Sachen und Sätze - Dirk Westerkamp - E-Book

Sachen und Sätze E-Book

Dirk Westerkamp

0,0
31,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was sind systematische Metaphern? Wie intelligent ist die Buchstabenschrift? Müssen Wahrheitstheorien wahr sein? Wie ist das Verhältnis von Sachen (i.e. kulturellen Gegenständen) und Sätzen (d.h. sprachlichen Einheiten) zu beschreiben? Dirk Westerkamps grundlegende Untersuchung widmet sich dem noch kaum systematisch behandelten Verhältnis von Sprach- und Kulturphilosophie. Die Aufgabe der Kulturphilosophie besteht in der theoretischen Reflexion kultureller Tatsachen. Sprache wird ihr dabei nicht nur als Medium des kulturellen Gedächtnisses zum Thema: Die Sprache ist sowohl selbst eine kulturelle Tatsache als auch Bedingung der Möglichkeit kultureller Faktizität überhaupt. Die Kulturphilosophie muss sich daher der Sprachanalyse bedienen, um ihren Gegenstand, das sich ständig neu anordnende Ensemble kultureller Tatsachen, angemessen bestimmen zu können. In einer Reihe von gründlichen Einzelstudien untersucht Dirk Westerkamp das Verhältnis von Sachen und Sätzen als systematisches Problem, das die Formen der symbolischen Reflexivität der Sprache in zwei ihrer wichtigsten philosophischen Facetten zu diskutieren erlaubt: in sowohl sprachphilosophischer wie wahrheitstheoretischer Hinsicht. Sprache und Schrift werden damit auf doppelte Weise thematisch: einmal als symbolische Ordnung kultureller Tatsachen und zweitens als Medien unseres Wahrheitsverständnisses. Entsprechend geht es im ersten Teil des Buches anhand des Leitbegriffs der symbolischen Reflexion um Verstehen und Nichtverstehen, Metaphern und Schrifttheorie und im zweiten um die Problematik einer sprachpragmatischen Wahrheitstheorie kultureller Tatsachen. In der hierfür gewählten Perspektive wechseln nicht nur historische und systematische, sondern auch methodische Zugänge: Sprachanalyse, Hermeneutik und Kulturphilosophie gehen eine ebenso spannungsreiche wie produktive Verbindung ein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dirk Westerkamp

Sachen und Sätze

Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN Druck 978-3-7873-2681-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2682-2 ISBN ePub: 978-3-7873-3128-4

Umschlagabbildung: Pavel Richtr, 687 Nr. (Ausschnitt), 2001.

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

Inhalt

Die symbolische Reflexion der Sprache

1. Sprache als Thema und Medium der Philosophie

2. Mentalistische und instrumentalistische Sprachmodelle

3. Symbolische Reflexion (1): Differentialität

4. Symbolische Reflexion (2): Multiperspektivität

5. Sprache und kulturelle Tatsachen

ERSTER TEIL

Symbolische Ordnungen und kulturelle Tatsachen

Die andere Sprache

Positionen grammatischer Metaphysikkritik

1. Riss zwischen logischer und grammatischer Syntax der Sprache

2. Bann der grammatischen Funktionen: Nietzsche

3. Suspension der Urteilsstruktur: Frege

4. Eidetik idealer Bedeutungseinheiten: Husserl

5. Grammatische Metaphysikkritik und symbolische Reflexivität der Sprache

Anoetik und Hermeneutik

Symbolische Formen des Verstehens und Nichtverstehens

1. Radikales Nichtverstehen: Geltung ohne Bedeutung

2. Radikale Übersetzung: Bedeutung als Satzwahrheit

3. Die symbolische Als-Struktur des Verstehens

4. Sich nicht verstehen auf etwas

5. Selbstunverständnis und Selbstmissverständnis

6. Anoetik: Phänomenologische Analytik der Sprechakte und Kategorientafel

7. Erste Kategorie: Verständnishorizonte

8. Zweite Kategorie: Nichtverstehensqualitäten

9. Dritte Kategorie: Nichtverstehensdispositionen

10. Vierte Kategorie: Nichtverstehensmodi

Symbolische Differenz

Wie intelligent ist die Buchstabenschrift?

1. Zwei Dogmen der Dekonstruktion?

2. Schrift und Schriftordnungen

3. Aspekte eines allgemeinen Schriftbegriffs

4. Die Mumie und die Hieroglyphe: Humboldts Bestimmung der Buchstabenschrift

5. Der Schacht und die Pyramide: Hegels Bestimmung der Buchstabenschrift

6. Stoicheiographie und Akroamatik: Die symbolische Reflexivität der Schrift

Systematische Metaphern

Figuratives Wissen zwischen kognitiver und historischer Semantik

1. Metaphern als philosophisches Problem

2. Probleme einer allgemeinen Metaphernbestimmung

3. Konzeptuelle Räume: Metaphern in der kognitiven Semantik

4. Mentale Synthesis: Systematik und Produktivität der Metapher

5. Die kulturelle Signatur metaphorischer Felder

6. Kontextabhängigkeit und Redekonsequenzen: Die Historizität metaphorischer Semantik

7. Absolute Metaphern und historische Semantik

8. Metaphern als indirekte Wahrheitsträger

9. Systematische Metaphern und die Frage: Was ist ein philosophischer Text?

Sprache, objektiver Geist und kulturelles Gedächtnis

1. Das terminologische Problem

2. Gedächtnisfunktionen und Trägermedien

3. Die materiellen Träger des objektiven Geistes

4. Hegels Erinnerungs- und Gedächtnistheorie

5. Individuelle Erlebniserinnerung und symbolische Form

6. Das produktive Gedächtnis und die symbolische Reflexion der Sprache

7. Das »individuelle Weltsystem« und die symbolischen Ordnungen

ZWEITER TEIL

Sprachanalyse und alethischer Pragmatismus

Sachen und Sätze

Kulturphilosophische Prämissen einer sprachpragmatischen Alethiologie

1. Intransigenz von Sprachanalyse und Kulturphilosophie?

2. Perspektiven der Verschlingung von Sprachanalyse und Kulturphilosophie

3. Analytische und synthetische Aufgaben: Das Problem der »Denaturalisierung«

4. Symbolische Reflexion: Der Gegenstand kulturphilosophischer Sprachanalyse

5. Kulturelle Tatsachen: Eine theoriehistorische Digression

6. Kulturelle Tatsachen: Werke und Wir-Intentionalität

7. Im Wahren sein: Alethische Evidenzhorizonte

Evidenz und Geltung

Varianten des alethischen Pragmatismus

1. Wahr-Sagen und Wahr-Machen

2. Bewahrheiten als regulative Idee unendlichen Forschens

3. Verifikation als Zur-Geltung-Bringen wahrer Auffassungen

4. Weltbilder: Wahrmachen als Anerkennung in Überzeugungssystemen

5. Vérité à faire als Eingriff in die Geschichte

6. Verifikation: Diskursregulierung als Eindringen ins Wahre

7. Alethischer Realismus vs. alethischer Pragmatismus

8. Die bestimmte Unbestimmtheit der Evidenzhorizonte und die Aufgaben eines alethischen Pragmatismus

Bewährte Überzeugungen

Aufgaben einer sprachpragmatischen Alethiologie

1. Explikation statt Theorie der Wahrheit

2. Überzeugung (1): Wahrheitsgefühl

3. Überzeugung (2): Wahrhaftigkeit

4. Überzeugung (3): Fürwahrhalten

5. Aussagen als Ort der Wahrheit

6. Tatsachen und Tatsachensphären

7. Konvergenz (1): Korrespondenz

8. Konvergenz (2): Kohärenz

9. Konvergenz (3): Konsens

10. Konvergenz (4): Respondenz Vorschlag eines pragmatischen Entsprechungsmodells

11. Verifikation als Bewährung und Kritik

12. Evidenzhorizonte: Im-Wahren-Sein

Müssen Wahrheitstheorien wahr sein?

1. Konkurrieren Wahrheitstheorien?

2. Typentheoretische Probleme des Wahrheitsprädikats

3. Die moderne Deflation des Wahrheitsbegriffs

4. Haben Theorien assertorische Kraft?

5. Was sind Theorien?

6. Was Wahrheitstheorien leisten sollten

7. Die Kritisierbarkeit von Theorien

Wahrheit und Kulturelle Tatsachen

Thesen zur Logik der Kulturwissenschaften

1. Das Wahrheitsproblem der Kulturwissenschaften

2. Drei Positionen: Ernst Cassirer, Wiener Kreis, Kritische Theorie

3. Die symbolische Form kultureller Faktizität: Znaniecki, Whitehead, Cassirer

4. Die innere Pluralität des Tatsachenbegriffs

5. Die symbolische Reflexivität der Sprache und das Verhältnis von Wahrheit und kulturellen Tatsachen

6. Abschied von den facta bruta

Anmerkungen

Siglenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Danksagung

Nachweise

Die symbolische Reflexion der Sprache

1. Sprache als Thema und Medium der Philosophie1

Philosophie ist die Kunst, sinnvolle Unterscheidungen zu treffen. Ihre Distinktionen sind begrifflicher Art. Sie werden im diskursiven Medium der Sprache geäußert und bestimmen unser Verhältnis zur Welt, zu Anderen, zu uns selbst. Im Alltag vermeinen wir auch sprachlos wahrnehmen, uns einer Sache vorsprachlich bewusst sein oder nonverbal kommunizieren zu können. Die Reflexion der Philosophie dagegen ist unhintergehbar begrifflich-symbolisch. Sie kann ihre Erkenntnisse nicht malen, singen oder tanzen.2 Philosophie denkt entlang einer Sprache, die für sie eine doppelte Funktion gewinnt: Sprache ist ihr Thema und ihr Medium zugleich.3 Nur in der Sprache kann die Philosophie über ihren Gegenstand und ihre Methode selbst sprechen.

Insofern die Sprache nicht Welt abbildet, sondern ein Bild der Welt entwirft, reflektieren ihre Differenzierungen nicht notwendig reale Unterschiede. In einer vorsprachlichen und vorkulturellen Welt gibt es, so Lockes Beispiele (für »gemischte Modi«4), keinen Ehebruch, keine Prozession, kein Sakrileg. Begriffliche Unterscheidungen solcher Art kommen allererst durch kulturelle Sprachpraktiken in die Welt. Auch dürfte schwierig sein, vermutet bereits Moses Mendelssohn, ohne Sprache überhaupt Bestimmtes wahrnehmen zu können. Wie sollte möglich sein, »durch die bloße Anstrengung der Aufmerksamkeit, Merkmale herauszubringen, für die wir noch keine Worte wissen«5. Unser Wahrnehmen und Denken ist von vornherein zeichenhaft und symbolisch, »weil der Mensch, ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann«6.

