Sabotierte Wirklichkeit - Marcus B. Klöckner - E-Book

Sabotierte Wirklichkeit E-Book

Marcus B. Klöckner

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sagen Medien, was ist? Eindeutig: nein. Der Bruch mit der Wirklichkeit ist im Journalismus längst eine bestimmende Konstante. Immer wieder ist zu beobachten, wie Medien Wirklichkeit ignorieren, verdrehen, frisieren oder gar gleich erfinden. Die Wirklichkeit, die Medien uns vor Augen führen, ist oft so stark verzerrt, dass es gilt, sie grundlegend zu hinterfragen. Insbesondere in den Zentren der tonangebenden Medien ist ein Journalismus entstanden, der mehr und mehr Züge einer Glaubenslehre trägt. Häufig bedienen Journalisten zuerst die eigenen Glaubensüberzeugungen, dann kommen die Fakten. In seinem neuen Buch zeigt Marcus B. Klöckner anhand vieler Beispiele auf, wie es aussieht, wenn Medien Scheinwirklichkeiten erzeugen, und verdeutlicht, wie in einem System "freier Medien" eine spezielle Form von Zensur entsteht. Mit weitreichenden Konsequenzen für unsere Demokratie und uns alle.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 369

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ebook Edition

Marcus B. Klöckner

Sabotierte Wirklichkeit

Oder:Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-762-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: www.pleasantnet.de

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Einleitung
1 Zensur
1.1 Zensur durch Zusammenwirken von Sozialisation und sozialer Zusammensetzung des journalistischen Feldes
1.2 Zensur durch Rekrutierungspraxis
1.3 Zensur durch berufliche Sozialisation
1.4 Zensur durch das Feld
1.5 Diskussion: Über Zensur, Gatekeeper, die Schere im Kopf und die innere Pressefreiheit
2 Medienwirklichkeit
2.1 Warnung vor Drittem Weltkrieg? Egal! Bundesregierung will Parlament nicht informieren? Unwichtig!
2.1.1 Sachverhalt A: Kollektives Ignorieren
2.1.2 Analyse: Nachrichtenauswahl Weltbild gemäß
2.1.3 Sachverhalt B: Das Oktoberfestattentat und eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung
2.1.4 Analyse: Eine Nachricht, die nicht ins Bild passt
2.1.4 Fazit Sachverhalt A und B: Wichtiges wird falsch gewichtet und präsentiert
2.2 Qualitätsmedien: Eine Falschmeldung mit offenen Armen begrüßen
2.2.1 Sachverhalt: Eilig falsch berichten
2.2.2 Analyse: Wahrheit? Unwahrheit? Hauptsache, die Meldung bedient das Narrativ
2.2.3 Fazit: Wir können den Medien nicht trauen
2.3 Kritische Berichterstattung: Solange es ein Minister sagt, wird es schon stimmen
2.3.1 Sachverhalt: Die Tat wurde angekündigt, berichten die Medien
2.3.2 Analyse: Blinde Medien ›sehen‹ durch die Augen der Behörden
2.3.3 Fazit: Auch scheinbar gesicherte Informationen sollten Mediennutzer hinterfragen
2.4 Der Spiegel, die Wirklichkeit und ein paar Märchen
2.4.1 Sachverhalt: Journalismus als Fantasieprodukt
2.4.2 Analyse: Ein ›Qualitätsjournalismus‹, der Weltbilder bedient
2.4.2 Fazit: Sagen, was «ist«, ad absurdum geführt
2.5 Das heute-journal mit Claus Kleber: simulierte Wirklichkeit im Nachrichten­journalismus
2.5.1 Sachverhalt: Lassen wir die Invasion beginnen
2.5.2 Analyse: Psychologischer Schockmoment
2.5.3 Fazit: Untragbare Schieflagen in der Moderation
2.6 Nachbetrachtung
3 Herrschaftsnähe
3.1 Journalisten und Politiker: Weltanschaulich eng miteinander verbunden
3.2 Wir sagen, wer reden darf: Journalisten und die Macht über das Rederecht
3.3 Journalisten: Wer »umstritten« ist, bestimmen wir! Über Benennungsmacht und die Sprache der Herrschaft
3.4 Die Ausnahme: Ein Journalist, der eine kritische Frage stellt
Fazit: Wir brauchen ein neues Mediensystem
Danke!
Anmerkungen

In Liebe und Verbundenheit

Für meine verstorbene Mutter Marianne.

Für Dieter Deiseroth, guter Freund und Mentor, verstorben kurz vor Fertigstellung dieses Buches.

Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.

1. Kor. 15:26

God be with you

Einleitung

Die Wachhunde der Demokratie sind zu den Lordsiegelbewahrern unserer Zeit mutiert. Ein Journalismus ist entstanden, der sich wie ein Schutzmantel um die politischen Weichensteller legt. Medien haben den von ihnen erzeugten legitimen öffentlichen Diskursraum so weit verkleinert, dass Stimmen, die sich darin im Sinne einer kritischen Öffentlichkeit zu Wort melden wollen, faktisch nahezu ausgeschaltet sind. Die mentale Korruptheit, die das journalistische Feld durchzieht, stellt eine Gefahr für die Demokratie dar. Eine Berichterstattung erfolgt, die vorgibt zu sagen, was ist, aber dabei unaufhörlich sagt, was sein soll. Ein Journalismus ist entstanden, der die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit je nach Notwendigkeit ignoriert, frisiert, verdreht und mitunter gar einfach selbst erfindet. Medien missbrauchen ihre publizistische Macht, um die von ihnen erzeugte ›richtige‹ Sicht auf die Wirklichkeit vor Irritationen von außen zu schützen. Medien sorgen dafür, dass politische und soziale Realität nicht Teil eines offenen diskursiven Prozesses sind. Stattdessen definieren sie und eine überschaubare Anzahl von ihnen zugewandten Experten Wirklichkeit – die sie dann gemeinsam mit den Entscheidern der Politik als unverhandelbar deklarieren. Für die Kraft von Argumenten, für ausgangsoffene Diskussionen, bietet dieser Journalismus keinen Platz. Die wertvollen Prinzipien der journalistischen Auswahl und Gewichtung von Informationen werden nach Belieben außer Kraft gesetzt und den dominierenden Weltbildern angepasst. Ein Weltbildjournalismus bestimmt in weiten Teilen der Mainstreammedien die Berichterstattung. Zwischen Journalisten und Politikern herrscht weitestgehend ein Nichtangriffspakt – Konflikte, die über ein Scharmützel hinausgehen, finden sich allenfalls auf Nebenschauplätzen. Medien loben wahlweise Merkels »Augenringe des Vertrauens«1 oder stimmen (gemeinsam mit einem Teil der Politiker) in den Chor des ›Uns-geht-es-doch-gut-Liedes‹ ein.

Viele Medien haben sich jeder Fundamentalkritik an ihnen verschlossen. Insbesondere so manche Leitmedien haben eine Demarkationslinie gezogen2, um sich von einem Teil ihrer Rezipienten, die Kritik an dem gebotenen Journalismus üben, abzugrenzen.3 Die Kritik von außen, also von denjenigen, die Realität anders wahrnehmen und die gesellschaftlichen und politischen Ereignisse anders deuten als die Medien, wird als ein Angriff, als eine Bedrohung aufgefasst. Wenn die Meinungsführer im Journalismus mit den Missständen konfrontiert werden, bedienen sie sich gerne ehrenwerter Größen, die als Legitimationsstrategien zur Durchsetzung ihres Journalismus zu identifizieren sind und zugleich implizit sehr viel von ihrem immer wieder beanspruchten Deutungsmonopol erkennen lassen. Medien führen die ›Wahrheit‹ ins Feld, der sie unaufhörlich vorgeben zu dienen, und verknüpfen diesen edlen Anspruch mit einer scheinbaren Fürsorge gegenüber den Mediennutzern, die man bekanntlich vor ›Fake News‹ beschützen und aus der ›Filterblase‹ befreien muss. So versuchen sie unter anderem, die Besitzansprüche auf das Weltdeutungsmonopol zu legitimieren und zu untermauern.

