, schaue noch einmal mit einem Lächeln zu Judy und Dina. Ich atme ein letztes Mal für heute den vertrauten Duft des Cafés ein, diese Mischung aus Zimt, Vanilletee und Schokolade ist es, die ich mit der Vorweihnachtszeit in Verbindung bringe. Sie ist auch der Grund, weshalb ich mich Anfang November, als ich hergezogen bin, in diesen Ort verliebt habe. Er wäre die perfekte Kulisse für eine romantische Weihnachtskomödie.

Jeden Morgen, wenn ich zur Arbeit gehe, frage ich mich, ob es wirklich Menschen gibt, die an Weihnachten so etwas Kitschiges erleben, wie es immer in den Büchern und Filmen suggeriert wird. Wenigstens die Sache mit den weißen Weihnachten scheint dieses Jahr zu klappen.

Die Türglocke klingelt, als ich nach draußen trete und der eisige Winterwind auf mein Gesicht trifft. Auch hier atme ich tief durch, genieße, wie die Luft durch meine Lungen strömt.

Das Kreischen eines Kindes ganz in der Nähe lässt mich zusammenfahren und den Kopf ruckartig zur Seite wenden. Rasch entspanne ich mich wieder, als ich erkenne, dass es sich um zwei kleine Jungs handelt, die mit einem Schlitten über den zugeschneiten Bürgersteig rennen.

»Hallo, Rebecca«, ruft mir jemand von der anderen Straßenseite zu.

Ich kneife die Augen zusammen, um zu erkennen, um wen es sich handelt.

»Hey, Mike.«

Es ist mein Nachbar, der im Apartment gegenüber wohnt und nur ein Jahr älter ist als ich.

»Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof, mein Taxi müsste gleich kommen. Hoffentlich fahren die Züge bei diesem Wetter noch. Ich muss dringend nach London zu meinen Eltern.« Zum Beweis hält er mir einen riesigen Koffer entgegen. »Driving Home for Christmas und so.«

Wehmut überfällt mich von hinten, als mir wieder klar wird, dass ich dieses Weihnachtsfest völlig allein verbringen werde. Ich wollte es vor ein paar Wochen so, da es sich richtig angefühlt hat, doch nun, da es direkt vor der Tür steht, bereue ich diese Entscheidung zutiefst. Meine Eltern wollten mir das Flugticket nach New York spendieren, doch weil ich nicht zurück in diese verdammte Stadt wollte, hatte ich abgelehnt. Und die nächsten Tage werde ich – wie auch die letzten vierundneunzig Tage zuvor – einsam auf meinem Zimmer verbringen.

»Frohe Weihnachten, Mike.« Ich setze das falsche Lächeln auf, das ich seit mittlerweile über einem Jahr perfektioniert habe, und winke ihm zu. »Genieß die Zeit in London.«

»Dir auch frohe Weihnachten, Rebecca.« Er winkt grinsend zurück und seine Miene hellt sich auf, sobald ein Taxi vor ihm hält.

Bevor er meine Tränen sehen kann, stürme ich um die Hausecke und verschwinde im nächsten Supermarkt.

 

 

 

Vor Weihnachten habe ich öfters das Gefühl, statt der Feiertage würde ein Weltuntergang vor uns liegen. Einige Regale sind vollkommen ausgeräumt und ich bin froh, dass ich überhaupt ein halbwegs essbares Menü zusammenstellen kann mit den Lebensmitteln, die noch verfügbar sind. Es dauert eine geschlagene Stunde, bis ich alles habe und an der Kasse bezahlen kann.

Dank der Tablette von vorhin spüre ich zwar den Schmerz nicht, aber ich weiß, dass er da ist, und das ist in etwa dasselbe. Ächzend schultere ich meine Einkaufstasche, verabschiede mich vom Kassierer und will nur noch nach Hause.

Als ich aus dem Laden trete, fällt mir im Augenwinkel am Pinnbrett ein rotes Papier auf. Ein pixelartiger Weihnachtsmann prangt in der oberen rechten Ecke und hält einen Truthahn in der Hand – zumindest glaube ich, dass es einer sein soll. Ich mache einen Schritt auf das Brett zu und erkenne, dass es sich um einen gewöhnlichen Aushang handelt, bei dem vermutlich jemand auf den letzten Drücker noch Weihnachtsplunder loswerden will. So wie vorletzte Woche, als eine Frau ihr wunderbares Engelsgeschirr und die dazu passenden Servietten angepriesen hat. Der Aushang ist weg, also wird wohl irgendjemand Interesse an diesem äußerst hübschen Geschirr gehabt haben, von dem ein Foto beigelegt worden war – und das man eigentlich nur verschrotten konnte, so verboten sah es aus.

Irgendetwas an diesem roten Papier zieht mich trotzdem an, sodass ich innehalte und meine Einkäufe auf dem Tisch darunter abstelle, um den Text zu überfliegen. Vielleicht ist es ja diese seltsame Schrift oder die schwungvolle Unterschrift am Ende des Zettels. Jedenfalls genügt es, um mich in den Bann zu ziehen.

 

Sehr geehrter Leser,

 

wenn Sie meine Worte gerade entziffern, werden Sie an den Feiertagen vermutlich auch allein sein. Meine Frau sagte immer, sie würde die Menschen bedauern, die am Fest der Liebe allein zu Hause sein müssen.

