Samstags um halb vier - Nils Havemann - E-Book

Samstags um halb vier E-Book

Nils Havemann

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  • Herausgeber: Siedler
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Faszination Bundesliga

Seit nunmehr fünfzig Jahren ist die Fußballbundesliga ein wichtiger Bestandteil der Populärkultur, wobei auch wirtschaftliche Interessen eine immer größere Rolle spielen. Nils Havemann nähert sich ihren großen Figuren an – den strahlenden ebenso wie den mediokren – und stellt die Liga vor dem Hintergrund der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dar.

Durch die Auswertung bislang nicht zugänglicher Dokumente gelingt es Nils Havemann, ein neues Licht auf die Geschichte der Bundesliga zu werfen. So liefert das Buch unter anderem neue Details zum großen Bestechungsskandal 1970/71 und schildert, warum der Streit über die Fernsehrechte bereits ausgebrochen war, lange bevor die Sportschau auf Sendung ging. Zudem kann Havemann erstmals auf der Grundlage belastbarer Quellen Aussagen über die Entwicklung der Spielergehälter treffen.
»Samstags um halb vier« bietet tiefe Einblicke in die Entwicklung eines Sports, der für viele zum Religionsersatz wurde und sich häufig auf dem schmalen Grat zwischen Faszination und Fanatismus, zwischen Patriotismus und Rassismus bewegt. Eine spannende Geschichte über die wichtigste Nebensache der Deutschen.

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Seitenzahl: 1182

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Nils Havemann

SAMSTAGS UM HALB 4

DIE GESCHICHTE DER FUSSBALLBUNDESLIGA

Siedler

Erste Auflage

Copyright © 2013 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-08879-8

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1. Fußball zwischen Tradition und Moderne

Der lange Weg zur Bundesliga

Gemeinschaft, Heimat und Identität

1954: Der folgerichtige Triumph deutscher Profis als Wundererzählung

Der DFB: Lobbyist des Fußballsports

Die späte Gründung der Bundesliga als Ergebnis wirtschaftlicher Erwägungen

Bundesligavereine als Kristallisationspunkte lokaler und regionaler Identität

2. Die Suche nach gesellschaftlicher Akzeptanz und finanzieller Seriosität

Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Bundesliga (1963–1965)

Die Herrschaft der Kaufleute, Unternehmer und Juristen

Marode Finanzen und unseriöses Geschäftsgebaren

Bildungsbürgerlicher Dünkel gegenüber Geld, Kommerz und doofen Fußballspielern

Fritz Walter und Uwe Seeler als idealisierte Gegenentwürfe zum »Spielereigensinn«

Die Bundesliga: Ein Abbild der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«?

3. Der Aufstieg zu einem Teil der Populärkultur

Die Bundesliga vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels (1965–1971)

Politiker und Intellektuelle an der Seitenlinie

»Mehr Demokratie wagen«?

Rekordmeister und Traditionsvereine in Not

Von »konservativen Bayern« und »modernen Fohlen«

Auf dem Weg zur Staatsbundesliga

4. Die dunklen Seiten des Berufsfußballs

Die Bundesliga zwischen Boom und Krise (1971–1978)

Der Bundesligaskandal: Aufdeckung einer lang geübten Praxis

Gewalt in den Stadien

Geschichtspolitiker und »Rudel-Journalisten« am Ball

Die Sehnsucht nach »Spielerpersönlichkeiten« und dem »schönen Spiel«

Entfremdung zwischen Vereinen und Kommunen

5. Aufbruch und Verharrung

Reformen und Reformversuche in der Bundesliga (1978–1985)

Unter Veränderungsdruck

Gelungene Reformen: Bayern München, VfB Stuttgart und Werder Bremen

Gescheiterte Reformversuche: TSV 1860 München, 1. FC Nürnberg und FC Schalke 04

Fußball als Religion?

Frauen und Fußball

6. Vom bürgerlichen Volksschauspiel zum medialen Massenspektakel

Die Bundesliga unter dem Zwang zur Show (1985–1989)

Im Schatten der »Erlebnisgesellschaft«

Subvention und Eigeninitiative

Der Kampf des DFB um Einheit und Ruf

Krawall und Klassenkampf als Teil der Vermarktungsstrategie

Sportjournalismus: Unterhaltung, Hofberichte und kritische Information

7. Patriotismus, Globalisierung und offener Kommerz

Die Bundesliga als weltweite Marke (ab 1989)

Die Rückkehr des Patriotismus

Ausländische Spieler und Rassismus im Fußball

Vom versteckten zum offenen Kommerz

Der Dauerstreit um die Übertragungsrechte

Bosman-Urteil und Spielergehälter

Schlussbetrachtung

Dank

Bibliographie

Vereinsregister

Personenregister

Einleitung

Fußball und Kultur? Als 1963 die Bundesliga ihren Spielbetrieb aufnahm, war dies in den Augen der meisten Bundesbürger ein unversöhnliches Gegensatzpaar. Kultur, dazu zählten Goethe, Schiller und Lessing, deren Dramen schon auf dem Gymnasium gelesen wurden; darunter fielen Beethoven, Bach und Mozart, deren Kompositionen aus den Programmen der großen Bühnen nicht wegzudenken waren; und dazu gehörten Dürer, Rembrandt und Spitzweg, deren Kunstwerke der bildungsbeflissene Deutsche zu kennen hatte. Aber Rahn, Seeler und Overath? Fußball stieß bis weit in die sechziger Jahre hinein in großen Teilen der Bevölkerung auf massive Vorbehalte und stand bei den Laien im wenig schmeichelhaften Ruf, ein Proletensport zu sein. Er galt als ein ordinärer Zeitvertreib, auf den die Bezeichnung »billiges Massenvergnügen«1 am ehesten zuzutreffen schien. Ein halbes Jahrhundert später hingegen sind Nobelpreisträger in Fanschal und Vereinsmütze zu einem gewohnten Anblick auf der Tribüne geworden, Feuilletonisten versuchen, in geistreichen Analysen das Geheimnis des Spiels zu ergründen, und selbst Historiker haben es zum Gegenstand ihrer gelehrten Abhandlungen erhoben. All dies zeugt von einem stark veränderten Blick auf den Sport: Fußball ist in den Rang der Kultur aufgestiegen.2

