Sag niemals, das ist dein letzter Weg - Jetta Schapiro-Rosenzweig - E-Book

Sag niemals, das ist dein letzter Weg E-Book

Jetta Schapiro-Rosenzweig

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Beschreibung

Jetta Schapiro-Rosenzweig wurde als Tochter einer wohlhabenden Familie in Wilna geboren. Als die Stadt 1939 von sowjetischen Truppen erobert wurde, war Jetta schon mit Jascha Schapiro verheiratet und hatte mit ihm eine Tochter – Tamar. Im Herbst 1940 beschlagnahmten die Sowjets ihre Wohnung, und so kam die Familie auf Umwegen nach Ponar, in der Nähe von Wilna. Dort wurden sie Zeugen des deutschen Einmarsches und der Ermordung vieler Wilnaer Juden. Ihr Kampf ums Überleben begann: Flucht aus Ponar, Versteck in einem Kloster, Transport ins Wilnaer Ghetto. Mit der Auflösung des Ghettos zerbrach die Familie. Der Vater kommt ins KZ, die Mutter kann flüchten. Nach 1945 kehren beide nach Wilna zurück und erfahren, dass der Vater im KZ ermordet wurde. Tamar Dreifuß, ihre Tochter, hat diese Aufzeichnungen für das hier vorliegende Buch 'Sag niemals, das ist dein letzter Weg' aus dem Jiddischen übersetzt.

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Unter dem Titel »Auch wir waren in Ponar - Bekenntnisse einer Wilnaerin« erschien in Israel eine hebräische Ausgabe des gleichen Urtextes von J. Schapiro-Rosenzweig ©Beit Lohamei Haghetaot Mit freundlicher Genehmigung für den deutschsprachigen Raum © 2001 e-book-Ausgabe 2020 RHEIN-MO­SEL-VER­LAG Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151, Fax 06542/61158 www.rhein-mosel-verlag.de Alle Rech­te vor­be­hal­ten ISBN 978-3-89801-905-7 Aus­stat­tung: Stefanie Thur Umschlagzeichnung: Samuel Bak

Jetta Scha­pi­ro-Ro­sen­zweig

Sag niemals, das ist dein letzter Weg

Flucht aus Ponar – Eine Mutter und ihre kleine Tochter kämpfen ums Überleben

Aus dem Jiddischen von Tamar Dreifuß

Rhein-Mo­sel-Ver­lag

Dieses Buch widme ich meiner Mutter selig und meinen beiden Kindern Iris und Raphael.

Vorwort

Vie­le Stun­den habe ich mit der Über­set­zung die­ses Bu­ches mei­ner Mut­ter »Auch wir wa­ren in Po­nar« ver­bracht. Die gan­ze Zeit habe ich die Ge­stalt mei­ner Mut­ter vor mir ge­se­hen. Eine zier­liche blon­de Frau mit blau­en Au­gen. Eine »ari­sche« Frau. Ihr Aus­se­hen und ihre Rus­sisch­kennt­nis­se stan­den ihr bei. Ihr Le­bens­wil­le und ihre ei­ser­ne Kraft ha­ben dazu bei­ge­tra­gen, dass wir trotz al­lem am Le­ben ge­blie­ben sind. Ich bin ihr zu Dank ver­pflich­tet. Dass ich heu­te ein Le­ben in ei­ner in­tak­ten Fa­mi­lie ge­nie­ßen kann, ist nur Dank ih­res Mu­tes und Durch­set­zungs­ver­mö­gens mög­lich ge­wor­den.

Es be­stand eine sehr enge Be­zie­hung zwi­schen uns. Ob­wohl ich nach mei­ner Hei­rat Is­ra­el ver­ließ, wur­de die­se Be­zie­hung nicht un­ter­bro­chen. Wir ha­ben uns fast täg­lich ge­schrie­ben, sind öf­ter zwi­schen Deutsch­land und Is­ra­el hin und her ge­flo­gen und ha­ben län­ge­re Zeit mit­ein­an­der ver­bracht. Ich war mehr in Is­ra­el als sie in Deutsch­land. Der Be­such hier war im­mer mit Er­in­ne­run­gen ver­bun­den, die sie mög­lichst ver­mei­den woll­te. Ihre Er­leb­nis­se im Krieg ha­ben tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen. Nicht nur see­li­sche, auch kör­per­li­che: Herz, Ma­gen, Rheu­ma. Dies und noch mehr plag­te sie bis an ihr Le­bens­en­de.

1985 er­hielt ich ei­nen An­ruf von mei­ner Tan­te, dass bei­de El­tern sich im Kran­ken­haus be­fän­den. Von ei­nem Tag zum an­de­ren buch­te ich ei­nen Flug nach Is­ra­el. Ich sah ein, dass die ein­zi­ge Lö­sung dar­in be­stand, sie zu mir zu neh­men und hier zu pfle­gen.

Es fiel ih­nen nicht leicht, Is­ra­el zu ver­las­sen, doch es gab kei­ne Al­ter­na­ti­ve. Ich habe mei­ne Mut­ter fast drei Jah­re ge­pflegt. Zum Schluss sieg­te die Krank­heit über sie und sie ver­starb in mei­nen Ar­men am 30. Ok­to­ber 1987. Mein Stief­va­ter leb­te da­nach noch 10 Jah­re bei uns. 1997 ist er mit 95 Jah­ren ver­stor­ben. So ging bei uns eine Epo­che zu Ende.

Ich bin froh, dass ich mit mei­ner Mut­ter we­nigs­tens die letz­ten Jah­re ver­brin­gen konn­te. Das Le­ben hier in Deutsch­land hat sie nicht mehr sehr ge­stört. Sie war glück­lich, mit ih­rer Toch­ter, ih­ren En­kel­kin­dern und ih­rem Schwie­ger­sohn zu­sam­men zu sein.