Dank des seit gestern tosenden Schneesturms werde auch ich gezwungen sein, den Christmas Eve allein zu verbringen. Ich weiß, das ist eine sehr spontane Handlung und ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt eine Resonanz kommen wird, aber ich habe viel zu viel Essen für eine Person allein, von dem ich mindestens die Hälfte werde wegschmeißen müssen. Daher frage ich Sie, lieber Leser, ob Sie das Fest mit mir zusammen zelebrieren möchten. Es entstehen keinerlei Verpflichtungen und ich möchte bei Gott keine Geschenke haben. Mir ist das gemütliche Beisammensein viel wichtiger.

Ich hoffe, ich konnte Sie überzeugen, das Weihnachtsfest nicht allein, sondern die Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen.

Melden Sie sich gerne unter der Telefonnummer +441347638, dann besprechen wir alles Weitere.

 

Mit festlichen Grüßen

Graham Moore

 

Ich lese den Text erneut, da ich fast befürchte, verrückt zu werden. Soll das ein Scherz sein? Habe ich mich nicht vor wenigen Minuten noch darüber beschwert, dass ich am Christmas Eve nicht allein sein will?

Mit dem Handy mache ich ein Foto von dem Zettel und sehe zu, dass ich mit meinen Einkäufen nach Hause komme. Ich rufe bei Judy im Café an und frage sie, ob sie einen Graham Moore kennt.

»Ja, natürlich, jeder in Northshire kennt ihn«, erklärt sie. »Seine Frau ist vor Kurzem gestorben, dabei waren die beiden so was wie die Urgesteine der Stadt. Eine wunderbare Familie sind sie, die Moores. Wieso?«

»Ach, nur so.«

Ich schließe meine Wohnungstür ab und lege nach ein paar kurzen Abschiedsworten auf. Während ich die Lebensmittel einräume, kann ich nicht aufhören, an diesen Aushang zu denken.

Eine halbe Stunde lang tigere ich um das Bild herum und lese den Brief noch einige Male. Es ist völlig irrsinnig und womöglich nur ein Produkt meiner Sehnsucht nach meiner Familie, aber nachdem ich mir einen großen Kakao mit Marshmallows genehmigt habe, fasse ich einen Entschluss.

Mit zitternden Händen wähle ich die Nummer, die auf dem Zettel ausgeschrieben ist. Eine Weile ist nur das Freizeichen zu hören, bis es plötzlich in der Leitung knackt.

»Graham Moore hier, guten Tag.«

Die Stimme eines älteren Mannes meldet sich am anderen Ende.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und räuspere mich. »Hallo, hier ist Rebecca White. Ich habe Ihren Brief im Supermarkt entdeckt. Steht das Angebot noch?«

 

2 Andrew

 

Bauchgefühl

 

»Mr. Taylor, wie schön, dass Sie es pünktlich geschafft haben.« Sein Geschäftspartner lächelt ihm vom Bildschirm aus entgegen, ebenso wie der Rest seiner Abteilung. »Die Baupläne haben Sie vor sich liegen, oder?«

»Natürlich«, erwidert er und betrachtet das vor sich ausgebreitete Papier, auf dem das Projekt im Londoner Stadtteil Soho aufgezeichnet ist, für das sie ein fast achtstelliges Budget zur Verfügung gestellt bekommen haben. Direkt danach würden sie noch über den anstehenden Wettbewerb sprechen, der ausgeschrieben worden war und an dem sie direkt Anfang Januar arbeiten wollten, um einen ersten Entwurf vorstellen zu können.

Dieses Meeting würde sicherlich den gesamten Vormittag in Anspruch nehmen. Vermutlich sogar noch den halben Nachmittag. Gut, dass Andrew sich gleich eine ganze Kanne voll Kaffee zubereitet hatte. Ohne das Getränk würde er wohl keinen einzigen Tag in seinem Leben überstehen. Stress ist stets vorprogrammiert, aber immerhin scheinen die Pläne allesamt vernünftig vorbereitet worden zu sein, sodass er ab heute Nachmittag in seinen wohlverdienten Weihnachtsurlaub gehen konnte. Am Christmas Eve und in seiner Branche ist es eigentlich üblich, auch an den Feiertagen zu arbeiten. Er muss Bauanträge begutachten, Pläne durchgehen und neue Projekte an Land ziehen, wobei der letzte Punkt seit einigen Jahren wie von selbst läuft. Das Architekturbüro Taylor & Stevenson hat sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren einen skandalfreien, großartigen Ruf erarbeitet. Schüler, Studierende und Ausgelernte reißen sich um die wenigen freien Jobs, die das Büro jährlich ausschreiben kann. Die Einstellungskriterien sind inzwischen so hoch, dass sie ein Normalsterblicher kaum noch erfüllen kann – etwas, das ihm bei den Bewerbungsprozessen sauer aufstößt. Es war nie seine Intention gewesen, Menschen von ihrem Traumjob auszuschließen. Regelmäßig schlägt er vor, auch Absolventen, die nicht alle Kriterien erfüllen, zu einem Gespräch einzuladen, doch sein Wunsch wird damit abgetan, dass sie nur die Besten von den Besten wollen, die Crème de la Crème. Als ob es die anderen dreihundert Bewerber auf die zwei Stellen nicht ebenso draufhätten wie diejenigen, die vielleicht die besseren Noten geschafft haben. Intelligenz lässt sich seiner Meinung nach nicht anhand eines Abschlusszeugnisses ermitteln, dafür braucht man schon etwas mehr.

Erst vor wenigen Monaten wurde ihm dieser Punkt wieder einmal vor Augen geführt, denn da hatte sich der jüngst angestellte Cambridge-Absolvent als sozial völlig inkompetent herausgestellt, da er einen Bauzeichner zu Unrecht verbal angegangen war. Noch in seiner Probezeit hatten sie ihn gefeuert, denn es kam zu weiteren Vorfällen, bei denen er bewiesen hatte, dass er für das Unternehmen untragbar ist.

