Saal 210 - Wenn Menschen morden - Hariett Drack - E-Book

Saal 210 - Wenn Menschen morden E-Book

Hariett Drack

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Beschreibung

Ein verschwundenes Kind, ein ins Koma gespritzter Arzt, ein Sack voller Leichenteile, ein Ehemann, der seine Partnerinnen gleich in Serie vergiftet - In den Fällen, die in Saal 210, dem Schwurgerichtssaal des Kölner Landgerichts verhandelt wurden, geht es um Mord, Totschlag und die Frage nach dem »Warum«.

Es sind Fälle, die fassungslos machen und Fragen aufwerfen, die oft keine Antwort erhalten. Wer hat versagt? Warum musste das geschehen? Warum haben Behörden - wenn überhaupt - zu spät reagiert? Nicht nur die Tat steht im Mittelpunkt. Die Aufgabe des Gerichts, die Hintergründe menschlicher Gewalt zu beleuchten und der Versuch, sie einzuordnen, ist das eigentlich faszinierende Thema dieser Fallsammlungen.



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INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumVorwortDas MonsterEin SchlachtfeldEin Stück MüllDas verschwundene KindFauler HundTotes SchweinHigh HeelsBananenshakeZu spätEin fast perfekter MordDie RatteÜble Missetaten vor dem Amtsgericht

ÜBER DAS BUCH

Ein verschwundenes Kind, ein ins Koma gespritzter Arzt, ein Sack voller Leichenteile, ein Ehemann, der seine Partnerinnen gleich in Serie vergiftet – In den Fällen, die in Saal 210, dem Schwurgerichtssaal des Kölner Landgerichts verhandelt wurden, geht es um Mord, Totschlag und die Frage nach dem »Warum«. Es sind Fälle, die fassungslos machen und Fragen aufwerfen, die oft keine Antwort erhalten. Wer hat versagt? Warum musste das geschehen? Warum haben Behörden – wenn überhaupt – zu spät reagiert? Nicht nur die Tat steht im Mittelpunkt. Die Aufgabe des Gerichts, die Hintergründe menschlicher Gewalt zu beleuchten und der Versuch, sie einzuordnen, ist das eigentlich faszinierende Thema dieser Fallsammlungen.

ÜBER DIE AUTORIN

Hariett Drack arbeitete vier Jahrzehnte als Polizei- und Gerichtsreporterin für den Kölner Stadt-Anzeiger und ist freie Autorin für ZEIT Verbrechen u.a. Über menschliche Abgründe zu berichten, aber auch die oftmals skurrilen Geschichten vor dem Amtsgericht – all das hat auch nach Jahrzehnten nicht den Reiz verloren, darüber zu schreiben.

HARIETT DRACK

SAAL 210WENNMENSCHENMORDEN

Fälle aus dem Schwurgericht

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf Tatsachen.

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden die Namen

der Protagonisten geändert.

 

Originalausgabe

 

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Textredaktion: usb bücherbüro, Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: © Sabine Dunst | Guter Punkt, München

Einband-/Umschlagmotiv: © Patrick Essex, Köln

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4845-2

quadriga-verlag.de

lesejury.de

VORWORT

Wer sich mit Verbrechen beschäftigt, der beschäftigt sich mit dem Leben, nicht mit dem Tod – ein oft zirkulierendes Missverständnis. Ja, wenn ein Mensch gewaltsam zu Tode kommt, endet dieses eine Leben auf denkbar tragische Weise, aber wer wirklich wissen will, wie und warum dieser Mensch sterben musste, der seziert dessen Leben. Die oft banalen, immer fatalen Wege, die dort hinführten, zu diesem grauenvollen Klimaxmoment. Und die Tote ist ja nicht das einzige Opfer der Straftat. Es gibt jene, die zurückbleiben. Die weiterleben. Hinterbliebene. Angehörige. Freunde. Kolleginnen.