Ich bin froh, dass sie die­ses Buch ge­schrie­ben hat und dass ich es über­set­zen durf­te. So wird sie bei vie­len in Er­in­ne­rung blei­ben und viel­leicht dazu bei­tra­gen, dass sich die­se Ge­scheh­nis­se nicht wie­der­ho­len.

Tamar Dreifuß

Jetta Schapiro-Rosenzweig

Mei­ne Er­in­ne­run­gen, die ich schil­dern möch­te, um­fas­sen die Zeit von 1941 bis 1944. Ich möch­te, dass mei­ne Ge­ne­ra­ti­on und auch die Nach­fah­ren die­se Überlebens-Erinnerungen ken­nen­ler­nen. Sie dür­fen nicht in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten.

Am Ende des Zwei­ten Welt­kriegs war mei­ne Hei­mats­tadt Wil­na zer­stört. Es war nicht mehr mein Wil­na – das jü­di­sche Wil­na gab es nicht mehr; auch die Fa­mi­lie von da­mals gab es nicht mehr. Mei­ne Toch­ter Ta­mar und mich hat­te das Schick­sal üb­rig ge­las­sen. Zu­sam­men sind wir durch die Höl­le ge­gan­gen und zu­sam­men ha­ben wir über­lebt. Zwar fan­den wir mei­ne Schwes­ter Mi­zia und ih­ren Sohn Samek bei unserer Tan­te Jan­ni­na – von ihr wer­de ich viel zu er­zäh­len ha­ben – doch wir er­fuh­ren, dass Jo­nas, der Mann von Mi­zia, kurz vor der Be­frei­ung von der Ge­­sta­po hin­ge­rich­tet wor­den war. Mir wur­de zu­ge­tra­gen, dass mein Mann Ja­scha in ei­nem der deut­schen Kon­zent­ra­ti­ons­la­ger ums Le­ben ge­kom­men ist.

We­nig spä­ter gin­gen wir nach Po­len. Dort habe ich Sig­mund Ro­sen­zweig ken­nen­ge­lernt. Er ver­lor wäh­rend des Krie­ges sei­ne Frau, sei­nen Sohn und sei­ne Toch­ter. In ihm fand Ta­mar ei­nen lie­be­vol­len Va­ter. Nach kur­zer Zeit hei­ra­te­ten wir, und ge­mein­sam mit mei­ner Schwes­ter und ih­rem Sohn zo­gen wir nach Is­ra­el.

Ich will im fol­gen­den ver­su­chen, ei­ni­ges von den vie­len grau­en­vol­len Ge­scheh­nis­sen je­ner Zeit zu schil­dern. Nur ein klei­ner Teil da­von kann hier zur Spra­che kom­men, es ist nur ein win­zi­ges Stück des Gan­zen, trotz­dem maß­ge­bend für die­se Epo­che.

Der Anfang: Von Wilna nach Ponar 1941

Mei­ne Hei­mat war Wil­na, eine pol­ni­sche Stadt nahe der li­tau­i­schen Gren­ze. Wil­na ist auch be­kannt un­ter dem Na­men »Je­ru­sa­lem De­li­ta«. In un­se­rem Wil­na er­hiel­ten sich vie­le all­täg­li­che jü­di­sche Ge­bräu­che und volks­tüm­li­che Wer­te. Nicht nur die Eli­te konn­te sich mit ih­rem Na­men rüh­men, auch der ein­fa­che Mensch konn­te sich dort ent­fal­ten. Das be­son­de­re an Wil­na spie­gel­te sich in den Ge­sprä­chen zwi­schen den Holz­fäl­lern auf dem Holz­markt, auf dem Schul­hof in der Ju­den­ga­sse, in ei­ner der Syn­ago­gen, es war das saf­ti­ge Wil­na­er Jid­disch.

1941 war Li­tau­en schon von der Sow­jet­uni­on ein­ge­nom­men wor­den und Deutsch­land hatte Po­len schon ganz er­obert. In die­sem Jahr brach der Krieg zwi­schen Deutsch­land und der Sow­jet­uni­on aus.

Jetzt, da ich den Ver­such un­ter­neh­me zu schil­dern, was wir er­lebt ha­ben, so­wohl in Wil­na, un­se­rer Ge­burts­stadt, als auch in Po­nar, wäh­rend un­se­rer Wan­de­run­gen in der Frem­de, er­scheint es so­gar für mich, ob­wohl ich al­les tat­säch­lich er­lebt habe, schwer zu glau­ben, dass es in Wirk­lich­keit ge­schah.

Beim Er­zäh­len wird sich hier und da ein Bild ein­schlei­chen von den gu­ten Zei­ten in der schö­nen Land­schaft rund um Wil­na, mit ih­rem Hü­geln rings­her­um, dem Wilia-Fluss, den Brü­cken und Strän­den. Nicht zu ver­ges­sen die Wangerskastraße ne­ben dem Bäumemarkt (Holz­markt). Dort habe ich eine glück­li­che Ju­gend in ei­nem an­ge­se­he­nen jü­di­schen Haus verbracht.

Die Ei­gen­art des Hau­ses be­stimm­ten Va­ter und Mut­ter, je­der eine Per­sön­lich­keit für sich. Be­son­ders stark ist die Er­in­ne­rung an das Jahr 1940, an die Fes­te Pu­rim und Pes­sach1. Sie ver­kör­pern für uns eine Epo­che, die lei­der zu Ende ging. Das Pu­rim­fest (ähn­lich dem Kar­ne­val) war für uns et­was Be­son­de­res. Die Ge­burts­ta­ge so­wohl mei­ner Schwes­ter Mi­zia als auch mei­nes Bru­ders Je­rach­miel, der da­mals schon in Palästina lebte, der Hoch­zeits­tag der El­tern und der Ge­burts­tag mei­ner Toch­ter fie­len alle auf die­sen Zeit­punkt. Der Ur­sprung des Fes­tes – Ha­mans Nie­der­gang und die Ret­tung Mor­de­chais und des Jü­di­schen Vol­kes in Per­sien – die­ses Wun­der aus der Es­ter-Rol­le konn­te ein his­to­ri­sches Zei­chen mit hoff­nungs­vol­ler Be­deu­tung für die Zu­kunft sein.