Ein Rezipient, der das nicht akzeptiert, wird von den Medien nicht respektiert. Der Mediennutzer wurde über lange Zeit als Statist wahrgenommen, der sich gefälligst mit der Rolle, die das Mediensystem ihm zuschreibt, abzufinden hat. Er darf die Medien reichlich nutzen, er darf ihren Journalismus gerne loben, er darf sicherlich auch Kritik üben, etwa in Form eines Leserbriefs, aber er hat gefälligst zu akzeptieren, dass er nicht das letzte Wort hat. Über viele Jahre haben Medien geradezu mit Nachdruck jede Grundsatzkritik an der Berichterstattung ignoriert. Jede grundsätzliche Bemängelung an den Auslese- und Bewertungskriterien der Redaktionen werden sogar als schwerer und völlig ungerechtfertigter Angriff betrachtet. Wenn das Publikum Medienvertreter auf die schweren Bruchstellen und Schieflagen in der Berichterstattung hinweist, dann sind ›Fehler‹ (und das nur unter Zähneknirschen) das Maximale, was Medien eingestehen. Fehler, so lautet der Tenor, unterliefen bedauerlicherweise nun einmal auch den Qualitätsmedien. Allerdings sei man sehr bemüht darum, Fehler grundsätzlich zu vermeiden.

Die Reaktionen von bekannten Medienvertretern auf die Medienkritik sind bemerkenswert. Elmar Theveßen, der Nachrichtenchef des ZDF deutet, sie vor einiger Zeit als das Ergebnis einer Emotionalisierung der Mediennutzer durch die Ukraine-Krise um. »Es gibt eine Reihe von Leuten, die durch die Krise so emotionalisiert sind, dass sie uns Fehler in einer extrem harten und beleidigenden Form vorwerfen, vor allem aber ein System dahinter unterstellen. Das ist natürlich völliger Blödsinn.«4)

Der damalige ARD-Chefredakteur Thomas Baumann weist eine Kritik des Programmbeirats zurück, und das gleich auch noch »energisch«.5 Auch der Intendant der ARD Tom Buhrow weist ebenfalls zurück und bringt gleich noch eine emotional stark aufgeladene Ebene mit in die Diskussion, nämlich die der Ehre: »Unsere Kolleginnen und Kollegen leisten exzellente Arbeit […] Das geht an die journalistische Ehre.«6

Einem Mantra gleich wiederholen Vertreter von Leitmedien, dass sich der Leser, der Zuschauer mit seiner Kritik an ihnen irrt, dass die eigenen Analysen die richtigen sind, dass der Leser, wenn er um ein breites Meinungsspektrum geradezu bettelt, sich täuscht und nicht erkennt, dass es doch eine ›Vielfalt‹ an Meinungen in dem jeweiligen Medium gibt. Ein Verhalten wird sichtbar, das längst jeden Betrieb, jedes Geschäft, das im Servicebereich angesiedelt ist, in den Ruin getrieben hätte.

Man stelle sich folgende Situation vor: Chefredakteur X geht mit Redaktionsleiter Y in ein Restaurant. Die beiden bestellen sich Steak, Bratkartoffeln und einen Salat. Schnell stellen beide fest: Das Steak ist zäh und trocken, die Bratkartoffeln sind viel zu fettig und der Salat ist voller Essig. Was wäre, wenn auf die Beschwerde beim Kellner der Kellner den Chefkoch, der Chefkoch den Restaurantbesitzer und der Restaurantbesitzer den Rest der Mannschaft zusammenrufen würden und dann alle, quasi im Chor, erklärten: Das Steak ist nicht zäh, die Bratkartoffeln sind die besten, die man sich als Gast wünschen kann, und das, was als zu viel Essig wahrgenommen wird, ist in Wirklichkeit ein preisgekröntes Salatdressing, das im Übrigen allen anderen Gästen im Restaurant schmeckt. Der Chefkoch empfiehlt zudem den sich beschwerenden Gästen, noch einmal in sich zu gehen und nachzudenken, ob die eigene Beurteilung des Gerichtes nicht doch völlig falsch sein könnte, und gibt den Ratschlag, sich demnächst einmal ein Buch über gute Küche zu besorgen, so dass man ein Verständnis für die vorzügliche Speise, die hier serviert wurde, bekommt. In solch einem Falle würden Chefredakteur X und Redaktionsleiter Y aufstehen und mit ziemlicher Sicherheit nie mehr in dieses Restaurant gehen – und zwar zu Recht.

Dieses Beispiel ist nicht weit von der Realität entfernt. Wir haben es mit einer Berichterstattung zu tun, die von einem schier unerschütterlichen Glauben getragen ist, die einzig wahre Einschätzung der Weltereignisse zu liefern. Journalismus, so gilt es festzustellen, scheint, zumindest in den Zentren der diskursbestimmenden Medien, zu einer Glaubenslehre geworden zu sein. Im Zentrum dieses Glaubens steht aber nicht ein Gott, sondern eine alles überragende Intelligenz, über die die Anhänger dieses Glaubenssystems selbst verfügen – zumindest ist das ihre Überzeugung. Die Apologeten gehen davon aus, dass sie selbst dank einer gegenüber dem ›normalen Bürger‹ überlegenen Fähigkeit, soziale und politische Realität zu erfassen, einzuordnen, zu analysieren und zu erklären, im Besitz der reinen Wahrheit sind.

Doch warum unterscheiden sich die Weltanschauungen innerhalb des journalistischen Feldes so oft von den Weltanschauungen vieler Bürger? Wie kommt es, dass die großen Medien oft in nahezu geschlossener Formation bestimmte gesellschaftliche und politische Sachverhalte einheitlich wahrnehmen, während Teile der Mediennutzer eine andere Realität erkennen? Warum reagieren gerade leitende Akteure aus dem journalistischen Feld so emotional auf die Kritik an ihrer Arbeit? Warum gelingt es den kritisierten Medien nicht, die Kritik an ihrer Arbeit anzunehmen und sie konstruktiv in ihrem, aber auch im Sinne der Mediennutzer und vor allem: der Demokratie, zu verarbeiten?

Mit diesen Fragen und Ausführungen ist der Rahmen für dieses Buch gesetzt. Wir werden im Folgenden die Medien genauer betrachten, um einige zentrale Schwachstellen, die im journalistischen Feld auszumachen sind, kenntlich zu machen.

Zuerst wird es darum gehen zu erkennen, dass Zensur in unserem Mediensystem nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Wir werden eine spezielle Form der Zensur kennenlernen, die sich zwar in manchem von einer staatlichen, einer von oben verordneten politischen Zensur unterscheidet, aber ihr in ihrer Auswirkung kaum nachsteht. Es handelt sich dabei um eine Zensur, die tief in unser Mediensystem eingeschrieben ist. In den Medien ist das zu erkennen, was wir als eine sozialstrukturell ausgeformte Zensur sprachlich erfassen wollen. Um ihr beizukommen, gilt es zu verstehen, welche sozialen Kräfte innerhalb des journalistischen Feldes wirken und warum sie wirken, wie sie wirken.