Und es gibt, auf der anderen Seite, auch die Täter. Jene, die damit umgehen müssen, Leben genommen zu haben. Auch sie leben weiter. In der Summe ergibt das einen ganzen Reigen an Menschen, die trauern, leiden, verzweifeln, kämpfen. Die sich rechtfertigen, die abstreiten und lügen. Alle diese Menschen treffen in unserer Gesellschaft an nur einem einzigen Ort aufeinander: im Gericht. Dem natürlichen Habitat von Richtern, Staatsanwälten, Strafverteidigerinnen – und Gerichtsberichterstattern. Wenn diese ihren Job ernst nehmen, dann sind sie keine Todesapologeten, sondern Lebensberichterstatter. Charakterjäger. Gefühlsseismografen. Journalistinnen, denen es gelingen muss, die Fakten wiederzugeben, ohne die Emotionen zu vernachlässigen. Das ist viel schwieriger, als es klingt. Denn überall lauern Gefahren: Kitsch. Moral. Besserwisserei. Ahnungslosigkeit.

Es gibt nicht mehr viele Gerichtsreporter da draußen, die ihren Job wirklich verstehen. Die Tag für Tag ins Gericht stapfen, sich auf oft viel zu harten Stühlen ihre Rücken ruinieren, die stundenlang zuhören, also wirklich zuhören, nicht nur auf möglichst dramatisierbare Schlagwörter warten, um fünfzig Zeilen Sensation verkaufen zu können. Sondern die eintauchen in das Leben von Opfern, Tätern, Zeuginnen. Die verstehen wollen, was reflexhaft als unverstehbar gelabelt wird. Die sich weiterbilden, um forensisch-psychiatrische Gutachten bewerten zu können. Die den Unterschied zwischen einer Berufung und einer Revision kennen. Die sich nicht zu schade sind, mit Beteiligten zu sprechen.

Hariett Drack ist so jemand. Sie ist sich nie für etwas zu schade. Sie nimmt sich nie wichtiger als das Sujet. Sie baut keine Satzgirlanden, ihre Texte brauchen keine Sahne. Sie sprießen nicht vor tollen Ideen (die meisten tollen Ideen sind nämlich gar nicht so toll), sondern vor scharfen Beobachtungen. Sie beziehen ihre Kraft aus der Ernsthaftigkeit, mit der Hariett Drack dem Strafrecht und all seinen Protagonistinnen begegnet.

Ich werde nie die ersten Zeilen vergessen, die ich von ihr las. Es war keine ihrer Gerichtsreportagen, es war eine Mail, die mich als Chefredakteur des Kriminalmagazins ZEIT Verbrechen mitten im ersten Corona-Lockdown erreichte. »Normalerweise«, schrieb sie, sei Aufdringlichkeit ihre Sache nicht, »aber was ist schon normal in diesen Tagen?« Sie schickte mir zwei Texte, zwei Nahaufnahmen aus Saal 210 im Kölner Landgericht. Zwei klug komponierte Gerichtsreportagen, die ich liebend gern sowohl in der ZEIT als auch in ZEIT Verbrechen abdruckte – und die Sie auch in diesem Buch lesen können.

Als wir anfingen, zusammenzuarbeiten, miteinander über Texte zu diskutieren, aber genauso leidenschaftlich über das Leben und die Probleme, die dieses uns allen tagtäglich bereitet, da stellte ich schnell fest, dass auch Normalität ihre Sache nicht ist. Hariett ist Kölnerin, und Kölnerinnen sind eine interessante Spezies. Es gelingt ihnen, gleichzeitig schrill und zurückhaltend zu sein, laut und leise, mutig und verzagt, bedingungslos optimistisch und fatalistisch. Sie sind alles, nur eben nicht »normal«. Und wer in diesem Bereich reüssieren will, dem ist so ein Eigenschaftsbaukasten die stärkste Währung. Denn auch Verbrechen sind nie schwarz oder weiß, sie tragen Kleider in mannigfaltigen Grautönen.

Diese sichtbar zu machen, das ist seit vierzig Jahren Hariett Dracks Lebensaufgabe. Wenn Sie mich fragen: Sie meistert sie, nun ja, meisterhaft.

Daniel Müller

Chefredakteur ZEIT VERBRECHEN

DAS MONSTER

Nur mal kurz raus, vor die Tür, auf eine Zigarette. Durchatmen. Ein bisschen Ruhe finden. Drinnen, in der Villa Kunterbunt, geht es zu wie in einem Bienenschwarm. Fünfundneunzig Kinder toben dort, singen, spielen, kreischen. Sabine Nölle, eine erfahrene Erzieherin, leitet den integrativen Kindergarten in Bergheim-Niederaußem.