Dies al­les ge­schah, als Wil­na von den Sow­jets an die Li­tau­er über­ge­ben wur­de. Ob­wohl die Li­tau­er den Ju­den nicht gut ge­son­nen wa­ren, konn­ten wir eine kur­ze Zeit in Ruhe un­ser Le­ben wei­ter­füh­ren.

Das Pu­rim­fest war für uns das fröh­lichs­te und in­te­res­san­tes­te von al­len Fes­ten. Auch in die­sem Jahr brachte es Aufregung und Freu­de in un­se­re Fa­mi­lie. Wir wa­ren vol­ler Zu­ver­sicht, dass al­les sich zum Gu­ten wen­den wür­de. Vie­le Gäs­te ver­sam­mel­ten sich bei uns. Ich kann mich an die Tor­te er­in­nern, die mei­ne Schwie­ger­mut­ter uns schick­te. Wie­ra, die Mut­ter mei­nes Man­nes, de­ren Name noch öf­ter im Buch ge­nannt wer­den wird, war eine Frau von Adel. Sie be­stell­te die Tor­te in ei­ner der be­kann­tes­ten Kon­di­to­rei­en Wil­nas. Ich kann mich er­in­nern, dass die Tor­te aus lau­ter Mu­scheln be­stand und jede war ge­füllt mit Eis. In der Mit­te war eine be­son­de­re Kon­struk­ti­on, die Licht ver­brei­te­te. Selbst­ver­ständ­lich ha­ben auch Ha­man­ta­schen und Kre­plach (drei­e­cki­ges Ge­bäck, mit Mohn ge­füllt und eine Fleisch­bei­la­ge in Teig) nicht ge­fehlt. Wie­ra stamm­te aus der Fa­mi­lie Riw­kind, die in Wil­na hoch an­ge­se­hen war. Lei­ser Riw­kind be­saß die be­son­de­re Er­laub­nis in den Na­rutz-Seen zu fi­schen. Ihr Bru­der, Dr. Riw­kind, war Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Et­li­che aus die­ser Fa­mi­lie wa­ren bei un­se­rem Fest an­we­send. So wie je­des Jahr, wur­de das Fest mit vol­len Obst­kör­ben be­gan­gen, die ins Haus ge­lie­fert wur­den. In An­be­tracht des­sen, dass die Haupt­be­schäf­ti­gung un­se­rer Mut­ter in der Füh­rung ei­nes Obst- und Gemüsegroßhandels be­stand, durf­te das Obst im Haus nicht feh­len.

Die ers­ten, die zum Fest ka­men, wa­ren Mi­zia, mei­ne Schwe­s­ter und ihr Mann Jo­nas. Sie reih­ten sich in die Fest­ge­sell­schaft ein und stan­den wie üb­lich in ih­rem Mit­tel­punkt. Trotz der gu­ten fi­nan­zi­el­len Lage un­se­rer Fa­mi­lie hat­te sich im Un­ter­be­wusst­sein die Sor­ge ver­brei­tet, die in ei­ner Be­mer­kung mei­ner Mut­ter zum Aus­druck kam. Dies hat­te sie in jid­disch ge­sagt: »Gott soll ge­ben, mei­ne Kin­der, dass un­se­re Lage sich nicht ver­schlech­tern soll, ›nicht schreib und nicht meck‹.«

Die Wei­ne in un­se­rem Haus brauch­te man nicht an­der­wei­tig zu be­sor­gen. Ei­nes der Hob­bys mei­nes Va­ters war die Wein­her­stel­lung. Hun­der­te von Wei­nen ver­schie­de­ner Sor­ten be­fan­den sich in un­se­rem Kel­ler. Jede Wein­fla­sche war mit ei­nem Eti­kett ver­se­hen auf dem das Her­stel­lungs­jahr und die Art der Zu­be­rei­tung ge­nau ver­zeich­net wur­den. Im Obst- und Gemüsegroßhandel hat­te mei­ne Mut­ter die Ober­hand. Sie lei­te­te die­ses Ge­schäft mit gro­ßem Elan und die An­ge­stell­ten ge­horch­ten ihr aufs Wort. Mein Va­ter war mit sei­nen Hob­bys be­schäf­tigt, denn au­ßer dem Wein hat­te er noch an­de­re.

Die Gäs­te tran­ken »Le­chaim« und die gute Lau­ne stieg im Lau­fe des Abends. An die­sem Tag war auch der Ge­burts­tag mei­nes Bru­ders Jerachmiel. Auf sein Wohl wur­de ebenfalls so man­ches Glas ge­ho­ben.

Am Pu­rim­fest pfleg­te mein Va­ter Wein­fla­schen an sei­ne eng­sten Freun­de zu ver­tei­len. Sie alle wa­ren »ko­scher le­pe­sach« (ge­eig­net zum Ver­zehr am Pes­sach­fest).

Beim Er­wäh­nen des Wor­tes Pes­sach kom­men mir Er­in­ne­run­gen an die frü­he­ren Zei­ten vor 1940, an die Pes­sach­fes­te bei uns im Hau­se. An Groß­va­ter mit sei­nem wei­ßen Kit­tel. Er lei­te­te den Se­der­abend ge­nau nach den re­li­giö­sen Vor­ga­ben, an­ge­fan­gen bei der gründ­li­chen Säu­be­rung des Hau­ses bis hin zum Her­rich­ten des Se­der­abends. Die Le­cke­rei­en zu Pes­sach wa­ren uns Kin­der am liebs­ten. Sie wur­den im­mer ver­steckt, doch wir hat­ten sie vor­her im Ge­hei­men aus­ge­kund­schaf­tet und ge­nascht. Un­se­re Mut­ter hat­te es ganz und gar nicht gut ge­fun­den und war au­ßer sich vor Wut. Ich er­in­ne­re mich an mei­nes Va­ters Wor­te: »Sich auf­zu­re­gen über solch’ Lap­pa­lie hat we­nig Sinn. Bei ›Bes­zet­ni­kes‹ (bei Kin­der­lo­sen) wäre es nicht pas­siert. Bei uns ist es eben pas­siert, also soll es ih­nen wohl be­kom­men. Al­les, was sie ge­ges­sen ha­ben, soll aus der rich­ti­gen Stel­le raus­kom­men und es soll, um Got­tes wil­len, nicht drin­nen blei­ben.«