In einem weiteren Kapitel werden wir uns mit der Medienwirklichkeit auseinandersetzen und anhand von zahlreichen Beispielen veranschaulichen, dass Schieflagen in der Berichterstattung nicht einfach nur durch Fehler bei der journalistischen Arbeit entstehen (die menschlich sind und jedem passieren können und dürfen), sondern auf Wirklichkeitsentgleisungen mit Ansage zurückzuführen sind. Wir werden sehen, wie schwer und folgenreich die Wirklichkeitsbrüche in der Berichterstattung sind, und verstehen, dass wir gut daran tun, uns eine alte Erkenntnis des deutschen Soziologen Niklas Luhmann in Erinnerung zu rufen. In seiner berühmt gewordenen Auseinandersetzung zur Realität der Massenmedien sagt Luhmann gleich zum Anfang: »Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, daß wir diesen Quellen nicht trauen können.«7

Recht hat er. In weiteren Kapiteln fokussieren wir auf die Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern und betrachten, was es bedeutet, wenn Journalisten über die Macht verfügen, Rederecht abzusprechen oder anzuerkennen.

In diesem Buch wird es in erster Linie darum gehen, die Oberfläche der Medienkritik zu durchdringen, um die mehr oder weniger verschleierten sozialen Wirkprinzipien offenzulegen, die für eine Berichterstattung mitverantwortlich sind, die dazu führen, dass viele Mediennutzer glauben, die Medien müssten von irgendeiner verborgenen Macht gesteuert werden.

Andere Faktoren, die natürlich auch eine Rolle spielen, wie etwa die Besitzverhältnisse in den Medien, die Pressekonzentration, teilweise hochproblematische Arbeitsbedingungen (armselig geringe Honorare für nicht wenige freie Journalisten, enormer Zeitdruck, fehlende Möglichkeiten für investigative Recherchen und vieles mehr), Einwirkungen durch Interessengruppen lassen wir weitestgehend außen vor. Das soll aber nicht heißen, dass wir die Auswirkungen, die sich aus den Gesamtproduktionsbedingungen oder aus den real vorhandenen Herrschaftseinflüssen auf die Medien ergeben, kleinreden. Eine wirklich umfassende Medienanalyse müsste diese Aspekte mit jenen sozialen Faktoren, die Gegenstand dieses Buches sind, zusammenfassend betrachten, sodass die Wechselwirkungen sichtbar werden – was den Rahmen, der hier zur Verfügung steht, aber völlig sprengen würde. Um an dieser Stelle wenigstens ein Beispiel anzuführen, das uns eine Ahnung von den äußeren Einwirkungen und Einflussversuchen auf die Medien vor Augen führt, sei hier ein Auszug aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung angeführt. Dort war vor einiger Zeit Folgendes zu lesen:

»Ein paar Monate zuvor, am 8. Oktober 2008, hatte es ein sonderbares Treffen gegeben, das in diesem Zusammenhang Erwähnung finden soll. Die Bundeskanzlerin hatte an jenem Tag die bedeutenden Chefredakteure der bedeutenden Medien eingeladen. Es war die Zeit, in die der Ausbruch der großen Finanzkrise fiel. Man findet keinen ausführlichen Bericht über dieses Treffen, der veröffentlicht worden wäre, und überhaupt nur wenige Erwähnungen in den Archiven, nur hin und wieder einen Nebensatz, eine knappe Bemerkung. An einer Stelle liest man in dürren Worten, worum es an diesem Abend im Kanzleramt ging: Merkel bat die Journalisten, zurückhaltend über die Krise zu berichten und keine Panik zu schüren.«8

Aus Zusammenkünften wie diesen sollte man nicht den Schluss ziehen, dass Medien zwangsläufig dann auch den Bitten von Politikern nachkommen, aber es wäre auch ziemlich naiv anzunehmen, dass alle Beeinflussungsversuche von Seiten der Herrschenden grundsätzlich ohne Erfolg bleiben.

An dieser Stelle kommt auch der Grund zum Vorschein, warum wir in diesem Buch weniger den Fokus auf die direkten Herrschaftseinflüsse und ihre Auswirkungen richten und stattdessen die soziologische Dimension in den Vordergrund stellen. Was in diskreten Zusammenkünften wie der angeführten sich abspielt oder auch nicht, lässt sich kaum präzise und fundiert sagen. War man nicht selbst als teilnehmender Beobachter dabei oder kann auf Aufzeichnungen und verlässliche Aussagen zugreifen, kommt man zwangsläufig in den spekulativen Bereich. Manche hochkarätige Treffen der Eliten und Machteliten mögen harmlos sein (obwohl es mir einigermaßen schwerfällt zu glauben, dass machtelitäre Treffen überhaupt ›harmlos‹ sein können), andere nicht. Bei einer Auseinandersetzung mit den Herrschaftseinflüssen auf die Medien bleibt dem kritischen Betrachter zwangsläufig oft kaum etwas anderes übrig, als zu vermuten.

Eine Medienkritik, die sich auf die inneren Einflüsse und Zusammenhänge konzentriert, hat es, zumindest vergleichsweise, einfacher.

Das vorliegende Buch wird die Medien genauer betrachten und ihr Sein und einige ihre Funktionsweisen vor allem aus einem kritisch soziologischen Blickwinkel betrachten. Das mag auf den ein oder anderen Leser vielleicht abschreckend wirken, denn: Ja, es wird etwas komplex. Wir können nicht mit dem thesenhaften Stakkato auf den ersten Seiten dieser Einleitung weitermachen. Aber: Da sich das Buch in erster Linie an eine Leserschaft richtet, die nicht aus der Wissenschaft kommt, die aber dennoch Interesse an einer fundierten Me­dien­kritik hat, werden wir wissenschaftliche Theorien, Gedanken und Erkenntnisse, auf die wir zugreifen, so weit herunterbrechen, dass sie auch dem Laien zugänglich werden. An den Stellen, wo es im Rahmen dieser Auseinandersetzung mit den Medien notwendig erscheint, die Analysekraft einer kritischen Soziologie zu nutzen, um tieferliegende Zusammenhänge sichtbar oder sichtbarer zu machen, werden wir also die Tür zu dem ein oder anderen soziologischen Gedankengebäude aufstoßen, um uns in ihm zu bewegen. Aber, liebe Leserinnen und liebe Leser: Keine Sorge, alles, was Sie benötigen, um in diesen Gebäuden unterwegs zu sein, werden Sie in Griffweite finden. Wichtig ist nur die Bereitschaft, sich ein klein wenig auf Ihnen vielleicht unbekannte Begriffe und Analysen einzulassen.

Das Vorgehen in diesem Buch hat Vor-, aber auch Nachteile. Die Nachteile sind offensichtlich. Wenn wir sozialwissenschaftliche Theorien nur holzschnittartig hervorheben, um damit vielschichtige Zusammenhänge so weit herunterbrechen, dass sie einem ­breiten Lesekreis zugänglich gemacht werden können, entstehen Reibungsverluste. Wichtige theoretische Erkenntnisse, die für ein tieferes Verständnis notwendig wären, müssen ausgeblendet werden, wodurch es auch zu theoretischen Unschärfen kommen wird. Außerdem: Manches von dem, was in dem Buch zu lesen ist, bedarf grundsätzlich eigenständiger, weitreichender wissenschaftlicher Analysen, die wir hier natürlich nicht leisten können. Von daher werden Thesen und Schlussfolgerungen angreifbar sein. Das sei aber in Kauf genommen.

