Salafismus - Mahmoud Jaraba - E-Book

Salafismus E-Book

Mahmoud Jaraba

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Beschreibung

Nach einem Überblick über die historische Entwicklung, Definition und Charakteristika des islamistischen Extremismus zeichnet der Autor die Etablierung des Salafisten-Netzwerkes in Bayern nach, das er 2016 und 2017 wissenschaftlich erforscht hat. Gezeigt wird, dass das radikale religiöse Narrativ, indem es Passagen aus den heiligen Texten des Islams (Koran und Sunna) missbraucht, sowohl Feindbilder innerhalb des Islams als auch Angriffe auf Christen und Juden generiert. Freilich ist es nicht Ziel des Buches, den Islam und Muslime zu verteufeln und sie allesamt des Terrorismus zu beschuldigen. Es gilt jedoch zu verstehen, in welcher Weise Salafisten ihre Ideologie mit religiöser Legitimität versehen, um nicht zuletzt da oder dort Präventions- oder Gegenmaßnahmen zu setzen.

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Seitenzahl: 393

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[1]utb 5440

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wbv Publikation • Bielefeld

[3]Mahmoud Jaraba

Salafismus

Die Wurzeln des islamistischen Extremismus am Beispiel der Freitagspredigten in einer salafistischen Moschee in Deutschland

[4]Dr. Mahmoud Jaraba ist Research Fellow am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://d-nb.de abrufbar.

© 2020 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Facultas Verlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggrafik/Kalligraphie: Wajdi al-Arouri

Umschlag: Atelier Reichert, Stuttgart

Gestaltung und Satz: grafzyx.com

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-8252-5440-7 (print)

ISBN 978-3-8463-5440-7 (epub)

Elektronische Ausgabe (Online-Leserecht) ist erhältlich unter www.utb-shop.de.

[5]

Inhalt

Kapitel 1Extremismus und Metanarrativ

1.1 Einleitung

1.2 Extremismus: Definition und Ursachen

1.3 Das salafistische Metanarrativ

1.4 Die Debatte um die Freitagspredigten

1.5 Ziele des Buches

1.6 Argumentation und Methoden

1.7 Warum Freitagspredigten?

1.8 Inhalt des Buches

Kapitel 2Salafismus: Geschichte, Definition, Charakteristika

2.1 Einleitung

2.2 Historische Perspektive

2.3 Die sunnitischen Traditionalisten

2.4 Muhammad ibn Abd al-Wahhab

2.5 Wer sind die Salafisten? ‚Die errettete Gruppe‘

2.6 Der missionarische, der politische und der dschihadistische Salafismus

2.6.1 Der ideologische Salafismus

2.6.2 Der dschihadistische Salafismus

2.7 Grauzonen zwischen ideologischem und dschihadistischem Salafismus

2.8 Das gemeinsam Trennende

2.9 Die Umsetzung des islamischen Normensystems

[6]Kapitel 3Das Salafisten-Netzwerk in Bayern

3.1 Einleitung

3.2 Zeitliche Entwicklung

3.2.1 Die Phase der 1990er Jahre

3.2.2 Die Phase infolge der Ereignisse des 11. September 2001

3.2.2.1 Aktivitäten der ersten Generation

3.2.2.2 Maßnahmen im Zuge des 11. September 2001

3.2.2.3 Das Erscheinen von Internetplattformen wie YouTube und Facebook

3.2.2.4 Die neuen missionarischen Prediger

3.2.3 Der Bürgerkrieg in Syrien

3.3 Die salafistischen Aktivisten

3.4 Weitere Anhänger

3.5 Merkmale der Salafisten in Bayern

3.5.1 Die Ideologie

3.5.2 Strukturen

3.5.3 Salafisten-Größen

3.5.4 Die salafistische Gemeinschaft

3.5.5 Die Finanzierung

3.5.6 Die junge Generation

3.5.7 Soziale Herkunft und Bildungshintergrund

3.5.8 Das religiöse Wissen

3.5.9 Binnenkonflikte

3.5.10 Das äußere Erscheinungsbild männlicher Salafisten

3.5.11 Salafistinnen

3.6 Die Konstruktion des ‚Anderen‘

Kapitel 4Der Gottesstaat der Salafisten

4.1 Einleitung

4.2 Loyalität und Lossagung

4.3 Gottes auserwählte Gemeinschaft

4.4 „Das Fleisch der Gelehrten ist vergiftet“

4.4.1 „Die trügerischen Gelehrten“

4.4.2 Die „Gefolgschaft der Rechtschaffenheit“ und die „Gefolgschaft des Bösen“

4.5 Die Mission

4.5.1 Die Mission in den Freitagspredigten

4.5.2 Die Rückkehr zum Islam

4.5.3 „Die Ungläubigen vor der Hölle bewahren“

[7]Kapitel 5Die Feinde der Muslime: Schia, Sufisten, ,Heuchler‘, Säkulare

5.1 Einleitung

5.2 Die Schia: „Ihre Religion ist nicht der Islam“

5.2.1 Der Streit um die Glaubensgrundsätze

5.2.2 ‚Land der Perser‘ und die ‚Partei von al-Lāt‘

5.3 Der Streit der Salafisten mit den Sufis

5.3.1 „Der Islam ist eine Sache und der Sufismus eine andere“

5.4 Die ‚Heuchler‘

5.4.1 Die ‚Heuchler‘ in Deutschland

5.5 Die Säkularen

5.5.1 Der Ursprung des Streits

5.5.2 Die Methode

5.5.3 Die Sprache

5.5.4 Das Eintreten für Gott

5.5.5 Der Kampf um Autorität

Kapitel 6Die Vorherrschaft der Religion auf Erden

6.1 Einleitung

6.2 Die Kontrolle über die Regierungsgewalt

6.2.1 Die ‚Ermächtigung zur Herrschaft‘

6.2.2 Die ‚Herrschaft Gottes auf Erden‘

6.2.3 Untertanen, keine Staatsbürger

6.3 „Ihr seid die trefflichste Gemeinschaft, die jemals für die Menschen geschaffen wurde“

6.3.1 Das Christentum

6.3.1.1 Manipulation des Korantextes für politische Interessen

6.3.1.2 Nein zum Dialog, Ja zur Segregation

6.3.1.3 Die Wurzel des Konflikts: Die Kreuzzüge

6.3.2 Das Judentum

6.3.2.1 Die Verschwörungstheorie

6.3.2.2 Betrug

6.3.2.3 Die Korrumpierung der Welt

6.3.2.4 Antisemitismus

[8]Kapitel 7Analytische Betrachtung

7.1 Einleitung

7.2 Salafistische Narrative auf dem Sinai und in Bayern

7.3 Mobilisierung der Religion

7.4 Isolation und Identitätskrisen

7.5 Schlusswort

AnhangFreitagspredigten

Politisch orientierte Predigten • Soziale und pädagogisch orientierte Predigten

Glossar

ad-daʿwa, ‚Mission‘ • ahl al-ḥadīṯ, ‚Anhänger des Hadith‘ • ahl al-kitāb, ‚die Leute des Buches‘ • ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa, ‚die Leute der Sunna und der Gemeinschaft‘ • al-walāʾ wa-l-barāʾ, ‚Loyalität und Lossagung‘ • anṣār, ‚die Helfer‘ • ʿaqīda, ‚Glaubensgrundsätze‘ • ar-rāfiḍa, ‚die Ablehnenden/die Verweigerer‘ • aš-šahāda oder Schahada, ‚islamisches Glaubensbekenntnis‘ • aṣ-ṣirāṭ, ‚Weg/Pfad‘ • at-tawḥīd, ‚Monotheismus‘ • bidʿa, ‚Neuerung‘ • biṭāna, ‚Gefolgschaft‘ • Dābiq • fāsiq, ‚Frevler‘ • fatwā, ‚religiöses Rechtsgutachten‘ • fiqh, ‚islamische Rechtswissenschaft‘ • fitna, ‚Verführung/Unruhe/Zwietracht/Bürgerkrieg‘ • ǧihād oder Dschihad, ‚Heiliger Krieg‘ • ḥākimīya, ‚die Herrschaft Gottes‘ • ḫilāfa, ‚Kalifat‘ • ḥudūd, ‚Grenzen‘ • ḥusainīya, ‚schiitisches Gotteshaus‘ • iǧtihād oder Idschtihad, ‚Anstrengung‘ • manhaǧ as-salafī, ‚salafistische Methode/Weg‘ • munāfiqūn, ‚Heuchler‘ • Muʿtazilā • ṣaḥāba, ‚die Altvorderen/Prophetengefährten‘ • šarīʿa oder Scharia, ‚islamisches Recht‘ • Šīʿa oder Schia • širk, ‚Götzendienerei‘ • ṣūfīya, ‚Sufis‘ • ṭāġūt, ,Götzen‘ • takfīr, ‚Ausschluss aus dem Islam‘ • tamkīn, ‚Ermächtigung‘ • umma oder Umma, ‚die Gemeinschaft der Gläubigen‘ • zakāt, ‚die islamische Almosensteuer‘