Es sind so vie­le Er­in­ne­run­gen, die in mei­nen Kopf he­rum­schwir­ren! Die­se Volks­tüm­lich­keit und Herz­lich­keit, die in un­se­rer Fa­mi­lie herrsch­te, ist mit Wor­ten nicht aus­zu­drü­cken. In un­se­rer Fa­mi­lie gab es vie­le Per­sön­lich­kei­ten, und jede ver­kör­per­te et­was be­son­de­res. Eine da­von war mein Opa, Va­ter mei­ner Mut­ter, der mit zwan­zig Jah­ren er­blin­de­te. Er war ein Wis­sen­schaft­ler im tech­no­lo­gi­schen Be­reich. Bei ei­nem sei­ner Ex­pe­ri­men­te ver­letz­te er sei­ne Au­gen. Trotz al­ler ärzt­li­cher Be­mü­hun­gen blieb er blind. Der »blin­de Tech­ni­ker« wur­de er in Wil­na ge­nannt. Trotz des Un­glücks wur­de er durch ver­schie­de­ne Er­fin­dun­gen be­kannt. Er wur­de zu sämt­li­chen Wohl­tä­tig­keits­ver­an­stal­tun­gen ein­ge­la­den. Er konn­te eine Ma­schi­ne aus­ei­nan­der­neh­men und wie­der zu­sam­men­bau­en vor dem stau­nen­den Pub­li­kum. Er pfleg­te mit ei­ner be­son­de­ren Ma­schi­ne herr­li­che Blu­men­mus­ter zu ge­stal­ten und dies trotz sei­ner Er­blin­dung. Sein Name war Arno Na­del.

Als die Ru­ssen Wil­na be­setz­ten, be­schlag­nahm­ten sie mein Näh­ma­schi­nen- und Fahrradgeschäft und auch den Gemüsegroßhandel mei­ner Mut­ter »Ag­rim­kal – Im­port und Ex­port Groß­han­del«. Mei­ne Mut­ter glaub­te da­mals, dass dies das größ­te Un­glück sei, das uns zu­sto­ßen könn­te. Zwei Wo­chen spä­ter be­ka­men wir die An­wei­sung vom Woh­nungs­amt, wo­nach wir in­ner­halb von acht­und­vier­zig Stun­den un­se­re Woh­nung räu­men soll­ten. Die­se Woh­nung, sechs Zim­mer in der Kajaweskestraße Nr. 2a be­wohn­ten un­se­re El­tern be­reits seit ei­ni­gen Jah­ren. Das wa­ren mein Va­ter, Cha­nan Jo­chel, mei­ne Mut­ter Schif­­ra, mein Bru­der Iz­chak und wir selbst mit un­se­rer Toch­ter Ta­mar, die da­mals drei Jah­re alt war. Mei­ne Schwes­ter Mi­zia, ihr Mann Jo­nas und ihr Sohn Samek wohn­ten in der Vilnastraße, ge­gen­über dem Be­ne­dik­ti­ne­rin­nen-Klos­ter. Un­ser äl­tes­ter Bru­der Je­rach­miel leb­te da­mals wie erwähnt be­reits in Pa­läs­ti­na.

Mit der For­de­rung, die Woh­nung zu räu­men, brach un­se­re Welt zu­sam­men. Wir ver­such­ten al­les, um für die Auf­lö­sung der Woh­nung eine Wo­che Auf­schub zu be­kom­men. Die Ant­wort war: »Nicht ein­mal eine Stun­de!«

Wir hat­ten kei­ne Wahl. Wir muss­ten eine neue Blei­be su­chen. Mei­ne El­tern zo­gen zu Jo­nas’ El­tern, dort be­ka­men sie ein Zim­mer. Als wir eine Woh­nung fan­den, er­klär­te man uns im Woh­nungs­amt, dass sie be­reits ver­grif­fen sei. Die letz­te Ret­tung wa­ren zwei Zim­mer in Po­nar.

Po­nar war eine Bahn­sta­ti­on mit ein paar Häu­sern und Gär­ten, von Wäl­dern um­ge­ben. Bis zu die­sem Zeit­punkt hat­ten kei­ne Ju­den dort ge­wohnt. Mein Mann ar­bei­te­te in ei­ner Le­der­ger­be­rei als zwei­ter In­ge­nieur, ich selbst fand eine Stel­le in ei­nem Ko­o­pe­ra­tiv-La­den für Näh­ma­schi­nen. Es ging uns nicht schlecht, wir hat­ten noch Le­bens­mit­tel aus der gu­ten Zeit. Un­ser Kin­der­mäd­chen Nani war mit uns nach Po­nar ge­kom­men und ar­bei­te­te für uns wie frü­her. Aus den Wäl­dern hör­te man im­mer Ge­räu­sche. Die Nach­barn er­zähl­ten, dass die Ru­ssen dort Betonbehälter für Brenn­ma­te­ri­al bau­ten.