Nun zu den Vorteilen: Die veranschlagte Vorgehensweise erlaubt es dem Leser, an komplexe wissenschaftliche Theorien heranzutreten und ein Verständnis für sie zu entwickeln, ohne dass er sie sich in ihrer Breite und Vielschichtigkeit erarbeiten muss. Das Medienverständnis kann schnell geschärft werden. Außerdem: Diese Vorgehensweise erlaubt dem Verfasser, einzelne Theorien nicht mit all ihren Untiefen durchfahren zu müssen; vielmehr kann direkt auf zentrale Erkenntnisse zugegriffen werden.

Das erscheint insofern sinnvoll, als das auf diese Weise rasch einige der Gründe, die für die schweren Verwerfungen im journalistischen Feld verantwortlich sind, anschaulich gemacht werden können. Und das ist dringend nötig. Die Schäden an unserem demokratischen System, die durch Medien verursacht werden, die weitestgehend ihrer Wächterfunktion nicht mehr nachkommen, sind bereits gewaltig.

1 Zensur

Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht (…).1

Michel Foucault

Sobald der Begriff Zensur gebraucht wird, reagieren Medienvertreter gereizt. Schnell wird beteuert, dass einzelne Journalisten, aber auch komplette Redaktionen frei in ihren Entscheidungen seien. Weder rufe Merkel persönlich an und diktiere, welche Informationen in den Medien auftauchen dürften, noch gäbe es sonst eine ›mächtige Gruppe‹, die ihnen vorschreibe, wie ihre Berichterstattung auszusehen habe.

Ist das nicht interessant? Auf der einen Seite stehen Medienvertreter, die durchaus glaubhaft versichern, dass sie keiner Zensur unterworfen sind, während sich auf der anderen Seite ein Publikum bemerkbar macht, das ebenso fest vom Gegenteil überzeugt ist. Die Situation macht neugierig. Wie kann es sein, dass im Grunde genommen ein ziemlich simpler Sachverhalt so völlig unterschiedlich wahrgenommen und dargestellt wird?

Werfen wir zunächst einen Blick ins Grundgesetz. Dort steht in Artikel 5:

»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.«

2

Das sind eindeutige Aussagen, an denen man nicht ohne weiteres vorbeikommt. Warum sind Kritiker dennoch davon überzeugt, dass in Deutschland sehr wohl eine Zensur stattfindet?

Der Reihe nach.

Die Bundeszentrale für politische Bildung führt unter der Überschrift »Zensur. Präventiv-, Vorzensur, Repressiv-, Nachzensur, Zensurfreiheit« eine Erklärung aus dem Duden an:

»1) eine von i. d. R. staatlicher Stelle vorgenommene Überprüfung und Kontrolle von Druckwerken, Hörfunk-, Fernseh-, Film-, Tonträger- und Videoproduktionen u. Ä. auf ihre politische, gesetzliche, sittliche und religiöse Konformität und 2) die ggf. daraufhin erfolgende Unterdrückung bzw. das Verbot der unerwünschten Veröffentlichungen. Unterschieden wird zwischen Präventiv- bzw. Vorzensur (die Publikationen müssen vor der Veröffentlichung einer Zensurbehörde zur Genehmigung vorgelegt werden) und Repressiv- bzw. Nachzensur (bereits erschienene Veröffentlichungen werden ganz oder teilweise beschlagnahmt oder ihre Verbreitung beschränkt bzw. verboten). I. w. S. erfasst der Begriff Zensur darüber hinaus die Kontrolle jeglicher Form von Meinungsäußerung.«3

Betrachten wir diese etwas sperrige Definition. Zensur erfasst also in einem weiteren Sinne auch »die Kontrolle jeglicher Form von Meinungsäußerung.«

Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass Bürger wie auch Journalisten prinzipiell frei ihre Meinung äußern können. Sicher: Die zwar gesetzlich garantierte freie Meinungsäußerung kann kaum losgelöst von den komplexen und teilweise ziemlich subtilen sozialen Mechanismen betrachtet werden, die das formal vorhandene Recht auf freie Meinungsäußerung in der Praxis auf vielfältige Weise untergraben können4, aber lassen wir diesen Aspekt mal beiseite. Fakt ist: Sie und ich können unsere Meinung gesetzlich garantiert frei äußern. Wenn Sie am Abend am Stammtisch sagen, dass Politiker XY zurücktreten sollte, wird niemand kommen und Sie und vielleicht sogar Familienmitglieder verhaften. Wie sieht es mit der Nachzensur beziehungsweise der Repressivzensur aus? Müssen Medien, die einen Beitrag veröffentlicht haben, der beispielsweise der Regierung nicht gefällt, damit rechnen, dass ihre gesamte Auflage vom Markt genommen wird? Müssen Medien mit schweren Konsequenzen rechnen, wenn sie einen kritischen politischen Journalismus betreiben, etwa in der Form, dass ihr Magazin oder ihre Zeitung vom Staat verboten wird? Die Antwort lautet: Nein, müssen sie nicht. Einen Eingriff von Behörden gibt es normalerweise nur dann, wenn gegen bestehende Gesetze verstoßen wurde. Wie sieht es mit der Präventiv- beziehungsweise der Vorzensur aus? Müssen Medienvertreter der Regierung beziehungsweise einer entsprechenden Stelle ihre Erzeugnisse vor Veröffentlichung vorlegen? Werden also Artikel, Fernsehbeiträge und so weiter vorab regelmäßig staatlich geprüft, sodass nur die Beiträge veröffentlicht werden, die der Regierung genehm sind? Auch diese Fragen können wir mit »Nein« beantworten. Es gibt in dem angeführten Sinne in Deutschland keine politische Vorzensur. Vermutlich werden auch die meisten Medienbeobachter diesen Ausführungen und Schlussfolgerungen zustimmen können. Warum behaupten Bürger dennoch, dass Medien zensieren? Eine Erklärung bieten hochrangige Medienvertreter mit der Behauptung, dass jene, die von Zensur sprechen, einfach keine Ahnung von den Funktionsweisen der Medien hätten und die notwendige journalistische Auswahl, Selektion und Bewertung von Nachrichten und Informationen vorschnell mit Zensur gleichsetzen würden. Diese Erklärung ist – zunächst – einleuchtend.

Natürlich haben nicht alle Bürger genauere Kenntnisse von den Funktionsweisen der Medien. Dass auch deshalb falsche Annahmen erfolgen, liegt nahe. Aber: Diese Erklärung ist zugleich wohlfeil und zu einfach. Sie dient nicht dazu zu erklären, warum die Zensurvorwürfe so zahlreich und so massiv sind. Es sei denn, man würde annehmen, dass alle, die den Medien Zensur vorwerfen, keine Ahnung haben, wie Medien vorgehen. Diese Annahme dürfte nicht nur fern der Realität sein. In ihr käme auch eine gehörige Portion Arroganz zum Vorschein. Wer sich mit der Kritik der Bürger an den Medien auseinandersetzt, wird schnell feststellen, dass viele Bürger ein für Laien geradezu erstaunlich fundiertes Verständnis in Sachen Medien und Journalismus haben. Auch wenn sie vielleicht nicht immer mit der präzisen Sprache des Medien- oder Kommunikationswissenschaftlers ihre Kritik zum Ausdruck bringen: Grundlegende Funktionsprinzipien der Medien sind ihnen durchaus bekannt. Sie wissen und verstehen beispielsweise, dass Medien filtern müssen. Dennoch halten sie an dem Zensurvorwurf fest. Wie kann das sein?