Literatur

[9]

Dank

Es ist mir ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle meine Dankbarkeit denen auszusprechen, ohne die die Arbeit am und das Erscheinen des vorliegenden Buches nicht möglich gewesen wäre.

Meiner Frau Eman bin ich zu weit mehr an Dankbarkeit verpflichtet, als ich das jemals in Worte fassen könnte. Ihre unglaubliche Geduld, unermüdliche Ermutigung und einzigartige Fürsorge für unsere drei Kinder Danya, Raneem und Hadi, insbesondere in meiner häufigen Abwesenheit während meiner Feldforschung, haben alles erst möglich gemacht.

Ein Buch über Salafisten und Extremismus zu verfassen, erwies sich als wesentlich herausfordernder, als ich es ursprünglich erwartet hatte. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Mathias Rohe, der die Texte mit vielen wertvollen Anmerkungen kommentiert hat. Die uneingeschränkte Unterstützung meiner Kollegen und Freunde während meiner Feldforschung und anschließenden Schreibphase war dabei ebenfalls von unschätzbarem Wert. Jörn Thielmann, Tarek Badawia, David Malluche, Hatem Elliesie, Peter Spiewok, Gennadi Melnik und Abdelghafar Salim sind demgemäß wesentliche Anteile am Gelingen dieses Werkes zuzuschreiben. Ihnen gilt mein besonderer Dank, der weit über den rein fachlichen Austausch reicht.

Last, but surely not least, richte ich meine Dankbarkeit an Sabine Kruse vom facultas Verlag für die professionelle und verständnisvolle Betreuung sowie Andreas Deppe und Sina Nikolajew für das bewährt gründliche Lektorat.

Dieses Buch ist ein Ergebnis der Ad-hoc-Arbeitsgruppe Islam in Bayern, welche ein Kooperationsprojekt zwischen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und dem Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE an der FAU Erlangen-Nürnberg – geleitet von Prof. Mathias Rohe und Dr. Jörn Thielmann – war. Der Bayerischen Aka-[10]demie der Wissenschaften und ihrem Präsidenten Prof. Dr. Thomas O. Höllmann gilt mein herzlicher Dank für die Ermöglichung meiner Forschung. Das Ergebnis des Gesamtprojekts findet man unter https://islam.badw.de/die-arbeitsgruppe.html.

Die Ansichten und Analysen, die in diesem Buch formuliert werden, sind alleinig die des Verfassers. Die darin enthaltenen Befunde bestehen aus den originären Feldforschungsdaten des Verfassers. Diese wurden nach bestem Wissen und Gewissen unter sorgsamer Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards erhoben und ausgewertet.

[11]

Kapitel 1

Extremismus und Metanarrativ

1.1 Einleitung

Bevor ich meine Feldforschung zu der Beziehung zwischen Extremismus und Salafismus bzw. der Salafīya im Bundesland Bayern im November 2015 begann, hatte ich bereits eine grobe Vorstellung davon, was mich für ein Milieu erwarten würde (zur Geschichte, der Ideologie und den Glaubensgrundsätzen des Salafismus siehe Lauzière 2016). Ich verfolge die salafistische Szene seit vielen Jahren sowohl über Social Media als auch über ihre Aktivitäten in Moscheen. Daher war ich über die internen ideologischen Diskussionen, die von den Anhängern des Salafismus übernommen werden, sowie auch über ihre ablehnenden Haltungen gegenüber anderen, seien es andersdenkende Muslime oder Andersgläubige, auf dem Laufenden (für einen Überblick über die unterschiedlichen salafistischen Strömungen siehe Lohlker 2016).

Ich hatte bereits viel über die strengen Überzeugungen der Salafisten sowohl im Hinblick auf andere Muslime als auch auf durch ihre unterschiedliche Religion definierten ‚Anderen‘ gehört und gelesen. Dennoch versuchte ich möglichst unvoreingenommen an die Feldforschung heranzugehen und mein fachliches und thematisches Hintergrundwissen gegenüber den emischen Perspektiven der Akteure und der Erfahrung im Feld zurückzustellen. Nichtsdestotrotz stellte ich mich aus pragmatischen Gründen darauf ein, dass ich eventuell mit stark ideologisch gefärbten Aussagen und Sichtweisen konfrontiert werden würde, die stark von meinen persönlichen Standpunkten abweichen und zu emotionalen Konflikten in der Beziehung zu meinen Informanten führen könnten. Auch wenn wir in der ethnographischen Forschung stets das Ideal der Unvoreingenommenheit anzustreben haben, so ist dies doch [12]in der Praxis nie ganz zu erreichen, da unsere ‚wissenschaftliche‘ Perspektive immer zu einem gewissen Grad auch von subjektiven Faktoren und unserem theoretischen Hintergrundwissen beeinflusst wird. Diese Tatsache sollte nach Ansicht der meisten Ethnologen anerkannt und bewusst reflektiert werden, um ihren Einfluss auf die Annäherung an emische Perspektiven und Konzepte und damit auf die Objektivität der Forschungsergebnisse möglichst gering zu halten.

Ein Erlebnis während meiner Feldforschung, das ich überhaupt nicht erwartete und das mich trotz meiner Kenntnis der salafistischen Szene und ihrer Ideologie sehr überraschte, war der Erhalt einer SMS, die ich eines Abends Ende Oktober 2016 erhielt. Als ich von einem mühevollen und langen Arbeitstag, an dem ich Interviews mit einer Gruppe von ideologischen Salafisten (zur Definition siehe Abschnitt 2.6) geführt hatte, nach Hause zurückgekommen war, sah ich, dass mir Salah1, mit dem ich mich am Mittag desselben Tages getroffen hatte, eine SMS geschickt hatte, in der er mich vor dem Kauf eines Autos für meine Frau warnte. Der Grund dafür war, dass ich Salah2, der im Automobilhandel tätig ist, von diesem Vorhaben erzählt hatte. Doch Salah vertrat den Standpunkt, dass es der Frau im Islam verboten sei, Auto zu fahren. Deshalb schickte er mir die folgende Nachricht:

Friede sei mit Dir Bruder. Gerne helfe ich dir bei deiner Suche nach einem Auto. Jedoch muss ich dich als dein Glaubensbruder im Islam vor deiner Idee, deiner Frau das Autofahren zu erlauben, dringend warnen. Das wäre ein schwerer Fehler und ist eine Verleitung von Satan. Wenn du Hilfe beim Erwerb eines Führerscheins in Deutschland brauchst, kann ich dir damit helfen. Ich wünsche dir eine Gute Nacht. Dein Glaubensbruder im Islam.