Die Idyl­le dau­er­te bis zum 22. Juni 1941. Die­sen Tag wer­de ich nie­mals ver­ges­sen. Ich hat­te die ge­sam­te Be­leg­schaft der Ger­be­rei zum Mit­tag­es­sen ein­ge­la­den. Sie soll­ten um 13 Uhr mit dem Zug an­kom­men. In der Woh­nung war Hek­tik, man koch­te, briet und back­te. Ja­scha, mein Mann, stell­te Ti­sche auf die Ter­ras­se, ne­ben­bei hör­te er auch Ra­dio, es war zehn Mi­nu­ten vor Zwölf. Er kam zu mir und sag­te, dass ich um Punkt 12 Uhr auf die Ter­ras­se kom­men sol­le, weil eine wich­ti­ge Mel­dung durch­ge­ge­ben wer­de soll­te. Dann war es zwölf Uhr. Wir stan­den alle auf der Ter­ras­se und hör­ten die Mel­dung:

»Ach­tung, Ach­tung, hier spricht Mo­lo­tow. Heu­te Vor­mit­tag ha­ben die Deut­schen uns an­ge­grif­fen. Der Krieg zwi­schen der Sow­jet­­uni­on und Deutsch­land ist aus­ge­bro­chen.«

Plötz­lich hör­ten wir den ers­ten Auf­prall ei­ner Bom­be, die in un­se­rer Nähe ex­plo­dier­te. Die Fens­ter­schei­ben gin­gen zu Bruch. Dann wie­der eine Ex­plo­si­on. Der Tun­nel von Po­nar wur­de bom­bar­diert. Wir wa­ren wie ver­stei­nert. Dann lie­fen wir rasch in den Kar­tof­fel­kel­ler und ver­steck­ten uns dort. Nach ei­ner Wei­le wur­de es ru­hi­ger und wir gin­gen hi­naus auf die Stra­ße. Dort be­geg­ne­ten wir Leu­ten, die of­fen­bar die Mel­dung im Ra­dio nicht ge­hört hat­ten. Sie hat­ten ge­dacht, es han­de­le sich um Militärübungen. Doch schon am nächs­ten Mor­gen sa­hen wir auf der Stra­ße hin­ter un­se­rem Haus deut­sche Sol­da­ten auf Mo­tor­rä­dern, Mi­li­tär­fahr­zeu­gen und auch Pan­zer.

Kurz vor dem Ein­marsch der Deut­schen hat­ten wir in Po­nar ei­nen An­ge­stell­ten der NKWD ken­nen­ge­lernt. Der Ab­stam­mung nach war er Jude, aber er war mit ei­ner Chris­tin ver­hei­ra­tet. Er pfleg­te die jü­di­schen Fa­mi­li­en zu be­su­chen und hat­te uns da­bei nicht aus­ge­schlos­sen. Die Wahr­heit ist, dass wir da­von nicht be­geis­tert wa­ren. Die gan­ze Zeit führ­ten die Ru­ssen Ko­lon­nen von Häft­lin­gen durch Po­nar nach Russ­land. Eine Ko­lon­ne hat­te sich bei uns auf dem Bahn­hof auf­ge­hal­ten, und wir eil­ten dort­hin, um den Ge­fan­ge­nen zu hel­fen. Sie ba­ten um Was­ser, und wir reich­ten es ih­nen. Das hat­te dem An­ge­stell­ten der NKWD nicht ge­fal­len. Er fand, wir soll­ten den »Ku­la­ken« nicht hel­fen. Die­se Leu­te wur­den zur Zwangs­ar­beit nach Russ­land trans­por­tiert, und wir wa­ren seit die­sem Zwi­schen­fall über­zeugt, dass er auch bei uns nach »Ku­la­ken« such­te, um sie zu ver­schlep­pen.

An dem Sonn­tag, als der Krieg an­fing, kam er zu uns und bot uns an, mit ihm zu flie­hen. Er sag­te, dass ihm ein Auto zur Ver­fü­gung stün­de, wir soll­ten kei­ne Zeit ver­lie­ren, schnell un­se­re Sa­chen pa­cken und mit ihm ge­hen. Wir be­dank­ten uns bei ihm, doch auf sei­nen Vor­schlag gin­gen wir nicht ein. Da­mals konn­ten wir uns nicht vor­stel­len, dass man al­les zu­rück­las­sen kann, dass wir un­se­re Fa­mi­lie, die sich in Wil­na be­fand, zu­rück­las­sen könn­ten, ohne uns von ih­nen zu ver­ab­schie­den. Mit die­sem Ge­dan­ken konn­ten wir uns nicht ab­fin­den.

In Po­nar wohn­ten noch zwei an­de­re jü­di­sche Fa­mi­li­en. Fa­mi­lie Man­del­baum – ein rei­cher Kauf­mann aus Wil­na mit Frau und Toch­ter – und ein zwei­tes Ehe­paar, etwa fünf­zig Jah­re alt, aus Li­tau­en: Fa­mi­lie Pa­nis. Sie zit­ter­ten vor Angst, denn sie wussten nicht, wo sie ihr Gold und ih­ren Schmuck ver­ste­cken soll­ten. Bald zog das Ehe­paar Pa­nis zu uns. Am drit­ten Tag des Krie­ges hör­ten wir vom Wald, der hin­ter un­se­rem Haus lag, Ma­schi­nen­ge­wehr­sal­ven. Doch wir wussten nicht, was es zu be­deu­ten hat­te. Die Nach­barn er­zähl­ten uns, dass dort Ju­den hin­ge­rich­tet würden. Aber das konn­ten wir nicht glau­ben, wir dach­ten, dass es an­ti­se­mi­ti­sche Äu­ße­run­gen sei­en.