Nun wird es langsam kompliziert und wir müssen einen kleinen Umweg gehen. Zunächst: Im Zeitalter des Internets sind Mediennutzer nicht mehr nur auf die Nachrichten und Informationen angewiesen, die ihnen die großen Medien anbieten. Durch das Internet haben Menschen die Möglichkeit, auf einen gigantischen Informationspool zuzugreifen. Mediennutzer vergleichen die Auswahl und Gewichtung der Nachrichten, wie sie beispielsweise abends in der Tagesschau oder in einem großen überregionalen Blatt zu finden ist, mit Informationen, auf die sie im Internet stoßen. Sie machen sich eigene Gedanken darüber, wie Medien selektieren, und kommen so zu dem Verdacht, dass mit den Funktionsweisen der Medien etwas nicht stimmt. Sie erkennen plötzlich, dass Medien ihr Versprechen, Nachrichten und Informationen nach journalistischen Selektionskriterien (etwa Aktualität, lokaler Bezug, Regelverstöße, Außergewöhnliches und so weiter5) auszuwählen, gerade bei politisch sensiblen Themen längst nicht immer einhalten. Sie fragen: Wie kann es sein, dass immer wieder bestimmte Nachrichten und Informationen, die in den Medien vorherrschenden Erzählungen entgegenstehen, dauerhaft von den großen Medien ignoriert, ausgeblendet nicht veröffentlicht und gesendet werden (oder allenfalls in marginalisierter Form)?

Wie kann es sein, beispielsweise, dass große Medien kollektiv ein Aufruf von fünf prominenten und reputierten Politikern, in dem diese vor der Gefahr eines dritten Weltkrieges warnen, ignorieren, während Formate im Internet darauf eingehen (siehe Kapitel 2.1)?

Wie kann es sein, dass ein Buch wie Warum schweigen die Lämmer? des Kieler Wahrnehmungspsychologen Rainer Mausfeld, der ein zentrales Thema unserer Zeit, nämlich die Erosion der Demokratien, kritisch betrachtet, nahezu vollkommen von den großen Medien ignoriert wird? Auf der Rückseite des Buches heißt es:

»In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Demokratie in einer beispiellosen Weise ausgehöhlt. Demokratie wurde durch die Illusion von Demokratie ersetzt, die freie öffentliche Debatte durch ein Meinungs- und Empörungsmanagement, das Leitideal des mündigen Bürgers durch das des politisch apathischen Konsumenten. Wahlen spielen mittlerweile für grundlegende politische Fragen praktisch keine Rolle mehr. Die wichtigen politischen Entscheidungen werden von politisch-ökonomischen Gruppierungen getroffen, die weder demokratisch legitimiert noch demokratisch rechenschaftspflichtig sind. Die destruktiven ökologischen, sozialen und psychischen Folgen dieser Form der Elitenherrschaft bedrohen immer mehr unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen. Rainer Mausfeld deckt die Systematik dieser Indoktrination auf, zeigt dabei auch ihre historischen Konstanten und macht uns sensibel für die vielfältigen psychologischen Beeinflussungsmethoden.«6

Lieben die Medien nicht spannende und prägnante Thesen? Müssten Medien nicht geradezu zwingend in einer Zeit, in der viel über den Zustand unserer Demokratien diskutiert wird, ein großes Interesse an diesem Autor und seinen Thesen haben? Wäre es nicht angebracht, bei diesem Buch, das immerhin auf der Spiegel-Beststellerliste war, mit dem Autor in einer der großen politischen Talkshows des Landes zu diskutieren?

Auch der Journalist Stefan Korinth betont immer wieder, dass bei bestimmten Themen die formalen journalistischen Selektionskriterien außer Kraft gesetzt sind. Korinth, der sich seit Jahren intensiv mit dem Ukraine-Konflikt beschäftigt, sagte gegenüber dem Autor dieses Buches: »Im Ukraine-Konflikt ist das sehr deutlich zu sehen. Informationen werden von den großen etablierten Medien nicht nach Relevanz, Aktualität und Neuigkeitswert gewichtet, sondern nach politischer Nützlichkeit.«7

Informationen, die dem »transatlantischen Gut-und-Böse-Narrativ dienlich« seien, werden veröffentlicht – »oft sogar gezielt gepusht«, sagt Korinth. Informationen hingegen, die der »westlichen Mainstream-Erzählung« widersprechen, ignorierten die großen Medien »in aller Regel«.

»Bei kontroversen Ereignissen«, sagt Korinth, »wird faktisch durchgehend die Nato-Interpretation der Ereignisse vertreten. Diese wird wie die unumstößliche Realität dargestellt, die russische Interpretation hingegen wird entweder gar nicht erwähnt oder als Propaganda verächtlich gemacht.«

Die Aussagen wiegen schwer. Woran macht der Journalist seine Beobachtungen fest?

»Ein Beispiel für diese manipulative Vorgehensweise«, so Korinth, »ist der Umgang der Leitmedien mit dem Scharfschützenmassaker auf dem Maidan – dem aufgrund seiner explosiven Folgen wohl wichtigsten politischen Ereignis des Jahres 2014.«

Folge man dem »transatlantischen Narrativ«, sei das Geschehen recht eindeutig: »Damals wurden dutzende vorrückende Kämpfer der Maidanarmee auf Befehl des Präsidenten Viktor Janukowitsch von Scharfschützeneinheiten der Polizei erschossen.« Allerdings merkt Korinth an: »Trotz fünfjähriger Ermittlungen gelang es der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft nicht, Beweise für diese Hypothese zu ermitteln.«

Im Gegenteil: »Während der Untersuchungen sammelten sich immer mehr Beweise und Indizien für Täter auf Maidanseite an – Zeugenaussagen, Filmaufnahmen, forensische Beweise und Geständnisse. Berichtet wird darüber jedoch nicht. Obwohl der kanadische Politikwissenschaftler Ivan Katchanovski diese Belege in einer umfassenden Studie auflistete, fallen diese Informationen durch das Raster der Medien. Solche Nachrichten passen nicht ins gewünschte Narrativ.«

Korinth weiter: »Selbst zum fünften Jahrestag des Massakers, zu dem sich viele Medien nochmal des Ereignisses erinnerten, wurde den Nutzern durchgängig das westliche Narrativ als Wahrheit präsentiert. Schützen in den vom Maidan kontrollierten Gebäuden kommen in den Medienberichten entgegen des tatsächlichen Wissensstandes nicht vor. Besonders verstörend ist dies, da das ZDF am Tag des Massakers solche Schützen selbst filmte – diese hatten ein ZDF-Zimmer im Hotel Ukraina gestürmt und feuerten von dort in Richtung der Todeszone.«

Die ZDF-Korrespondentin Britta Hilpert habe mit Korinth in einem Interview ausführlich darüber gesprochen.8 In ZDF spezial am 6. März 2014 habe der Sender diese Bilder sogar einmalig gezeigt. »Anlass zu weiterführender Recherche«, merkt Korinth an, »war das alles jedoch nicht – man tut bis heute so, als sei nichts gewesen.«

Und der Journalist führt noch ein weiteres Beispiel an. Es geht um den Vorfall in Odessa (Ukraine) am 2. Mai 2014.

»Die Täterfrage könnte kaum eindeutiger sein – eigens angereiste bewaffnete Nationalisten trieben mehrere Dutzend oppositionelle Einwohner Odessas in ein Gewerkschaftshaus und zündeten es mit Molotow-Cocktails an.«

Mehr als 40 ukrainische Oppositionelle seien verbrannt, erstickt oder von den Rechtsextremisten und Hooligans totgeprügelt worden. Bis heute seien keine der namentlich bekannten Mörder bestraft, nicht einmal angeklagt worden.