Eine weitere Überraschung, mit der ich nicht gerechnet hatte, war, dass Salah nicht in einem konservativen religiösen Umfeld wie dem Königreich Saudi-Arabien, welches zu diesem Zeitpunkt der letzte Staat war, der Frauen das Autofahren verbot, geboren und aufgewachsen war, sondern in einem westlichen Staat, in dem Frauen durch Gesetze und die Verfassung die gleichen Rechte wie Männer genießen. Salah wurde in [13]eine katholische Familie geboren, entschied sich aber im Jahr 2015 dazu, zum Islam zu konvertieren. Er wählte einen neuen Namen, um seinen Austritt aus der Welt des Christentums und seinen Eintritt in die des Islam kenntlich zu machen. Nach seinem Übertritt zum Islam verging kein Jahr, bis Salah damit begann, extremistischen ideologischen (Näheres sogleich unter 1.2) Gedanken anzuhängen, die er für die Grundlagen und den Kern des Islam hielt.

Dazu gehören z. B. das Verbot für Frauen, Auto zu fahren, die Strenge in der Ausübung der religiösen Riten und das Urteilen über den Abfall vom Glauben, um andere, seien es die Anhänger anderer Religionen oder Muslime, die die religiösen Riten nicht befolgen, zu Ungläubigen zu erklären (takfīr) und entsprechend zu behandeln. Salah begann einen Blick auf die Welt und einen Umgang mit ihr zu entwickeln, der von der engstirnigen und extremistischen ideologischen Perspektive des ideologischen Salafismus geprägt war. Als ich versuchte, mit ihm darüber zu diskutieren, dass das Autofahren nicht zu den Lehren des Islam gehöre, es keinen einzigen religiösen Text gebe, der Frauen das Fahren verbiete, und das Königreich Saudi-Arabien das einzige muslimische Land sei, in dem Frauen nicht Autofahren dürfen, war dies die letzte Unterhaltung zwischen uns. Er brach den Kontakt ab und sprach nicht mehr mit mir. Er war weiterhin der Ansicht, dass ich eine große Sünde begehe, indem ich meiner Frau das Autofahren erlaube, und dass ich folglich kein guter Muslim mehr sei, mit dem er sich unterhalten kann.

Ich habe nicht genügend Informationen zu Salahs Geschichte und den Umständen seines vorigen Lebens, um dieses Verhalten erklären zu können. Vielleicht hatte er bereits eine extremistische Vergangenheit, bevor er zum Muslim wurde. Aber wieso nahm Salah weiterhin extremistische Positionen (wie das Fahrverbot für Frauen) ein, erachtete diese als die Grundlagen des Islam und entschied sich dafür, seine sozialen, politischen und religiösen Beziehungen danach auszurichten? Was würde Salah heute z. B. dazu sagen, dass Saudi-Arabien im September 2017 Frauen das Autofahren erlaubt hat?3 Würde er seinen Standpunkt ändern oder daran festhalten? Was vor allem sind die Ursachen, die junge Leute wie Salah in den Extremismus treiben? Wie entsteht dieser Extremismus?

[14]

1.2 Extremismus: Definition und Ursachen

Salahs Übernahme dieser extremistischen Positionen ist kein Ausnahmefall. Die blutigen terroristischen Attacken, zu denen es in den letzten Jahren in Belgien, Großbritannien, Frankreich oder auch Spanien kam und zu denen sich die Organisation des Islamischen Staates, die auch mit IS oder Daesh abgekürzt wird, bekannte, warfen zahlreiche Fragen zu den Ursachen dieses Extremismus auf, besonders unter jungen, im Westen geborenen Muslimen und Konvertiten (siehe z. B. Ramsauer 2015 und Roy 2017). Am 29. Juni 2014 verkündete der Sprecher der Organisationen des Islamischen Staates, Abu Muhammad al-Adnani, in einer Sprachaufnahme die Errichtung ihres sogenannten Islamischen Staates und forderte von den Muslimen den Treueeid auf Abu Bakr al-Baghdadi als Führer dieses Staates (siehe Weiss und Hassan 2016 sowie Mohamedou 2017). Das Ziel des IS ist es, das islamische Kalifat und die Scharia (aš-šarīʿa) in seiner sehr spezifischen Auslegung zu errichten (einführend Rohe 2011 und 2013 sowie Lohlker 2012). Seit der Gründung dieser Organisation führten ihre Anhänger und Sympathisanten zahlreiche blutige Anschläge in verschiedenen Teilen der Welt durch. Nach den schweren Niederlagen in Mossul und ihrem ehemaligen Hauptquartier im syrischen Rakka im Jahr 2017 ist sie weiterhin durch Gruppen von Kämpfern unter anderem in Syrien, dem Irak, dem Jemen, dem ägyptischen Sinai und Libyen aktiv (für weitere Informationen zum Einfluss der Revolten des arabischen Frühlings, vor allem in Syrien, auf die salafistische und insbesondere die dschihadistische Bewegung siehe Zemni 2014 und Said 2014). Die Organisation stellt ihre Barbarei und Brutalität durch die Folter, Ermordung und Enthauptung ihrer Widersacher sowie auch durch sonstige schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen sowohl gegenüber Muslimen als auch Nichtmuslimen wie den yezidischen und christlichen Minderheiten offen zur Schau. Der IS ist für ethnische Säuberungen sowie auch für die Zerstörung bedeutender archäologischer Stätten verantwortlich.

Auch Deutschland bleibt vom IS nicht verschont. Im Dezember 2016 tötete der Tunesier Anis Amri während der Adventszeit in Berlin zwölf Zivilisten durch den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt. Der deutsche Verfassungsschutz weist darauf hin, dass ihm Informationen zu ca. 1.060 Personen vorliegen, die zwischen Juni 2013 und März 2020 nach Syrien oder in den Irak gereist sind, um sich dort dschihadistischen Bewegungen anzuschließen (für den Begriff Dschihad siehe z. B. Lohlker 2009). Auch aus Bayern reisten den Angaben des Verfassungsschutzes nach 114 Dschihadisten aus, um dort terroristische Organisa-[15]tionen zu unterstützen (Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Verfassungsschutzbericht 2019). Darüber hinaus kam es in diesem Bundesland auch zu zwei terroristischen Vorfällen, die von Geflüchteten verübt wurden. Am 18. Juli 2016 griff ein 17-jähriger afghanischer Flüchtling die Passagiere eines Zuges an und verletzte dabei vier Personen, bevor ihn die Polizei erschoss. Nur einige Tage später, am 24. Juli, beging ein syrischer Flüchtling ein Bombenattentat in Ansbach und verletzte dabei zwölf Personen, drei davon schwer. Er erlag bald darauf seinen Verletzungen, die er bei der Explosion erlitt.

Auch wenn diese schrecklichen Angriffe in Deutschland von Geflüchteten verübt wurden, die in den letzten Jahren nach Deutschland kamen, um hier Asyl zu beantragen und Verbindungen zum IS aufzubauen, können deshalb nicht sämtliche Flüchtlinge oder Muslime unter Generalverdacht gestellt werden. Es liegt an uns, nach den tieferen Ursachen und Beweggründen für diesen Extremismus und nach den Akteuren zu suchen, die diesen Extremismus unter Muslimen propagieren.

Der Begriff ‚Extremismus‘ ist in den Publikationen von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern oft ein schwammiger Begriff, dessen Definition umstritten ist, wie u. a. von Kailitz (2000: 6) betont wird: „Der Extremismusbegriff lässt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis, demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine antidemokratische und/oder antikonstitutionelle Einstellung vertritt, ist deutlich umfassender als eine Interpretation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn politisch motivierte Gewalt ins Spiel kommt“. Als die Quintessenz verschiedener Definitionen des Begriffs soll hier festgehalten werden, dass Extremismus für gewöhnlich mit Übertreibung und mit der grundlegenden, pauschalen Ablehnung Andersdenkender sowie der Unfähigkeit, Verständnis für sie zu empfinden oder ihre Perspektive einzunehmen, in Verbindung gebracht wird. Generell kann man Extremismus als eine geschlossene Denkweise betrachten, welche sich durch das fehlende Vermögen auszeichnet, Überzeugungen zu akzeptieren oder zu tolerieren, die von denen der eigenen Person oder Gruppe abweichen. Im Kontext des vorliegenden Buches lässt sich religiöser Extremismus definieren als das krampfhafte Festhalten an bestimmten, in der Regel nur von wenigen anderen Angehörigen der Religion geteilten religiösen Sichtweisen, Überzeugungen und Gedanken – ohne diese kritisch zu hinterfragen. Dieses Festhalten ist häufig mit Hass und Gefühlen der Zurückweisung aufgeladen und drückt sich durch Feindseligkeit sowie die Dämonisierung von Andersgläubigen aus, was bis hin zur Gewaltbereitschaft oder der tatsächlichen Anwendung von Gewalt gehen kann.