Allerdings bewegt sich Fußball heutzutage nicht deshalb im einstmals majestätischen Stand der Kultur, weil die genialen Pässe begnadeter Spielmacher in weiten Teilen der Bevölkerung größere Begeisterungsstürme auszulösen vermögen als etwa die genialen Werke begnadeter Literaten. Vielmehr weist dieser Sport besondere Eigenschaften auf, die es in höchstem Maße lohnenswert erscheinen lassen, sich mit ihm unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten näher zu befassen. Im Zuge der intensiven Beschäftigung mit dem Fußball ist zutage getreten, dass er in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Deutungen und Sinnbezügen aufgeladen wurde.3 Anders als lange Zeit angenommen, ist ein Spiel eben nicht nur eine kurzweilige Begegnung zwischen zwei Teams, die nach dem Schlusspfiff dem Vergessen anheimfällt. Gewiss könnte man im Wettkampfsport lediglich eine reine »Produktion von Präsenz« erblicken,4 sofern es gelänge, das Geschehene aus der Welt der Erinnerungen zu verbannen. Doch wie wichtig die Ereignisse auf dem Rasen weit über den Schlusspfiff hinaus geworden sind, veranschaulichen allein schon die vielen farbigen Geschichten, amüsanten Anekdoten und langlebigen Mythen, die sich um phantastische Tore, brutale Fouls und skandalöse Schiedsrichterentscheidungen ranken. Aufgrund der herausragenden Bedeutung, die der Sport im Lauf des 20. Jahrhunderts erobert hat, sind solche Erzählungen, die vielfach zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind, zuverlässige Indikatoren für kulturelle Befindlichkeiten. Mit anderen Worten: Die auf nahezu allen Ebenen geführten Gespräche, Fachsimpeleien und Debatten über Fußball sagen weniger etwas über das Spiel als über die Stimmungen, Bedürfnisse und geistige Verfassung einer Gesellschaft aus. Wenn man diese Welt der Erzählungen, Deutungen und Sinnbezüge eng mit der Ebene der handelnden Akteure und des jeweiligen geschichtlichen Hintergrunds verwebt,5 offenbaren sich die enormen Möglichkeiten: Ein solcher Zugriff macht den Sport zu einem idealen Untersuchungsgegenstand, um historische Wandlungsprozesse von Gesellschaften mit ihren sich kontinuierlich verändernden Normen, Werten und Leitvorstellungen zu ergründen.

Von dieser Warte aus ist es geradezu fahrlässig, dass die Fußballbundesliga über die gängigen Darstellungen mit ihren vielen bunten Bildern und umfangreichen Statistiken hinaus bislang keiner historischen Gesamtbetrachtung unterzogen wurde. Von ihrer Kulturgeschichte sind überraschende und gewinnbringende Erkenntnisse zu erwarten, die für die allgemeinere Geschichte von großer Bedeutung sind. Allein die enormen Wachstumszahlen der Bundesliga müssen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, die sich bislang weitaus größerer Aufmerksamkeit in der Historiographie erfreuten, vor Neid erblassen lassen. Von 1963 bis Ende 2012 lockten die Begegnungen der obersten Spielklasse fast 400 Millionen Zuschauer in die Stadien. Die Menschenmenge, die vor dem Radio oder Fernsehgerät Spieltag für Spieltag den Kampf um Tore und Punkte verfolgte, ist kaum seriös zu beziffern. Die Besucherzahlen in den Arenen hielten sich trotz zahlreicher Krisen und temporärer Abschwünge auf einem hohen Niveau und erreichten jüngst einen neuen Rekord: Lagen sie 1963/64 noch bei rund 24600 pro Spiel, 1977/78 bei 25900 und 1995/96 bei 29100, so stiegen sie 2011/12 auf etwa 45100.6 Mit dem öffentlichen Interesse stürmten auch die Umsätze von einem Hoch zum nächsten. Nahmen die Bundesligisten 1963/64 aus dem Verkauf der Eintrittskarten den offiziellen Angaben zufolge umgerechnet rund 11,2 Millionen Euro ein, waren es 1977/78 fast 46,1 Millionen Euro.7 2010/11 sollen im Zuge der stark gestiegenen Einkünfte aus der Werbung und den Übertragungsrechten gar rund 1,94 Milliarden Euro in die Kassen der Bundesligisten geflossen sein. Ein letzter Gradmesser für die enorme Attraktivität der Spielklasse mag die Mitgliederstatistik des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) als größtes Sammelbecken der Fußballanhänger sein: Registrierte sie 1950 gerade einmal 1,4 Millionen Menschen, waren es 1963 schon mehr als 2,1 Millionen, 1977 knapp 3,9 Millionen, 1995 etwa 5,7 Millionen und 2011 über 6,7 Millionen.

Diese beeindruckenden Zahlen erlauben den Schluss, dass sich die Bundesliga als eine Marke mit unvergleichlichem Erkennungswert fest etabliert hat. Man mag diese rasant gestiegene Anteilnahme, die der profane Kampf um die auch als »Salatschüssel« bezeichnete Meisterschale erfährt, für ein beklagenswertes Ärgernis, für ein trauriges Symptom intellektueller Oberflächlichkeit oder gar für ein untrügliches Zeichen des kulturellen Verfalls halten. Deshalb aber dieses Phänomen zu übergehen, wie es viele Historiker immer noch tun, ist eine leichtfertige Ignoranz von aufschlussreichen Entwicklungen, die mehr Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik werfen als viele der vermeintlich wichtigeren und seriöseren Themen, mit denen sich die Geschichtswissenschaft zu beschäftigen pflegt.