An jenem Sommertag im August 2020 zieht die Pädagogin an ihrer Zigarette und sieht auf der anderen Straßenseite Jana Schmidt entlangschlendern. Die Dreiundzwanzigjährige ist zum dritten Mal schwanger, ihre Kinder Alina und Paul sind fünf und vier Jahre alt. Die Erzieherin kennt die junge Frau. Mit Alina gab es immer wieder Probleme. Auf Vermittlung des Jugendamts erhielt das schwächelnde Kind bereits Ergo-, Logo- und Bewegungstherapie. Deshalb hatte ihr früherer Kindergarten den Wechsel in die Villa Kunterbunt angeregt: Dort wird schon seit Jahren ein heilpädagogisches Gesamtkonzept angeboten.

Im Februar 2020 hatte Jana Schmidt ihre Tochter dort angemeldet – und kam allein. Auch zu allen weiteren Treffen brachte sie das Kind nicht mit. Die kleine Alina lernte die Leiterin nur auf dem Papier kennen. »Das ist eigentlich unüblich.« Es wirkte so, als wollte die Mutter die kleine Tochter verstecken.

Die erfahrene Erzieherin beschleicht ein ungutes Gefühl, als Alina auch am 10. August, ihrem ersten Kindergartentag, nicht auftaucht. Sie greift zum Telefon. Jana Schmidt erklärt, die Tochter sei so schwach, sie könne sich kaum auf den Beinen halten. Ein Termin »in der Röhre« stehe an, Ende August in der Neurologie des Kölner Klinikums. Die Leiterin fragt: »Warum so lange warten?« – »Wegen Corona, es gibt keinen früheren Termin.« Was die Leiterin nicht ahnt: Diesen Termin gab es nie.

Als die Erzieherin schließlich am 21. August während ihrer Zigarettenpause die schwangere Mutter zufällig auf der Straße sieht, spricht sie sie an. Jana Schmidt erzählt, dass Alina nicht mehr selbstständig laufen könne und nur noch im Bett liege, sie leide an einer »Muskeldystrophie«. Die Erzieherin weiß, dass diese Diagnose in keinem der Therapie- und Arztberichte auftauchte, die in der Villa Kunterbunt vorlagen. Und sie hört auf ihr Bauchgefühl: »Mit dem Kind kann was nicht stimmen.« Sie ruft das Jugendamt an – und rettet damit Alinas Leben.

Noch am selben Freitagmittag stehen zwei Mitarbeiterinnen vor der Wohnungstür der Schmidts. Sie sind nicht die ersten Vertreterinnen des Bergheimer Jugendamtes hier. Die Familie wird seit 2017 von einer Familienhelferin unterstützt, doch auf Wunsch von Jana Schmidt wurde die Hilfe 2019 eingestellt. Sie wolle »allein klarkommen«. Für das Jugendamt ist das damals ein »gutes Zeichen«. Die Familie bewohnt in dem Mehrparteienhaus eine 127 Quadratmeter große Dachwohnung. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, es gibt eine Gästetoilette. Die Miete zahlt das Amt.

Die beiden Sozialarbeiterinnen kennen den Fall nur aus den Akten. Sie werden später die Bauernopfer in diesem Skandal sein, beiden wird die Behörde fristlos kündigen. Weil sie keine Ahnung haben, was sich in der Familie in den letzten beiden Jahren abgespielt hat. Ihnen erklärt die Mutter kurz die angeblichen Fakten: Alina sei zu achtzig Prozent geistig behindert, habe Essprobleme. Die Tochter sei nicht zu Hause, sondern halte sich übers Wochenende bei einem Onkel auf einem Campingplatz in Hennef auf.

Alles gelogen.

Jana Schmidt verweigert den Zutritt zu Alinas Zimmer, sie will erst aufräumen: »Es war ihr unangenehm, wegen der schmutzigen Bettwäsche, dem strengen Geruch und der vollen Windeln in Alinas Zimmer. Sie wollte das Zimmer säubern, bat um eine Viertelstunde«, erinnert sich die Sozialarbeiterin später vor Gericht und ergänzt: »Es war komisch, dass sie uns nicht reinlassen wollte.« In den Akten ist später davon die Rede, dass die Mutter in der Zwischenzeit Alina im Schrank versteckt haben könnte.