Das täg­li­che Le­ben hat­te sich wie­der et­was nor­ma­li­siert; Brot konn­te man schon wie­der kau­fen. Ich trau­te mich auf die Stra­ße und reih­te mich in die War­te­schlan­ge ein, um ei­nen Laib Brot zu be­kom­men. Zu mei­nem Ent­set­zen sah ich gan­ze Ko­lon­nen von Men­schen, ein paar Hun­dert an der Zahl, die an uns vor­bei­ge­trie­ben wur­den. Vor­ne gin­gen die Jun­gen, die noch im­stan­de wa­ren zu ge­hen, hin­ter ih­nen Alte, Be­hin­der­te und Kran­ke. Ich ver­such­te in den Men­schen­ko­lon­nen Leu­te zu fin­den, die ich viel­leicht kann­te, doch mei­ne Au­gen wa­ren so blind von Trä­nen, dass ich nie­mand er­ken­nen konn­te. Jetzt wusste ich, dass mei­ne Nach­barn die Wahr­heit ge­spro­chen hat­ten. Ich eil­te nach Hau­se, zog die Rolllä­den he­run­ter und schrie Josch­ka, mei­nem Mann, zu: »Ver­ste­cke dich, man schießt Ju­den nie­der!«

Ge­gen­über un­se­res Hau­ses stand eine Vil­la, die von Deut­schen be­setzt war. Wir konn­ten se­hen, wie man dort Men­schen jü­di­scher Ab­stam­mung hineinführte. Je­der be­kam eine Schau­fel in die Hand, und zwei Po­li­zis­ten trie­ben sie auf den Wald zu. Eine vier­tel Stun­de spä­ter hör­te man schon Schüs­se. Die Kin­der klet­ter­ten auf die Bäu­me, da­mit sie bes­ser se­hen konn­ten. Man er­zähl­te uns, dass dort von etwa zwan­zig Men­schen Grä­ber ge­schau­felt würden. Sie schau­fel­ten ihr ei­ge­nes Grab. Wir zähl­ten die Schusssalven und wa­ren schon bei der 15. Sal­ve an­ge­kom­men. Das be­deu­te­te, dass be­reits 300 Men­schen dort nie­der­ge­schos­sen wor­den wa­ren.

Vier Näch­te wa­ren wir mit dem Ein­gra­ben und Ver­ste­cken von wert­vol­len Sa­chen be­schäf­tigt, als die Nach­richt durch­kam, dass wir Schmuck, Geld, Gold, Rund­funk­ge­rä­te, Fahr­rä­der und Pro­vi­ant bei der deut­schen Kom­man­dan­tur ab­ge­ben müssten.

Gan­ze Näch­te ha­ben wir ge­gra­ben, um un­se­re wert­vol­len Sa­chen zu ver­ste­cken, doch all­mäh­lich wur­de uns be­wusst, dass das über­haupt nicht so wich­tig war. Nun kam es nur noch dar­auf an, über­haupt am Le­ben zu blei­ben. Wir mussten er­ken­nen, dass un­schul­di­ge Men­schen ums Le­ben ge­bracht wur­den, de­ren ein­zi­ges Ver­ge­hen es war, Jude zu sein. Mit die­sem Ge­dan­ken zu le­ben war sehr schwer. Wir trös­te­ten uns da­mit, dass al­les ein bö­ser Traum sei, der bald zu Ende ge­hen wür­de.

Aber der Wahr­heit mussten wir doch ins Auge se­hen, und uns wur­de klar, dass die Gräu­el­ta­ten im Wald be­kannt wer­den mussten, da­mit die Ju­den in Wil­na er­fuh­ren, dass sie nicht zur Ar­beit geführt wur­den, son­dern in den Tod.

Uns war es zu­nächst wich­tig, für die Män­ner, Ja­scha und Herrn Pa­nis, ein Ver­steck zu schaf­fen. Wir stell­ten eine gro­ße Kis­te in den Kel­ler und deck­ten sie von al­len Sei­ten mit Kar­tof­feln zu. Für die Atem­luft gab es ei­nen gro­ßen Be­häl­ter, von dem ein Schlauch an ei­ner ver­steck­ten Stel­le herausführte. So wa­ren die bei­den ge­schützt und konn­ten at­men.

Eine gan­ze Kom­pa­nie Li­tau­er kam ins Dorf. Sie stan­den un­ter dem Be­fehl ei­nes Man­nes na­mens Ko­siok. Schon sei­nem Ge­sicht sah man den Ver­bre­cher an. Die Auf­ga­be der Li­tau­er war es, die Grä­ber im Wald mit Sand zuzuschütten und die Klei­dung der To­ten zu sam­meln und mit­zu­neh­men. Abend für Abend lu­den sie Klei­dungs­stü­cke auf ei­nen Wa­gen und fuh­ren die­se an ei­nen un­be­kann­ten Ort. Da­nach be­sof­fen sie sich jede Nacht, man hör­te ihre Stim­men über­all im Dorf. So­gar die Go­jim – die Nicht­ju­den – hat­ten Angst vor Ko­siok und sei­nen Leu­ten. Je­den Tag kam Ko­siok und frag­te nach mei­nem Mann. Ich er­zähl­te ihm, dass er in Wil­na ar­bei­tet. Er ging über­all durchs Haus, schau­te sich um und nahm sich, was ihm ge­fiel. Er er­zählte mir, dass er vor­hät­te zu hei­ra­ten, und zwar das schöns­te Mäd­chen im Dorf. Er wünsch­te, dass ich das Braut­kleid für sie her­rich­te­te und auch Schu­he und Ohr­rin­ge her­bei­schaff­te. Wenn das nicht ge­sche­he, woll­te er mei­nen Mann und Herrn Pa­nis aus­fin­dig ma­chen und mein­te, ich könn­te mir dann den­ken, was mit ih­nen pas­sie­ren wür­de. Schlecht und bit­ter war mir zu­mu­te, mein Herz häm­mer­te – was konn­te ich nur tun? Wo fand ich ein Kleid für die Braut? Mit Mühe und Not konn­te ich ein Kleid auf­trei­ben, al­ler­dings nicht in Weiß, auch Schu­he und Ohr­rin­ge fan­den sich.