Eine Kulturgeschichte der Bundesliga könnte aus vielen Perspektiven und auf der Grundlage unterschiedlichster Fragestellungen erzählt werden. Die Absicht, die vielfältigen Sinnbezüge im Fußball mit der Ebene derjenigen zu verbinden, die sie bewusst oder unbewusst erzeugten, legt allerdings einen akteurszentrierten Ansatz nahe: Die Hauptdarsteller der Bundesliga – ihre Gedanken, Ziele und Entscheidungen – sind vor dem Hintergrund ihrer sozialen Beziehungsgefüge in den Blick zu nehmen. Doch wer waren diese Protagonisten? Zweifellos gehörten die anfangs 16, später 18 Erstligavereine dazu, die im sportlichen Wettstreit Saison für Saison die Meisterschaft unter sich ausmachten, dann natürlich die vielen gefeierten Ballkünstler, die im Lauf der Jahrzehnte mit ihren umjubelten Aktionen der Liga ihren Stempel aufdrückten, und selbstverständlich der DFB, unter dessen Regie der Spielbetrieb der Eliteliga lange Zeit stand. Die verschiedenen Milieus in der Anhängerschaft dürfen nicht ausgeblendet werden. Als Zuschauer knüpften sie bestimmte Erwartungen an das sportliche Geschehen und waren somit eine der wichtigsten Quellen für neue Erzählungen, Mythen und Sinnbezüge. Nicht minder bedeutsam waren die Medien – Zeitungen, Zeitschriften, Radio, vor allem aber das Fernsehen, das mit der gewaltigen Macht seiner Bilder eine Fülle neuer Deutungsmöglichkeiten hervorbrachte. Politik, Kunst und Wissenschaft sind zu berücksichtigen, weil sie sich mit ihren Anliegen und Ansichten rasch in die Bundesliga einzumischen begannen. Und nicht zuletzt die Wirtschaft, die früh das Potenzial des Fußballs für die Vermarktung ihrer Waren und Dienstleistungen erkannte und daher über das Spiel eigene Botschaften zu vermitteln versuchte.

Diese kurze Auflistung der Hauptakteure, die gewiss weiter aufgefächert werden könnte, lässt bereits erahnen, wie verschlungen und verzweigt die Bundesliga mit all ihren politischen, ökonomischen und sozialen Verzahnungen von Anfang an war.

Zur Entwirrung dieses Geflechts bedarf es der Antwort auf zwei zentrale Fragen. Zunächst geht es darum, die konkreten Deutungsmuster herauszuarbeiten, mit denen der Fußball von verschiedenen Seiten aufgeladen wurde. In diesem Zusammenhang soll festgestellt werden, inwieweit das Spiel, die Vereine und die Kicker zu Objekten kultureller Vorstellungen avancierten und welche Sinnzuschreibungen sie im Lauf der Geschichte erfuhren. Dieser Bereich wird eindrucksvoll offenbaren, dass sich der gesellschaftliche Wandel in der Bundesrepublik auf den Plätzen der Bundesliga und im Umfeld der Stadien außergewöhnlich stark niederschlug.

Die zweite Fragestellung ist etwas komplexer. Sie setzt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem Kulturgut Fußball und den ökonomischen Verwertungsinteressen auseinander, die an allen Ecken und Enden des Spiels zu erkennen waren. Dieses Thema ist besonders fesselnd, weil hierbei heftige Konflikte beobachtet werden können, deren Charakter sich grob mit dem Gegensatz zwischen dem idealistischen Anspruch gemäß der alten Devise »Elf Freunde müsst ihr sein« und dem verlockenden Geräusch klingender Münzen beschreiben lässt, dem sich nur die wenigsten Menschen zu entziehen vermögen. Der Umgang mit Geld in der Bundesliga ist aufschlussreich, weil auf dem weiten Feld der Finanzen besonders anschaulich die Veränderung von Normen, Grundhaltungen und Mentalitäten nachgezeichnet werden kann.

Die Fragestellung drängt sich auch deshalb auf, weil sie geeignet ist, letzte Vorbehalte in Teilen der Forschung gegenüber der Kulturgeschichte auszuräumen. Hans-Ulrich Wehler trug die Bedenken jüngst im fünften Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte noch einmal vor, als er behauptete, dass die Kulturgeschichte nicht die »Synthesefähigkeit« gewonnen habe, welche die Gesellschaftsgeschichte für sich in Anspruch nehmen könne. Er forderte daher von den Kulturhistorikern, die Probleme der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in ihre Arbeit mit einzubeziehen.8 In der Tat ist festzustellen, dass die allermeisten sporthistorischen Arbeiten – gleichgültig ob sie sich dem älteren gesellschaftsgeschichtlichen oder einem dezidiert kulturwissenschaftlichen Ansatz verpflichtet fühlen – volks- und betriebswirtschaftliche Aspekte ignorieren, sodass sie bisweilen gravierende Fehlinterpretationen enthalten.9 Die Studien, die in den letzten beiden Jahrzehnten zur Geschichte des modernen Sports entstanden sind, haben seine ökonomische Dimension fast vollständig ausgeklammert,10 obwohl sie offenkundig eine, häufig sogar die zentrale Rolle spielte. Zweifellos gäbe es den Berufsfußball in seiner heutigen Form nicht ohne den starken Antrieb durch das Geld und das Geschäft. Sie setzten gewaltige innovative Kräfte zur ständigen Veränderung seines Erscheinungsbildes frei und schufen somit wesentliche Voraussetzungen dafür, dass sich die Öffentlichkeit in vielfältiger Form mit dem runden Leder auseinandersetzte. Die herausragende Bedeutung des Kommerzes kann des Weiteren auch daran erkannt werden, dass sich die Bedeutungszuschreibungen, die das Spiel erfuhr, im Lauf der Jahrzehnte ständig veränderten, während die monetären Begehrlichkeiten, die der publikumswirksame Kampf um Tore und Punkte weckte, eine unübersehbare Konstante bildeten.