[16]In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Problematik des islamistischen Extremismus im Westen auseinandergesetzt und dessen Ursachen, Instrumente und ausschlaggebende Faktoren untersucht. Diese Studien drehen sich um die Analyse einer Reihe von miteinander verbundenen Faktoren, deren wichtigste folgende sind:

1.)Gesellschaftliche Verwerfungen: Viele der Studien konzentrierten sich auf das Scheitern der Integrationspolitik in einer Reihe von europäischen Ländern, die Isolation einiger muslimischer Jugendlicher von der Mehrheitsgesellschaft und die Zunahme von Gefühlen der politischen, sozialen und kulturellen Entfremdung. Die Fragen, die dabei bevorzugt untersucht werden, hängen mit der steigenden Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit, mit Arbeitslosigkeit sowie mit der Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zusammen, denn arme Familien sind oft nicht in der Lage, ihre Mitglieder gegen Zeiten der Krise und schnelle soziale, kulturelle und technologische Veränderungen zu wappnen. Das Tempo der Veränderungen beeinträchtigt das soziale Gleichgewicht und die Überlagerung verschiedener Werte und Konzepte gibt dem Extremismus Auftrieb (siehe z. B. Holtz, Dahinden und Wagner 2013 sowie al Raffie 2013).

2.)Familiäre Verwerfungen: Hier liegt der Fokus auf der Zerrüttung von Familien und auf Störungen des Verhältnisses von Individuen zu ihrer Familie, oder auch dem Entzug der Zuneigung von einem oder beiden Elternteilen in früher Kindheit (siehe z. B. Sikkens, van San, Sieckelinck und de Winter 2017).

3.)Seelische Störungen: Hier konzentriert man sich auf schwere seelische Traumata, besonders in der Kindheit, sowie auf die gestörte Beziehung zu Gleichaltrigen in der Schule oder dem sozialen Umfeld. Es sticht besonders die Untersuchung psychischer Erkrankungen wie dem Leiden an Depressionen oder Ängsten hervor, da Menschen manchmal vor diesen fliehen, indem sie den inneren psychischen Konflikt nach außen verlagern, sodass er sich nun zwischen ihnen und der Gesellschaft abspielt. Er kann in der Folge als weniger schmerzhaft empfunden und leichter akzeptiert werden, da die Person nun eine aktive Rolle darin einnimmt (siehe z. B. Csef 2017 und Leuzinger-Bohleber 2016).

4.)Kollektive Traumata: Einige der Studien konzentrierten sich auf die Untersuchung der Effekte der US-amerikanischen Besatzung Afghanistans und des Iraks sowie der Bürgerkriege, die sich nach den Revolutionen in vielen arabischen Staaten wie Syrien, Libyen oder dem Jemen ausbreiteten. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem [17]syrischen Bürgerkrieg zu, in welchem das Regime Baschar al-Assads brutale Gewalt anwendet, um Oppositionelle zu unterdrücken und sich eine Reihe regionaler Player wie der Iran und die libanesische Hizbullah4 eingemischt haben. Damit weitete sich der Konflikt, der zu Beginn noch lokaler Natur war, zu einer konfessionellen und regionalen Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten aus.

5.)Social Media: In jüngster Zeit haben sich auch viele Studien mit der Rolle der Social Media wie Facebook, Twitter und WhatsApp bei der Verführung Jugendlicher zum Extremismus und als Mittel der Verbreitung dschihadistischer und extremistischer Propaganda auseinandergesetzt (siehe z. B. Becker 2009, Baehr 2012, Holtmann 2014, Inan 2017 und Difraoui 2012).

Diese fünf Faktoren waren während meiner intensiven Feldforschung in Bayern, die sich vom November 2015 bis zum November 2017 erstreckte, sehr präsent. So erklärte mir z. B. Ibrahim, der in der Prävention und Bekämpfung von Extremismus unter Jugendlichen in Bayern tätig ist, während eines Gesprächs im Januar 2017, dass der Extremismus seiner Überzeugung nach, zu der er durch seine persönliche Erfahrung in der Arbeit mit extremistischen Jugendlichen gelangte, in 99 Prozent der Fälle auf einen der drei folgenden Faktoren zurückzuführen ist: soziale Verwerfungen, seelische Störungen und zerrüttete Familien.

In vielen Interviews, besonders mit den Verantwortlichen von Moscheen und mit Aktivisten der muslimischen Gemeinden, wurde mir ebenfalls erklärt, dass der Extremismus ihrer Überzeugung nach hauptsächlich das Resultat von sozialen Problemen ist, die mit fehlender Integration und Diskriminierung gegenüber den Nachkommen der Einwanderer vonseiten der Mehrheitsgesellschaft zusammenhängen. So erläuterte mir z. B. Dschaafar, der seit mehr als 20 Jahren in einer arabischen Moschee aktiv ist, während eines Interviews im Dezember 2016, dass die Ursachen des Extremismus seiner Überzeugung nach vor allem mit der Diskriminierung zu tun haben, unter der die Nachkommen muslimischer Einwanderer sowohl in der Schule als auch auf dem Arbeitsmarkt leiden.

Yusuf, Imam einer großen, türkisch geprägten Moschee in Bayern, sieht die Diskriminierungen und Schwierigkeiten, die jungen Muslimen im Alltag in der Schule und in der Gesellschaft begegnen, ebenfalls als Hauptursache des Extremismus. Als Beleg führt er ein Gespräch mit [18]einem Jugendlichen an, der zu ihm kam und ankündigte: „Ich sprenge meinen Lehrer in die Luft!“ Der 15-Jährige machte damit seinem Ärger darüber Luft, dass seine Lehrer die Muslime rassistisch behandeln und den Islam schlechtmachen würden. In der Folge habe er sich intensiv mit dem Jungen und seinen Eltern auseinandergesetzt und ihn schließlich vor der Ausführung seiner Gewaltphantasien abbringen können. Bei den wenigen Jugendlichen, die in die Moschee gehen und einen solchen Hilfeschrei senden, handelt es sich seiner Meinung nach jedoch nur um die Spitze des Eisbergs. Es gebe weitaus mehr muslimische Jugendliche, die ein falsches und gefährliches Verständnis von ihrer Religion und deren Praxis in Deutschland hätten (zur Attraktivität des Salafismus für Jugendliche siehe Nordbruch, Müller und Ünlü 2014).

Alle Bemerkungen von Ibrahim, Dschaafar und dem Imam Yusuf resultieren aus ihrer praktischen Erfahrung und ihrem täglichen Umgang mit muslimischen Jugendlichen in Bildungsprogrammen und unterschiedlichen religiösen Aktivitäten. Diese Faktoren dürfen auf keinen Fall vernachlässigt werden. Dennoch sollten wir unseren Blick auch auf andere wichtige Faktoren richten, welche mit der Rolle der ideologische Salafisten beim narrativen Framing des Extremismus zusammenhängen, indem sie auf religiöse Texte selektiv zurückgreifen und diese in politische Matrizen verwandeln, welche die extremistische Ideologie beinhalten. Zu diesem Schluss kommt auch eine gemeinsame Auswertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und das Hessische Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus aus dem Jahr 2014. Dabei handelt es sich um eine Analyse der den deutschen Sicherheitsbehörden vorliegenden Informationen über die Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation heraus aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind. Das Ergebnis der Studie besagt: Bei 323 Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien ausgereist sind, ist die ideologische Ausrichtung bekannt. „Die ganz überwiegende Mehrheit dieser Personen (319) wird dem salafistischen Spektrum zugerechnet. Lediglich 4 Personen werden explizit nicht als Salafisten bezeichnet“ (S. 13).