Nichts spricht dafür, dass Sprache wie in einem schlierenlosen Spiegel einfach die Unterschiede reflektierte, die wir in der Welt vorfinden und auch ohne Sprache für uns da wären. Demgegenüber ging das hochdifferenzierte mittelalterliche Sprachdenken noch von einer weitgehenden »Isomorphie zwischen Sein, Denken und sprachlichem Ausdruck«7 aus. Es fand eine wohlgeordnete, nach Ursachen, Gattungen und Arten unterteilte Welt in den begrifflichen Unterscheidungen und sprachlichen Ordnungen der Dinge selbst wieder. Unzulänglichkeiten sprachlicher Repräsentation wurden nicht auf eine vermeintlich weltfremde Natur der Sprache, sondern auf deren unvollkommenen Gebrauch zurückgeführt.

Neuzeitlich bestimmend sind andere Auffassungen geworden: dass die Dinge an sich selbst betrachtet dem menschlichen Geist entweder auch sprachunabhängig zugänglich seien; oder dass sie überhaupt nicht, auch nicht sprachlich, erfasst werden können. Wilhelm von Humboldt und Karl Leonhard Reinhold haben an der Schwelle zur Moderne vehement sowohl der ersten als auch der zweiten Auffassung widersprochen, der noch ihr ›Lehrer‹ Kant anhing. Während Humboldt für unmöglich hält, »aus der Sprache herauszutreten und die Dinge unabhängig von ihr zu betrachten«8, kritisiert Reinhold die Sprachvergessenheit metaphysischen Denkens, welches dem »Wahn einer ohne […] Sprache möglichen, […] begriffslosen, innerlichen Wahrnehmung […] und [der] Einbildung unmittelbarer Vorstellungen«9 aufsitze. Humboldts und Reinholds Thesen von der Vergeblichkeit des Heraustretens aus der Sprache leugnen keineswegs die Möglichkeit auch sprachunabhängiger Erfahrungsgegenstände oder Sachverhalte (facta bruta). Fraglich aber ist, ob es sie, als sprachunabhängige, für uns geben kann. Denn mag Welt auch unabhängig von Sprache existieren, so ist doch unsere Erkenntnis von Wirklichkeit »unaufhebbar sprachbezogen«10. Vereinbar ist dies problemlos mit der Einsicht, dass aus der »Sprachgebundenheit« allen Erkennens gleichwohl nicht schon »die Sprachgeborenheit alles Erkannten«11 folge.

Ihre Unumgänglichkeit im menschlichen Weltzugang hat zu der hermeneutischen Überzeugung geführt, Sprache sei das »universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht«12. Zwar scheint sie nur eines unter vielen zur Verfügung stehenden Medien. Aber das Bild, die Brille, das Mikroskop, der Computer und diverse andere mediale Objekte sind Erkenntnismedien nur in Verbindung mit der »propositionalen Artikulation«13 der Sprache. Sie ist nicht das Medium, das jeweils besser erkennen, sondern welches überhaupt erst etwas als etwas verstehen lässt. Auch in der Laborsituation reicht der vielsagende Blick auf ein Präparat nicht aus, um einen Geltungsanspruch – z. B. »Dieses Enzym X könnte für eine Therapie der Krankheit Y nützlich sein« – zu äußern, sondern es bedarf der propositional-behauptenden Kraft der Sprache. Medien sind Erkenntnismedien stets nur im Verein mit der Artikulation von Sprache und Schrift.

Humboldt hat für den Umstand, dass sich reale und ideale Gegenstände nicht einfach von selbst, sondern sprachlich vermittelt zeigen, den Begriff der »Weltansicht«14 geprägt. Von sprachlichen Weltansichten hängt ab, was wir als Gegenstände sollen wahrnehmen können. Daher wäre aus dem Umkreis unserer Sprache nur »insofern hinauszugehen möglich […], als man zugleich in den Kreis einer andren hinübertritt«15. Hermeneutischen Vollzug nennt Gadamer im Anschluss an Humboldt den sprachlichen Verstehensprozess zwischen Text und Interpret(inn)en. Einen ähnlichen, allerdings auf konkrete Situationen sprachlicher Praxis bezogenen Gedanken hat Donald Davidson unter dem Namen »Triangulation« formuliert; er meint die triviale, aber grundlegende »Dreiecksanordnung, die aus den zwei Akteuren und einem gemeinsam beobachteten Gegenstand besteht«16. Demnach vollzieht sich alles Erkennen in einer symbolischen Dreiecksbeziehung von subjektiver, intersubjektiver und objektiver Erkenntnis, welche den Akteuren durch das gemeinsame Primärmedium der Sprache zugänglich wird. Davidson führt dies zu dem evidenten, aber weitreichenden Schluss, dass die »Identifizierung der Gegenstände des Denkens […] auf einer sozialen Grundlage«17 beruhe.

Dass sprachliches Verstehen – als Verständnis durch Sprache und Verstehen von Sprache – triangularisch strukturiert und damit stets an ein uns vorgängiges Du gerichtet ist, wie erstmals Humboldt erkannt hat,18 impliziert nicht notwendig das Gelingen von Verstehen. Wenn Sprache das Primärmedium unseres Selbst-, Fremd- und Weltverständnisses sein sollte, dann markieren ihre Grenzen auch die des Verstehens: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«19 Deshalb ist auch der Versuch des Begreifens von allem, was anders als Sprache ist, selbst sprachlich vermittelt. Wenngleich die Philosophie an die Grenzen der Sprache und des Verstehens geht, um sich mit Mitteln des Begriffs auch des Nichtbegrifflichen anzunehmen,20 bleibt sie doch in erster Linie eine »Anstrengung des Begriffs«21. Kritisch hat Adorno an diesen Hegelschen Gedanken angeknüpft und bemerkt, der Weg der Philosophie führe zur »Anstrengung des Begriffs, das nichtbegriffliche Moment zu vertreten und es durch den Inbegriff selber zur Geltung kommen zu lassen«22.

Vollends verlassen könnte Philosophie die Sphäre des Begriffs nur um den Preis der Selbstaufgabe. Ihre Sprache ist die Sprache des Begriffs, der Begründung und der Argumentation. Das allerdings schließt das Vermögen, auch die Sprache der Metapher, des Beispiels und der Darlegung zu sprechen, notwendig ein. Denn nur dem Ensemble ihrer Vermögen, der kognitiven so gut wie der kommunikativen und imaginativen, verdankt die Philosophie ihre Kunst, sinnvolle begriffliche Unterscheidungen, epistemische Aussagen und normative Geltungsansprüche zu begründen. Der begrifflich-argumentative wie zugleich verallgemeinernde Charakter philosophischer Sprache markiert freilich die äußerste Konsequenz jener synthetischen Funktion, die in der symbolischen Reflexion der Sprache selbst angelegt scheint. Cassirer hat sie als »Synthesis des Verschiedenen«23 bezeichnet, in welcher Heterogenes, Getrenntes, Verschiedenes eine begriffliche Einheit eingehen. Jeder Begriff, erinnert Nietzsche, »entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen«24: Begriffliche Synthesis sieht ab von den Qualitäten des Synthetisierten, zehrt vom »Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten«25. Daher hat die Sprachphilosophie von Humboldt über Nietzsche bis zu Cassirer und Goodman stets die Erinnerung an den abstrahierend-fixierenden wie zugleich produktiven und welterschließenden Charakter der Begriffsbildung wachgehalten. Auch im Sprechen und Schreiben sollten wir uns »als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt«26 nicht vergessen.

Begriffliche Synthesis hat freilich nicht nur objektiv-weltordnende Funktion, sie ist auch immer schon auf Intersubjektivität gerichtet. Nur wenn der Begriff, den alle verwenden, von den Vorstellungen, die jeder Einzelne konkret mit ihm verbindet, absieht, wird sprachliche Verständigung möglich. Nur weil das Konkrete in allgemeinen Termini bezeichnet wird, lässt es sich anderen verständlich machen. Das Konkrete bedarf des begrifflich Allgemeinen, um für uns Konkretes sein zu können. Verstehen ereignet sich in einem Raum von Objekt- und Metasprachen, welche zuletzt aber in keine andere als die Umgangs- oder Verkehrssprache selbst (rück-)übersetzt werden. Das liegt bereits an der Eigenart ihres Erwerbs. Denn als allgemeine Gestalt einer überindividuellen Erst- und Umgangssprache kann sie nur individuell erworben werden. Sprache hat ihren »ontologischen« Sitz nirgendwo anders als im sprechenden Individuum; und doch sind die Äußerungen dieses Individuums fast allesamt »normierte, nach Regeln erlernte Sprechgewohnheiten«27. Saussures Unterscheidung von langue und parole suchte dieser symbolischen Doppelnatur Rechnung zu tragen. Langue meint die Sprache als System normierter Sprechgewohnheiten, parole die Form, in der sich diese allgemeine Sprache als besonderes Sprechen konkretisiert.28 Im Anschluss an Saussure hat Maurice Merleau-Ponty daran erinnert, dass die Sprache nie nur aktualer Vollzug, sondern »Sedimentierung«29 ist, eine Ablagerung der Gedanken vergangener Generationen, die die Sprache erst »zu dem gemacht haben, was sie heute ist«30.

Eine zweite Dialektik liegt in der Selbsttransparenz der Sprache. Wie man oft einer Sache erst dann gewahr wird, wenn sie auffällt, Probleme bereitet, nicht mehr funktioniert, so zeigt sich die Sprache selbst erst dort, wo sie ihre Durchsichtigkeit aufhebt: wenn Dinge ausgedrückt werden sollen, zu der die Sprache nicht in der Lage scheint; wenn eine andere oder unverständliche Sprache gebraucht wird. Die Frage nach der Sprache zu beantworten, fällt der Philosophie folglich auch deshalb so schwer, weil sie ihr so nahe liegt: »wir benutzen sie schon, indem wir nach ihr fragen«31. Diese Selbsttransparenz und »Fraglosigkeit«: dass sie schon im Vernehmen in der Regel auch verstanden wird, kennzeichnet die »Verbindlichkeit«32 normaler Sprachen, während die Einschränkung ihrer Varianz allen formalen Sprachen allererst die Eindeutigkeit sichert. In beiden Vermögen offenbart sich eine Stärke und Relevanz zur Beantwortung philosophischer Fragen, die in der Tat die Besinnung auf Sprache zum übergreifenden philosophischen Motiv der Moderne und Nachmoderne haben werden lassen.33

2. Mentalistische und instrumentalistische Sprachmodelle

Zu den traditionellen Bestimmungen gehört die Auffassung, dass Sprache, Welt und Wirklichkeit getrennte Sphären bilden; dass Sprache vor allem dazu diene, Informationen über eine Wirklichkeit mitzuteilen, die auch ohne sie da wäre. Das instrumentalistische Sprachparadigma begreift Sprache als Werkzeug der Übermittlung von Information, als Darstellung einer von ihr unterschiedenen Welt: »Werkzeug der Belehrung und Unterscheidung des Seienden.«34 Zwar galt bis in die neuzeitliche Philosophie ein Primat des darstellenden Wesens der Sprache, zu dessen Inbegriff seit Aristoteles der prädikative Satz wurde. Diese Form der mit Wahrheitsanspruch auftretenden Aussage identifizierte das Wesen der Sprache mit der bindenden Kraft der Kopula (»ist«). Doch schon bei Platon und Aristoteles meinte lógos weit mehr. Logos ist die genuine Seinsweise, in der wir, als das nach Aristoteles einzige Tier, das Sprache besitzt, selbst sind. Sprache ist das Sein, in und aus welchem wir Welt erfahren und sie in dem Maße bestimmen, wie wir von ihr bestimmt werden.