Sie ist empört über den unangekündigten Besuch vom Amt, aber einverstanden, dass ein neuer Termin vereinbart wird. Drei Tage später, am 24. August, sitzt Alina apathisch auf dem Teppich im Wohnzimmer und verlangt nach einer Banane – ihrem Mittagessen. Als sie mehr möchte, vertröstet die Mutter sie aufs Abendessen. Jana Schmidt demonstriert den Mitarbeitern, wie schwach die Tochter ist: »Sie hat sie hochgehoben, das Kind sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen.« Alles habe »wie inszeniert« gewirkt.

Das Kind wiegt zu diesem Zeitpunkt 8,2 Kilogramm. Exakt diese Zahl hatte der Kinderarzt bei Alinas Vorsorgeuntersuchung zwölf Monate nach der Geburt im U-Heft notiert. Kinder gleichen Alters und gleicher Größe sollten mehr als das Doppelte auf die Waage bringen.

Die Sozialarbeiterin drängt auf einen Arzttermin. Ihr scheint das Kind »sehr, sehr dünn«. Aber Alinas Zustand sei nicht lebensbedrohlich gewesen. »Sie war wach, brabbelte vor sich hin, war mitten im Geschehen.« Zu keinem Zeitpunkt habe sie sich vorstellen können, »dass von der Mutter eine derartige Gefährdung ausgehen könnte«.

Im Jugendamt übergibt die Sozialarbeiterin am nächsten Morgen der zuständigen Sachbearbeiterin Ilse B. die Akten, sie betreut die Familie seit 2017. Es vergehen noch einmal zwei Tage, bis die Behörde handelt und für Alina einen Arzttermin organisiert. Der Kinderarzt erkennt auf einen Blick den lebensbedrohlichen Zustand der kleinen Patientin. Er untersucht sie erst gar nicht, sondern wählt sofort 112: »Ich bin seit über dreißig Jahren Kinderarzt, aber so ein extremst unterernährtes Kind habe ich noch nie gesehen«, wird er später bei der Polizei aussagen. Mit dem Rettungswagen wird Alina in die Notaufnahme der Kölner Uniklinik gebracht. Dort diagnostizieren die Ärzte »akute Lebensgefahr«.

Jana Schmidt behauptet im Krankenhaus, die Tochter leide an einer Lebensmittelunverträglichkeit, verweigere die Nahrungsaufnahme und habe Magen-Darm-Probleme. Ständig erfindet sie neue Geschichten, neue Krankheiten, neue Ausreden. Alina, so beharrt sie in der Klinik, behalte grundsätzlich kein Essen bei sich, deshalb sei sie in letzter Zeit so stark abgemagert. Der Oberarzt hält vor Gericht dagegen: »Wenn man gesehen hat, mit welchem Genuss das Kind bereits am ersten Tag seiner Aufnahme ein Butterbrot gegessen und bei sich behalten hat, dann steht dieses Bild für sich.«

Alina sei so schwach gewesen, dass die Klinik eine Spezialmatratze organisierte, um einen Dekubitus abzumildern. Allerdings habe sich ihr Zustand »rasant gebessert«. »Wir haben in sechs Wochen nichts anderes getan, als sie mit Nahrung zu versorgen.« Nach vier Wochen hat sie bereits vier Kilogramm zugenommen. Sie isst mit großer Lust, blüht auf, verlangt ständig nach mehr. »Sie hat sich aus diesem schrecklichen Zustand selbstständig herausgegessen«, sagt der Oberarzt. Für das extreme Untergewicht des Kindes, da ist er sicher, gibt es keine medizinische Erklärung. Alina habe vielmehr von der Mutter so gut wie nichts zu essen bekommen.

Dazu passt auch das Verhalten ihrer Mutter in der Klinik. Der Oberarzt nennt es »befremdlich«. Jana Schmidt sei nicht bereit gewesen, über Nacht bei Alina zu bleiben. »Ein Verhungerter leidet sehr. Sie muss sowohl starke körperliche Schmerzen als auch psychische Einschränkungen durchlitten haben«, sagt der Arzt. Im Gespräch mit der Mutter habe er aber keine Besorgnis erkennen können. Der katastrophale Gesamtzustand des Mädchens sei seiner Ansicht nach ausschließlich auf die familiäre Situation zurückzuführen.