»Was sagen Sie zu der Raumaufteilung, Mr. Taylor?«

Eine der jungen Bauzeichnerinnen wendet sich mit schüchternem Blick zur Kamera, an ihrem Hals blinken rote Flecken auf. »Die Klienten haben sich einen offenen Loftstil gewünscht, wenige Wände und möglichst hohe Decken. Entspricht der Plan Ihren Vorstellungen?«

Er hatte die Skizze noch in der Nacht bis ins kleinste Detail inspiziert und keine Ungereimtheit finden können. Also lächelt er freundlich und nickt. »Gute Arbeit, Miss Sharma. Weiter so!«

Sie ist im letzten Lehrjahr und stets enorm engagiert, wie er es sich von jungen Leuten erhofft, die diesen Beruf erlernen wollen. Ihm gefällt es, dass sie zuerst die Lehre macht, um anschließend ein Architekturstudium zu beginnen. Hoffentlich wird das Unternehmen sie als Werksstudentin halten können. Es wäre ein Jammer, wenn sie zu einem anderen Büro wechseln würde.

Er nimmt einen Schluck Kaffee und widmet sich mit einem Seitenblick seiner Agenda. »Dann wollen wir zum nächsten Punkt kommen: dem Wettbewerb. Irgendwelche ersten Vorschläge?«

 

 

 

Am nächsten Morgen zieht ein Stechen in seinen Rücken. Die letzte Woche im Homeoffice hatte ihn an seine körperliche Grenze gebracht. Wo er im Büro in London normalerweise einen ergonomischen Schreibtisch besitzt, kann ihm hier nur ein alter Esstisch, Eiche rustikal, dienen. Seine Haltung ist furchtbar und weit entfernt von einer gesunden Wirbelsäulenstabilität.

Er nimmt sein Handy an sich und entdeckt als Erstes die sieben verpassten Anrufe. Alle aus dem Büro. Alle sind weit nach Mitternacht eingegangen. Zu gern hätte er seinen Angestellten verboten, an den Feiertagen zu arbeiten, doch die wenigsten würden auf ihn hören. Außerdem mag sein Partner, Zachary Stevenson, es nicht, den Mitarbeitern zu viele Freiheiten zu geben. Christmas Eve solle man wenigstens vormittags noch erreichbar sein, falls ein wichtiges Dokument reinkomme. Die zwei Weihnachtsfeiertage hingegen sind selbst bei Zac heilig, denn die verbringt er meist mit seiner Familie auf dem Land. Neben den Geburtstagen seiner Kinder sind dies die einzigen Tage im Jahr, an denen sein Studienkumpel sich Urlaub gönnt.

»Selbstständig sind wir, mein Freund. Das bedeutet, wir arbeiten selbst und ständig. Der einfachste Spruch der Welt«, hört er ihn in ihrem Versammlungsraum im Büro am Parkway mit Blick auf den Regent’s Park sagen und kurz darauf lachen.

»Irgendwann arbeitest du dich noch kaputt«, wendet Andrew immer ein und betrachtet seinen Freund kritisch, denn dieser ist in den letzten Jahren um einiges gealtert. Der Stress geht auch an ihm nicht spurlos vorbei, doch Zac scheint sich einige Probleme zu sehr zu Herzen zu nehmen. Hin und wieder erwischt er ihn dabei, wie er Anwärter als potenzielle Nachfolger in eine Kartei einordnet. Sie haben bereits darüber gesprochen, dass sie sich in den nächsten Jahren dringend um neue Partner im Büro kümmern sollten, da sie beide nicht jünger werden. Ein Testament haben sie bereits verfasst, denn schließlich weiß man nie, was passiert, auch wenn ihnen beiden dieser Aspekt ein wenig Bauchschmerzen bereitet hat. Aber für den Fall des Falles will alles geklärt sein, da konnten sie noch so starke Magenbeschwerden bekommen.

Sechs Uhr fünfzehn am vierundzwanzigsten Dezember.

Ein Tag wie jeder andere.

Der Dezember ist für ihn ebenso ein Monat wie jeder andere, außer dass er für die Geschenke für Mitarbeiter und seine Familie ein Heidengeld ausgibt. Teure Events, denen er beiwohnen muss. Spenden hier, Spenden da. Finanzierungen von Förderprogrammen fürs neue Jahr. Budgetplanungen, Abschluss der Jahresbilanzen. All das geht anteilsweise über seinen und Zacs Tisch. Die Taylor & Stevenson Ltd. gehört ihnen zu gleichen Teilen. Aus einer Juxidee nach dem Studium war eines der größten Architekturbüros Europas geworden mit Sitzen in England, Spanien, Österreich und Polen. Hätte ihm damals jemand gesagt, dass er in weniger als zehn Jahren Multimillionär wird, hätte er gelacht und sich noch ein Bier geöffnet, während er über seinen Mathematikunterlagen brütete. Dabei hatten Zac und er damals nur auf ihr Bauchgefühl gehört.

Der Aufbau eines Unternehmens ist hart und gerade in der ersten Zeit rauft man sich oft verzweifelt die Haare, wenn die Zahlen immer noch rot sind, obwohl sie laut Businessplan längst hätten schwarz sein sollen. Nicht wenige Male waren Zac und er kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen – bis zu dem Tag, an dem sie ihren ersten Wettbewerb gewannen und diesen zu vollster Zufriedenheit ihres Kunden ausführten. Ab dem Zeitpunkt zogen sie einen großen Fisch nach dem anderen an Land.