Auch der vormoderne Begriff des Logos als Medium der Offenbarung bewahrte die Sprache vor reduktionistischer Auslegung. Dem bleibt auch die Bestimmung ihrer symbolischen Reflexion verpflichtet. Dabei sind allerdings durchaus konkurrierende Begriffe von Symbol auseinanderzuhalten. Weniger im Anschluss an Aristoteles denn an Platon hat Karl Bühler sein dreistufiges Funktionsschema der Sprachzeichen »Organon-Modell« genannt.35 Bühler schreibt der Sprache drei Grundfunktionen zu, in denen Sprecherinnen und Sprecher (Sender) sich anderen (Empfänger) mitteilen. Als Symptome sind Sprachzeichen Ausdruck der Innerlichkeit Sprechender (Ausdrucksfunktion), als Signale appellieren sie an den Empfänger (Appellfunktion), als Symbole vergegenwärtigen sie Sachverhalte (Darstellungsfunktion). Aber noch die semiotischen Modelle Bühlers und Charles W. Morris’36 bleiben jenem instrumentellen Mitteilungsparadigma der Sprache verhaftet, welches entweder die »instrumentale Rolle der Sprache beim Ausdruck des Gedankens« oder »ihre mediale Funktion bei der Abbildung der außersprachlichen Realität«37 bestimmt.

Eng verwandt mit dem instrumentalistischen Modell der Sprache ist das mentalistische. John Locke, Begründer der neuzeitlichen Sprachphilosophie, hat deren Grundidee formuliert. Demnach dient Sprache nicht nur dem Ausdruck unserer Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas), sondern die sprachlichen Unterscheidungen folgen selbst der kategorialen Ordnung dieser Vorstellungen (einfache Ideen, Relationsideen, Substanzideen, Verbindungsideen).38 Zuletzt sollten diese sprachlichen Zeichen der Vorstellungen von den Eindrücken der Wahrnehmung abkünftig, also sekundär sein.39 Zwar hat Leibniz das Ordnungsprinzip der strukturalen Semantik Lockes übernommen, nicht aber deren impressionstheoretisches und repräsentationalistisches Fundament. Sprachliche Repräsentation (cognitio symbolica) kann gegenüber der gedanklichen nicht für temporär, willkürlich oder sekundär gelten, sondern muss als prinzipiell und konstitutiv für das Denken erachtet werden. Zeichen stehen nicht für das, was eigentlich gemeint ist, sondern sind selbst Eigentliches.40 Muster seines Analogiekonzepts von Repräsentation (repraesentatio), die nicht als Wiedergabe von Ideen, sondern als deren symbolische Reflexion verstanden wird, sind für Leibniz die schriftlichen Rechenoperationen: In ihnen haben wir es nicht mehr mit Gegenständen, sondern überhaupt nur noch mit Zeichen zu tun.41 Noch die funktionale Auslegung der Sprache als Kommunikation hat es schwer, die Kreise des mentalistischen und instrumentalistischen Paradigmas zu überschreiten. Referenz- und Kommunikationstheorien können der Eigenart menschlicher Sprachen nicht gerecht werden, weil deren spezifische Differenz in der Eigenart symbolischer Reflexionsformen liegt, welche auch die Schrift einschließen.

Hartnäckig hält sich im Alltagsverständnis die Vorstellung des Primats gesprochener Sprache. In der Tat ist historisch wahrscheinlich, dass Menschen sprachen, bevor sie Schrift entwickelten. Auch liegt es nahe, Schrift als visible Fixierung klangkörperlichen Sprechens aufzufassen. Derrida hat dieses philosophisch-linguistische Vorurteil jedoch so nachhaltig erschüttert, dass seine dekonstruktivische Methode zur Hermeneutik der neuen, textbasierten, differentiellen und informationellen Medien dienen konnte. Damit gab die Dekonstruktion einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der medialen Moderne an die Hand. Zwar wird der Dekonstruktion die Welt nicht einfach zum Text, wie John R. Searle ihr unterstellt hat.42 Doch die Verhältnisse in ihr werden lesbar wie ein Text.43 Wiederholt hat Derrida zu zeigen gesucht, dass das phonographische Dogma44 im traditionellen Sprachverständnis die skripturale Substruktur – die archi-écriture – noch der gesprochenen Sprache verdecke.45 Denn die phonetische Sprache folgt keinesfalls einem streng phonetischen Prinzip. Es gibt sensu stricto keine phonetische Schrift: Die Interpunktion klingt ebensowenig wie die Zwischenräume der Buchstaben, die für die Distinktheit des Textes notwendig sind.

Unbeabsichtigterweise hat der dekonstruktivische Paradigmenwechsel zur Erforschung der Schrift als Verräumlichung und Verkörperung den Fokus auf die leibliche Dimension der Sprache – Stimme, Geste, Ausdruck – zurückgelenkt. Dabei ging es keineswegs um eine Revision strukturalistischer Einsichten in die skripturale Matrix der Sprache, sondern um die Wiedergewinnung eines holistischen Begriffs von ihr.46 Es ging um die Korrektur eines einseitig »intellektualistischen Sprachbildes«47, welches Sprache als universales, epistemisch-repräsentatives, realitäts- und regelbezogenes, kompetenz- und dialogzentriertes, verkörperungs- und medienindifferentes Medium überzeichnet. Zu erinnern ist dabei an die Grenze innerhalb der Sprache selbst, die zugleich Unterscheidungs- wie Beziehungsgrund skripturaler, verbaler, paraverbaler und nonverbaler Zeichen, zwischen Graphemen, Akustemen und Kinemen ist. Zu erinnern ist auch an das Zusammenspiel von Sprechen und »Körperschema«48 im Wahrnehmungsvollzug. Für einen umfassenden Sprachbegriff heißt dies, auf die spezifische Materialität der Kommunikationsformen, auf die differenzierte Verkörperung der Gedanken, auf die konkrete Leiblichkeit der Sprechenden zu reflektieren. Denn es gibt keine Bedeutung jenseits der Schrift, der Sprache und ihrer Sprechakte. Und doch wird sie nicht restlos durch Sprache erzeugt und beherrscht.49

3. Symbolische Reflexion (1): Differentialität

Was eigentlich meint symbolische Reflexion? Das lässt sich weder formelhaft noch allein mit positiven Attributen bestimmen. Einem Gravitationszentrum ähnlich, welches nicht selbst hervortritt, kann die symbolische Reflexion der Sprache zunächst indirekt, an ihren Effekten bestimmt werden. Beschreiben lässt sich eine Art Oktagon ihres Wirkungsfeldes, dessen sich überlagernde Momente auf das ihnen gemeinsame Prinzip der Differenz, Distanz oder Absenz zurückgeführt werden können. Diesem Prinzip entspringt eine tertiäre Vermittlungsrelation, die sehen lässt, in welchem Maße sprachliche Symbole stets schon auf andere sprachliche Symbole und diese auf Bedeutungen, nicht Gegenstände reflektieren. Dass die Symbole menschlicher Umgangssprachen in dieser Weise reflexiv, jedenfalls nicht direkt referentiell sind, soll als jenes Moment gefasst werden, das auch die geläufigen Sprachmodelle auf ihren übergreifenden, aber entzogenen Grund hin durchsichtig macht.

(1) Semiose: Ausgehen kann eine solche via negativa symbolischer Reflexivität50 von der Feststellung, dass unser Weltzugang von vornherein medien- und zeichenabhängig ist; dass wir nicht nicht Zeichen interpretieren können. Entsprechend haben Leibniz, Peirce und Cassirer argumentiert, dass der menschliche Geist bereits auf der Ebene des Erwerbs und der Bildung von Vorstellungen, nicht erst auf der ihrer »Verarbeitung«, auf Zeichen angewiesen ist – und zwar auf die konventionellen Zeichen symbolischer Normalsprachen. Diese haben eine »heuristische« Funktion, »indem ihre Formen für uns die Weisen der Beobachtung und Interpretation vorherbestimmen«51. Während das mentalistische Paradigma sprachliche Symbolsysteme auf ihre Darstellungs- und Kommunikationsfunktion reduziert, betont die kulturphilosophische Sprachanalyse die Symbolizität unseres Geistes als »Primärphänomen«52, als Leib- und »Sprachapriori«53: Wahrnehmung und Erkennen sind nicht im Nachhinein, sondern konstitutiv symbolisch.

Unmittelbar vermittelte Sinnstiftung durch Zeichen hat Peirce als »Urphänomen der Semiose« bezeichnet. Er versteht darunter »an action, or influence, which is, or involves, a coöperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into actions between pairs.«54 In diesem Verhältnis der Triangulation treten Zeichen auf als etwas, das etwas anderes (hier: den Interpretanten) dazu bestimmt, in der gleichen Beziehung zum Objekt zu stehen wie es selbst. Peirce zufolge tritt in der unhintergehbar tertiären Zeichenfunktion der Semiose nicht nur die Bedeutung des Zeichens überhaupt erst zutage, sondern auch die tatsächliche Wirkung, die eine Zeichenäußerung hervorbringt (wie etwa das Absetzen der Waffen beim Befehl »Gewehr bei Fuß«). Diese kann bekanntlich als Interpretant wiederum selbst zum Zeichen werden (etwa für den gelungenen Drill innerhalb der Kompanie). Zuletzt bestimmt das triangularische Verhältnis für Peirce auch diejenige Auffassung eines Zeichens, die sich nach einem virtuell unendlichen Interpretationsprozess als die angemessene erweisen würde.

Die verschiedenen Arten von Zeichen bilden einen asymmetrischen Gattungszusammenhang, der gleichwohl geordnet scheint. Denn in die Beherrschung natürlicher Zeichen geht ein umfangreiches Weltwissen ein, das selbst schon auf symbolischer Repräsentation beruht. Das indexikalische Zeichen des Schwalbenflugs, der den Sommer ankündigen soll, deutet bereits auf eine komplizierte symbolische Zuordnung, die selbst nicht indexikalisch gewonnen und erkannt werden kann. Vielmehr liegt ihm ein Wissen um diesen natürlichen Zusammenhang schon voraus. Daher erweist sich die ebenso eindeutige wie konkrete Referenzbeziehung natürlicher und mimetischer Zeichen als doppelt problematisch. Zum einen sind beide Zeichenarten auf die Anwesenheit von Referenzobjekten angewiesen, zum anderen reduzieren sie den Zeichengebrauch auf den Umgang mit sinnlich Konkretem. Abstrakta, Appellativa, Attributiva oder »Collektivwörter«55 sind, wie bereits Mendelssohn hervorhebt, mit den Mitteln natürlicher und mimetischer Zeichenordnungen kaum auszudrücken. Entsprechend besteht der überwiegende Teil umgangs- und bildungssprachlicher Symbole aus willkürlichen Zeichen, »die mit dem Bezeichneten in keiner objektiven Verbindung stehen«56.