Stefan Korinth: »Nichts von all dem passt in die westliche Rahmenerzählung von Gut und Böse im Ukraine-Konflikt. Deswegen taucht dieses Pogrom im Europa der Gegenwart (!) in der deutschen Berichterstattung so gut wie nicht auf. Und in den wenigen Berichten, die es gibt, ist nicht die Rede von einem Verbrechen, sondern von einer ›Tragödie‹ oder einem ›Gewaltausbruch‹; die Mörder werden als ›Fußballfans‹ verharmlost und die Opfer als ›pro-russische Separatisten‹ abgewertet. Etablierte Journalisten, die hierzulande gern moralische Werte, Verantwortung und ›Haltung‹ beschwören, verhalten sich auch in diesem Falle nicht nur handwerklich manipulativ, sondern moralisch absolut beschämend.«

Kürzen wir ab und fassen zusammen: Wie kann es sein, dass Medien bestimmte Perspektiven einfach nicht einnehmen? Wie kann es sein, dass dauerhaft in den großen Medien nur ein sehr überschaubarer Kreis an Personen vorhanden ist, die als Experten ihre Meinungen, Ansichten und Analysen zu den wichtigen politischen und gesellschaftlichen Themen vortragen und Unterschiede nur innerhalb eines sehr engen Meinungskorridors auszumachen sind? Wie kann es sein, dass zahlreiche kluge Analysten, die in Büchern oder alternativen Medien wichtige Beiträge zu aktuellen politischen Debatten liefern, von den etablierten Medien nahezu durchgehend ignoriert werden?

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Bücher und Experten gibt es viele. Medien können natürlich nie alle Bücher besprechen oder alle Experten zu Wort kommen lassen. Und es wäre falsch, wenn der Eindruck entstünde, dass an dieser Stelle die Ansicht vertreten wird, ein von Medien ignoriertes Buch würde Zensur bedeuten. Es wäre genauso falsch anzunehmen, Zensur sei allein schon deshalb in Kraft, wenn Medien den einen oder anderen Experten, dessen Meinung man selbst für gewichtig hält, ignorieren. Aber: Wenn das Ignorieren einer Systematik folgt, das heißt, wenn medienübergreifend und dauerhaft Bücher, Autoren, Experten und Stimmen, deren Ansichten und Thesen, die den im journalistischen Feld vorherrschenden politischen Glaubensüberzeugungen entgegenstehen, weitestgehend ignoriert werden – Thesen wohlgemerkt, über die zwingend breit öffentlich mit den Akteuren diskutiert werden müsste –, dann muss man hellhörig werden. Was geht da in den Medien vor?

Bürger erheben den Verdacht der Zensur nicht nur deshalb, weil Medien sich weigern, einzelne Personen in den von ihnen erzeugten öffentlichen Diskurs einzubinden, oder deshalb, weil Medien einzelne Themen, Informationen und Sachverhalte nicht aufgreifen. Der Zensurvorwurf wird deshalb erhoben, weil sie immer wieder eine Berichterstattung beobachten, die bei den großen politischen und gesellschaftlichen Themen den Diskurs auf den Durchmesser eines Strohhalms verengt. Doch trotz ihrer korrekten Beobachtung gelingt es vielen Kritikern nicht, die tatsächlichen Ursachen für die beschriebene Schieflage in den Medien freizulegen. Sie greifen stattdessen auf naheliegende, aber falsche Erklärungen zurück. Es muss, so die sich dann anschließende Überlegung, auch wenn im Grundgesetz das Gegenteil steht, einen staatlichen Zensor oder eine einflussreiche Gruppe geben, die über so viel Macht verfügt, dass sie Medien und große Teile der Journalisten kontrollieren. Doch so einfach ist es nicht. Die tatsächlich vorhandene Medienzensur ist das Ergebnis komplexer Ursachen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der mit seinen Analysen über das Fernsehen und das journalistische Feld wertvolle Erkenntnisse für eine kritische Betrachtung der Medien geliefert hat, stellt im Hinblick auf das Produkt Fernsehnachrichten fest, dass manchmal in der sozialen Welt etwas zu beobachten ist, »(…) das keiner will und das doch ganz den Anschein haben kann, als sei es gewollt«.9 Bourdieu erklärt, dass die »vereinfachende Kritik«10 in diesem Zusammenhang gefährlich ist, denn: »Sie dispensiert von der notwendigen Arbeit, Phänomene zu verstehen wie etwa dies, dass jenes höchst merkwürdige Produkt ›Fernsehnachrichten‹ zustande kommt, ohne dass jemand es wirklich will, ohne dass die Geldgeber spürbar einzugreifen hätten – ein Produkt für den Durchschnittsgeschmack, das Altbekanntes bestätigt und vor allem die mentalen Strukturen unangetastet lässt.«11

Die angeführten Gedanken haben einen grundsätzlichen Charakter. Auch in der Mediendebatte gilt es, dasPhänomen Zensur zu verstehen. Das heißt: Medien üben Zensur aus, obwohl es keine staatlich gelenkte Presse gibt. Medien üben Zensur aus, die in ihrer Auswirkung einer allumfassenden staatlichen Zensur in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich ist. Nur: Während die staatliche, von oben verordnete Zensur eindeutig zugeordnet werden kann, man also den Zensor erkennen, greifen und beim Namen zu nennen versteht, entzieht sich der Entstehungsprozess jener Zensur, über die wir reden, sehr geschickt dem Erkenntnissuchenden. Diese Zensur scheinen paradoxerweise selbst die Medien, die sie unaufhörlich ausüben, nicht zu erkennen.

Wir können diese real existierende Form der Zensur nicht mit den etablierten und mehr oder weniger allgemein akzeptierten Definitionen von Zensur erfassen. Wollen wir dieser speziellen Zensur beikommen, müssen wir unser Zensurverständnis erweitern. Wir müssen unsere Gedanken von dem Offensichtlichen hin zu dem mehr oder weniger sozial Verborgenen lenken. Es geht darum, den Blick auf eine Zensur zu richten, die sozial gewachsen ist, und nichtvon außen, sondern von innen aus dem journalistischen Feld heraus wirkt. Das journalistische Feld erzeugt sie aus freien Stücken, ganz ohne Zensurbehörde. Genau genommen müsste diese Zensur sich nicht einmal an den Interessen und Wirklichkeitsbildern der Herrschenden orientieren. Sie tut es aber dennoch – aus Gründen, auf die wir noch zu sprechen kommen. Diese Zensur, von der wir hier reden, hat eine soziologische Dimension. Sie ist das Produkt eines Zusammenwirkens verschiedener sozialer Einflussfaktoren.

Zensur in einem System freier Medien bedeutet, dass bestimmte Perspektiven, Meinungen, Themen und Informationen bewusst oder unbewusst von Journalisten aufgrund von sozialstrukturellen, sozialisationsbedingten, weltanschaulichen Ursachen und Antrieben medienübergreifenddauerhaft und weitestgehend nicht dem medialen Diskurs zugänglich gemacht werden. Die Selektion, Einordnung und Gewichtung von Informationen, Nachrichten und Ereignissen verläuft bei bestimmten Informationen und Themen medienübergreifend dauerhaft und weitestgehend nicht mehr nach journalistischen Standards, sondern nach Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen. Diese Zensur entsteht dann, wenn eine Vielzahl von Journalisten über sehr ähnliche bis identische weltanschaulich geprägte Wahrnehmungs- und Denkweisen verfügen und diese kollektiv handlungsleitend bei der Selektion, Einordnung und Gewichtung von Informationen, Nachrichten und Ereignissen sind. Die Folge ist eine weltanschaulich synchronisierte Berichterstattung. Die Zensur entsteht durch verschiedene Einflüsse im Innern des journalistischen Mikrokosmos, die alle mehr oder weniger stark miteinander verbunden sind, sich gegenseitig bedingen und die ›zensurhaften Einzelentscheidungen‹ potenzieren. Diese Einflüsse werden im Folgenden benannt, skizziert und kritisch diskutiert.