Auch das Jugendamt reagiert nun und nimmt Alinas Bruder Paul wegen »möglicher Kindeswohlgefährdung« aus der Familie. Die Polizei wird eingeschaltet. Mit einem Durchsuchungsbefehl stehen die Beamten Tage später in der Wohnung. Im Einsatzprotokoll ist von »verschimmelten Essensresten« die Rede, von »meterhohen Müllsäcken in den Schränken und einer verdreckten Voliere mit zwei Frettchen«. Die Tiere laufen frei herum und hinterlassen in sämtlichen Zimmern beißend riechenden Urin. In der Küche wimmelt es in ungewaschenen Töpfen und Pfannen nur so von Maden. Auf dem Boden liegen im Dutzend ungeöffnete Briefe, Rechnungen, Mahnungen.

Es ergeht Strafanzeige gegen Jana Schmidt und ihren Lebensgefährten Kevin B., ebenfalls dreiundzwanzig Jahre alt, der seit einem Jahr mit ihr zusammenlebt. Die im fünften Monat schwangere Frau kommt am 8. September 2020 in Haft, wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag durch Unterlassen und Kindesmisshandlung. Der Oberarzt sagt der Polizei am Telefon: »Das Kind war kurz vor dem Hungertod. Dermaßen unterernährte Kinder gibt es in Deutschland nicht. Solche Bilder kennt man höchstens aus der Tagesschau.«

Die Ermittler haken beim Jugendamt nach. In einer Stellungnahme heißt es, in der Familie sei es nach Auslaufen der Betreuungsmaßnahme 2019 »zu keinen Auffälligkeiten« gekommen. Alinas Gewicht sei bei den kinderärztlichen Untersuchungen zwar »am unteren Rand, aber noch im Rahmen gewesen«.

Auf Anfrage sagt der zuständige Fachbereichsleiter des Bürgermeister- und Ratsbüros in Bergheim, es könne sich um ein »individuelles Augenblicksversagen« gehandelt haben. Die Behörde bleibe nach »gründlicher Prüfung« bei ihrer Aussage, dass »die Strukturen im Jugendamt stimmten«. Von den beiden Mitarbeiterinnen, die Alina am 24. August gesehen und nicht gehandelt hatten, habe man sich mit Aufhebungsvertrag und Kündigung getrennt. Beide übrigens »langjährige Mitarbeiter und keine neuen Kollegen in der Probezeit«. Gegen sie läuft derzeit ein Ermittlungsverfahren bei der Kölner Staatsanwaltschaft wegen unterlassener Hilfeleistung.

Per Kaiserschnitt kommt Anfang Dezember 2020 das dritte Kind von Jana Schmidt in der Untersuchungshaft zur Welt. Der kleine Theo wird sofort vom Jugendamt in Obhut genommen. Jana Schmidt hat inzwischen für keines ihrer drei Kinder mehr das Sorgerecht. »Sie ist nicht in der Lage, Kinder zu erziehen, sie ist nicht bindungsfähig«, wird später ein Psychologe im Prozess dazu sagen.

Die Staatsanwaltschaft Köln klagt Jana Schmidt und ihren Lebensgefährten Kevin B. am 4. Dezember 2020 an: Aus dem ursprünglichen Verdacht des versuchten Totschlags ist nun »versuchter Mord durch Unterlassen« geworden. Die Anklagebehörde geht vom Mordmerkmal der Grausamkeit aus, spricht von »gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung«.