Anstatt sich also diesem zentralen Wirtschaftsaspekt zuzuwenden, beschränken sich die bisherigen Arbeiten in der Regel auf die Beschreibung von Weltanschauungen und Identitäten, die im Sport zum Ausdruck kommen. Selbst neuere Projekte auf diesem Gebiet, die einen kulturwissenschaftlichen Anspruch erheben, bestätigen Wehlers Urteil, weil sie einen extrem limitierten Ansatz zu einer angeblich »wesentlich von Rassismus und Kolonialismus« geprägten »Körpergeschichte« verfolgen.11 Wenngleich auch solche Aspekte wichtig sind und in diesem Buch entsprechend behandelt werden: Bei einer methodisch-thematischen Verengung auf altbackene Ideologiekritik entgehen dem Betrachter zwangsläufig zentrale Gründe für die erstaunliche Dynamik, mit der sich der Sport im Lauf des 20. Jahrhunderts zu einem Kulturphänomen ersten Ranges entwickelte.

Es ist müßig, über die Gründe für das merkwürdige Desinteresse der Historiographie an den ökonomischen Hintergründen des Sports zu spekulieren. Wahrscheinlich liegt es vornehmlich daran, dass die Sportgeschichtsschreibung vergleichsweise jung ist. Daher neigt sie dazu, einige vor Jahrzehnten begangene Fehler ihres Mutterfaches zu wiederholen und – wie beispielsweise die immer wieder aufflammende Debatte um den deutschen Sportwissenschaftler und Funktionär Carl Diem offenbart12 – mit überholten Denkschablonen zu operieren. Dabei sind solche unergiebigen Kontroversen schlagende Belege dafür, wie schädlich die mit einschüchternden Wortungetümen, imposanten Theorien und akademischem Fanatismus geführten Kämpfe zwischen den historischen Schulen sind. Forschung, sofern man sie als einen aufrichtigen Versuch zur Annäherung an eine vielschichtige Wirklichkeit versteht, setzt die Berücksichtigung unterschiedlichster Denkrichtungen voraus. Der Historiker Paul Nolte betonte mit Recht in einem 2002 veröffentlichten Aufsatz, dass die großen Werke selbst der strengsten Vertreter bestimmter historischer Ansätze in einem beträchtlichen Ausmaß Anregungen und Erzählmuster anderer Schulen enthalten.13

Man wird also einem Thema in der Regel nur dann gerecht, wenn seine unterschiedlichen Facetten zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengefügt werden. Diese Erkenntnis scheint sich zumindest in der Gesellschafts- und Kulturgeschichte allmählich durchzusetzen. Es wächst die Einsicht, dass es unsinnig wäre, sich weiterhin verbissen voneinander abzugrenzen: Zu offenkundig sind die zahlreichen Berührungspunkte.14 Sogar die Wirtschaftswissenschaften und die Wirtschaftsgeschichte, die lange Zeit einen vornehmlich quantitativen Ansatz favorisierten, beginnen nach einigen Irrwegen die Unzulänglichkeit ihrer einseitigen Ausrichtung einzugestehen und neugierig auf die Kulturwissenschaften zu blicken.15 Dieses Buch versteht sich daher auch als einen Beitrag, die zu Recht beklagte »Entökonomisierung der neueren Kulturgeschichte« bei gleichzeitiger »Enthistorisierung der Ökonomie«16 zu beenden sowie die oft blind machenden Barrieren zwischen einzelnen Disziplinen zu überwinden.

Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so ist die tatsächliche methodische Scheidelinie zwischen den Historikern weniger in dem verbalen Bekenntnis zu irgendeiner Schule oder zu einem exklusiven theoretischen Ansatz zu suchen. Vielmehr ist sie in der Bereitschaft zu finden, mit den Quellen zu arbeiten und sie mit Blick auf die Fragestellungen möglichst objektiv auszuwerten. Um dem »Vetorecht der Quellen« (Reinhart Koselleck) auch bei diesem Thema Geltung zu verschaffen, steht eine ungeheure Fülle unterschiedlichster Mittel zur Verfügung: Geschäftsschriftgut zahlreicher Bundesligavereine ebenso wie Nachlässe von Persönlichkeiten aus dem Bereich des Sports, Presseberichte, Fernsehsendungen und fußballspezifische Publikationen.

Insbesondere was die Frage nach den im Fußball eingelagerten Sinnbezügen anbelangt, ist das Angebot an aussagekräftigen Dokumenten reichlich. Zeitungen, Fachzeitschriften, Fanmagazine, alte Sendungen der Sportschau, des aktuellen sportstudios oder von ran bilden ein schier unerschöpfliches Reservoir. Vor allem die überregionalen Tages- und Wochenzeitungen wie Der Spiegel, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt oder Süddeutsche Zeitung beschäftigten sich unaufhörlich mit der Bundesliga. Andere Organe wie Bild oder Kicker, die von Fußballfans besonders hoch geschätzt werden, waren weniger aufschlussreich, weil sie in ihrer Berichterstattung eine auffällig »sportliche« Ausrichtung pflegten und soziokulturelle Hintergründe im Vergleich zu den anderen Publikationen seltener beleuchteten. Einzelne Ausgaben der Lokalpresse wie beispielsweise der Rheinischen Post, der Stuttgarter Zeitung oder der Nürnberger Zeitung eigneten sich zur Ergänzung, weil sie nicht nur wertvolle Informationen zu Vorgängen innerhalb der in ihrem Verbreitungsgebiet beheimateten Vereine, sondern auch Leserbriefe enthielten. Der Berücksichtigung von Volkes Stimme diente darüber hinaus die Auswertung von Umfragen, die Meinungsforschungsinstitute in den vergangenen Jahrzehnten zum Thema Fußball durchführten.