Mendelssohn vermutet willkürliche Zeichen auf einer sprachgeschichtlich späten Stufe. Denn sie setzen einen Abstraktionsprozess voraus, der die starre Verbindung von Zeichen und Bezeichnetem schon durchtrennt hat. Erst mit symbolischen Zeichen scheint ein reflexiver, kontrollierter Umgang auch mit jenen Informationen möglich, die uns natürliche und mimetische Zeichensysteme übermitteln. Condillac hat dies zu der Überlegung geführt, »dass die Operationen des Geistes sich stärker oder schwächer entwickeln, je nach dem Maße der Zeichenverwendung (à proportion qu’on a l’usage des signes)«57. Der Besitz natürlicher Zeichen allein befähigt noch nicht zum Sprechen – wie sich an Interjektionen leicht sehen lässt. In der Regel sind Zeichen, symbolische zumal, auch nicht autosemantisch. Sie bedeuten nicht sie selbst, sondern etwas anderes, das sie vorstellen. Entsprechend gehört es zum Wesen des Zeichens, keine Wesenheit zu sein. Das Zeichen ist keine Substanz, sondern reine Relation, in der etwas für etwas anderes steht (oder supponiert).58 In der Regel machen symbolische Zeichen präsent, was selbst nicht anschaulich oder anwesend ist. Sie gewinnen Bedeutung, indem sie Abwesendes anwesend werden lassen, ohne selbst dieses etwas zu sein.

(2) Transformation: Sprechen lässt sich mit Susanne Langer zunächst als »symbolische Transformation von Erfahrung«59 bestimmen. In einem doppelsinnigen Überführungsvorgang drücken wir in und mit Sprache Erfahrungen aus. Freilich lassen sich auch solche Erfahrungen repräsentieren, die unmittelbar gar nicht erreichbar sind. Sprache kann sogar Erfahrungen ersetzen, die wir möglicherweise nie werden machen können. Symbolische Transformation nennt daher den Umstand, dass Sprache nicht nur Supplement unmittelbarer Erfahrung ist, sondern auch Erzeugung, Begleitung, Klärung von Erfahrung. Denn durch Distanz zur Erfahrung werden bestimmte Erfahrungen überhaupt erst möglich. Sprache und Erfahrung durchdringen sich so innig, dass Auffassungen von der Sekundarität der Sprache gegenüber der Erfahrung haltlos werden.

Mithin dienen symbolische Zeichen auch Ersatzhandlungen. So sind in rituellen Handlungen Sprechakte nicht unmittelbar praktisch, sondern expressiv (und im engeren Sinn absichtslos). Auch der frühkindliche Instinkt des Lallens, eines intentionslosen Einübens, Vokalisierens und Artikulierens, wird durch positiven Widerhall gefördert und verliert sich mit der Zeit. Bis dahin jedoch scheint für das Kind alles »Ausdruck« zu sein. Nichts ist gleichgültig und daher alles gleich gültig. Insofern lässt sich mit Susanne Langer von Symbolen erst dort sprechen, wo ein Laut oder Akt gegeben ist, der keinen praktischen Sinn hat, um dennoch eine Tendenz zu erzeugen, Antwort hervorzurufen. Wir dürfen das Wesen der Sprache also weniger in der Mitteilung natürlicher Wünsche (das kann auch Pantomime) als vielmehr im symbolischen Ausdruck von Vorstellungen suchen. Merkmal symbolischer Reflexion ist der »ursprünglich unpraktische, oder besser, konzeptuelle Gebrauch der Sprache«60.

Sprachliche Symbole lenken nicht durch sich selbst von der Sache ab, für die sie stehen. Wenngleich sinnlich präsent, sind symbolische Zeichen notwendig ungegenständlich und an sich selbst wertlos. Sie sind kein Gegenstand, der als solcher interessiert: »Je karger und gleichgültiger das Symbol, um so größer seine semantische Kraft. Pfirsiche sind zu gut, um als Wörter zu figurieren.«61 Symbole illustrieren nicht Gegenstände, sondern repräsentieren sie in einem Anderen – weshalb Hegel und Humboldt vom Zeichen als von dem »Grab«62 oder der »Mumie«63 der Bedeutung gesprochen haben.

Solange sie nicht mit der Sache zusammenfallen, können sprachliche Symbole beanspruchen, Allgemeines darzustellen.64 Symbole dienen folglich nicht der unmittelbaren Erfassung von Wirklichkeit, sondern ihrer schon vermittelten Objektivierung. Sprachliche Zeichen erscheinen daher »nicht mehr als passive Abbilder eines gegebenen Seins, sondern als selbstgeschaffene intellektuelle Symbole«65. Zu unterscheiden ist freilich zwischen der Differenz von dem, was sie repräsentieren, und der Konkretion, in der sie es repräsentieren. Ihre ideierende Kraft zur Erfahrungstransformation gewinnt symbolische Formierung nur auf der Grundlage eines stets sinnlichen Substrats. Nur als Sprachlaut, Schriftzeichen, Mimik, Gestik oder zumindest spürbarer Hauch können Symbole »Träger einer rein geistigen Bedeutung«66 werden. Cassirer wird nicht müde zu betonen, dass diese Bedeutung nicht schon vor oder unabhängig von ihrer Setzung vorhanden ist. Auch wird sie in dieser Setzung nicht erschaffen, sondern auf den Einzelfall angewendet. Dadurch ergibt sich die »eigentümliche Doppelnatur« der Symbolgebilde: »ihre Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt.«67

Cassirers Begriff der Sprache als symbolische Form berücksichtigt den eigentümlichen Umstand, dass für uns keine »geistige Bedeutung«68 ohne sinnlichen Träger erkennbar wird, Bedeutung aber nicht schon an und von sich her in diesem Sinnlichen liegt, sondern ihm irgendwie vorausgegangen sein muss. Das wiederum kann nicht heißen, dass Bedeutung bereits da wäre (wie noch in Husserls Eidetik idealer Bedeutungen), sondern nur, dass sie sich in dem »Zusammen« von Sinnlichkeit und Bedeutungsintention ereignet. Entsprechend erschafft der Ausdruck überhaupt erst bestimmte Bedeutungskomplexe und schon die bloße Reproduktion des Sprachzeichens (als Repräsentation von Sinn) im Sprechen darf als Akt sprachlicher Produktivität gelten. Damit die »eigentümliche Leistung« des Symbols zum Tragen kommen kann, ist der Schein der Identität zwischen Wirklichkeit und Symbol freilich aufzuheben, so dass eine »Distanz vom unmittelbaren Dasein« möglich werden kann: »Auch die Sprache beginnt daher erst dort, wo das unmittelbare Verhältnis zum sinnlichen Eindruck und zum sinnlichen Affekt aufhört.«69

(3) Repräsentation: Im Unterschied zu Symptomen oder Signalen rufen Symbole »kein der Anwesenheit [ihres] Gegenstandes angemessenes Verhalten«70 hervor. Sie sind »nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen«71. Das Symbol ermöglicht ein Festhalten am Objekt, ohne dieses Objekt zu haben. Das gilt auch für naturwissenschaftliche Sprachvermittlung. Nichts in der Natur sieht dem (in sich geschlossenen) physikalisch-mathematischen Symbolsystem der Physik ähnlich; und dennoch darf es beanspruchen, ein Bild – nicht Abbild – der Natur zu geben. Auch chemische Formeln wie H2O haben nichts mit der direkten Beobachtung des so bezeichneten Stoffes gemein.72 Daher werden wissenschaftliche Probleme in der Regel nicht dann gelöst oder beherrschbar, wenn neue Phänomene ermittelt, sondern neue symbolische Ausdrücke und verbesserte Beschreibungssprachen gefunden werden.

Diese Aufklärung hat allerdings ihre eigene Dialektik: »Je weiter wir in der Richtung auf das Symbolische, auf das bloß Signifikative fortschreiten, um so mehr trennen wir uns vom Urgrund der reinen Intuition.«73 Anders gesagt: Die vermeintliche Sekundarität der Symbole gegenüber den Erfahrungsgegenständen wird so sehr zu einem Ersten, dass vorsymbolische Erfahrungen immer weiter zurücktreten, äußerst rar werden. Das Paradies reiner Unmittelbarkeit verschließt sich, Symbole übernehmen unaufhaltsam die Ordnung des »Chaos der unmittelbaren Eindrücke«74. Dieser Zusammenhang lässt allerdings den bis heute gebräuchlichen Begriff der Repräsentation problematisch werden. Meinen kann er allenfalls eine Vergegenwärtigung, die ohne Vorstellung eines Eigentlichen, das da repräsentiert würde, auskommen muss. Symbolische Repräsentation kann nicht die Vergegenwärtigung von Objekten und Gegenständen, sondern allein die von Bedeutungen meinen. Auch hier herrscht zwischen Repraesentans und Repraesentandum ein kategorialer Unterschied; ihr Verhältnis entspringt dem sprachlichen Prinzip symbolischer Differenz.

Nun impliziert die Symbolizität allen Wissens und Erkennens, dass sprachliche Zeichen immer auch anders interpretiert werden; dass wir den Gebrauch unserer Symbolsysteme, mithin auch zwischen ihnen, wählen können. Nur als animal symbolicum entspricht der Mensch Nietzsches »nicht festgestellte[m] Thier«75. Die Möglichkeit der Interpretationsvarianz erweist sich allerdings als abhängig nicht schon von Referenz und Repräsentation, sondern von einer bestimmten Art von Referenz: der Reflexion. Das zeigt etwa der Unterschied zwischen situationsgebundenen und situationsunabhängigen Repräsentationen. Situationsgebundene Zeichen (cued representations) repräsentieren etwas, das in einer Situation tatsächlich anwesend ist oder das durch etwas anderes in dieser unmittelbaren Situation ausgelöst (triggered) wird.76 Allein die Situation legt die Art der Reaktion fest, die stets eine andere wäre, würde das wahrgenommene Objekt als Fress- oder aber als Paarungsobjekt kategorisiert. Demgegenüber stehen situationsunabhängige Repräsentationen (detached representations) für Gegenstände oder Ereignisse, die weder anwesend noch durch eine unmittelbare Situation ausgelöst sind.