1.3 Das salafistische Metanarrativ

Auf dieser Grundlage müssen das Studium und das Verständnis salafistischer Bewegungen und ihrer Ideologie als essenziell für das Verständnis und die Beseitigung des Phänomens des Extremismus aufgefasst werden. Dieses Buch fokussiert sich auf die Analyse der Narrative in salafis-[19]tischen Freitagspredigten in Deutschland, die zusammen ein salafistisches Metanarrativ bilden.5 Es will Antworten auf die folgenden Fragen geben: Welches sind die Narrative, die ideologische Salafisten unter den deutschen Muslimen zu verbreiten und zu verankern versuchen? Wie kontextualisieren (‚framen‘) ideologische Salafisten diese Narrative? Welche Ziele streben sie damit an? Was macht sie attraktiv? Gibt es eine Beziehung zwischen dem ideologischen salafistischen Metanarrativ und dem Prozess der Radikalisierung?

Für Halverson und seine Kollegen besteht ein Narrativ aus einer Reihe von Geschichten, die programmatisch miteinander verbunden sind und deren Themen ineinandergreifen. Das Verständnis unseres Selbst, wer wir sind, warum wir hier sind, was uns einzigartig macht und dergleichen Fragen mehr werden von einer Reihe von Geschichten geformt und zusammengehalten, die wir hören, während wir aufwachsen, und die uns miteinander verbinden (Halverson, Corman und Goodall 2011: 12). Folglich lässt sich ein Narrativ definieren als „coherent system of interrelated and sequentially organized stories that share a common rhetorical desire to resolve a conflict by establishing audience expectations according to the known trajectories of its literary and rhetorical form“ (Halverson, Corman und Goodall 2011: 14). Ein Narrativ ist eine imaginäre, zusammenhängende Welt, in der Bilder des Selbst aus seiner Vergangenheit gewoben werden. Edward Said verdeutlicht, dass ein Narrativ auf dem Verständnis der Gegenwart durch die Rückkehr in die Vergangenheit beruht, sodass dabei eine Reihe von Faktoren wie Erzählungen, Religion, Sprache und Macht eine Rolle spielen (Said 1994). Salafistische Narrative zielen in diesem Sinne darauf ab, ideologische Überzeugungen auf gegenwärtige Situationen anzuwenden, seien sie politischer oder sozialer Natur, und diese aus der Perspektive des Unterdrückten zu framen (El-Badawy, Comerford und Welby 2017).

Ein Metanarrativ, so erklären Halverson und seine Kollegen, „is a transhistorical narrative that is deeply embedded in a particular culture“ (Halverson, Corman und Goodall 2011: 14). Es wächst und erhält seine Stellung durch seine Wiederholung und Wertschätzung innerhalb einer spezifischen Kultur. Halverson und seine Kollegen verstehen Kultur als eine Reihe von zusammenhängenden Spezifikationen oder [20]geteilten Eigenschaften, auf die sich eine ethnische, soziale oder religiöse Gruppe beruft und sich so als menschliches Kollektiv definiert (Halverson, Corman und Goodall 2011: 14). Man kann also sagen, dass sich Metanarrative um vorgefertigte Annahmen drehen, die Pluralismus und Differenz trotz der Vielzahl unterschiedlicher sozialer und kultureller Kontexte nicht zulassen. Darüber hinaus bestreiten Metanarrative die Möglichkeit jeglicher Form von Wissen oder Wahrheit außerhalb ihres Rahmens und widersetzen sich jedem Versuch, sie zu verändern, zu kritisieren oder einer Prüfung zu unterziehen. Sie erlauben außerdem keine Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit und bestehen darauf, ganzheitliche Vorstellungen von Gesellschaft, Kultur, Geschichte und Existenz in sich zu tragen. In jedem Fall ist Metanarrativen eine Natur der Ermächtigung und Exklusivität zu eigen, die andere Formen verfügbarer Narrative marginalisiert.

Das Metanarrativ der ideologischen Salafisten, so wurde mir während meiner Feldforschung klar, stützt sich auf folgende drei grundlegende Quellen.

Erstens wird der Koran, von dem die Muslime glauben, dass er dem Propheten Muhammad über einen Zeitraum von ca. 23 Jahren offenbart wurde, als die grundlegende und wichtigste Quelle für die Narrative der ideologischen Salafisten betrachtet. Der Koran ist das heilige Buch des Islam und Muslime glauben daran, dass er das Wort Gottes bewahrt und das letzte der ‚himmlischen Bücher‘ (kutub samāwīya) nach den Schriftrollen Abrahams, dem Zabur, der Thora und dem Evangelium ist.6

Zweitens bilden die Hadithe des Propheten eine essenzielle Quelle für den Aufbau des ideologischen salafistischen Metanarrativs. Die Hadithe sind die vom Propheten Muhammad überlieferten Aussprüche, Handlungen und Entscheidungen (siehe z. B. Schoeler 1996 und Motzki 2014). Sie verdeutlichen und erklären die religiösen Regeln und Vorschriften, die der Koran enthält, und bilden neben diesem die zweite Grundlage der Rechtsprechung im sunnitischen Islam. Sie erläutern das vorbildliche Verhalten des Propheten Muhammads, dessen Beispiel die Muslime folgen sollen. Nach seinem Tod begann man mit ihrer [21]mündlichen Überlieferung. Letztendlich wurden sie jedoch im 8. und 9. Jahrhundert in unterschiedlichen Hadithsammlungen festgehalten und zusammengestellt. Für die sunnitischen Muslime sind die aussagekräftigsten Hadithsammlungen diejenigen, die auf die Korangelehrten Muhammad Ibn Ismail al-Bukhari (gest. 870) und Muslim Ibn al-Hajjaj (gest. 875) zurückgeführt werden. In Anbetracht ihrer Ursprünge in mündlichen Überlieferungen beschränken sich die Hadithe nicht nur auf den Inhalt von Geschichten und Erzählungen, sondern erstrecken sich auch auf die Kette der Überlieferung, die von den Individuen berichtet, die die Überlieferung seit der Zeit des Propheten im 7. Jahrhundert weitergaben und so bewahrten. Obwohl es über diese Überlieferungen oft Diskussionen und Auseinandersetzungen unter den Muslimen gibt, so sind sie doch eine bedeutende Quelle religiösen Wissens. Sie spielen deshalb eine wichtige Rolle in den islamischen Wissenschaften der Exegese und der Rechtslehre und liefern eine grundlegende Orientierung für die Art und Weise, wie die Muslime leben und die Welt um sie herum verstehen können (Halverson, Corman und Goodall 2011: 4f.). Auch sie bilden eine grundlegende Quelle für das Metanarrativ der ideologischen Salafisten. Dabei ist zu beachten, dass auch viele gefälschte Hadithe in Umlauf gebracht wurden und man deshalb versucht hat, die Authentizität durch Prüfung der Überlieferungskette (isnād) und manchmal auch durch Analyse des überlieferten Texts (matn) selbst sicherzustellen. Wie ich später zeigen werde, folgen viele ideologischen Salafisten dieser etablierten Tradition der Überlieferungskritik jedoch nicht, weshalb sie schon deshalb keineswegs als authentische Vertreter der islamischen Religionskultur gelten können.

Drittens stützen sich die ideologischen salafistischen Narrative auch auf historische Erzählungen und Geschichten, welche Ereignisse und Kriege betreffen, die den Werdegang und die geschichtliche Entwicklung der islamischen Staaten und Gesellschaften beeinflusst haben, etwa die islamische Expansion oder die Kreuzzüge, die sich vom 11. bis ins 13. Jahrhundert erstreckten (Halverson, Corman und Goodall 2011: 7). Die ideologischen Salafisten beziehen sich zur Unterstützung ihres Metanarrativs auf solche historischen Erzählungen und Beispiele, von denen sie denken, sie würden die Entwicklung der muslimischen Gesellschaften bis heute beeinflussen.