Die Erschließung von Quellen über die handlungsleitenden Motive des DFB und der Bundesligavereine erforderte dagegen größeren Rechercheaufwand. Beim Verband und bei einigen Lizenzspielerabteilungen war eine gewisse Scheu zu verzeichnen, einen Einblick in ihre betriebswirtschaftlichen Entscheidungsprozesse zu gewähren, selbst wenn sie mehrere Jahrzehnte zurücklagen. Hinzu kam die Problematik, dass viele Clubs entweder kein professionell geführtes Archiv unterhalten oder glaubhaft versichern können, entsprechende Unterlagen nicht mehr zu besitzen. Dass es in dieser Hinsicht bemerkenswerte Ausnahmen gibt, die ihre Schätze ohne größere Einschränkungen für die Wissenschaft freigegeben haben, hat verschiedene Gründe. Die Existenz einiger Vereinsarchive ist – wofür unter anderem der 1. FC Köln und Eintracht Frankfurt stehen – vornehmlich dem Idealismus von Fans zu verdanken, die sich frühzeitig um den Erhalt von Geschäftskorrespondenzen kümmerten.17 In anderen Fällen, etwa bei den beiden Nordclubs Hamburger SV und SV Werder Bremen, ist die Bereitschaft, ihre Bestände der Forschung weitgehend zugänglich zu machen, Ausweis einer ausgeprägten Seriosität und Professionalität der Geschäftsführung. Dritte wiederum, für die stellvertretend der FC Schalke 04 angeführt werden kann, sind in ihrer Transparenz von dem Bestreben motiviert, Distanz zu Sünden der Vergangenheit zu signalisieren. Allerdings darf man sich selbst bei den genannten Clubs nicht der Illusion hingeben, auf eine vollständige Überlieferung des Schrifttums zurückgreifen zu können: Zu offenkundig sind die vielen Lücken, die dort – aus welchen Gründen auch immer – bestehen. Am umfangreichsten sind noch die Bestände von Rot-Weiss Essen, die im Stadtarchiv Essen verwahrt werden.

Die Erfahrung, dass die vielen Bruchstellen durch andere Provenienzen zu einem großen Teil gefüllt werden können, bestätigte sich einmal mehr. In diversen Bundes-, Landes- und Stadtarchiven ermittelten die zuständigen Archivare eine schier unüberschaubare Menge an Akten, die aufgrund des kurzen zeitlichen Abstands zum historischen Gegenstand bisweilen in den einschlägigen Findmitteln nicht verzeichnet waren und für die zunächst Entsperrungsanträge gestellt werden mussten. Gerade wegen der Reichhaltigkeit dieser Quellen war eine gewisse Selbstbeschränkung unabdingbar. Sie bestand darin, sich auf Akten zu den Clubs zu konzentrieren, die in der Bundesliga tiefe Spuren hinterlassen haben. Dass dieses Kriterium beispielsweise auf Borussia Mönchengladbach, den FC Bayern München oder den VfB Stuttgart eher zutrifft als etwa auf den FC 08 Homburg, die Tennis Borussia Berlin oder den Wuppertaler SV, deren Gastspiele im Fußballoberhaus äußerst kurz waren, bedarf keiner ausführlicheren Erläuterung.

Ohnehin strebt dieses Buch in seiner Mischung aus chronologischer und thematischer Erzählweise keine Darstellung im enzyklopädischen Sinne an. Insbesondere für die Zeit nach 1989 wäre dies schlichtweg unmöglich, weil man sich hier zu stark der Gegenwart nähert, die sich einer ebenso umfassenden wie unbefangenen historischen Betrachtung entzieht. Es galt daher, sich gerade im letzten Kapitel mit der Schilderung von Tendenzen zu begnügen. Auch in den anderen Kapiteln geht es nicht darum, umgestürzte Torpfosten, kuriose Phantomtreffer oder all die anderen schillernden Ereignisse noch einmal in Erinnerung zu rufen – dies vermögen TV-Nostalgiesendungen viel besser zu bewirken als Hunderte bedruckter Seiten. Vielmehr soll der Versuch, die Bundesligahistorie mit kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Leitfragen zu verknüpfen, an die neuere Forschung zur Modernisierung und Verwestlichung der Bundesrepublik anschließen, die sich intensiv mit den sechziger und siebziger Jahren beschäftigt hat. Wie bereits angedeutet, blieb das Thema Sport dabei nahezu völlig ausgespart.18 Während die deutsche Fußballgeschichte bis 1945 inzwischen relativ gut aus verschiedensten Blickwinkeln untersucht worden ist,19 herrscht für den Zeitraum nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Mangel an historisch-systematisch ausgerichteten Studien. Die Historiographie hat sich in letzter Zeit zwar dem »Wunder von Bern«, dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft von 1954 in der Schweiz, zugewandt und dabei unter Beweis gestellt, wie fruchtbar die Übertragung bewährter Fragestellungen des Mutterfachs auf das Gebiet des Sports sein kann.20 In der Regel blieb jedoch die historiographische Beschäftigung mit der Bundesliga auf einzelne Aufsätze beschränkt.21