Keineswegs kann damit schon die Demarkationslinie zwischen menschlicher und animalischer Kommunikation gezogen werden. So wie menschliche Kommunikation eine Vielzahl von non-, präoder parasymbolischen Anzeichen einschließt, so verfügen auch Primaten (etwa im Suchverhalten) über ausgeklügelte Formen situationsunabhängiger Repräsentationen, kognitiv-sensomotorischer Schemata und »spatial maps«77. Daher empfiehlt sich, Stufen der Situationsunabhängigkeit zu unterscheiden, deren zunehmender Grad auf stets reichere, instinktunabhängige Innenwelten schließen lässt – Welten, die sich ab einem bestimmten Komplexionsgrad nur noch in symbolischen Sprachen bewältigen und ausdrücken lassen. Sobald Reaktionen nicht mehr von der Unmittelbarkeit einer Außenwelt regiert werden, sondern von Rückblicken, reflektierten Erfahrungen oder Antizipationen, nimmt nicht einfach die Menge an Zeichen zu (Quantität), sondern ihre Komplexität (Qualität). Diese Aufgabe übernehmen syntaktische Strukturen. Symbolische Sprachen vereinen deshalb nicht ein Maximum, sondern ein Optimum von Ausdrucksmöglichkeiten. Symbole ermöglichen mit ihrer Situationsunabhängigkeit allererst Reflexivität. Wenngleich der Hund zeigen kann, dass er ärgerlich ist, kann er nicht zeigen, dass er es gestern war.78 Signalsprachen eignet offenbar die Form des Imperativs.79 Die sich davon radikal unterscheidenden Formen und Funktionen symbolischer Reflexivität gründen in einer Koevolution von Sprache und Hirnfunktionen. Deren Pole bilden die zunehmend symbolisch werdende Repräsentation der Sprache und die mit ihr verbundene Weiterung der geistig-imaginativen Innenwelt des Menschen.80

(4) Referentialität: Normale Sprachen kennzeichnet, dass ihre Symbole in keiner Kausal- oder Ähnlichkeitsbeziehung zum Repräsentierten stehen. Symbolische Zeichen sind die unmittelbare (sinnlich gegenwärtige) Vermittlung (= Bedeutungen/Begriffe) von Vermitteltem (Irrealem, Antizipiertem) und Unmittelbarem (Situationen, Ereignissen, Erfahrungsgegenständen). Dabei macht der Koordinationsbedarf an Bedeutungen eine frugale Ökonomie grammatischer Verknüpfungen notwendig. Syntax entsteht durch die Koordination großer Mengen von Semantik, die sie zugleich komprimiert.81 Syntaktische Strukturen wirken wiederum auf die Situationsunabhängigkeit symbolischer Sprachen zurück.

Symbole beziehen sich folglich nicht direkt auf Gegenstände der äußeren Welt, sondern auf erlernte Bedeutungen. Die differentia specifica zwischen sprachvermögenden Spezies ist also nicht schon der Unterschied zwischen referentiellen und nichtreferentiellen Arten der Kommunikation, sondern fällt in den Bereich referentieller Zeichen selbst.82 Es ist der Unterschied zwischen direkten, transparenten semantischen Beziehungen und indirekten, opaken Referenzen, wie sie nur Symbolsysteme auszeichnen. Nur die symbolische Sprache lässt einen hinreichend großen Spielraum zwischen Sinn und Bedeutung, zwischen der Intension und der Extension von Begriffen.

Symbolisch-reflexive Referenz impliziert daher eine nicht bloß zufällige, sondern strukturelle Abwesenheit des Referenten. Es ist notwendig, dass das Repräsentierte immer auch abwesend sein kann. Derrida hat (im Anschluss an Edmund Husserls LogischeUntersuchungen) das Moment der Abwesenheit als die eigentliche Struktur des Zeichens bestimmt,83 so dass es durchaus symbolische Referenz ohne Referenten, sogar ohne bestimmte Signifikate geben kann.

4. Symbolische Reflexion (2): Multiperspektivität

(5) Multiperspektivität: Für den ontogenetischen Spracherwerb spielt die Beherrschung der Varianz und Perspektivität symbolischer Zeichen die vermutlich entscheidende Rolle. Empraktisch üben Kinder in Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit mit Erwachsenen das Verständnis nichtlinearer Bedeutungsreferenz ein: Das zu erlernende Symbol hat keine eindimensionale Funktion, sondern meist mehrere Aspekte. Fünfzehn bis achtzehn Monate alte Kinder lernen folglich mit der Schwierigkeit umzugehen, dass ein »Gegenstand […] zugleich eine Rose, eine Blume und ein Geschenk«84 sein kann. Die Voraussetzungen dieses Symbolgebrauchs liegen zum einen in der Intersubjektivität von Zeichen, in dem Umstand also, dass sie Ausdruck einer gemeinsamen (Wir-)Intentionalität (shared intentionality) sind, zum anderen in ihrer Perspektivität, d. h. insofern jedes Symbol eine besondere Sichtweise einer bestimmten Bedeutung darstellt.

Wir-Intentionalität wird erzeugt durch gemeinsame Aufmerksamkeit auf kollaborative Tätigkeiten.85 Diese Aufmerksamkeit impliziert, gemäß dem ternären Intentionalitätsschema Grice’s,86 ein implizites Metabewusstsein von dem gemeinsamen Wissen um diese geteilte Aufmerksamkeit: »Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, dass wir gemeinsam diesen Turm bauen wollen«87. Empirische und experimentelle Studien, die Situationen gemeinsamer Aufmerksamkeit (joint attentional scenes) auswerten, untermauern die Einsicht der neueren Sprachpragmatik, dass symbolische Repräsentation in soziale Handlungen eingebettet ist, aus denen sie erlernt wird. Dabei ist die Umkehrung von Handlungsrollen ein entscheidender Faktor. Offenbar erfordert der Ausdruck der eigenen Intentionalität bei Kleinkindern eine potentielle Rollenvertauschung auf Seiten des Kindes. Das Kind wird in die Lage gebracht, eine Du-Perspektive einzunehmen, um an dem Ensemble der Handlungen, Gesichtszüge, Gesten und sprachlichen Aufforderungen des Erwachsenen abzulesen, worin die gemeinsame Tätigkeit bestehen soll.88 Für Tomasello ergibt sich als Grundmodell des Verständnisses kommunikativer Intentionalität: You intend for [me to share attention to X].89

Ausschlaggebend scheint, dass sich die erwachende Selbstrepräsentation des Kindes nicht nur über die Wahrnehmung der Reaktion des Erwachsenen auf es, sondern vor allem durch die Repräsentation einer immer schon gemeinsamen Wir-Einstellung herstellt. Damit wird eine ältere Einsicht moderner Sozialphänomenologie empirisch verfeinert, derzufolge es stets ein durch den Spiegel unserer Intersubjektivität schon gebrochener Blick des Anderen ist, der unser Selbstsein bestimmt.90 Rückschlüsse erlauben solche Erkenntnisse auch auf die Konstitution des Selbstbewusstseins, in welcher »you-awareness«91 und »we-awareness« unserer »self-awareness« immer schon vorgängig sind. Denn in der Multiperspektivität dieser Einstellungen spiegelt sich die Multiperspektivität symbolischer Sprache. Hier wie dort haben die Intentionen bzw. Bedeutungen keinen eindeutigen, sondern schwankenden Referenzbezug, kraft dessen dieselbe Person ein Du, Wir oder Ich bzw. derselbe Gegenstand zugleich Blume, Rose und Geschenk sein kann.

(6) Äquipotentialität: Die negativen Bestimmungen der Situationsunabhängigkeit, Abwesenheit und Distanz lassen sich indes auch in positiven Attributen reformulieren: als Möglichkeit zur freien Anpassung an virtuell jede Situation. Die Abwesenheit eindeutiger Referenz ermöglicht stets neue Adaptionen an veränderte Situationen: »The extraordinary evolutionary advantage of language lies in its amazing ability to be put to use in any situation. We will call this crucial property of language ›equipotentiality‹. For any situation, real or imaginary, there is always a way to use language to express thoughts about that situation.«92 Damit ist nicht gemeint, dass wir uns nicht sprachlos ein Brot schmieren oder unsere Tasche packen könnten, sondern dass jede geistige Einstellung als Reflexion dieser Tätigkeiten sprachlicher Natur, dass sie sprachlich am besten möglich ist.

Äquipotentialität entspringt der Verfasstheit natürlicher Sprachen nicht einfach von selbst, sondern erst einer Fähigkeit, die nur in der symbolischen Reflexivität selbst angelegt ist: dem Vermögen, die eigenen propositionalen Einstellungen durch die grundsätzlich imaginierbaren propositionalen Einstellungen anderer »zur Disposition stellen zu können«93. Die Äquipotentialität der Sprache entspringt einer ternären Intentionalität von Selbstkorrekturen. Wir erkennen Absichten »hinter […] Äußerung[en]«94, indem wir uns so verhalten, wie ein Anderer intendiert, weil wir interpretierend zu verstehen meinen, was der andere als dieses Bestimmte intendiert haben könnte. Voraussetzung solcher kognitiv-imaginären Fähigkeiten zum Potentialis und Irrealis sind die grammatischen Möglichkeiten der Bedeutungskompression,95 die sich in symbolischen Sprachen allerdings einer Wechselwirkung verdanken. Äquipotentialität setzt Syntax, diese wiederum symbolische Multiperspektivität und Äquipotentialität voraus, über die wir nicht schon als Individuen, sondern erst als kulturelle, auf gemeinsame Überlieferungen zurückgreifende Wesen verfügen können. Weil Multiperspektivität und Äquipotentialität conditiones sine quibus non der symbolischen Reflexion der Sprache sind, ist keine der existierenden Normalsprachen »von vornherein ungeeignet, die komplexesten Ideen auszudrücken«96.

Äquipotentialität beruht auf der eigentümlichen Synthesisleistung symbolischer Reflexion. Vermöge der Kopplung von Sprache und Vorstellungskraft beziehen wir im Geist problemlos und natürlich verschiedene semantische Felder oder kognitive Schemata aufeinander, um daraus neue zu bilden (conceptual blending).97 Begriffliche Synthesis ist Produkt einer Wechselwirkung zwischen Sprache und Imagination, deren eigentümliche »Feedback-Schleife«98 darin besteht, dass das animal symbolicum mit vorgefundenen symbolischen Ordnungen neue Dimensionen von Vorstellung und Wirklichkeit erschließt, welche auf die symbolische Ordnung selbst verändernd zurückwirken, was wiederum zu neuen Erkenntnisdimensionen führen kann, die nur in einer veränderten symbolischen Ordnung zu begreifen wären – usw.