Es war Schab­bes; ich saß und war­te­te wie ge­lähmt. Dann trug ich den Män­nern das Es­sen in den Kel­ler. Ich riet ih­nen, sich ein an­de­res Ver­steck zu su­chen, ich hat­te das Ge­fühl, dass Ko­siok über ihr Ver­steck Be­scheid wusste. Ich war­te­te, und es gin­gen Stun­den über Stun­den vor­rüber und Ko­siok kam nicht. Auf ein­mal kam un­se­re Ver­mie­te­rin ge­lau­fen und schrie auf pol­nisch: »Kara Bos­ka! (Got­tes Stra­fe) Die schö­ne Braut ist heu­te nacht im Bach er­trun­ken! Sie ist mit ih­ren Freun­din­nen zum Ufer ge­gan­gen und da ist es pas­siert.«

Es schien fast wie ein Wun­der, da der Bach gar nicht so tief war. Wir fan­den, dass dies ein gu­tes Omen war, und hoff­ten, dass Ko­siok uns un­ter die­sen Um­stän­den ein paar Tage in Ruhe las­sen wür­de. Wie eine Kö­ni­gin wur­de die Braut be­stat­tet.

Ich hat­te mich in­zwi­schen an das Un­glaub­li­che un­se­rer Lage ge­wöhnt und ver­such­te, mich in ihr zu­recht­zu­fin­den. Ich be­schloss, mich nach Wil­na zu wa­gen und mich nach mei­ner Fa­mi­lie dort um­zu­se­hen. Am nächs­ten Mor­gen stand ich ganz früh auf. Um mich so un­kennt­lich wie mög­lich zu ma­chen, band ich mein Haar mit ei­nem Kopf­tuch zu­sam­men und mach­te mich auf den Weg. Von Po­nar nach Wil­na sind es etwa zehn Ki­lo­me­ter. Die Stra­ßen wa­ren vol­ler deut­scher Sol­da­ten. Ein deut­scher Mo­tor­rad­fah­rer fuhr so dicht an mir vor­bei, dass er mich fast über­fuhr. Ich be­kam ei­nen furcht­ba­ren Schre­cken und mir ent­fuhr eine Ver­wün­schung: »Ein schnel­ler Tod soll ihn er­ei­len!«

In die­sem Au­gen­blick stürz­te der Mo­tor­rad­fah­rer und war auf der Stel­le tot. Ich ging schnel­ler und schau­te mich nicht um – ich hat­te Angst, dass man mich ein­ho­len und be­schul­di­gen wür­de, an sei­nem Un­fall schuld zu sein.

Der Weg war lang und an­stren­gend. Als ich mor­gens in der Stadt an­kam, ging ich so­fort zur Woh­nung mei­ner El­tern. Sie wohn­ten da­mals in der Ignatova-Straße. In der Woh­nung fand ich nur mei­ne Mut­ter und Frau Bak, die Mut­ter des Ehe­man­nes mei­ner Schwes­ter. Bei­de Frau­en sa­hen um zwan­zig Jah­re ge­al­tert aus. Mei­ne ers­te Fra­ge war: »Wo sind die Män­ner?« Sie ant­wor­te­ten, dass die Män­ner nicht weit von Po­nar ar­bei­te­ten. Da konn­te ich nicht mehr, ich fing an zu wei­nen. Und ich er­zähl­te, was in Po­nar vor sich ging. Wenn die Män­ner wirk­lich noch ein­mal von Po­nar zu­rück­kä­men, so soll­ten sie sich schnell ver­ste­cken. Als sie das ge­hört hat­ten, fin­gen sie bit­ter­lich an zu wei­nen. Da­mals wusste ich noch nicht, dass bei­de Män­ner zu die­sem Zeit­punkt schon nicht mehr am Le­ben wa­ren.

Mei­ne Mut­ter um­arm­te mich und sag­te: »Be­ru­hi­ge Dich, mein Kind, es wird al­les gut!« Sie woll­te nicht zu­las­sen, dass ich zu mei­ner Schwes­ter ging. Sie wies mich an, nach Hau­se zu ge­hen und mich um mei­nen Mann und mein Kind zu küm­mern. Und so bin ich nach Po­nar zu­rück­ge­kehrt.

Täg­lich hör­te man Schüs­se auf den Stra­ßen. Ju­den wur­den er­bar­mungs­los zu­sam­men­ge­schos­sen. Täg­lich er­gin­gen neue Be­feh­le, die Ju­den zu ver­fol­gen. Ein deut­scher Po­li­zist kam in un­se­re Woh­nung und sah zu­fäl­lig un­ser Ra­dio­ge­rät auf dem Tisch ste­hen. Wü­tend schrie er uns an. Ich nahm so­fort das Ge­rät und leg­te es in den Pup­pen­wa­gen mei­ner Toch­ter. Ich sag­te: »Das Ding ist schon lan­ge ka­putt, das Kind spielt nur da­mit.«

Je­der Tag, der vor­bei­ging, brach­te uns Angst und Schre­cken. Mein Rü­cken schmerz­te vom täg­li­chen Beu­gen über die Kar­tof­fel­kis­te und beim Neu­ord­nen der Kar­tof­feln dar­um he­rum.

Nani, un­se­re Kin­der­frau, nahm aus un­se­rem Pro­vi­ant täg­lich mit, was ihr ge­fiel, als ob es schon ihr ge­hör­te. Wie kann sich ein Mensch so än­dern? Im­mer war sie die Lie­be in Per­son gewesen – und jetzt? Ei­nes Mor­gens sag­te un­se­re Ver­mie­te­rin, dass die Deut­schen auch die An­ge­stell­ten von Ju­den ver­folg­ten, sie müsste sich auf das Schlimms­te ge­fasst ma­chen. Am glei­chen Tag noch war Nani ohne Wie­der­kehr ver­schwunden.

Die Tage wur­den im­mer schreck­li­cher. Man er­zähl­te, dass alle Ju­den ins Ghet­to ge­trie­ben wer­den soll­ten. Wir hoff­ten, dass das Schie­ßen nun ein­mal auf­hö­ren wür­de, aber es wur­de mehr und mehr. Un­se­re Rolllä­den wa­ren schon lan­ge fest ge­schlos­sen, aber die Schreie von Frau­en und Kin­dern wur­den stär­ker und stär­ker, sie dran­gen uns durch Mark und Bein. Es kam uns vor, als ob es in Wil­na gar kei­ne Ju­den mehr ge­ben könn­te. Die Leu­te er­zähl­ten, dass man Jung und Alt zum Tode führ­te, dass die Kin­der bei le­ben­di­gem Lei­be mit den Al­ten be­gra­ben würden, dass auch Nicht­ju­den und so­gar Geist­li­che bru­tal er­mor­det würden.