Dafür kann sich dieses Buch auf eine Vielzahl von Verbands- und Vereinschroniken stützen, die für Fans geschrieben wurden und als Einstieg in die jeweilige Geschichte bisweilen unentbehrliche Hilfsmittel sind.22 Nicht minder nützlich ist eine beachtliche Zahl von Arbeiten aus anderen Disziplinen. So ist in den letzten Jahren zum Thema »Fußball in Deutschland« eine Fülle von sportwissenschaftlichen, sportsoziologischen, politologischen, kommunikationswissenschaftlichen, juristischen und betriebswirtschaftlichen Studien entstanden, welche die Bundesliga zumindest am Rande behandeln.23

Im Zuge der Gesamtdarstellung wird sich erweisen, wie fragwürdig die auf vielen Feldern vorgetragene Behauptung von der Individualisierung der Gesellschaft ist.24 Die Geschichte der Bundesliga verdeutlicht vielmehr, wie sich mit der Auflösung traditioneller Milieus im Fußball neue Formen von Gemeinschaft und neue Identitäten herausbildeten, die sich zu einem großen Teil aus idealisierenden Vorstellungen von diesem Sport speisten. Darüber hinaus werden die folgenden Kapitel offenbaren, wie diese Gemeinschafts- und Identifikationsbedürfnisse vieler Zuschauer im Lauf der Jahrzehnte von verschiedensten Interessengruppen aus ökonomischen und politischen Motiven gefördert oder bekämpft wurden. Dieser ständige Versuch, die kollektiven Emotionen zur Verwirklichung von Partikularbelangen auszuschlachten oder in bestimmte Bahnen zu lenken, ist eine wesentliche Ursache für die erstaunliche gesellschaftliche Bedeutung der Bundesliga und des Kulturphänomens Fußball. Sie resultiert nicht zuletzt aus der Entwicklung dieses Sports zu einem Ersatzspielfeld, auf dem in einer für die Massen leicht zugänglichen Form zentrale politische, wirtschaftliche und soziale Konflikte ausgefochten werden konnten. Vor diesem Hintergrund kann dieses Buch nicht nur zeigen, dass es selbst in einer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft noch viele Mythen gibt. Durch eine möglichst quellennahe Darstellung soll auch dargelegt werden, wie solche Legenden zur Steuerung der gesellschaftlichen Konflikte teilweise gezielt in die Welt gesetzt wurden – und warum viele Menschen bisweilen gegen jede Vernunft an ihnen festhielten.

1 Vgl. zu diesem Begriff u.a. Schwarz: Wochenschau, S. 52ff.

2 Vgl. dazu Herzog: Von der »Fußlümmelei«, S. 12ff. Zur Entwicklung des Kulturbegriffes allgemein vgl. u.a. Hagenbüchle: Kultur im Wandel, S. 12; Eagleton: Was ist Kultur?, S. 7; Götze: Die Leitbegriffe Kultur und Interkulturalität, S. 37f.; Scheytt: Kulturstaat Deutschland, S. 24f.; Hummel/Berger: Die volkswirtschaftliche Bedeutung, S. 21f.; Scholz: Verständigung als Ziel, S. 15.

3 Vgl. hierzu und zum Folgenden Pyta: German football, S. 1ff.; ders.: Sportgeschichte aus der Sicht des Allgemeinhistorikers, S. 9ff.

4 Gumbrecht: Die Schönheit des Mannschaftssports, S. 227.

5 Vgl. dazu Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft, S. 63.

6 Der DFB betont bei dieser Statistik, dass ab 2007/08 die absoluten Zuschauerzahlen ermittelt wurden, während zuvor ausschließlich die Kaufkarten berücksichtigt worden waren (vgl. http://www.dfb.de/index.php?id=82912, abgerufen am 23. November 2012).

7 Vgl. DFB (Hrsg.): 100 Jahre DFB, S. 396.

8 Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 362.

9 Vgl. hierzu auch die erhellenden Bemerkungen von Eggers: Fußball-Volksgemeinschaft, S. 290ff., und Herzog: Fußball-Volksgemeinschaft, S. 156ff., zu der Studie von Oswald: »Fußball-Volksgemeinschaft«.

10 So ist es bezeichnend, dass das ansonsten überaus informative Werk von Krüger/Langenfeld (Hrsg.): Handbuch Sportgeschichte diesen Aspekt nicht behandelt. Das Handbuch von Marschik/Müllner/Penz/Spitaler (Hrsg.): Sport Studies enthält mit Manzenreiter: Sport im Konsumkapitalismus, S. 112ff., und Hödl: Zur globalen Ökonomie des Sports, S. 126ff., zwar zwei Aufsätze zum Thema, diese sind aber insofern wenig hilfreich, als sie ihre auf marxistischen Theorien basierenden Thesen ohne Quellenarbeit an einem konkreten historischen Gegenstand präsentieren. Ähnlich trist ist der Zustand der sporthistorischen Literatur aus dem angelsächsischen Raum, worauf jüngst Szymanski: Economists and Sport History, S. 76f., mit Recht verwiesen hat. Als dringender Appell zur stärkeren Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte kann der Aufsatz von Court: Die Finanzierung der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, S. 9ff., verstanden werden.

11 Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz: Sportgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 27. Februar 2012 (https://docupedia.de/zg/Sportgeschichte?oldid=81632, abgerufen am 30. Juni 2012). Vgl. dazu auch die treffenden Bemerkungen von Christian Becker: Marginalisierung der Sportgeschichte? Eine Disziplin zwischen Entakademisierung und wachsender öffentlicher Wertschätzung, in: Deutschland Archiv Online 5/2012 (http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/135222/marginalisierung-der-sportgeschichte?p=all, abgerufen am 14. Dezember 2012).

12 Aus der Vielzahl an Publikationen zur Diem-Kontroverse, in der in den letzten Jahren aufgrund der geschichtspolitischen Motive und der persönlichen Ressentiments zwischen den Experten ein gepflegter wissenschaftlicher Diskurs kaum noch zustande kam, seien lediglich als Querschnitt der verschiedenen Positionen genannt Krüger: Zur Debatte um Carl Diem, S. 201ff., Güldenpfennig: Darf man in Israel Richard Wagner aufführen?, S. 241ff., Benz: Einleitung: Der Streit um Carl Diem, S. 197ff., und Eichberg: Biographie und Sozialgeschichte, S. 335ff.