(7) Symbolprägnanz: Naiven Auffassungen des in der Sprache zum Ausdruck kommenden Verhältnisses von Repräsentans und Repräsentandum haben Cassirer und Goodman entgegengehalten, dass die Beziehung in gewisser Weise immer schon vor den Bezogenen da ist: in Form unterschiedlicher Symbolsysteme. Dabei versteht Cassirer unter symbolischer Prägnanz jenen Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit, der aus der Konkretion sinnlicher Erlebnisse Bedeutung entspringen lässt, ohne dessen Sinnerzeugung durch einen nachträglichen, »aufgepfropften« apperzeptiven Akt sicherzustellen. Gegebenes wird in »symbolischer Ideation«99 prägnant, »sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sich äußert«100. So erhält alles Sinnerfassen einen »Richtungscharakter«101, der subjektiv von der Zeitform des Bewusstseins, objektiv aber durch die Symbolsysteme bestimmt ist, in denen das Erlebnis aufgenommen wird. Erst die symbolische Ordnung ermöglicht, das Gegebene als Etwas, als Ausdruck und Bedeutung, zu erfassen.102 Cassirer gibt das bekannte Beispiel verschiedener Linienzüge, die als Wahrnehmungserlebnis zunächst bloße Gestalt sind, sichtbar und konkret. Während man aber das Auf und Ab einer solchen Kontur verfolgt, »beginnt plötzlich der Linienzug sich gleichsam als Ganzes von innen her zu beleben. Das räumliche Gebilde wird zum ästhetischen Gebilde«103. Mit ihm verknüpft sich »Bedeutsamkeit«, die gleichwohl perspektivisch bleibt. Denn während der eine den Stil einer bestimmten Epoche erkennt, fasst ein anderer den Linienzug als Repräsentanten eines Sinuskurvenverlaufs oder als »Gesetz für eine periodische Schwingung«104 auf. Erscheint dasselbe sinnliche Grunderlebnis durch drei verschiedene symbolische Grundordnungen (ästhetischer, mathematischer und physikalischer Natur) setzbar, so zeigt es auch, dass keine Perspektive an sich selbst schon die richtige und damit zu privilegierende wäre, sondern Bedeutung stets von ihren Bedeutungskontexten abhängig ist.

Angesichts dieser Zusammenhänge zwingt die Eigenart sprachphilosophischer Probleme ebenso sehr dazu, die Analyse symbolischer Ordnungen als Kulturphilosophie wie auch umgekehrt die Kulturphilosophie als Sprachphilosophie fortzusetzen: als eine Philosophie erfahrungskonstitutiver Ausdruckssysteme.105 Nur so lassen sich symbolische Ordnungen bestimmen als geschichtlich gewordene, offene Systeme variabler Zeichen, die nicht auf eindeutiger, sondern auf multiperspektivischer und äquipotentialer symbolischer Repräsentation beruhen und sich durch eigene Techniken in ihrem Bestand erweitern und verändern. Durch sie gewinnt das Abstraktum »Sprache« konkrete Gestalt in den Sprachen, welche nicht bloß in ihrer Darstellungs- und Kommunikations-, sondern auch in ihrer Ausdrucks- und Imaginationsfunktion bedeutsam sind. Überhaupt scheinen diejenigen symbolischen Ordnungen dem menschlichen Geist und seiner Vorstellungskraft gemäß, die mit einer übersichtlichen Menge an Zeichen ein Maximum an Flexibilität und Variabilität durch ein Optimum an Ausdrucksmöglichkeiten erreichen, mit denen sich andere oder neue symbolische Ordnungen schaffen lassen. Diese Formen manifestieren sich im kulturellen Gedächtnis allerdings nicht rein sprachlich, sondern bedürfen materieller und technischer Speicher- und Trägermedien.106

(8) Sedimentation: Symbolsysteme prägen die kulturellen und kognitiven Schemata, die individuell bereits im frühkindlichen Spracherwerb verankert werden. In dieser Weise ist Sprache kulturelle Tatsache, Kultur »sedimentierte Sprache«107. Entsprechend zitieren linguistisch-symbolische Zeichen, als Wörter und Begriffe, stets ganze Kultur- und Bildungswelten unseres semantischen Gedächtnisses: »Consequently, when the child learns the conventional use of these well-traveled symbols, what she is learning is the ways that her forebears in the culture have found it useful to manipulate the attention of others in the past.«108 Als Formen, die Hegel wohl Gestalten des objektiven Geistes genannt hätte, gehen die natürlichen Sprachen immer schon jenen Individuen voraus, die in ihnen und dank ihrer sprechen, aber Sprachen dadurch erst zum Leben erwecken. Symbolische Ordnungen repräsentieren »Weltansichten«, die einer nicht immer klar zu bestimmenden oder intentionalbewusst gesteuerten Wir-Intentionalität entstammen.

Lange vor Michael Tomasello hat Merleau-Ponty seine Theorie sedimentierter Bedeutungen in der leibgebundenen Gebärdenhandlung des Zeigens zu fundieren gesucht. Die Parallelität im Verhältnis von parole und geste lässt sich zunächst an dem simplen Umstand aufzeigen, dass das Sprechen im selben Maße von dem differiert, was es ausdrücken soll, wie die Geste von dem Objekt, auf das sie zeigt. Ein solches körperliches Zielen (visée corporelle), ein solches Streben auf die Umgebung verlangt nach keiner Thematisierung – wir tun es einfach. Denn in der Regel werden Gesten nicht erst mental repräsentiert, bevor wir sie ausführen. Es gibt, wird zeitgleich Gilbert Ryle sagen,109 keine Sekundarität von Überlegung (considering) und Ausführung (executing). So belebt auch die Bedeutung das Sprechen nicht anders als »durch eine stimmlose (sourde) Anwesenheit, die meine Intentionen weckt, ohne sich ganz vor ihnen auszustellen«110.

Merleau-Ponty führt dies zu der These, dass die Bedeutung selbst im Sprechen stumm bleibe. Es ist der Signifikant als Akustem, Graphem oder Kinem, der tönt oder sich zeigt, nicht das Signifikat oder die Signifikation selbst. Erst diese in gewisser Weise abwesende Anwesenheit der Bedeutung weckt die Bedeutungsintentionen der Sprechenden, nicht umgekehrt. Die Intentionalität geht der Bedeutung oder Bedeutungsäußerung nicht voran, vielmehr setzen sich beide wechselseitig voraus: Intention ist nur, wenn Bedeutung da ist. Umgekehrt bedarf die Bedeutung der Intention, um über etwas zu sein – weshalb Intentionalität hier sowohl aboutness als auch Absicht meinen kann. Wenn aber nicht die Absicht das erste ist, sondern eine unbestimmte Anwesenheit (Signifikate sind notwendig immer auch unbestimmt, um überhaupt eine symbolische Beziehung zu Gegenständen und Sachverhalten unterhalten zu können), dann ist Sprechen auch nicht reine Ausführung einer geplanten, mental vorbereiteten Äußerung, sondern: Ereignis. Daher ist die Bedeutungsintention stets instantan: sur le moment; ebenso wie deren Entschlüsselung beim Hörenden.

Mit dieser Überlegung erreicht Merleau-Ponty den entscheidenden systematischen Punkt, der Derridas Idee der différance zugleich antizipiert, um sich von ihr dennoch toto coelo zu unterscheiden. Zwar gemahnt die »determinierte Leere« (vide déterminé) im Bedeutungsprozess, die später gedanklich rekonstruiert werden kann, aber unbestimmt bleibt, an Derridas Charakterisierung eines ursprungslosen Ursprungs der Differenzen; und auch bei Merleau-Ponty ist das, was Bedeutung verleiht, in ihr selbst nicht anwesend, sichtbar oder hörbar. Ihnen korrespondiert kein Gegenstand in der Erfahrung, vielmehr sind sie als Pole einer »gewissen Zahl konvergierender Ausdrucksakte« zu verstehen, die den Discours »magnetisieren«, ohne selbst anwesend zu sein.111 Doch verharrt Merleau-Pontys Überlegung noch ganz im Horizont einer leibphänomenologischen Analyse der Realpräsenz des Sprechens und der Sprechenden, bleibt also im Umkreis dessen, was Derrida wenig später als »Phonologismus« kritisieren wird.

Wichtig aber ist Merleau-Ponty dieser Zusammenhang, weil ihm die Abwesenheit und Nichtverausgabung der Bedeutung im konkreten Sprechakt zur Erklärung dient, warum die Bedeutung stets über das, was gesagt werden wollte, hinausgeht, so dass das Gesagte hinter ihr zurückzubleiben scheint. Eigentümlicherweise widerspricht dies, wie Merleau-Ponty zeigt, zugleich einer anderen Erfahrung, die wir ebenfalls alltäglich mit der Sprache machen: der Erfahrung, dass unsere Ausdrücke niemals vollkommen unverständlich sind. Anders könnten wir keine isolierten oder verkürzten Äußerungen verstehen, deren Sinn sich auch scheinbar kontextlos erschließt, indem die Sprache wie von selbst den Kontext blind ergänzt. »Unterverständnis«, sous-entendue, nennt Merleau-Ponty jenes subkutane Vor- oder Immer-schon-Verstehen, wodurch in jeder parole das Ganze der Sprache unthematisch und stillschweigend schon enthalten scheint. Äußerungen haben einen Sinn, der sich durch eine implizite Realisierung und Aktualisierung des Ganzen einer Sprache herstellt. Das spitzt den Gedanken auf einen äußersten Gegensatz zu: Sprechen gibt es nur im lebendigen, präreflexiven Vollzug. Doch bedeuten kann das Sprechen nur kraft jenes unthematischen sous-entendue, welches ihr – als Sprache – stets vorausgeht. Merleau-Ponty zwingt dies, von jener »Grundtatsache des Ausdrucks« auszugehen, die ein Überschreiten des signifiant durch das signifié unterstellt, welches schon im Vermögen des signifiant selbst liegt. Denn zuweilen wissen wir erst dann, was wir sagen oder nicht sagen wollten, wenn es ausgesprochen wurde. Die Bedeutungsintention tastet gleichsam in einem »System verfügbarer Bedeutungen« nach dem angemessenen Leib und sprachlichen Äquivalent.

Inkarniert wird in der Bedeutungsäußerung zuletzt nichts anderes als eine Bedeutungsintentionsleerstelle, die im Vollzug des Sprechakts erfolgreich überdeckt wird. Während zuvor der semantische Überschuss der Äußerung gegenüber der Bedeutungsintention (als ein Verfehlen der Intention oder als Überbestimmtheit der Äußerung) betont war, so lässt dies jetzt sehen, dass sich umgekehrt in jedem Sprechakt auch das Übertreffen der Intention durch die Äußerung ereignen kann (Unterbestimmtheit der Intention). Auf diese Weise verfügen wir über unsere Sprachkultur in all ihren bedeutungstragenden Formen und finden aus ihnen für die jeweilige Bedeutungsintention ein stets neues »Arrangement«. Dadurch haben wir an den sedimentierten Bedeutungen unserer Sprachgemeinschaft teil und bringen die überlieferte Sprache dennoch dazu, noch Ungesagtes zu sagen, Unerzähltes aufzuspüren. Merleau-Pontys Kollektivismus verbindet sich in dieser Bedeutungstheorie zugleich mit einem Individualitätspathos: Jedem Einzelnen steht offen, mit Condillac gesagt, ein génie des langues zu sein.112 So lassen sich an Merleau-Pontys Sprachtheorie zwei für unseren Kontext entscheidende sprachpragmatische Einsichten ablesen: Im sous-entendue kommt die symbolische Reflexivität der Sprache zum Vorschein; und in der Sedimentation die Form der Sprache als kulturelles semantisches Gedächtnis.