Diese drei Quellen enthalten eine Menge vielfältiger Informationen, Orientierungspunkte, Ratschläge, Anweisungen, Verbote, Lehren und Schlussfolgerungen, die zusammengenommen ein vollständiges Metanarrativ bilden. Sie helfen den ideologischen Salafisten dabei, ihrem gegenwärtigen Leben eine Orientierung zu geben und ihre Zukunft zu [22]planen, und zwar auf eine Art und Weise, von der sie denken, sie stünde im Einklang mit dem wahren Weg Gottes. Sie geben diese Narrative von einer Generation an die nächste weiter, um somit ihr Fortbestehen sicherzustellen. Die Narrative behandeln vielfältige und weitgefasste Themen, darunter Freundschaft und Feindschaft, Gut und Böse oder Wahrheit und Unrecht sowie die Wege, zwischen diesen Gegensätzen zu unterscheiden und das Richtige zu tun. Wie ich in den Kapiteln 4 bis 6 diskutieren werde, verwenden die ideologischen Salafisten diese Quellen im Gegensatz zum muslimischen Mainstream nicht nur besonders selektiv, sondern auch außerhalb ihrer Kontexte, um ihre Gegner anzugreifen und sie zu delegitimieren.

Man kann nicht behaupten, dass es ein einziges Narrativ gibt, dem sich alle Salafisten gleichermaßen verpflichtet fühlen. Dennoch lassen sich gemeinsame Elemente in den salafistischen Narrativen feststellen, die zusammengenommen ein übergeordnetes, leitendes Narrativ bilden, welches alle verschiedenen Strömungen des Salafismus mehr oder weniger teilen. Dazu gehört es z. B., die Schiiten, die Sufis, die Säkularen, den Westen, die Christen und die Juden zu Ungläubigen und zu ewigen Feinden zu erklären (für eine vertiefte Diskussion der salafistischen Perspektive auf Christen siehe Rudolph 2014). Dieses Buch wird sich mit diesen Narrativen auseinandersetzen und sie im Detail analysieren.

Neuere Studien zum Phänomen des Terrorismus haben fruchtbare Ideen geliefert, die uns dabei helfen, die Mechanismen zu verstehen, mittels derer die salafistischen Narrative zur Erstarkung des Extremismus beitragen. In diesem Zusammenhang bildet der Beitrag von Halverson und seinen Kollegen in dem Buch Master Narratives of Islamist Extremism eine wichtige Quelle für das Verständnis der Beziehung zwischen den salafistischen Narrativen und dem Terrorismus. Sie nehmen an, dass es trotz der Unterschiede der dschihadistischen Narrative auf lokaler Ebene leitende Narrative gibt, die über die lokalen Diskurse hinausgehen. Das leitende Narrativ setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen, die aus den heiligen Texten des Islam und der Geschichte abgeleitet sind.

Das Wichtigste dabei ist die Tatsache, dass die leitenden Narrative niemals unveränderlich, sondern offen für ihre kontinuierliche Neuauslegung im Rahmen individueller und kollektiver Konzepte sind. Ohne diese Verbindungen zwischen Geschichten und leitenden Narrativen könnten Muslime – wie jede andere kulturell definierte Gruppe der Welt auch – keine methodische Auffassung ihrer Stammesgeschichte, ihrer Staaten oder ihrer Volksgemeinschaften entwickeln. Auch die individuellen Gläubigen hätten dann kein überzeugendes Empfinden [23]ihrer persönlichen Bestimmung, das sie als Individuen mit den Narrativen der Gemeinschaft (der Umma) und ihre individuellen Geschichten sowie die kollektiven Narrative der Gemeinschaft mit dem Metanarrativ eines islamischen „Kosmos“ verbindet (Halverson, Corman und Goodall 2011: 12).

Auch Egerton behandelt in seinem Buch Jihad in the West. The Rise of Militant Salafism die Rolle von Narrativen bei der Beeinflussung eines sehr kleinen Teils der Gesellschaft, so wie es in Bezug auf den militanten Salafismus der Fall ist. Er ist der Ansicht, dass die Antwort auf die Frage, warum die militanten Salafisten ihr Narrativ bis zum Äußersten treiben können, größtenteils durch die Tatsache begründet sei, dass viele Elemente dieses Narrativs in abgeschwächter und weniger militanter Form in vielen islamischen Gemeinschaften vorhanden seien. Der militante Salafismus schöpft aus einem Narrativ, das auf religiöser Einheit und der Feindschaft des Westens gegen den Islam beruht und auf tief verwurzelten Konzepten und Überzeugungen aufbaut. Seine Protagonisten kontrollieren dieses Narrativ und arbeiten daran, es zu gestalten und auszuweiten. Zu den wichtigsten Vermittlern bei diesem Prozess, denen dadurch eine zentrale Rolle zukommt, gehören die missionarischen und propagandistischen Prediger und kleinen Gruppierungen, die vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten sind (Egerton 2011: 5). Egerton (2011: 135) sagt:

For most Muslims, the West is more usually seen as hypocritical in foreign policy matters and unduly aggressive in those that concern countries wherein Muslims are the majority. Those who engage in militancy amend and develop this narrative and then act upon it in a particular way. Again, this is not to equate Islam with terror, but to acknowledge that those who do engage in militancy do so having emerged from communities in which specific discourses are accepted and propagated.

In einer neuen Studie wurden 114 Medienquellen aus dem Zeitraum von April 2013 bis zum Sommer 2015 gesammelt, die drei Gruppierungen des dschihadistischen Salafismus zugeordnet werden können: dem IS, der Nusra-Front und Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel. Darin versuchen Eman El-Badawy und ihre Kollegen, die Ideologie näher zu definieren, welche diese drei Gruppierung mit Hilfe ihrer Medienquellen sorgfältig aufbauen, um damit einen Gegendiskurs für die muslimische Öffentlichkeit, die Regierungen und die Zivilgesellschaft zu schaffen. Die Studie betrachtet eine vielfältige Sammlung an Narrativen, auf die sich die Dschihadisten in ihrem Diskurs konzentrieren, sei es, um neue [24]Anhänger um sich zu scharen, oder um diese zum Dschihad zu motivieren. Diese Studie machte deutlich, dass die Dschihadisten sich auf Narrative konzentrieren, die sich um religiöse Konzepte wie den Monotheismus (at-tauḥīd), den Dschihad (al-ǧihād), die Umma (al-umma), das Kalifat (al-ḫilāfa), den Ausschluss aus dem Islam (at-takfīr) (siehe z. B. Timani 2018 sowie Nedza 2020), das Ende der Zeit (nihāyat az-zamān) und weitere drehen (mehr Informationen zu diesen Konzepten und Narrativen bei El-Badawy, Comerford und Welby 2017).

1.4 Die Debatte um die Freitagspredigten

Dieses Buch ist nicht die erste Untersuchung, die einen Zusammenhang zwischen der salafistischen Ideologie und dem islamistischen Extremismus herstellt. Viele Arbeiten beschäftigten sich in den letzten Jahren mit diesem Thema (siehe z. B. Kraetzer 2014). Dieses Buch leistet einen Beitrag zu dieser Diskussion und behandelt dabei einen neuen Aspekt, indem ich mich auf die Analyse von Freitagspredigten konzentriere, um zu verstehen, inwiefern die ideologischen Salafisten ihr Metanarrativ über die Kanzel in die lokalen muslimischen Gemeinden transportieren und so versuchen, ihre Ideologie zu verankern. Die Gefahr der salafistischen Ideologie liegt darin, dass sie die Doktrinen des Islam in vereinfachender Weise umformuliert. Sie ist nicht an die Elite gerichtet, die in der Lage ist, ihre Argumente zu durchschauen und zu widerlegen, sondern an diejenigen einfachen Leute, die eines tieferen Verständnisses für ihre Religion und der Hilfe durch ‚religiöse Würdenträger‘ bedürfen, die ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen. Dieser Versuch, tief in die ideologische salafistische Gemeinschaft vorzudringen, indem ihr direkter Diskurs mit den Muslimen analysiert wird, ist nach meinem Wissensstand der erste auf dieser Ebene. Das ermöglicht uns ein tieferes Verständnis von der Natur der Botschaft der ideologischen Salafisten und ihrer Ziele, da wir uns der Basis annähern, auf der sie ihre Ideologie aufbauen und zu festigen versuchen.