13 Nolte: Darstellungsweisen deutscher Geschichte, S. 236ff.

14 Vgl. hierzu auch Lorenz: Wozu noch Theorie der Geschichte? S. 136ff.; Jarausch: Kulturgeschichte nach der Postmoderne, S. 22ff. Mit Blick auf die Sportgeschichte vgl. Pyta: Geschichtswissenschaft und Sport, S. 389.

15 Vgl. dazu u.a. Berghoff/Vogel: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 9ff.; Siegenthaler: Theorienvielfalt, S. 161ff.; Grabas/Berghoff/Spoerer/Boyer: Kultur in der Wirtschaftsgeschichte, S. 173ff.

16 Berghoff/Vogel: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 11.

17 So befindet sich das Archiv vom 1. FC Köln gleichsam in Privathand, nämlich bei Dirk Unschuld, der unter großen Mühen Unterlagen aus der Bundesliga-Frühzeit des Vereins sammelte und damit vor der Vernichtung bewahrte. Einen aufschlussreichen Einblick in die verbreiteten Schwierigkeiten, die verstreuten Quellen der Clubs – sofern entsprechende Dokumente überhaupt noch existieren – aufzuspüren, zusammenzutragen und zu sichern, vermittelt am Beispiel von Eintracht Frankfurt Thoma: Ein Museum, S. 327ff.

18 In der großen Monographie von Schildt: Moderne Zeiten tauchen sportliche Aspekte nur am Rande auf. In den von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte herausgegebenen wichtigen Sammelbänden – vgl. Schildt/Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau; Schildt u.a. (Hrsg.): Dynamische Zeiten – widmet sich kein einziger Beitrag dieser Thematik. Ebenso verhält es sich mit den zeitlich meist weiter gefassten Forschungen im Umfeld des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte – Überblick in Frese u.a.: Gesellschaft in Westfalen, S. 44ff.; vgl. auch Frese/Prinz (Hrsg.): Politische Zäsuren; Frese/Paulus/Teppe (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch – sowie mit diversen Arbeiten zur »Amerikanisierung« Deutschlands im 20. Jahrhundert; vgl. hierzu vor allem den Forschungsüberblick von Gassert: Amerikanismus, S. 531ff. Unter den von Anselm Doering-Manteuffel angeregten, stärker politikgeschichtlich angelegten Studien zur »Westernization« der Bundesrepublik (zusammenfassend Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?) finden sich ebenfalls keine sportbezogenen Themen.

19 Vgl. u.a. Gehrmann: Fußball, Vereine, Politik; Eisenberg: »English sports« und deutsche Bürger; Eggers: Fußball in der Weimarer Republik; Havemann: Fußball unterm Hakenkreuz; Oswald: »Fußball-Volksgemeinschaft«; Herzog (Hrsg.): Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus; Peiffer/Schulze-Marmeling (Hrsg.): Hakenkreuz und rundes Leder.

20 Vgl. u.a. Frei: Finale Grande; Brüggemeier: Zurück auf den Platz; Raithel: Fußballweltmeisterschaft 1954; aus zeitgeschichtlich-politologischer Perspektive Heinrich: 3:2 für Deutschland.

21 Hervorzuheben sind etwa der Beitrag von Gehrmann: Ein Schritt nach Europa, S. 7ff., Knoch: Gemeinschaft auf Zeit, S. 117ff., sowie mehrere Artikel im Sammelband von Pyta (Hrsg.): Der lange Weg zur Bundesliga.

22 Genannt seien an dieser Stelle der Aufsatzband vom DFB (Hrsg.): 100 Jahre DFB; Schulze-Marmeling: Die Bayern; Unschuld/Hardt: Im Zeichen des Geißbocks.

23 Obgleich ihr Blick hauptsächlich auf die unmittelbare Gegenwart gerichtet ist, sind sie partiell für den im Rahmen des Buches zu behandelnden Zeitrahmen von Interesse. Welche Werke im Einzelnen besonders nützlich waren, kann anhand der weiteren Fußnoten nachvollzogen werden.

24 Vgl. u.a. Junge: Individualisierung, S. 9; Raufer: Die legitime Demokratie, S. 155f.; Klüver: Werbesprache, S. 44; Seibel: Eigenes Leben?, S. 117ff. Vgl. dagegen Peters: Integration; Wagner: Soziologie der Moderne; Schulze: Die Erlebnisgesellschaft.

1. Fußball zwischen Tradition und Moderne

Der lange Weg zur Bundesliga

Gemeinschaft, Heimat und Identität

Die enorme Popularität, die der Fußball genießt, lässt bisweilen in Vergessenheit geraten, dass sein Aufstieg zur beliebtesten Sportart steinig war. Groß waren die Vorbehalte in Teilen der deutschen Gesellschaft, als dieses neumodische Spiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus England herüberkam und die ersten Anhänger in Großstädten wie Berlin, München oder Karlsruhe in seinen Bann zu ziehen begann. Im Kaiserreich war das Turnen die bestimmende Form der Bewegungskultur gewesen. Ursprünglich selbst als Hort der subversiven studentischen Burschenschaften vom preußischen Staatsapparat mit Argusaugen beobachtet, hatte es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine staatstragende Rolle erobert. Durch die Betonung ihrer nationalen Haltung und des Dienstes, den sie dem Militär durch die Stärkung physischer Eigenschaften leisteten, war es den Turnern gelungen, ein hohes Maß an staatlicher Förderung und gesellschaftlicher Akzeptanz zu erreichen. So konnte sich die 1868 gegründete Deutsche Turnerschaft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst die Grenze von einer Million Mitgliedern durchbrochen hatte, zu einer der wichtigsten Sozialisationsinstanzen des deutschen Militarismus entwickeln.25