Finanziell ging es für sie beide bergauf, privat hingegen könnte die Fahrt bei Andrew nicht tiefer ins Tal führen. Der Preis für ein gutlaufendes Unternehmen ist oft hoch und er war nie bereit gewesen, ihn zu zahlen. Er hat alles versucht, um seine Familie zusammenzuhalten, doch es half nichts. Letztlich war alles auseinandergebrochen.

Weihnachten in Northshire hätte er sich letztes Jahr im Traum nicht vorstellen können. Nicht so, wie es jetzt ist. Wie er am Eichenholztisch sitzt und darüber grübelt, was er heute Abend essen wird.

Zuerst würde er sich gleich in diesem auf ›Vintage‹ und ›retro‹ getrimmten Café ein Heißgetränk holen und danach hoffentlich noch durch den kniehohen Schnee gestiefelt kommen, um sich mit Einkäufen für die nächsten drei Tage einzudecken. Normalerweise bucht seine Frau einen Lieferservice, doch so etwas gibt es in dieser Kleinstadt nicht und daher muss er sich selbst um seine Verpflegung kümmern. Vorm Festessen alles auf den letzten Drücker zu machen, ist sicher nicht die beste Idee. Die Läden würden voll sein von Menschen, die noch einen Bund Möhren, einen teuren Rotwein oder die letzten Geschenke besorgen.

Wie gut, dass er dieses Jahr nur für eine Person kochen muss. Dafür wird er wahrscheinlich wie für zwei Personen Wein trinken und die Geschenke hatte er in London schon verteilt. Oder sie besser gesagt per Post verschickt, da seine Frau – Pardon, Ex-Frau – es für leichter hielt, die Präsente nicht persönlich zu übergeben.

Er würde sich selbst nicht unbedingt als Weihnachtsfanatiker bezeichnen, aber die Feierlichkeiten hatte er schon als kleiner Junge genossen. Die Süßigkeiten in den Strümpfen, die bunt verpackten Geschenke und die Vorstellung, Santa Claus würde sie unter dem Baum verstecken.

Doch spätestens seit letztem Jahr war Weihnachten für ihn nicht mehr das Fest der Liebe, sondern vielmehr das Fest der Offenbarungen. Etwas, das er lieber wieder vergessen würde, da sich seitdem sein gesamtes Leben um einhundertachtzig Grad gedreht hatte. Zahlen hatten ihn seit seiner Kindheit begleitet, doch mit dieser einen Gleichung hatte er bis dahin nie gerechnet.

 

3 Hannah

 

Kostbarkeiten

 

»Du bist dir sicher, dass du diese Riesenmenge an Essen kochen willst?«

Sie steht mit Graham in seiner Küche vor einem Berg voller Lebensmittel, die sie gemeinsam eingekauft haben.

»Mir bleibt kaum etwas anderes übrig«, brummt er und betrachtet missmutig die vielen Papiertüten auf dem Tisch. Aus einer lugt ein Brotlaib, aus einer anderen ragen zwei Baguettes. »Das Essen war wie jedes Jahr bestellt. In all dem Trubel der letzten paar Monate habe ich wohl vergessen, es rechtzeitig abzubestellen. Kane wäre mir sicher entgegengekommen, aber er wirkte nicht sonderlich begeistert davon und murmelte ständig etwas von Verschwendung, womit er ja recht hat.«

»Klingt nach Kane«, erwidert sie mit einem müden Lächeln, denn die letzten paar Monate waren an Graham nicht spurlos vorbeigegangen. Aus seinem Mund klingt es, als hätte er etwas mehr Stress als sonst gehabt, dabei ist seine Ehefrau Patricia vor wenigen Wochen verstorben. Sie waren sechsundfünfzig Jahre miteinander verheiratet gewesen. Den Verlust hat er nicht mal eben so weggesteckt, das bemerkt sie immer wieder, wenn er sich unbeobachtet fühlt und die Tränen von seiner Wange wischt. Sie entdeckt ihn öfters dabei, wie er die Fotos von ihr ansieht, staubige Alben aus dem Keller holt und sich die guten alten Zeiten ins Gedächtnis ruft. Meist geht das mit weiteren Tränen einher, die er vor ihr zu verbergen versucht. Oft ist er vor die Tür gegangen oder hat sie in den Feierabend geschickt, um allein sein zu können.

Seit Patricia nicht mehr da ist, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, seinen Hausstand auszusortieren. Sicher als seine Form der Trauerbewältigung oder wenigstens als Ablenkung. Dabei hat er Hannah sogar schon einen alten Mixer und ein filigran bemaltes Kaffeeservice geschenkt. All die Kostbarkeiten, die sie im Laufe ihrer Ehe angehäuft haben, lässt er durch seine Finger gleiten wie die Körner einer Sanduhr.

»Albert und seine Frau können damit sowieso nichts anfangen. Außerdem hat Patricia ihnen letztes Jahr zu Weihnachten schon das alte Service ihrer Mutter geschenkt.« Graham streckte es ihr in einer angestaubten Box entgegen. »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich dir das hier vermache.«

Sie nahm es nach kurzem Zögern an und freute sich darüber, zu besonderen Anlässen ein Andenken an Patty und Graham zu haben. Erst vor ein paar Wochen stellte sie es auf den Tisch, um den zweiundfünfzigsten Geburtstag ihrer Mutter zu zelebrieren. Kaum zu glauben, dass die Moores länger verheiratet gewesen waren, als es ihre Mum auf der Welt gab.