Meiner Kenntnis nach wurden Freitagspredigten in salafistischen Moscheen bis jetzt nicht vertieft und umfassend akademisch behandelt und analysiert, und zwar weder in Deutschland noch in anderen europäischen Staaten oder mehrheitlich muslimischen Ländern. Das Buch des deutschen Journalisten Constantin Schreiber (2017), Inside Islam: Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird, wäre nicht so kontrovers diskutiert worden, wenn es nicht erhebliche Mängel an akademischem Wissen über Freitagspredigten und deren Inhalt aufwiese. Schreiber ist es allerdings gelungen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf eines der momen-[25]tan politisch und medial sensibelsten Themen zu lenken, nämlich die Integration von Muslimen in die deutsche Gesellschaft und den Einfluss der islamischen Religion auf diese Problematik. Die Untersuchung von Freitagspredigten in einem akademischen und systematischen Kontext ist daher sehr wichtig. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass Untersuchungen von islamischen Freitagspredigten nicht nur im deutschen Sprachraum fehlen: Mit Ausnahme einer Arbeit, die sich mit der Transformation islamischer Autorität in Frankreich durch das Studium und die Analyse der Predigten des Predigers Hasan Iquioussen befasste (Peter 2006), sind bis dato auch im restlichen Europa keine entsprechenden Studien durchgeführt worden.

Auch im Kontext muslimischer Mehrheitsgesellschaften existiert nur ein verschwindend geringer Korpus an Studien zu dieser Thematik. Vor beinahe 30 Jahren analysierte Richard Antoun (1989) die Freitagspredigten in einem jordanischen Dorf und verglich sie mit einer Recherche Bruce Borthwicks (1967), der Freitagspredigten in städtischen Moscheen in Ägypten untersucht hatte. Dabei kam Borthwick zu dem Schluss, dass die von ihm besuchten Prediger die Idee des ägyptischen Nationalismus förderten, aber nicht zur Modernisierung oder zur politischen Reform ermutigten. Weiterhin zog er das Fazit, dass den ägyptischen Predigern Kenntnisse im Bereich säkularer Bildung fehlten. Im Gegensatz zu Borthwick kam Antoun zu dem Befund, dass der Inhalt der Freitagspredigten in dem von ihm untersuchten jordanischen Dorf von schwachem politischem Gehalt sei. Antoun konzentrierte sich jedoch auf das Studium und die Analyse eines einzelnen Predigers, weshalb seine Schlussfolgerungen nicht auf die Moscheen anderer Dörfer oder auf das Studium der muslimischen Minderheitsgemeinschaften im Westen übertragbar sind.

Vor Kurzem gelangte Sari Hanafi (2017) nach der Analyse der Freitagspredigten in den schiitischen und sunnitischen Moscheen im Libanon mittels eines soziologischen Ansatzes zu ähnlichen Ergebnissen wie Borthwick. In seiner Studie untersuchte er 210 Freitagspredigten, die zwischen 2012 und 2015 gehalten wurden. Hanafi erklärte, dass die Freitagspredigten im Libanon stark politisiert seien, wenn auch in unterschiedlichem Maße: So seien die von ihm besuchten schiitischen Predigten stärker politisch aufgeladen gewesen als die sunnitischen (Hanafi 2017: 28). Alle von Hanafi untersuchten Predigten befassten sich mit politischen Themen wie Terrorismus und Widerstand.

Andere Studien zur Thematik konzentrierten sich beispielsweise auf die Analyse der Freitagspredigten, die online auf YouTube zu finden sind (Hirschkind 2012), befassen sich mit dem Einfluss von auf Kassetten [26]aufgenommenen Freitagspredigten auf die öffentliche Sphäre (Hirschkind 2006) oder mit den Verbindungen zwischen religiöser Rhetorik und politischem Dissens in Ägypten (Gaffney 1994).

Im Gegensatz zu dem großen Mangel an akademischer Literatur zu Freitagspredigten sind islamische Bibliotheken voll mit Büchern und Publikationen, die dem Prediger oder Imam Hinweise und Ratschläge aus Perspektive der islamischen Rechtswissenschaft im Hinblick auf die Formulierung, Darstellung und Ziele der Predigt geben (siehe z. B. Abu Zahra 1934), wobei hier nicht zwischen muslimischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften unterschieden wird. Diese Hinweise für Imame diskutieren etwa ein bestimmtes Thema, das mit einem mit der Predigt verbundenen Problem zu tun hat. Beispielsweise gibt Muhammad as-Samman den Predigern Hinweise zum Umgang mit neuen kulturellen Einflüssen auf Muslime und verweist auf eine Reihe von Ratschlägen und Richtlinien, um mit diesem Thema umzugehen (al-Samman 2008).

Der geringe Umfang akademischer Fachliteratur zu dieser Thematik, sowohl im Zusammenhang muslimischer Mehrheitsgesellschaften als auch muslimischer Minderheiten in westlichen Gesellschaften, macht deutlich, dass die Analyse von Freitagspredigten im Kontext kritischer wissenschaftlicher Methodologie dringend erforderlich ist. Ziel zukünftiger Untersuchungen in dieser Richtung muss es daher sein, einen neuen Beitrag zum Verständnis der Mechanismen der Übertragung der heiligen Texte in religiöses Wissen unter Muslimen durch Freitagspredigten zu leisten.

1.5 Ziele des Buches

Angesichts einer oft wenig sachorientierten und pauschalen öffentlichen Debatte über die ‚Gefahren des Islam‘ will dieses Buch zur sachorientierten, wissenschaftlich fundierten Klärung der tatsächlich vorhandenen Probleme eines muslimischen Extremismus beitragen. Es verdeutlicht, wie die ideologischen Salafisten im Gegensatz zur großen Mehrheit von Musliminnen und Muslimen Passagen aus den heiligen Texten des Islam (Koran und Sunna) missbrauchen, um so ihre Ideologie zu festigen und sie mit religiöser Legitimität zu versehen. Sie wählen aus den religiösen Texten das aus, was ihnen passend erscheint, um Muslimen vorzutäuschen, ideologische Salafisten würden den wahren Islam verkörpern, dem alle Muslime folgen müssten. Die muslimischen Extremisten, so erklärt beispielsweise der Wissenschaftler Mouhanad Khorchide (2016: 26), argumentieren selektiv. Sie picken sich aus den [27]religiösen Texten das heraus, was ihre ideologischen Positionen rechtfertigt. Ohne die islamisch-religiöse Basis würde die extremistische salafistische Ideologie in sich zusammenbrechen.

Wer die Grundlagen der salafistischen Ideologie und ihrer Narrative aufdecken will, muss deren Inhalte wiedergeben. Das vorliegende Buch soll in diesem Sinne darüber aufklären, inwiefern die ideologischen Salafisten ihre Narrative in einen ideologischen Rahmen einpassen, mit dem Ziel, diesen Narrativen auf ideeller und religiöser Ebene entgegenzutreten, indem Gegennarrative aufgebaut werden. Das Verständnis der Narrative, die den Extremismus befeuern, muss als eine wichtige Voraussetzung für die Eindämmung und Konfrontation des gewalttätigen Extremismus betrachtet werden. Denn die ideologischen salafistischen Narrative rechtfertigen Gewalt und rufen direkt oder zumindest indirekt dazu auf. Diesen extremistischen Ideologien ist nicht allein mit Sicherheitsmaßnahmen beizukommen, sondern sie müssen parallel auch analysiert und verstanden werden.