5. Sprache und kulturelle Tatsachen

Die symbolische Reflexion der Sprache beruht auf einer dreifach vermittelten Beziehung von Sachen und Sätzen. Als Zeichenketten beziehen sich Sätze auf sprachliche Zeichen, die Bedeutungen reflektieren, welche sich enteder auf Situationen, Sachverhalte und Erfahrungsgegenstände oder auf allgemeine ideale Gegenstände beziehen können. Diese symbolisch-reflexive Ordnung soll im Folgenden im Blick auf zwei ausgewählte Untersuchungsfelder analysiert werden. Zum einen ist zu fragen, inwieweit symbolische Ordnungen nicht nur die schillernde Welt kultureller Tatsachen zu beschreiben erlauben, sondern selbst ein Teil von ihr sind. Zum anderen ist die ternäre Struktur symbolischer Reflexivität mit der jenes sprachpragmatischen Wahrheitsverständnisses zu vergleichen, welches im zweiten Teil dieses Buchs aus der Perspektive eines kulturphilosophisch informierten alethischen Pragmatismus rekonstruiert wird. Die Zusammenführung methodischer Elemente sowohl der Sprachanalyse als auch der Kulturphilosophie wird für beide Vorhaben angestrebt.

Kulturphilosophie findet ihre Aufgabe in der theoretischen Reflexion kultureller Tatsachen.113 Doch ihr wird Sprache nicht nur als kulturelles Gedächtnis zum Thema und Medium. Mehr noch bedient sich Kulturphilosophie der Sprachanalyse, um einer angemessenen Bestimmung ihres Gegenstandes willen: dem sich ständig reorganisierenden Ensemble kultureller Tatsachen. Mit Georg Simmel werden »materielle Kulturgüter« wie Möbel und Kulturpflanzen, Kunstwerke und Maschinen, Geräte und Bücher ebenso »kulturelle Tatsachen« genannt wie jene objektiven Kulturformen, in denen das Selbstverhältnis des Menschen Gestalt gewinnt: Sprache, Sitte, Religion, Recht.114

Diese Nomenklatur wirft Probleme auf. Zum einen die Frage, mit welchem Recht bei kulturellen Sachverhalten überhaupt von Faktizität gesprochen werden kann, weil beide Formen Wirklichkeitsbereiche konstituieren, die es offenbar nur gibt, weil wir kollektiv annehmen, dass es sie gibt;115 deren Gegenstände also nur existieren, weil sie als bestehende Sachverhalte rezipiert werden, und von denen man sich fragen kann, ob sie vor ihrer Rezeption überhaupt bestanden haben. Zum anderen die Frage, ob das Verständnis kultureller Tatsachen auch nur entfernt vereinbar ist mit der überwiegend propositionalistischen Interpretation des Tatsachenbegriffs. Zeigen wird die Analyse, dass die Beantwortung der zweiten Frage auf die der ersten zurückwirkt und eine sprachpragmatische Theorie kultureller Faktizität fordert.

Zwar geht die analytisch-propositionalistische Lesart davon aus, dass deskriptive Sätze Sachverhalte darstellen und wahre Sätze als Repräsentanten bestehender Sachverhalte, also Tatsachen, zu betrachten sind: »Wer überhaupt von einer Tatsache spricht oder auf sie hinweisen will, der muß selbst einen Satz schon formulieren, der diese Tatsache ausspricht«.116 Aber auch diese Lesart hat zwischen der Formulierung des Faktums selbst und den Bedingungen zu unterscheiden, die erfüllt sein müssen, damit ein die Tatsachen repräsentierender Satz wahr ist. Dass jeder Mensch sterblich ist, darf als eine Grundtatsache menschlicher Existenz gelten. Zugleich ist es ein Faktum, das auch ohne seine Artikulation bestanden hätte, deren Formulierung auch hätte aufgeschoben werden können.117 Das also, worauf sich die Tatsache bezieht, kann auch unabhängig von seiner sprachlichen Formulierung da sein. Man hat diese terminologische Proteushaftigkeit in den Griff zu bekommen versucht mit der Unterscheidung zwischen grundsätzlich sprachabhängigen Tatsachen und den mithin sprachunabhängigen Umständen, auf die sich Tatsachen beziehen, um Tatsachen zu sein. Faktizität hat folglich einen Doppelcharakter, der Dinge betrifft, die vorfallen (= Ereignisse, Erlebnisse, Situationen) und Dinge umfasst, die wahr sind (= zutreffende Sachverhalte).118 Es mag helfen, dieses verwirrende Doppelgesicht unseres Tatsachenverständnisses nicht als ein terminologisches Ärgernis, sondern als Explikationsgewinn zu verstehen, dessen Erklärungspotential die »Logik« kultureller Tatsachen erschließt.

Denn anders als in der Metaphysik und Scholastik die data, sind in der verwissenschaftlichten Moderne Fakten nicht mehr geber-, sondern beobachterabhängig. Daten bedürfen der Interpretation, um Tatsachen zu sein, weil es für den Sinn empirischer Daten so gut wie unerheblich ist, auf welchen Geber sie zurückweisen; unabdingbar hingegen der Beobachter, der sie deutet. Daher ist zwischen dem, worüber bzw. wovon etwas ausgesagt wird, und dem Was der Aussage selbst zu unterscheiden.119 Wovon oder worüber man etwas aussagt, sind Erfahrungsgegenstände; was behauptet wird, ist dagegen ein Sachverhalt, der besteht oder nicht besteht. Bestehende Sachverhalte werden Tatsachen genannt. Deshalb lassen sich Tatsachen auch nicht erfahren und Erfahrungen nicht behaupten.120 Und so, wie die sprachabhängigen Tatsachen von den Erfahrungsgegenständen (die immer Gegenstände möglicher Erfahrung sind) zu trennen sind, ist der Anspruch auf Objektivität von diskursiven Geltungsansprüchen zu unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund wird die ältere Bedeutung von Faktizität als Ensemble der Tat-Sachen durchsichtig, die komplementär zur propositionalen Auffassung von Faktizität als Gesamtheit der Tat-Sätze steht.121 Es ist zugleich der Hintergrund, der den sprachlichen Symbolisierungsanteil kultureller Tatsachen deutlich werden lässt. Denn mit Simmel kann man argumentieren, dass mit kulturellen Tatsachen zwar generell Artefakte angesprochen sein können – wie Möbel und Kulturpflanzen –, dass sie zu kulturellen Tatsachen aber nur werden kraft der sprachlichen Rezeptionsleistungen einer kulturellen Praxis. Kulturelle Tatsachen heißen also solche (sozialen) Tatsachen, die den jeweiligen Kontext C allererst hervorbringen (und/oder ihm Dauer verleihen), in welchem dann X für Y gelten kann.122 Diese Metaebene der Poiesis von Tatsachen ist jener kulturelle Raum, in dem die sprachliche Zuschreibung von Kategorien erfolgt.

Kulturelle Tatsachen entstehen durch sprachliche Rezeptionsleistungen bestimmter Artefakte, Ereignisse und Handlungen als kulturelle Tatsachen. Sie verdanken sich einer Form sprachabhängiger Rezeptionshandlungen und Statusfunktionen, die – im Sinn von res factae, des Erschaffens von Tatsachen – etwas als kulturelle Tatsache setzen. Kulturelle Faktizität ist ein Bedeutungs- und Geltungsphänomen. Dies schließt eine mögliche Ding-Referenz dieser Tatsachen ebenso ein wie die sprachliche Artikulation ihrer Geltung. Entsprechend ist Sprache selbst eine kulturelle Tatsache und zugleich Bedingung der Möglichkeit kultureller Faktizität überhaupt. Diese Doppelstruktur wohnt der symbolischen Reflexion der Sprache auch noch auf ihrer Metaebene inne. Denn nur dank ihrer Verfassung symbolischer Reflexivität können wir über die symbolische Reflexion der Sprache selbst sprechen.

ERSTER TEIL

Symbolische Ordnungen und kulturelle Tatsachen

Die andere Sprache

Positionen grammatischer Metaphysikkritik

In der Philosophie ist also alles, was nicht Dunst ist, Grammatik.1Ludwig Wittgenstein

1. Riss zwischen logischer und grammatischer Syntax der Sprache

Die klassische Logik enthielt stets mehr als eine formalisierte Satzgrammatik. Dennoch blieb die traditionelle Urteilslehre, in deren Zentrum seit Aristoteles der prädikative Satz stand, eng an die (griechisch-lateinische) Grammatik gebunden. In der Wissenschaft der Logik hat Hegel diese Urteils- und Schlusslehre für die Metaphysik ein letztes Mal systematisiert und die erfüllte Copula des Urteils als den Ort des Vorscheins des göttlichen Logos und der Gegenwart kommunikativer Freiheit gedeutet.2 Mit Wilhelm von Humboldts komparativer Sprachphilosophie, die systematisch noch auf transzendentalphilosophischem Boden zu stehen scheint, wird diese Privilegierung der griechisch-lateinischen Sprachfamilie für das philosophische Denken fragwürdig. 1812, im Jahr des Erscheinens der Lehre vom Sein, skizziert Humboldt eine Universalgrammatik, deren Forderung, sowohl die »Totalität« der Sprache zu bedenken als auch die »Individualität« der Nationalsprachen zu erforschen, die Synthese von Philosophie und vergleichender Sprachwissenschaft begründet.3 Die vielen Einzel- und Weltsprachen konstituieren »die« Sprache als ein »unendliche[s] Ganze[s]«4, in dessen Pluralität möglicher »Weltansichten« sich die Produktivität des menschlichen Geistes reflektiert. Dieses Faktum ließ das philosophische Desiderat einer »allgemeinen Grammatik«5 entspringen, die virtuell alle – sei es vergangene, sei es existierende – Sprachen auf ihren Bau und ihre Wurzelwörter durchmustert.

Humboldt reformuliert die idealistische Erkenntnistheorie als eine vergleichende Grammatiktheorie. Zu ihren methodischen Prämissen zählt, die anderen Sprachen nicht über den Leisten einer indoeuropäischen Sprachgrammatik und Denksyntax zu schlagen.6 Ziel des Systems ist weniger eine »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften« als eine »vollständige und universelle Enzyklopädie der bekannten Sprachen«7. Damit ist eine immanente Neubestimmung des Deutschen Idealismus formuliert, die dessen Grenzen jedoch nicht voll überschreitet. Zwar hat Humboldt – was seinen geschichtlichen Ort an der Schwelle zur nachidealistischen Moderne markiert – mit der Entdeckung der philosophischen Relevanz der anderen Sprachen zugleich jeder identitätsphilosophischen Reduktion von Sprache den Boden entzogen. Doch Humboldts Dualistheorie und Universalgrammatik des Geistes behält eine geschichtsphilosophische Signatur, deren Wirkung auf Hegels Sprach- und Schrifttheorie in der zweiten Auflage der Enzyklopädie (1827) unübersehbar ist. So bleibt die Differenzierung und Emanzipierung der grammatischen Formen für Humboldt das wesentliche Beurteilungskriterium des Standes der »Ideenentwicklung« existierender Nationalsprachen. Gedanklicher Fortschritt findet dort statt, wo die grammatischen Formen explizit und darin selbst noch einmal reflektiert werden. Je formkomplexer ein grammatischer Sprachbau bei gleichzeitiger Einheit von Ausdrucksfunktionalität und semantischem Reichtum ist, desto »freie[r] und reine[r]« findet die Ideenentwicklung statt.8 Sie wird zum Maßstab der reziproken Entwicklung von grammatischer Form und logischem Denken, so dass sich die geschichtlich-kulturelle Stellung der Nationen idealiter in dem grammatischen Bau ihrer Nationalsprachen spiegelt.