Ihr Blick gleitet zum Küchenfenster, in dem eine von Patricias gebastelten Lichterketten hängt, die Graham und Hannah Ende November passend zum ersten Advent gemeinsam aufgehängt hatten. Die kleinen Lichter sind um einen dicken Stock gewickelt, den Patty seinerzeit von der Eiche im Garten abgeknipst hatte. Glitzernde Sterne, Christbaumkugeln und winzige, selbst gestrickte Socken hängen an dem Stock, der eine weihnachtliche Gemütlichkeit ausstrahlt, die ihresgleichen sucht. Einen solchen wollte Patricia ihr ebenfalls noch anfertigen, ehe sie es aufgrund ihrer fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr geschafft hatte.

Auch in ihre Augen treten Tränen, die sie nur mit Mühe unterdrücken kann. Die Moores waren in den letzten fünf Jahren, in denen sie sich nun schon um sie kümmert, nicht nur zu Freunden, sondern auch zu einem Großelternersatz geworden. Wie oft Patty ihr selbst gebackene Kekse mitgegeben hatte, die Tristan ihr bereits aus der Hand riss, sobald sie die Haustür öffnete.

»Ist dein Kleiner schon aufgeregt wegen Weihnachten?«, fragt Graham, als sie gemeinsam die Einkäufe aus den Tüten nehmen und verstauen. »Unsere Jungs waren bereits Wochen vorher aus dem Häuschen.«

Beim Gedanken an die glänzenden Augen ihres Vierjährigen überkommt sie ein warmes Gefühl. »Schon seit meine Mutter ihm den selbst gemachten Adventskalender ins Zimmer gehängt hat, gab es kein Halten mehr.«

Auf Grahams Lippen erscheint ein schmales Lächeln. »Was hat er sich dieses Jahr gewünscht? Wieder einen Bruder?«

»Eine Schwester.« Sie lacht und schüttelt den Kopf, dann platziert sie die Äpfel in dem dafür vorgesehenen Korb auf dem kleinen Esstisch, der gegenüber der Küchenzeile steht.

»Nächstes Jahr wird es wahrscheinlich ein Hund oder eine Katze.«

»Was wohl eher passieren wird, als dass er in nächster Zeit ein Geschwisterchen bekommt.« Ein Kind reicht ihr erst einmal. Zum einen ist da sowieso kein passender Mann, mit dem sie sich weiteren Nachwuchs vorstellen könnte, um damit Tristans Wunsch zu erfüllen. Und zum anderen könnte sie sich ein zweites Kind ohnehin nicht leisten. Ihre Mutter und sie kommen gerade so über die Runden, wenn sie sich die Monatsmiete für ihre Wohnung teilen.

Grahams Blick wandert wie ihrer zuvor zum Fenster. »Patty hat Schnee geliebt. Nicht nur mit den Kindern ist sie immer Schlitten gefahren, auch unsere Enkel haben es geliebt, mit ihrer Grandma den Hügel hinter dem Haus runterzudüsen.«

Draußen rieselt der Schnee wie bereits die letzten drei Tage vor sich hin und macht eine vernünftige Fortbewegung beinahe unmöglich. Die Folgen sind ein eingestellter Schienenverkehr, eingeschränkter Flugverkehr und die Tatsache, dass Graham nun viel zu viel Essen in der Küche hat. Sein Sohn Albert würde mit seiner Familie aufgrund dieser Witterungsverhältnisse nicht kommen können.

»Das glaube ich sofort.« Sie verstaut die Zwiebeln und die Kartoffeln im Küchenschrank. »Wie geht es Nathan und Elijah denn eigentlich?«

»Nate steckt mitten im vorletzten Studienjahr. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, dass er ans King’s College und nicht nach Cambridge gegangen ist, wie seine Eltern es wollten und wie Eli es getan hat. Der ständige Konkurrenzkampf wäre für niemanden gut gewesen, das hat Patty schon damals gesagt, als Nate sich auch für Cambridge beworben hat.« Graham schaut nachdenklich auf die Milchpackungen und stößt ein lang gezogenes Seufzen aus. »Mathe und Wirtschaft passen auch viel besser zu Nate als Jura. In dieser Branche macht Eli eine gute Figur. Die neue Kanzlei gefällt ihm sehr und er erzählt mir hin und wieder von den Abgründen der Menschheit, wenn er wieder einmal eine Pflichtverteidigung übernehmen muss.«

»Herrje, das glaube ich gern. Letztens habe ich eine Doku geschaut, in der es um einen Frauenmörder in den Neunzigern ging. Da bekommt man wirklich noch mehr Angst, einen Fuß vor die Tür zu setzen.« Gänsehaut überzieht ihren Körper bei der Vorstellung, Tristan würde ohne seine Mutter aufwachsen müssen, weil ein Killer sie am helllichten Tag von der Straße zieht, um ihr Gott weiß was anzutun.

»Es ist wirklich gruselig und meistens kaum zu glauben, was in den Köpfen mancher Menschen los ist«, bestätigt Graham. »Ich weiß nicht, ob es früher auch schon so extrem war oder man es heutzutage durch die Medien einfach nur häufiger mitbekommt.«

»Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte beider Erklärungen.«

Er nickt, doch rasch legt er die Stirn weiter in Falten. »Denkst du, es wird sich noch jemand auf den Aushang im Supermarkt melden? Vermutlich ist die Sache zu spontan gewesen, oder was meinst du?«

Hannah zuckt mit den Schultern. »Ich würde sagen, wir lassen uns einfach mal überraschen. Weihnachten ist das Fest der Liebe und bestimmt gibt es noch mehr Leute, die wegen des Wetters nicht zu ihren Familien oder Freunden fahren können.«

Graham will sich die Enttäuschung darüber nicht anmerken lassen, dass seine eigene Familie nicht kommen kann, doch Hannah sieht seiner gebückten Haltung an, wie sehr es ihm zusetzt, an diesem Weihnachtsfest – dem ersten ohne seine geliebte Ehefrau – allein zu sein. Umso mehr hofft sie darauf, dass jemand Zeit hat, morgen herzukommen und einen Abend mit Graham genießen zu können. Sie würde es ebenfalls versuchen, will aber nichts versprechen.