Mit dieser Definition von Zensur vor Augen, sei ein Wort in Sachen Selektion gesagt.

Sosehr man sich auch als aufmerksamer Mediennutzer über eigenartige Entscheidungen einzelner Medien, Redaktionen und Journalisten bei der Selektion von Informationen wundert: Selektion im Sinne einer sauberen journalistischen Auswahl ist natürlich keine Zensur. Sie wird noch nicht einmal dann zur Zensur, wenn einzelne Medien bewusst (aus welchen Gründen auch immer) bestimmte Informationen unterdrücken. Wir können allenfalls in zugespitzter Form dann von ›zensurhaften Entscheidungen‹ oder von ›Zensurtendenzen‹ sprechen. Echte Zensur, so wie wir sie hier verstehen, entsteht erst dann, wenn flächendeckend, immer wieder, über einen längeren Zeitraum medienübergreifend und dauerhaft zentrale Medien bestimmte Themen, Stimmen und Sichtweisen unterdrücken.

1.1 Zensur durch Zusammenwirken von Sozialisation und sozialer Zusammensetzung des journalistischen Feldes

»Wir müssen neue Formen des Kampfes entwickeln, um mit den richtigen Mitteln der Gewalt symbolischer Unterdrückung entgegenzutreten, die sich nach und nach in den westlichen Demokratien ausgebreitet haben. Ich denke an die verdeckte Zensur, der die kritische Presse und das kritische Denken in den großen angesehenen Zeitungen in zunehmendem Maße unterworfen sind.«12

Pierre Bourdieu

Sozialisation und die soziale Zusammensetzung des journalistischen Feldes sind in unserem Mediensystem die Wegbereiter für Zensur. Der Prozess der Sozialisation ist ein sehr komplexer Vorgang und Gegenstand vieler wissenschaftlicher Diskussionen. Die Vielfalt der Definitionen des Begriffs Sozialisation ist von verschiedenen Perspektiven und Akzentuierungen geprägt, weitestgehend besteht jedoch Konsens darüber, dass sich Sozialisation in zwei Phasen vollzieht: der primären und der sekundären Sozialisation. Die Wissenssoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann schreiben: »Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Sekundäre Sozialisation ist jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.«13

Die Sozialisation wird zunächst von engen Bezugspersonen geprägt und dann im späteren Verlauf vor allem auch durch die Interaktion mit unserer weitergefassten Umwelt bestimmt. Grundlegende Werte, Regeln, Normen und so weiter werden im Laufe der Sozialisation in uns eingeschliffen. Berger und Luckmann betonen die Rolle jener, wie es in der Soziologie heißt, »signifikant Anderen«, also der Personen, zu denen wir einen engen Kontakt haben, die dem Kleinkind eine von ihnen bereits vorstrukturierte Welt übermitteln. Diese signifikanten Anderen vermitteln eine Vorstellungswelt, eine Wirklichkeit, die wiederum stark von ihrem eigenen sozialen Hintergrund geprägt wurde.

Sozialisation, das dürfte deutlich werden, greift tief in unsere Wahrnehmung der Welt ein und wird zum bestimmenden Faktor, wenn es um die Erfassung der Realität geht.

Die Wissenssoziologie, also jener Teil der Soziologie, der sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit auseinandersetzt, hat zwei sehr prägnante Begriffe hervorgebracht. Es geht um die »Standortgebundenheit des Denkens«14 beziehungsweise die »Seinsverbundenheit des Wissens«.15 Die Begriffe führen uns vor Augen, dass unser Wissen und unsere Auffassung von Wirklichkeit stark an uns selbst (unser »Sein«) gebunden sind, aber auch im Hinblick auf die jeweiligen äußeren Bedingungen erfasst werden müssen, die dieses Wissen und diese Auffassungen erst haben entstehen lassen. ›Unser‹ Wissen und ›unsere‹ Wirklichkeitsbilder basieren folglich nicht auf einer vollkommen reinen objektiven Erfahrung, sondern sind ›gebunden‹ an einen zeithistorischen und sozialen (Denk-) Standort. Diese ›Gebundenheit‹ des Menschen an einen bestimmten historisch-sozialen Kontext ist ziemlich weitreichend und muss beachtet werden, wenn jemand (Journalisten) den Versuch unternehmen wollen, Realität möglichst objektiv zu erfassen. Anders gesagt: Wir ›wissen‹, nehmen wahr und denken von einem bestimmten »Denkstandpunkt«16 und das heißt, wir haben große Probleme, wenn es darum geht, einen Erkenntnisgegenstand vollständig zu erfassen. Der Begriff »Seinsverbundenheit des Wissens« erfasst, dass Wissen an unser »Sein« gebunden ist. »Die Seinsverbundenheit des Wissens begreift auch Einzelaussagen und -urteile als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung, und diese wiederum erscheint in Struktur und Gliederung als standortgebunden.«17

Diese Gedanken geben uns einen Hinweis darauf, dass es gilt, vorsichtig zu sein, wenn Medien wieder einmal beanspruchen zu ›sagen, was ist‹. Ganz so einfach lässt sich nämlich gar nicht ›sagen, was ist‹, wenn man sich bewusst ist, dass Wissen ein soziales Konstrukt ist18, dass die Einflüsse der Sozialisation weitreichend und verzerrend sind. Denn: Natürlich haben auch Journalisten eine Sozialisation durchlaufen beziehungsweise durchlaufen sie (wie wir alle) noch immer, da die sekundäre Sozialisation ein Leben lang andauert. Die Standortgebundenheit des Denkens, davon muss ausgegangen werden, macht sich auf die ein oder andere Weise, auch in der Arbeit von Journalisten als vorgeblich neutrale und objektive Berichterstatter bemerkbar.

Bourdieu verweist auf die Bedeutung der »unsichtbaren Strukturen«19 der Sozialisation, die das Denken beeinflussen, und merkt im Hinblick auf Journalisten an, dass diese »eine spezielle Brille«20 tragen, »mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen. Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt.«21

Tauchen wir noch ein wenig tiefer hinab in den Prozess der Sozialisation. Der Sozialisationsprozess führt auch dazu, dass jeder von uns das ausbildet, was als Habitus bezeichnet wird. Habitus ist wie folgt definiert: »Durch transformierende Verinnerlichung der äußeren (klassenspezifisch verteilten) materiellen und kulturellen Existenzbedingungen entstanden, stellt der Habitus ein dauerhaft wirksames System von (klassenspezifischen) Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata dar, das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch den mit dieser Praxis verbundenen alltäglichen Wahrnehmung konstitutiv zugrunde liegt.«22