Dabei obliegt die Verantwortung, Strategien gegen die Narrative der ideologischen Salafisten zu entwickeln, vor allem den Musliminnen und Muslimen selbst, den Moscheen, den Imamen, den Gelehrten, islamischen Institutionen und der muslimischen Zivilgesellschaft (für einen internen Kritiker des Salafismus unter Muslimen siehe Fouad 2019). Die Problematik ist eine innerislamische, welche die Eröffnung von Diskursen und die Neuinterpretation der islamischen Texte betrifft, sodass diese mit der deutschen und westlichen Realität in Einklang stehen, anstatt ihr zu widersprechen.

1.6 Argumentation und Methoden

Dieses Buch argumentiert, dass das ideologische salafistische Metanarrativ Inhalte hat, die möglicherweise eine wichtige Ursache für die Isolation eines Teils der Muslime von der deutschen Gesellschaft und für das Einnehmen einer feindseligen Haltung ihr gegenüber darstellen und somit einen elementaren Beitrag zum Prozess der Radikalisierung leisten. Um diese Hypothese in all ihren Aspekten zu untersuchen und zu verstehen, machte ich mich daran, die Narrative der ideologischen Salafisten in ihren Freitagspredigten und im Alltagsleben in Deutschland zu analysieren. Dabei zeigte sich, dass die ideologischen Salafisten dort Narrative verbreiten, die zu einem großen Teil denjenigen von dschihadistischen Organisationen wie dem IS, der Nusra-Front und Al-Qaida entsprechen. Sie begrüßen die Verbreitung dieser extremistischen Narrative unter Muslimen, weisen jedoch einen markanten Unterschied zu [28]den genannten militanten dschihadistischen Organisationen auf: Sie rufen nicht direkt und öffentlich zum Dschihad auf. Was jedoch den Kern der ideologischen salafistischen Narrative in Deutschland, ihre Sprache, ihre religiösen Quellen und die historischen Ereignisse, auf die sie sich beziehen, betrifft, so stimmen sie letztlich doch größtenteils mit denen der militanten dschihadistischen Bewegungen überein.

Um die ideologischen salafistische Metanarrative von innen heraus zu verstehen, entschied ich mich für einen anthropologischen Ansatz, der zum Großteil auf der Methode der teilnehmenden Beobachtung und der Teilnahme am Alltag (je nach Möglichkeit) der zu untersuchenden Gruppe beruht. Die teilnehmende Beobachtung wird in einer Reihe von Disziplinen – besonders in der Ethnologie und den Sozialwissenschaften – als grundlegendes Instrument für das Sammeln von Informationen über Menschen, Kulturen und Gesellschaften im Rahmen qualitativer Forschung angewandt. Dabei wird der Forscher selbst zum Teilnehmer der Kultur oder desjenigen Kontexts, dessen Beobachtung er in seiner Studie beabsichtigt, sodass er die Zielgruppe in diesem Kontext analysieren und entsprechende Informationen und Feldnotizen sammeln kann. Die teilnehmende Beobachtung erfordert meist einen intensiven Feldforschungsaufenthalt von mehreren Monaten oder Jahren, da der Forscher als natürlicher Teil der Kultur oder des in der Studie untersuchten Kontexts akzeptiert werden muss. Dies ist auch nötig, um sich vergewissern zu können, dass die von ihm beobachteten Phänomene charakteristisch sind und dass seine Anwesenheit das Verhalten der Akteure nicht beeinflusst (siehe z. B. O’Reilly 2012).

Aufgrund dessen erstreckte sich die Feldforschung zu dieser Studie über zwei komplette Jahre (von November 2015 bis November 2017), um das Sammeln von Informationen und das Verständnis des Phänomens des ideologischen Salafismus in seinem lokalen Kontext zu vertiefen. Die Feldforschung umfasste die bayerischen Städte München, Nürnberg, Erlangen, Regensburg, Schwandorf, Bayreuth und Weiden. Dabei wurden drei Methoden für das Sammeln von Informationen angewandt.

1.) Teilnehmende Beobachtung: Das Ziel der teilnehmenden Beobachtung war es, sich mit dem Umgang der Salafisten untereinander vertraut zu machen und Vertrauen aufzubauen, damit ich zu einem tieferen Verständnis des salafistischen Gedankenguts gelangen konnte. Dazu nahm ich an zahlreichen Aktivitäten der Salafisten wie den täglichen Gebeten in den Moscheen, Freitagspredigten, Vorträgen und sozialen Anlässen teil.

2.) Interviews: Indem ich auf die Methode des snowball sampling (‚Schneeballauswahl‘) zurückgriff, konnte ich mehr als 70 Interviews [29]und Gespräche mit Salafisten, Experten, Aktivisten aus der Zivilgesellschaft und Regierungsangestellten durchführen. Die meisten dieser Interviews (mehr als 40) wurden mit Salafisten geführt und erfolgten face to face. Sie erstreckten sich jeweils über eine Dauer von 30 Minuten bis hin zu mehr als vier Stunden in manchen Fällen. Viele der Personen wurden mehrmals interviewt. Während der meisten Interviews machte ich mir Notizen, nur in wenigen Fällen konnte ich das Interview aufzeichnen und anschließend transkribieren. Unter den Personen, die ich interviewt habe, befinden sich keine, die als führende Persönlichkeiten der salafistischen Bewegung in Deutschland betrachtet werden können oder die in der Szene durch Social Media bekannt sind. Solche Führungsfiguren gibt es in Bayern nicht. Die Leute, die ich getroffen habe, sind lokale Prediger und Imame, Personen, die sich zum Salafismus bekennen, und Aktivisten in muslimischen Gemeinden und Moscheen. Den Fokus auf diese Gruppe zu legen erlaubt es uns, sich den Salafisten von innen her und im Rahmen ihrer lokalen Interaktionen anzunähern und so ihre tatsächlichen Beziehungen und Interaktionen mit den muslimischen Gemeinden und der deutschen Gesellschaft zu beobachten. Denn die bekannten Führungspersönlichkeiten (wie Pierre Vogel, Ahmad Armih (genannt Ahmed Abu al-Baraa), Hasan Dabbagh etc.) haben bereits eine fortgeschrittene Stufe in der Erfahrung mit der Öffentlichkeitsarbeit erreicht, was sie in die Lage versetzt, Details durch Ablenkungsmanöver oder geschickte Formulierungen zu verbergen, wenn sie das möchten, entweder um interne Spaltungen der salafistischen Bewegung oder Gefahren durch die Sicherheits- oder Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden (für eine Studie zu den bekannten Salafisten in Deutschland siehe Wiedl und Becker 2014). Leider befinden sich trotz der Bedeutung dieser Thematik und der Notwendigkeit, auch die weibliche Perspektive zu beleuchten und damit ihre Rolle in dem Geschehen zu erfassen, keine Frauen unter den Salafisten, die ich getroffen habe. Wegen der strikten Trennung zwischen Männern und Frauen, die die Salafisten praktizieren, und der Schwierigkeit, zu diesen Frauen durchzudringen, gab es keine Möglichkeit, mich mit einer salafistischen Aktivistin zu treffen. Dieser Bereich bedarf also nach wie vor vertiefter und intensiver Feldforschung, um die Rolle von Frauen in der salafistischen Bewegung zu verstehen (Studien zu der Rolle von Frauen in salafistischen Bewegungen sind sehr selten, siehe Inge 2017).

3.) Freitagspredigten: Parallel zu der Durchführung von Interviews besuchte ich zwischen April 2016 und April 2017 Freitagspredigten in einer salafistischen Moschee in Bayern und hielt meine Beobachtungen fest. Um das Informationsgeheimnis und die Identität der Moschee zu [30]wahren, werde ich sie in diesem Buch in Anlehnung an das arabische Wort für Monotheismus mit dem Decknamen ‚Tauḥīd-Moschee‘ bezeichnen. Im Laufe eines ganzen Jahres, welches ich damit verbrachte, mir salafistische Freitagspredigten anzuhören, trug ich insgesamt 30 Predigten zusammen und untersuchte sie. Dies bildet die Basis der Analyse und des Verständnisses der ideologischen salafistischen Narrative in diesem Buch.