Graham streckt die Hand aus und dreht eine der gestrickten Socken um, die an dem beleuchteten Stock hängen. Ähnliche, nur ein paar Nummern größer, haben sie bereits aus dem Keller geholt, um sie vor den Kamin zu hängen. »Würdest du mir morgen beim Schnippeln und Tischdecken helfen?« Er verstaut den Truthahn im Kühlschrank und dreht sich zu ihr um. »Allein ist es wohl doch etwas zu viel Arbeit.«

»Aber natürlich.«

»Danke.« Seine Mundwinkel heben sich nur schwerfällig, fast so, als würden sie automatisch vom Gewicht der Trauer nach unten gezogen werden. »Und falls keiner kommen sollte, versuche ich den Großteil der Reste eben einzufrieren, damit nichts umkommt.«

»Das ist eine gute Idee.«

Er lässt sich auf einem der beiden Küchenstühle nieder, atmet tief aus und deutet auf die Kaffeemaschine, die vorhin noch geblubbert hat, mit einem Piepen nun aber zu verstehen gibt, dass das Heißgetränk fertiggebrüht ist.

»Kannst du mir einen eingießen?«, fragt Graham zwischen zusammengepressten Zähnen, während er sich über den Brustkorb reibt. »Und dir natürlich auch. In einer der Dosen auf der Küchenzeile müssten übrigens noch Kekse sein, wenn du welche möchtest.«

Hannah nimmt zwei Tassen aus einem der Hängeschränke und stellt sie auf den Tisch. »Selbst gemacht?«

»Selbst gekauft.«

Bei der Vorstellung, wie er vergeblich auf die köstlichen Plätzchen seiner Ehefrau wartet, zieht sich ihr Herz zusammen.

Der Kaffee ist rasch verteilt, die geöffnete Keksdose steht zwischen ihnen und verströmt einen Duft nach Vanille und Orangen. Sie nimmt sich ein Plätzchen und entdeckt die Tageszeitung, die verspricht, dass es die gesamte nächste Woche schneien und die Temperatur nicht über null Grad Celsius klettern soll.

»Wann hatten wir das letzte Mal ein solches Wetterchaos? Vor zwanzig Jahren?« Graham nickt abwesend. »Dreiundzwanzig Jahre müsste es mittlerweile her sein. Damals hat es auch zwei Wochen lang geschneit. Es war der Winter, als Oliver nach New York gezogen ist … Und an dem Tag, an dem er starb, war strahlender Sonnenschein.«

Sie schluckt schwer, denn vor einiger Zeit hatten die beiden ihr die furchtbare Geschichte über den Tod ihres jüngeren Sohns erzählt. Es hatte einen Raubüberfall auf das Juweliergeschäft von Oliver und seiner Frau gegeben, bei dem er getötet wurde, weil er einer Kundin das Leben rettete. Er wollte den Dieben die Schmuckstücke geben, doch als die Täter bemerkten, dass er den Notruf betätigt hatte, erschossen sie ihn eiskalt. Patty und Graham dachten vor anderthalb Jahren, sie würden ihres Lebens nichts mehr froh werden.

Eine Weile ist es still in der Küche, nur der Kühlschrank summt im Hintergrund. Graham streckt die Hand aus und greift nach dem Radio, um es anzustellen. Ein Weihnachtslied erfüllt den Raum mit seiner Melodie, das vom Klingeln einer Glocke begleitet wird.

»Seit sie nicht mehr da ist, ist es überall so schrecklich still«, murmelt Graham und erhöht die Lautstärke des Songs, der gerade an Fahrt aufnimmt. Die Sängerin hat eine wundervolle Stimme, die perfekt zur glücklichen Stimmung des Textes passt. Allerdings fühlt sich das Lied bei der gedrückten Atmosphäre hier im Raum falsch an. Hannah versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihr grotesk vorkommt, in diesem Moment des Gedenkens an Patty einen solchen Song zu hören.

»Alles ist so still geworden.« Er schwenkt die Kaffeetasse in seiner Hand hin und her und scheint in der Flüssigkeit nach etwas zu suchen. »Nicht nur die Welt ist stehen geblieben, auch in mir drin ist keine Musik mehr.« Sie kämpft mit den Tränen, weiß doch um Grahams Gabe, mit Worten umzugehen und mit ihnen mitten ins Herz treffen zu können. Doch diesmal erfasst seine Trauer sie unerwartet, zeigt ihr, wie groß die Liebe zwischen den beiden war und für ihn immer noch ist. Wie schrecklich es für ihn sein muss, die Person verloren zu haben, die das gesamte Leben an seiner Seite stand.

Graham räuspert sich, stellt seine Tasse zur Seite und schenkt ihr ein trauriges Lächeln. »Jedes Mal, wenn ich nun ein Weihnachtslied höre, denke ich daran, wie sehr sie dieses Fest geliebt hat. Dass sie immer durchs Haus getanzt und vor sich hin gesummt hat. Schon damals war mir klar, sie ist die Unbeschwertheit in meinem Leben. Und jetzt?«

»Geblieben ist nur das Gewicht, das sich aufs Herz legt und einen erdrücken will«, erwidert sie auf seine Frage, obwohl er darauf sicher keine Antwort haben wollte.