Diese etwas verschachtelte Definition vermittelt uns einen Eindruck davon, dass die von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelte Habitustheorie ziemlich komplex ist. Sie wird gar als »die Geburtsstunde der bisher wichtigsten theoretischen Entdeckung« der modernen Sozialtheorie bezeichnet.23 Zu begreifen, was mit Habitus gemeint ist, fällt vielleicht etwas leichter, wenn wir Habitus als »Inkorporation des Sozialen in den Körper«24 betrachten. Gemeint ist damit (grob vereinfacht), dass im Laufe der Sozialisation unsere Lebenswelt tief in uns eindringt. Unsere äußere Umgebung, also das Milieu, in dem wir uns bewegen, hat einen so weitreichenden Einfluss, dass unser Körper, also unsere Art, uns zu bewegen, zu sprechen, unsere Mimik, Gestik und so weiter zu einem Abbild dieser äußeren Lebenswelt wird. Wenn die Prägung des Habitus so weit reicht, dass sie sich selbst in unserem Körper widerspiegelt, können wir uns leicht vorstellen, wie weit der Habitus auch unser Denken bestimmt. Gewiss sind das erst einmal relativ simple Erkenntnisse, aber sie werden, wenn es um die Einordnung von Journalisten und ihrer Arbeit geht, oft sträflich vernachlässigt. Bourdieu erkennt in dem Habitus ein Prinzip strukturierter und strukturierender Strukturen.25 Gemeint ist damit: Unser Habitus ist einerseits eine strukturierte Struktur (in ihm spiegeln sich die ganzen Prägungen unserer Sozialisation wieder), aber er hat auch die Fähigkeit, zu einer strukturierenden Struktur zu werden, das heißt, unser Habitus (also ›wir‹) strukturieren durch ihn (die Habitusstruktur) auch uns selbst und unsere Umwelt. Und jetzt wird es interessant: Der Habitus hat die Tendenz, sich zu reproduzieren. Anders gesagt: Es liegt nahe, dass Menschen ziemlich oft genau jene äußeren und inneren (mentalen) Strukturen reproduzieren, aus denen sie hervorgegangen sind. Lassen Sie uns diesen Gedanken übertragen auf unser Thema der journalistischen Berichterstattung. Was glauben Sie, welche Rolle spielt der Habitus innerhalb des journalistischen Feldes? Auch innerhalb des journalistischen Feldes ist ein Habitus das, was er immer ist: Er ist strukturierte und strukturierende Struktur. Das heißt: Der im journalistischen Feld anzutreffende Habitus ›macht‹ das, was ein Habitus eben ›macht‹: Er strukturiert (prägt) aus seiner eigenen Struktur seine Umwelt. Was bedeutet das? Es bedeutet unter anderem, dass der dominierende Habitus versucht, die ›innere Ausrichtung‹ des journalistischen Feldes an ihn anzupassen. In dem Feld entstehen gemeinsame »mentale Strukturen«26, eine gemeinsame Weltsicht formt sich aus (siehe Kapitel 1.2).

Michael Hartmann hat sich intensiv mit den deutschen Wirtschaftseliten auseinandergesetzt27 und ist unter anderem zu dem Schluss gekommen, dass nicht Leistung ausschlaggebend für den Aufstieg in großen Wirtschaftsunternehmen ist, sondern der richtige Stallgeruch. Mit anderen Worten: Es geht darum, den richtigen Habitus zu haben. In einem Interview ist zu lesen:

»Zeit Online: Welche Faktoren entscheiden darüber, ob jemand den Aufstieg nach ganz oben schafft?

Michael Hartmann: Zunächst: Wer in die Elite will, muss an die Universität. Über 90 Prozent der deutschen Eliten haben heute einen Hochschulabschluss. Aber sobald der Hochschulabschluss in der Tasche ist, zählt vor allem der richtige Stallgeruch. In der Soziologie nennen wir das Habitus: Das Wissen um die versteckten Regeln und Mechanismen an der Spitze, um das, was dort en vogue ist, ein breiter bildungsbürgerlicher Horizont, souveränes Auftreten. Das bevorzugt Kinder aus dem Bürger- und Großbürgertum.

Zeit Online: Kann man sich dieses Verhalten nicht antrainieren?

Michael Hartmann: Das ist ziemlich schwierig. Welche Kleidung angesagt ist und wie Hummer gegessen wird, kann noch vergleichsweise schnell einstudiert werden. Aber der breite bildungsbürgerliche Horizont, der Kindern aus dem Bürger- und Großbürgertum über Jahre vermittelt wird, ist nur mühsam aufzuholen. Ganz zu schweigen von der Selbstverständlichkeit, mit der gerade Kinder aus dem Großbürgertum agieren. Das ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal zu Arbeiterkindern. Wer aus dem Großbürgertum stammt, kann und weiß auch nicht alles, was in Spitzenpositionen wichtig ist. Aber er kann souverän mit Defiziten umgehen.«28

Diese Ausführungen geben einen weiteren Einblick in die Funktionsweise des Habitus und wir können erahnen, was es mit ihm im journalistischen Feld auf sich hat. Frage: Gibt es im journalistischen Feld auch so etwas wie einen Stallgeruch? Hier wären genauere Untersuchungen im Sinne Bourdieus Habitustheorie notwendig, aber wer die Funktionsweisen des Habitus versteht, kann nachvollziehen, dass dieser sich natürlich auch im journalistischen Feld seinen Weg bahnt. Von daher, etwas grob gesagt: Der Stallgeruch im journalistischen Feld entspricht jenem Habitus, der dieses Feld dominiert.

Aber wie sieht die soziale Zusammensetzung in den Medien aus? »Journalisten sind in ihrer sozialen Zusammensetzung (…) nicht der Spiegel der Bevölkerung – so wenig wie Ärzte, Anwälte oder Wissenschaftler«,29 heißt es nüchtern in einer grundlegenden und viel beachteten Studie des Kommunikationswissenschaftlers Siegfried Weichenberg. Und weiter: »Journalisten unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer formalen Bildung vom Durchschnitt der Bevölkerung. Sie rekrutieren sich auch sehr deutlich vor allem aus einem Bereich der Gesellschaft: der Mittelschicht. Rund zwei Drittel der Väter von Journalisten (66,7 %) sind oder waren Angestellte oder Beamte; Kinder von Arbeitern stellen eine kleine Minderheit (8,6 %).«30

Diese Studie wurde 2005 durchgeführt und 2006 veröffentlicht, eine so weitreichende, identische Studie gibt es bis heute nicht. 31 Auch wenn aktuelle Zahlen sicherlich interessant wären: Die Probleme im Journalismus, mit denen wir uns auseinandersetzen, basieren auf den Entwicklungen und den Auswirkungen, die sich aus dem Befund von Weischenberg ergeben. Zudem lässt eine aktuelle kritische Beobachtung der Medien die Annahme zu, dass sich der grundlegende Befund kaum verändert haben dürfte.32

Peter Ziegler, der in seiner Studie den Fokus auf Absolventen von Journalistenschulen richtet, erkennt, dass sich die »Befragten wie erwartet als veritable Leistungselite erwiesen (haben). Eine Leistungselite, die ganz überwiegend der Mittelschicht entstammt.«33Ziegler schreibt weiter in Bezug auf Hartmanns Erkenntnisse: »Damit ist auch für die Journalistenschulen widerlegt, ›Elitenzugang qua Leistungsauslese bedeute zugleich auch eine vergleichsweise große soziale Offenheit der Eliten‹.«34 »Beamte« seien laut Ziegler »bei den Berufen der Eltern der Absolventinnen und Absolventen stark über-, Arbeiter aber stark unterrepräsentiert. Journalistenschüler und die Absolventen solcher Schulen sind also in ihrem sozialen Kontext keineswegs ein Spiegel der Gesellschaft.«35 Untersuchungen, wie wir sie hier anführen, lassen erkennen, dass die soziale Zusammensetzung des journalistischen Feldes offensichtlich ziemlich homogen oder besser: zu homogen ist. Wenn ein Feld sich stark von Akteuren aus einer sozialen Schicht zusammensetzt, muss davon ausgegangen werden, dass in diesem Feld ein bestimmter Habitus dominierend vertreten ist.