Das Paar habe Alina »durch Unterlassen gequält und durch böswillige Vernachlässigung ihrer Pflicht, für sie zu sorgen, an der Gesundheit geschädigt und hierdurch in die Gefahr des Todes gebracht«. Jana Schmidt sei der lebensbedrohliche Zustand der Tochter »bewusst gewesen, dennoch überließ sie das Kind seinen Qualen«, heißt es in der Anklageschrift. Immerhin habe sie Alina noch am 25. August mit ihrem Handy fotografiert: »Auf dem Bild liegt das völlig abgemagerte Kind mit einer verschmutzten Windel in einem mit Kot und Erbrochenem verschmutzten Bett.«

Vermummt bis zur Unkenntlichkeit werden Jana Schmidt und Kevin B. am 12. August 2021 vor dem Kölner Landgericht zum Prozessauftakt aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Alinas Mutter nimmt mit gesenktem Kopf neben ihrem Anwalt Platz. Die Strickmütze hat sie tief ins Gesicht gezogen, darüber die Kapuze ihres Hoodies gestülpt, die Corona-Maske tut ihr Übriges.

Jana Schmidt spricht ins Mikrofon, doch auch so ist sie kaum zu verstehen mit ihrer flüsternden Kleinmädchenstimme. Ihr Verhalten ist möglicherweise dem hohen Presseaufkommen geschuldet. Im Ermittlungsverfahren hatte Jana Schmidt bestritten, ihrer Tochter mit Absicht nichts zu essen gegeben zu haben. Jetzt verweigern beide Angeklagten die Aussage.

Kennengelernt hatte Jana Schmidt ihren Lebensgefährten Anfang 2019 über ein Dating-Portal. Erst wenige Wochen zuvor hatte sie ihren Ehemann, den Vater ihres zweiten Kindes Paul, vor die Tür gesetzt. Für Kevin B. war es »Liebe auf den ersten Blick«. Das hat sich – auf beiden Seiten – inzwischen intensiviert. In der Haft schreiben sich die beiden innige Liebesbriefe, sie wollen heiraten. Das Paar hat viel gemeinsam. Beide stammen aus schwierigen Familienverhältnissen, beide sind berufslos, beide scheinen wenig auf ihre Zukunftsperspektiven zu geben.

Im Prozess wird schnell klar, dass Jana Schmidt immerhin beim Jugendamt darauf gedrungen hatte, für Alina eine Familienhilfe und Therapien zu erhalten. Nur das Motiv dahinter darf in Zweifel gezogen werden. Da die Pflegestufe bewilligt wurde, erhielt die Familie zusätzlich zu der sonstigen finanziellen Unterstützung vom Amt 316 Euro Pflegegeld pro Monat. Mit dem Geld wurden wiederholt unbezahlte Rechnungen beglichen. Bei der Wohnungsdurchsuchung hatten Ermittler im Keller originalverpackte Ware sichergestellt: Nahrungsergänzungsmittel, Erektionshilfen, Zubehör für eine Playstation, Fitnessgeräte. Jana Schmidt häufte Schulden in Höhe von rund 20000 Euro auf.

Am fünften Prozesstag betritt Sascha F. mit unsicheren Schritten den Gerichtssaal. Als Exmann hat er ein Aussageverweigerungsrecht, aber er will aussagen, will belegen, wie sehr seine Ex alle belogen hat, wie sie eine Fassade aufbaute, auf die nicht nur er, sondern einfach alle reingefallen sind: das Jugendamt, die Familienhelfer, der Soziale Dienst, die Therapeuten. »Sie ist ein Monster«, sagt Sascha F.

Als er Jana Schmidt 2014 über eine Dating-App kennenlernt, ist sie bereits hochschwanger mit Alina. Sie gehen zusammen ins Kino, und es ist sofort um ihm geschehen. »Er war jung, verliebt und blauäugig«, sagt seine Mutter Doris F., die »wenig begeistert« von der Achtzehnjährigen war. Aber ihr habe das Mädchen auch leidgetan, deren Mutter die Hochschwangere vor die Tür gesetzt habe. Ihr Sohn nahm die neue Freundin bei sich auf.

Sascha F. steht im Kreißsaal, als das Kind, das nicht seines ist, am 14. November 2014 per Kaiserschnitt zur Welt kommt. »Nehmt sie weg«, habe Jana Schmidt gedrängt, als ihr der Säugling auf den Bauch gelegt wurde. Stillen sei für sie nicht infrage gekommen: »Sie hat gleich nach den Tabletten zum Abstillen gefragt.« Sie sei nie glücklich gewesen mit dem Neugeborenen. »Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, lag sie auf der Couch, das Kind hatte sie meistens in der Wippe vor den Fernseher gesetzt.« Er habe Alina dann erst einmal die Windel gewechselt: »Sie war oft wund.« Immer öfter habe es deshalb Streit gegeben. Er habe sich gewundert, warum seine Frau keine Bindung zu der Tochter aufbauen konnte. Geheiratet hat er sie trotzdem.