Es war bit­ter und fins­ter in un­se­ren Her­zen. Un­se­re Trä­nen wa­ren schon aus­ge­trock­net, wir schau­ten uns ge­gen­sei­tig an und konn­ten es nicht fas­sen. Leb­ten wir denn in ei­nem Schlacht­haus? Und trotz al­lem, was uns Tag für Tag be­geg­ne­te, ver­ließ uns die Hoff­nung nicht. Ei­nes Ta­ges – bald – wür­de das al­les vor­bei sein und wie ein bö­ser Traum en­den.

Die Geschichte von Tante Jannina

Wer ist Tan­te Jan­ni­na? Von ihr muss jetzt er­zählt wer­den.

Jan­ni­na war die Schwes­ter mei­nes Va­ters. Un­ser Opa – der Va­ter mei­nes Va­ters – leb­te in ei­nem Dorf, wo er ei­nen Hof ge­pach­tet hat­te. Alle sei­ne Söh­ne schick­te er nach Wil­na, da­mit sie dort stu­die­ren konn­ten. Die äl­tes­te Toch­ter wan­der­te in die USA aus. Die kleins­te, Cha­na­le, blieb zu Hau­se, ihr Va­ter sorg­te für sie, lehr­te sie die jü­di­schen Ge­be­te zu le­sen und jü­disch zu be­ten. Ihre Freun­de und Freun­din­nen wa­ren al­ler­dings Chris­ten­kin­der. Mit ih­nen spiel­te sie in Wald und Feld. Gott hat­te ihr ein schö­nes Ge­sicht und eine schö­ne Stim­me be­schert, sie sang und tanz­te wun­der­schön. Der reichs­te Mann im Dorf, der die größ­ten Äcker ge­pach­tet hat­te, fand Ge­fal­len an ihr und lock­te sie oft mit Sü­ßig­kei­ten und Ge­schen­ken in sein Haus. Ei­nes Ta­ges war Cha­na­le ver­schwun­den. Man such­te sie über­all und glaub­te schließ­lich, sie sei im Teich er­trun­ken oder im Wald ver­schwun­den.

In Wahr­heit aber hat­te der Päch­ter sie ent­führt und in das Be­ne­dik­ti­ne­rin­nen-Klos­ter von Wil­na ge­bracht. Dort wur­de sie ge­tauft und be­kam den Na­men Jan­ni­na. Neun Jah­re ver­gin­gen, da be­geg­ne­te mein Va­ter ei­ner Schar jun­ger Mäd­chen, ei­ner Schul­klas­se in lan­gen schwar­zen Klei­dern, die von Non­nen vorbeigeführt wur­de. Er dach­te: »Sol­che hüb­schen Mäd­chen sol­len Non­nen wer­den?« Er schau­te sie auf­merk­sam an und merk­te, dass auf ein­mal ein Mäd­chen aus der Grup­pe ins Klos­ter zu­rück­lief. In die­sem Au­gen­blick er­kann­te er sei­ne Schwes­ter und schrie: »Cha­na­le, Cha­na­le!« Aber sie ver­schwand im Klos­ter. Da­mals war sie schon in der ach­ten Klas­se des Gym­na­si­ums und be­such­te gleich­zei­tig das Kon­ser­va­to­ri­um.

Die­se Be­geg­nung be­un­ru­hig­te mei­nen Va­ter sehr. Er fuhr zu Opa ins Dorf und er­zähl­te ihm, was er er­lebt hat­te. Da­nach fuhr Opa ins Klos­ter, aber dort stritt man al­les ab. Er ging so­gar mit der Po­li­zei hin, aber das war auch um­sonst. In den Lis­ten, die man ihm zeig­te, wur­de sie un­ter ei­nem an­de­ren – ad­li­gen – Na­men geführt. Man be­rich­te­te uns, dass sie an dem Tag, als mein Va­ter sie er­kann­te, zu ei­ner rei­chen ade­li­gen Fa­mi­lie in Kaf­kas ver­bracht wor­den war. Es war die Fa­mi­lie des Guts­be­sit­zers aus un­se­rem Dorf. Sie hei­ra­te­te dort ei­nen In­ge­nieur aus die­ser Fa­mi­lie, der bei Öl­boh­run­gen ar­bei­te­te. Er war viel äl­ter als sie und ein ed­ler, an­stän­di­ger Mann.

Auch sie hat­te ein trau­ri­ges Schick­sal. Wäh­rend der rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on, als sie schon Mut­ter von drei Söh­nen war, sperr­te man alle Aris­to­kra­ten ein, da­bei auch ih­ren Mann. Sie blieb mit den Kin­dern al­lein zu­rück. Doch sie war eine un­er­schro­cke­ne Frau und es ge­lang ihr schließ­lich, ih­ren Mann zu be­frei­en. Sie kauf­te ihn mit ih­rem wert­vol­len Schmuck frei. Mit der Ei­sen­bahn flüch­te­ten sie von Ort zu Ort. Eine Ty­phus-Epi­de­mie nahm ih­nen ihre drei Söh­ne. Nach vie­len Irr­we­gen er­reich­ten sie schließ­lich Kow­na in Li­tau­en. Dort konn­ten sie sich nie­der­las­sen; ihr Mann be­kam eine gute Stel­lung, sie konn­ten eine Zeit­ lang ein nor­ma­les Le­ben füh­ren und sie be­wohn­ten ein schö­nes Haus.

Die Sehn­sucht, ihre Fa­mi­lie wie­der­zu­fin­den war groß, aber Kow­na und Wil­na wa­ren durch eine »ei­ser­ne« Gren­ze ge­trennt.