»Die Menschen hinterlassen Spuren in unserem Leben. Manche solche, die schnell wieder verblassen, andere solche, die so tief in unserer Seele verankert sind, dass sie nie mehr verschwinden werden.«

»Das sollte ich mir aufschreiben«, versucht sie, die Stimmung ein wenig aufzulockern, denn die Gedanken an ihre verkorkste Vergangenheit würde sie gerade nicht auch noch ertragen können. Dafür liegt die Trauer um Patty schon belastend genug auf ihrem Herzen.

Auch Graham scheint sich allmählich zu fassen, denn sein Blick klart wieder auf und er nickt ihr aufmunternd zu. Er spielt an der Brille herum, die an einem Band um seinen Hals baumelt und die er zum Lesen benötigt.

»Wollen wir den Tisch jetzt schon herrichten? Dann sparen wir uns morgen die Arbeit und haben mehr Zeit fürs Essen.« Er fährt sich durchs graue Haar und sieht sich in der Küche um. »Im Esszimmer steht noch das gute Weihnachtsgeschirr, das Patty sicher das Jahr über verstaut hat. Das können wir nehmen.«

Hannah schmunzelt und erinnert sich an ihre Mutter, die bereits gestern ihr gutes Geschirr rausgekramt hat, damit sie es morgen Abend fürs Festessen verwenden können. »Wie viele Service habt oder hattet ihr eigentlich?«

»Vier? Vielleicht auch fünf.« Graham zieht die Brauen zusammen, als würde er nachdenken, dann lacht er. »Warte, nein, es waren doch sieben. Eins hat Albert ja schon vor Jahren zur Hochzeit bekommen. Und Elijah haben wir eins zum Uniabschluss geschenkt.«

Kichernd erhebt sie sich, räumt die Tassen in die Spülmaschine und öffnet den Hängeschrank mit den Gläsern. »Für wie viele Gäste sollen wir decken?«

»Bisher hat sich nur ein junges Mädchen gemeldet. Rebecca heißt sie.« Graham tippt sich ans Kinn, dann steht er ebenfalls auf und wirft einen Blick auf die Sektflöten. »Aber bis morgen ist ja noch etwas Zeit. Vielleicht für sechs? Dann kommt das gesamte Service zum Einsatz.«

Hannah stimmt ihm mit einem Lächeln zu und macht sich auf den Weg, eine Tischdecke aus dem Vorratsraum zu holen. Nachdem diese ausgebreitet ist, platzieren Graham und sie die Teller, Gläser und das Besteck. Anschließend folgen Kerzen, Zapfen, dunkelrote Kugeln und glitzernde Streusterne. Im Hintergrund leuchtet der Weihnachtsbaum und der Duft der Tanne steigt ihr in die Nase, vermischt sich mit dem der Orangen, die in einer Schale auf der Kommode neben der Couch stehen. Die gesamte Atmosphäre könnte gemütlicher nicht sein.

»Du hast dir wirklich was Schönes einfallen lassen«, sagt sie mit einem Hauch von Ehrfurcht in der Stimme. »Wobei ich immer noch Angst habe, dass du merkwürdige Gestalten damit anziehen könntest.«

Auf Grahams Lippen bildet sich ein Grinsen, weil sie dieses Gespräch bereits führten, als er mit der Idee um die Ecke kam. »Sind wir nicht irgendwie alle merkwürdige Gestalten?«

»Du weißt, wie ich das meine. Leute, die deine Gutmütigkeit ausnutzen und dich bestehlen könnten.«

Zweifel kommen in ihr auf, wenn sie daran denkt, dass er die Gäste morgen Abend ganz allein empfangen wird. Ein Grund mehr, weshalb sie ihm unbedingt einen Besuch abstatten will. Sie würde es sich nie verzeihen, sollte etwas passieren und sie wäre nicht da gewesen, um nach dem Rechten zu schauen.

Er tätschelte ihre Schulter. »Es wir schon alles gut gehen, Hannah. Mach dir keine Sorgen um einen Greis wie mich.«

Im nächsten Moment klingelt das Telefon. Graham hebt ab, führt ein kurzes Gespräch und nachdem er aufgelegt hat, wird sein Schmunzeln breiter. »Sieht ganz so aus, als hätten wir morgen einen weiteren Gast.«

 

4 Becky

 

Wintereinsamkeit

 

 

Ich wandere ziellos durch meine kleine Wohnung, die mittlerweile zur Hälfte nur noch ein Lager für Wolle und Fläschchen mit selbst gemachtem Eggnog darstellt. Ein Wunder, dass ich zwischen all den Geschenktüten und Körben voll Garn überhaupt noch meine Schlüssel oder das Handy finde.

Auf dem Fernseher läuft ein Weihnachtsfilm, dessen Anfang ich schon wieder vergessen habe, aber es spielt wohl eh keine Rolle, wie er begonnen hat, da er ziemlich sicher mit einem Happy End gesegnet sein wird. Deswegen kann er auch gern weiter im Hintergrund bleiben. Einzig die gelegentlich zu mir schallenden Weihnachtsmelodien stimmen mich milde.

Seit ich hier in Northshire bin, werde ich das Gefühl nicht los, zu einer alten Dame zu mutieren. Ich sitze mit Häkelzeug auf einem Schaukelstuhl vor dem Fenster und starre hinaus auf die Straße. Trotz des Schneegestöbers lassen es sich die Leute nicht nehmen, die vorweihnachtliche Stimmung zu genießen, die diese Stadt versprüht. Die Idylle einer Kleinstadt ist gerade zu großen Festen nicht zu unterschätzen. Einmal habe ich eine Freundin aus der Highschool in den winzigen Ort begleitet, in dem ihre Großeltern leben. Dabei feierten sie dort nicht einmal Weihnachten, stattdessen gab es ein Sommerfest, zu dem ganze vier Tage ein riesiges Picknick abgehalten wurde. Es ist das wahrgewordene Stars Hollow, in dem sie leben. Und Fremde, wie ich nun mal ebenfalls eine war, gelten dort anscheinend als wahre Attraktion.