Komplementär zur Universalgrammatik erstellt Humboldt eine Typologie der Grammatiken existierender Nationalsprachen, die sich als isolierende, agglutinierende oder flektierende unterscheiden lassen. Jede dieser Sprachen wiederum hat sich in einem ihrem Wesen angemessenen graphematischen Symbolsystem zu materialisieren. Dies allerdings leistet, wie Humboldt und Hegel übereinstimmend betonen, zuletzt allein die Buchstabenschrift, die dem Medium der Sprache als einer tönenden Idealität des Wortes die ihr adäquate Materialität verleiht.9 In diesem Kontext macht Humboldt die philosophische Entdeckung eines sprachgeschichtlichen Faktums, das die unendliche Verschiedenheit der vielen Sprachen, Grammatiken und Schriftsysteme übergreift. Die mitunter fundamental sich unterscheidenden Sprachen konvergieren in nur einem Aspekt: in dem Verhältnis der beiden Personalpronomina Ich und Du. Jede Sprache verweist von sich aus auf eine unhintergehbare Interpersonalität, weshalb sie offenbar weniger einem dialektischen als vielmehr dialogischen Prinzip folgt. In ihm verschränken sich die kognitiven Sprachfunktionen mit den kommunikativen.10 Es ist das Verhältnis von Identität und Differenz, von Selbstheit und Andersheit, zwischen deren Polen die Sprache pendelt: »Die Denkkraft bedarf etwas ihr Gleiches und doch von ihr Geschiedenes.«11 Das mediale »Zwischen« der Sprache erstreckt sich vertikal als erfüllter Raum zwischen Subjekt und objektiver, aber noch göttlich geschaffener Welt; horizontal hingegen als interpersonaler Raum eines irreduziblen Ich-Du-Verhältnisses. Komplementär zu Humboldts Erschließung der anderen Sprachen eröffnet sich in der philosophischen Entdeckung des Dualis die Sprache des Anderen.

Die philosophischen Konsequenzen dieser erkenntniskritischen Universalgrammatik und Dualistheorie sind dem 19. Jahrhundert zunächst nur schleppend, dann aber schockhaft zu Bewusstsein gekommen. Im Verein mit der in den 1850er Jahren aufkommenden völkerpsychologischen Linguistik Lazarus’ und Steinthals markiert die Einsicht in die Pluralität der Grammatiken den geschichtlichen Ort, auf den Nietzsche, Frege und Husserl jeweils mit einer antimetaphysischen Kritik der Grammatik reagieren. Als point de départ dieser grammatischen Metaphysikkritik lässt sich eben jene sprachphilosophische Krisis bestimmen, die das Auseinanderbrechen von grammatischer und logischer Syntax auslöst. Dieser Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts ist in Humboldts Werk vorgebildet. Wo das Kristall des grammatischen Sprachbaus in die Pluralität der verschiedenen Grammatiken der Weltsprachen zerspringt, dort zerfällt mit dieser Einheit offenbar auch die Universalität der logischen Syntax. Die Einheit »des« Logischen scheint in »Denkgesetze« zersplittert, die von der jeweiligen physiologischen Beschaffenheit der Sprecher/innen, Gruppen, Nationen und ihren je kulturell verschiedenen und geschichtlich gewordenen Sprachformen abhängig ist. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielberufene »Psychologismus« hat seinen Ursprung präzise in diesem Verlust des Privilegs und der kulturellen Selbstverständlichkeit der Kongruenz von »metaphysischer« Logik und »indoeuropäischer« Grammatik.

2. Bann der grammatischen Funktionen: Nietzsche

Nietzsche entdeckt das Problem des Auseinanderfallens von grammatischer und logischer Syntax zunächst nicht auf moral- oder metaphysikkritischem, sondern auf philologischem Wege. Die frühen Baseler Vorlesungen über lateinische Grammatik vom Wintersemester 1869/70 unterscheiden noch mit Humboldt zwischen isolierenden, agglutinierenden und flektierenden Sprachen.12 Doch bereits die affirmative Rezeption wird von einer kulturkritischen Deutung überlagert, die Humboldts komparativen Ansatz geradezu umwertet. Der späte Humboldt hatte die tendenzielle Flexionsverarmung der europäischen Hochsprachen als ein Moment fortschreitenden Bewusstseins sprachlicher Freiheit gedeutet, als Herstellung eines Äquilibriums von semantischer Fülle, Formalität und Funktionalität. Gerade für die europäischen Kulturen mit ihrem hohen Abstraktionsgrad gesellschaftlicher und ökonomischer Vermittlung schien es wichtig, daß die zunehmende Überdifferenzierung grammatischer Formen nicht in ein fortschrittsdysfunktionales Moment umschlägt. Nietzsches Deutung ist eine andere: »Die Entwicklung des bewußten Denkens ist der Sprache schädlich. Verfall bei weiterer Kultur. Der formelle Theil, in dem gerade der philos. Werth liegt, leidet. Man denke an die französ. Sprache: keine Deklination mehr, kein Neutrum, kein Passivum, alle Endsilben abgeschliffen, die Stammsilben unkennbar verunstaltet. Eine höhere Culturentwicklung ist nicht einmal im Stande, das fertig Überkommene vor Verfall zu bewahren.«13

Nietzsche präsentiert Humboldts idealistischer Theorie des Zusammenhangs von sprachlichem Fortschritt, grammatischem Formenreichtum und »Ideenentwicklung« die sprachkritische Rechnung: Zwar ist »jedes bewußte Denken [...] erst mit Hülfe der Sprache möglich«. Doch einmal zur Sprache gekommen, depraviert das bewusste Denken die Sprache, auf die es Einfluss nimmt. Damit kehren sich die Bedingungen der Sprachentwicklung gegen die Bedingungen der Sprachentstehung. Die blinde, präreflexive Pro duktivität der Sprache wird in das Flussbett gelenkter Konventionalisierung und kultureller Zurichtung umgeleitet. Dem hält Nietzsche zur Erklärung der Sprachentstehung einen Begriff des natürlichen Instinkts entgegen, der seine Herkunft aus Kants »Kritik der teleologischen Urteilskraft« verrät: Sprache als ein Stück bewusstloser Natur, die gleichwohl vollkommen zweckmäßig hervorbringt. Stand die Sprache ursprünglich im Zeichen präreflexiver Produktivität, um dann unter die Herrschaft der Vernunft zu geraten, so wird umgekehrt die sich immer bewusster werdende Vernunft zunehmend an ihr eigenes Sprachapriori gebunden. In der Sprache sind die Gleisbahnen vorgezeichnet, in denen allein sich das Denken bewegen kann – und immer schon bewegt hat: »Die tiefsten philosoph. Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in der Sprache. [...] Man denke an Subjekt und Objekt; der Begriff des Urtheils ist vom grammatischen Satze abstrahirt. Aus Subjekt u. Prädikat wurden die Kategorien von Substanz und Accidenz.«14

Der frühe Nietzsche hat diesen Gedanken von der Herrschaft der Subjekt-Prädikat-Urteilsstruktur nicht eigens ausgeführt, sondern stattdessen die Kritik an der normativen Sprachkonventionalisierung verfolgt. Die Geburt der Tragödie (1872) und »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« (1873) stellen insofern einen Wandel dar, als die Sprache weniger als grammatisches und instinkthaft sich selbst organisierendes System denn als Medium der künstlerischen Expression begriffen und am Paradigma der Musik bestimmt wird. An die Stelle des Sprachinstinkt-Postulats tritt die Rolle des produktiven »Triebs zur Metaphernbildung«. Allerdings spiegelt sich die frühe Unterscheidung von bewusstlos-naturhaftem Sprachproduzieren und bewusster Veränderung der Sprache durch das Denken noch in der Differenz von Apollinischem und Dionysischem. Nur gerät die Sprache – unter den Bedingungen nicht mehr der Natur, sondern der Kultur – in das »ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus«15 und damit ganz auf die Seite der apollinischen Formbestimmung.

Die Sprachschematismen sind nichts anderes als sedimentierte Moralkonventionen, die den poietischen, welterschließenden und weltschaffenden Charakter der Sprache verdrängen. Die sprachliche Semantik entspringt einem moralischen Bedürfnis, das ihren Regeln einen Gegensatz der Werte einschreibt und die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, Gut und Böse hervorbringt. Dies widerspricht der Bestimmung des Menschen als eines »metaphernbildenden« Tieres – eine Vorform der späteren Definition des Menschen als das »nichtfestgestellte Thier«16. Metaphorisch ist jede menschliche Erkenntnis, insofern sie Nervenreize zunächst in Bilder und diese wiederum in sprachliche Laute überträgt – ein scheinbar noch ganz im mentalistischen Paradigma verbleibender Gedanke Nietzsches. Metaphorisch ist die Sprache, weil sie ein Bild, nicht ein Abbild der Welt entwirft. Problematisch erscheint ihm, dass sich die Vorgänge dynamisch-metaphorischen Sprachschaffens in jene gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Konventionen der Tatsachenfeststellung stillstellen, die wiederum unter einem Moralapriori stehen. Sprache wird zu einem Regelfolgen, dessen Funktion es ist, den Schein zu verdrängen, dass die sprachlichen Bedeutungen auf schwankendem Boden stehen. Sprache ist also keineswegs der »adäquate Ausdruck aller Realitäten«17. Denn ihre konventionellen Zeichen drücken nicht »die« Wahrheit – d. h. einen objektiven Bezug auf Sachen – aus, sondern die Relation einer Sache zu uns. Alle sprachlichen Zeichen sind insofern nicht eindeutig referenziell, sondern relational referenziell: »Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder aufeinander und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch [...].«18 Stehen die Zeichen in einem virtuell unendlichen Verweisungszusammenhang, lassen sie sich allein differenziell organisieren: in einer offenen Ordnung von Signifikanten, nicht in einem geordneten System von Signifikat-Signifikant-Relationen. Damit ist auch gesagt, dass auf nur weniges Bezug genommen werden kann, das außerhalb unserer produktiven und kommunikativen Praktiken und Perspektiven läge – für Nietzsche eine Tatsache, die von der Darstellungs- und Kommunikationsdimension der Sprache selbst verdrängt wird.