Immer wieder habe er seine Stelle wechseln müssen, weil seine Frau Unterstützung einforderte, ihn auf der Arbeit anrief, er möge sofort alles stehen und liegen lassen: »Ich sollte jedes Mal Urlaub nehmen, mich um das Kind kümmern, aber das macht ja kein Arbeitgeber lange mit.« Irgendwann bezog auch Sascha F. Hartz IV.

Es ist Sascha F.s Mutter Doris, die der kleinen Familie in dieser Zeit hilft, wo sie nur kann. Sie füllt fast täglich den Kühlschrank mit frischen Lebensmitteln, nimmt Alina am Wochenende zu sich, damit das Paar einmal Zeit für sich hat. Sie kauft Möbel, Teppiche, Gardinen. Die Stiefoma gibt alles für Alina, insgesamt rund 40000 Euro, wie sie vor Gericht schätzt. Irgendwann habe sie sich dann aber ausgenutzt gefühlt, als sie ein Telefonat am Handy ihres Sohnes mithört. Es geht wieder einmal um Geld, und Jana Schmidt schnauzt ihren Ehemann an: »Sag der blöden Kuh, wir brauchen noch eine Wickelauflage für die Kita, dann gibt die Alte auch mehr Kohle.«

Wenige Wochen nach der Entbindung ist Jana Schmidt wieder schwanger: »Dieses Kind hat sie gewollt, mit dem Jungen ging sie von Anfang an ganz anders um«, sagt Sascha F. Als sein Sohn Paul im Januar 2016 auf die Welt kam, sei Alina »endgültig abgemeldet gewesen, er war der Liebling.« Doch die Zankereien in der Ehe eskalieren. »Für uns war das der reinste Horrorfilm«, sagt Doris F., die sich nun täglich Schreckensnachrichten von ihrem Sohn am Telefon anhören muss: »Sie schreit, sie tickt aus, ich weiß nicht mehr, wo vorn und hinten ist, schimpft mich einen Versager.« Die Stiefoma informiert schweren Herzens das Jugendamt.

Ihr Sohn sagt: »Ich wollte die Ehe schon nach einem Jahr beenden. Aber wegen der Kinder bin ich geblieben.« Bis seine Ex ihn Ende 2018 vor die Tür setzt. Er kämpft um das Sorgerecht von Paul, aber Jana Schmidt weigert sich, lässt Termine vor dem Familiengericht platzen, will nichts mehr mit ihrem Ex zu tun haben. Heute lebt Paul bei seinem Vater, der inzwischen das alleinige Sorgerecht hat.

In dieser Zeit gibt es regelmäßige Besuche des Jugendamts bei Jana Schmidt und ihren Kindern. Angekündigte Besuche. Deshalb strahlt die Wohnung jedes Mal. Der Hinweis von Sascha F., einmal unangekündigt vorbeizukommen, um sich ein echtes Bild machen zu können – er wird ignoriert.

Die fatalen Fehleinschätzungen der amtlichen Helfer werden auch an anderer Stelle sichtbar. Eine Heilerziehungspflegerin, die sich seit Juli 2018 um Schuldnerberatung, Erziehung und Paarkonflikte in der Familie kümmert, beschreibt Jana Schmidt vor Gericht als »kooperativ, offen, bereit zur Mitarbeit«. Nie habe sie das Gefühl gehabt, »dass hier eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.« Es habe sich um eine typische »08/15-Familienhilfe« gehandelt. Mit Eltern, die ihre Kinder nicht fördern, nicht mit ihnen spielen, wo den ganzen Tag der Fernseher läuft.