Ich musste nicht nur etliche Fragen über den Big Apple beantworten, sondern auch noch gefühlt meinen Stammbaum offenlegen, um zu beweisen, dass ich kein Alien bin. Bis zu diesem verlängerten Wochenende wusste ich nicht, wie sehr einen das Leben in einer Kleinstadt prägen kann. Schon nach kurzer Zeit wurde ich an jeder Ecke gegrüßt und alle, denen ich begegnete, kannten meinen Namen. Neuigkeiten verbreiteten sich dort schneller als ein Lauffeuer.

Und heute, fünf Jahre später, sitze ich in einer Wohnung, die mitten im Zentrum von Northshire – meinem persönlichen Stars Hollow – liegt. Wobei die Bezeichnung ›Zentrum‹ etwas zu vielversprechend klingt. Genau genommen gibt es hier eine Durchfahrtsstraße, an der alle Geschäfte liegen, die man für den Alltag gebrauchen könnte. Ein Supermarkt, eine Bücherei, ein Klamottenladen, eine Drogerie und eine Apotheke. Neben zwei Cafés, einem Restaurant und einem Imbiss ist das so ziemlich alles an Attraktionen, was die Stadt zu bieten hat. Abgesehen von dem Denkmal für einen der ehemaligen Bürgermeister, der seit ein paar Jahrhunderten schon tot ist.

Und seit Wochen kann ich mir nichts Besseres vorstellen, als nach draußen zu schauen, dem Winter dabei zuzusehen, wie er um sich schlägt, den Herbst vertreibt und die Welt in einen kalten Schlaf versetzt. Die Tage sind kürzer geworden, die Nächte länger. Die Liebeskomödien wurden vom knisternden Lagerfeuer bei Netflix ersetzt, das nichts als Gemütlichkeit verströmt – gerade beim Handarbeiten. Ebenso wichen die Picknicks auf der saftigen Wiese dem Häkelmarathon. Oder die gekühlten VirginColadas der Magie des ersten Pumpkin Spice Latte, den ich bei Judy nicht erst unangenehm erfragen musste. Sie hat ihn einfach zubereitet. Hat mich nicht als verdorbene Großstadtpflanze bezeichnet, die sich ihre Sojamilch sonst wo hinstecken konnte.

Und genau in dem Moment, in dem ich den Kaffee probiert habe, wusste ich, dass ich mein Exil hier verbringen würde. Aus dem Pumpkin Spice Latte ist inzwischen die Cinnamon Apple Tree Chocolate geworden. Die laubbedeckten Straßen und die Kürbisse in den Schaufenstern haben Platz gemacht für verschneite Hauseingänge und Leuchtsterne.

Faszinierend, dass die Natur im ständigen Wandel ist. Dass sich alles um einen herum verändern kann. Doch in mir drin, tief in meinem Herzen, noch tiefer in meiner Seele … Da ist alles genauso geblieben, wie es vor einem Jahr war. Winter, Frühling, Sommer, Herbst und mittlerweile wieder Winter. Die Jahreszeiten sind an mir vorbeigezogen wie ein Intercity-Express, der durch den Bahnhof rast und nichts als das Dröhnen in den Ohren und einen kühlen Windhauch hinterlässt.

Schon wieder Winter. Vielleicht nicht schon wieder, sondern immer noch. Vielleicht für immer. Für immer Winter.

Früher haben meine Eltern zu meiner Schwester gesagt, sie sei der Sommer. Mit ihrem honigblonden Haar, den braunen Augen und dem Strahlen, das nicht nur auf ihren Lippen liegt – es glitzert auch in ihrem Blick. Ich habe gewusst, dass meine Eltern recht damit haben.

»Aber Mom, warum hat sie wunderschönes blondes Haar wie eine Prinzessin?«, habe ich meine Mutter gefragt. »Wieso ist meines so hell? Was, wenn ich dieses Weißblond gar nicht will? Es ist unfair.«

»Die Farbe passt perfekt zu deinen hübschen Augen und deinem hellen Hautton, Becky. Das ist äußerst ungewöhnlich. Du bist ungewöhnlich. Und das ist etwas Wunderbares.« Mom strich mir durchs Haar, gab mir einen Kuss auf die Stirn, um mein sechsjähriges Ich zu besänftigen. »Deine Schwester und du, ihr strahlt beide auf eure ganz eigene Weise.«

Als meine ältere Schwester damals mein Zimmer betrat, die Ballettschuhe über die Schulter geworfen, ein Grinsen auf den geschwungenen Lippen, wusste ich es. Gracie ist die Leuchtende von uns Geschwistern – die Warmweiße.

Aber auch ich leuchte, da hatte meine Mutter recht. Nur bin ich die Kaltweiße. Der Winter. Für immer Winter.

Und bis Ende letzten Jahres hatte ich damit auch nie ein Problem. Für mich fühlte sich die frostige Zeit richtig an. Glänzende Lichter haben mir die dunklen Monate erleuchtet. Überall in meinem Zimmer, überall in New York, überall in meinem Herzen. In meiner kindlichen Vorstellung hat Glitzer mich bei jedem Schritt, den ich getan habe, begleitet.

---ENDE DER LESEPROBE---