Auch Ilse B. vom Jugendamt Bergheim, die von Anfang an die Familie begleitet, hat offensichtlich nicht so genau hingeschaut. Sie habe die Kindsmutter stets als »liebevoll, zugewandt und fürsorglich gegenüber beiden Kindern erlebt«, sagt Ilse B. aus, und es klingt so, als redete die diplomierte Sozialpädagogin über eine andere Familie. Nicht bei der Mutter, sondern bei Alina und ihrem Bruder habe sie »Bindungsstörungen« festgestellt. Bei ihren – ebenfalls angekündigten – Hausbesuchen habe die Wohnung immer einen »sauberen, aufgeräumten Eindruck gemacht, der Kühlschrank war gefüllt, die Kinder wohlgenährt«, sagt die Zeugin. Stiefoma Doris F. hatte vergeblich versucht, die Familienhelferin auf die tatsächlichen Zustände aufmerksam zu machen. »Kommen Sie nicht nur zum Kaffeetrinken, sondern einmal spontan, dann sehen Sie, was hier los ist!«

Die Liste der Versäumnisse ist endlos. Denn auch die extremen Fehlzeiten der Kinder im katholischen Kindergarten St. Paul beunruhigten die Frau vom Amt nicht. Von insgesamt 354 Tagen hatten sowohl Alina als auch Paul an 230 Tagen gefehlt, davon an 172 Tagen unentschuldigt. Darauf angesprochen, reagiert Ilse B. im Zeugenstand leicht gereizt: »Ein Kindergartenbesuch ist ja freiwillig und nicht zwingend.« Der Kindergarten hatte das Amt zudem darüber informiert, dass die Ergotherapeutin immer wieder vergeblich zum Termin komme, weil Alina so gut wie nie da sei. Als für die Therapie ein Fahrdienst bewilligt wird, wiegelt Jana Schmidt ab: Alina sei zu schwach und zu krank. Sieht so für das Jugendamt eine »liebevolle, zugewandte und fürsorgliche« Mutter aus?

Die Rabenmutter fiel wohl auch deshalb so lange nicht auf, weil andere ihre Arbeit machten. Anerkennend notierte eine weitere Familienhelferin in ihren Berichten ans Amt: »Die Stiefoma ist eine gute Ressource für die Familie.« Doris F. sprang nicht nur finanziell ein, sie bot Alina auch die Förderung, die dem Kind so sehr fehlte. Sie ging mit der Kleinen in den Tierpark, auf den Spielplatz, malte, spielte, las mit ihr. Von den angeblichen Nahrungsunverträglichkeiten, mit denen Jana Schmidt später die fatale Gewichtsabnahme begründete, sei zu keinem Zeitpunkt die Rede gewesen, sagt Doris F. im Zeugenstand: »Alina hat alles gegessen und getrunken und vertragen. Sie war ein ganz normales, fröhliches, zugewandtes Kind.«

So sieht das auch Sibylle Banaschak, leitende Oberärztin der Kölner Rechtsmedizin. Zuletzt war Alina so schwach, dass sie die Gabel nicht mehr zum Mund führen konnte, geschweige denn über die Kraft verfügte, sich fortzubewegen. »Ihr Zustand war lebensbedrohlich aufgrund einer massiven Unterernährung«, sagte die Rechtsmedizinerin. Die Fehl- und Mangelernährung habe ab dem vierten Lebensjahr begonnen: zu einem Zeitpunkt, als Jana Schmidt der Stiefoma jeglichen Kontakt untersagte und den Ehemann vor die Tür gesetzt hatte. Bis dahin habe sie sich »durchaus normgerecht« entwickelt und keineswegs an angeborenem Kleinwuchs gelitten, wie die Mutter behauptet hatte. Vielmehr läge hier »psychosozialer Minderwuchs« vor. Kinder mit Schlafstörungen, die Zurückweisung, fehlende Zuwendung und keine Geborgenheit erfahren, schütten im Schlaf viel weniger Wachstumshormone aus. Dass Alina überhaupt so lange durchgehalten hat, »grenzt an ein Wunder. Sie hätte an der kleinsten Infektion sterben und jeden Morgen tot im Bett liegen können«.

Auch Jana Schmidt und ihrem Partner Kevin B. ist Anfang 2020 sehr wohl bewusst, dass sich die damals Fünfjährige in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet. »Wir fragen uns schon, ob Alina eines Morgens nur noch da liegt und nicht mehr aufwacht«, schreibt B. in einer Textnachricht. Der Chatverlauf ist in den Akten dokumentiert.