Die Turner griffen den Fußballsport mit einer einfachen Strategie an, als sie bemerkten, dass er sich kontinuierlich wachsender Beliebtheit erfreute und ihnen den Rang abzulaufen drohte. Ihre bisweilen agitatorisch formulierten Pamphlete verfolgten das Ziel, den unkonventionellen Zeitvertreib zu diskreditieren. Sie schrieben ihm Eigenschaften zu, die eine Gefahr für die gesellschaftlichen Normen darzustellen schienen. Der Fußballsport sei hässlich, neige zu emotionalen Ausschweifungen und Undiszipliniertheiten, berge große Verletzungsrisiken in sich, störe aufgrund der kurzen Hosen der Spieler das sittliche Empfinden, fördere wegen seines ausgeprägten Wettkampfcharakters die Gewinnsucht und nähre den Materialismus.26 Der schlimmste Vorwurf aber, den man in der damaligen Zeit erheben konnte, war das Fehlen einer vaterländischen Gesinnung. Daher nahmen die Feinde des Fußballs vor allem dessen englische Herkunft und die damit verbundene Verbreitung englischer Begriffe ins Visier. Die Verunglimpfung des Spiels als »englische Krankheit«27 wog umso schwerer, als ihm damit nicht nur der Makel des fehlenden deutschen Charakters, sondern auch der Sympathie für England anhaftete, mit dem sich das Wilhelminische Reich im kolonialen Wettlauf um den »Platz an der Sonne« befand.

Um ihrer neuen Leidenschaft weiter frönen zu können, war es für die wachsende Schar der Fußballanhänger in Deutschland in jenen Jahren von großer Bedeutung, dass sich unter ihnen ein relativ hoher Anteil an Männern von Bildung befand. Die ersten Vereinsgründungen in diesem Sport waren auf die Initiative von Juristen, Ärzten, Sprachlehrern, Journalisten, Universitätsprofessoren, höheren Verwaltungsbeamten, Offizieren, Architekten, Ingenieuren, Schriftstellern und Künstlern zurückgegangen,28 die zumeist die Absicht solcher Angriffe zu durchschauen und verbal zu parieren vermochten. Sie erkannten rasch, dass es nicht genügen würde, simple Rechtfertigungen für ihr anstößiges Hobby anzuführen: etwa die grenzenlose Freude, die sie verspürten, wenn sie auf dem freien Feld bei frischer Luft dem Ball nachjagten, oder die atemlose Spannung, die sie empfanden, wenn sie mit ihrer Mannschaft um den Ausgang der Partie mitfieberten. Sie mussten ihrem Spiel einen höheren Sinn verleihen, der weit über den profanen Zweck des Privatvergnügens hinausreichte. Die erfolgreiche Aneignung von gesellschaftlichen Werten, denen sich das simple Spiel auf dem Feld verschreiben sollte, war auch vonnöten, um an die Fleischtöpfe staatlicher Förderung zu gelangen. In den Anfangsjahren des Fußballs in Deutschland fehlte es häufig an den elementarsten Dingen, vor allem an einer ausreichenden Zahl von Plätzen, die für die weitere Ausbreitung dieses Sports erforderlich waren. Viele Pioniere des runden Leders zogen daraus den Schluss, dass es die beste Taktik sei, für ihr Spiel jene Leitvorstellungen zu übernehmen, die der Staat propagierte und die Mehrheitsgesellschaft teilte. Dies fiel ihnen umso leichter, als sie sich dabei nicht sonderlich zu verstellen brauchten: Die meisten fühlten sich ohnehin der Staatsräson verpflichtet.

Dies hatte zur Folge, dass der Fußballsport entsprechend dem vorherrschenden Geist im Wilhelminischen Kaiserreich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts häufig ein militaristisches und nationalistisches Gesicht zeigte. Mit pädagogischer Pedanterie begaben sich die Vordenker der Fußballbewegung daran, das vermeintlich »Undeutsche« aus diesem Spiel zu entfernen. Ähnlich wie der Braunschweiger Pädagoge Konrad Koch verstanden sie darunter zunächst die Verbannung aller Anglizismen: »So ist es als wenig geschmackvoll zu verurteilen, wenn Deutsche z.B. die Ausdrücke Goal und Hands anwenden statt der entsprechenden deutschen und zum Schlusse ein Hip, Hip, Hurra mit englischer Aussprache rufen.«29 Man hörte es nicht gern, wenn »unreife Knaben und Jünglinge« auf den »Spielplätzen ein widerwärtiges Kauterwelsch« sprachen, »das unsrem köstlichen Spiele in den Augen echt vaterländisch gesinnter Männer« zum Nachteil gereiche.30 Folglich drängten die Wegbereiter des neuen Sports darauf, »dass die Kunstausdrücke im Spiele gut deutsch sein sollten«. Gleichzeitig dichteten sie dem Fußball die Fähigkeit an, soldatische Tugenden zu stärken, damit sich seine Anhänger auch in dieser Hinsicht nicht vor den Turnern zu schämen brauchten. Plötzlich hieß es, dass er ein »Stahlbad für Leib und Seele« sei. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurden Parallelen zwischen dem Kampf auf dem Spiel- und dem auf dem Schlachtfeld gezogen. In einer Festschrift des Westdeutschen Spielverbands aus dem Jahr 1908 hieß es: »Ein gutes Kampfspiel stellt hohe Anforderungen an gewecktes und schlagfertiges Wesen: Umsicht und Mut, Geistesgegenwart und schnelle Auffassungsgabe werden stetig geübt und gesteigert. Wie zwei gerüstete Heere ziehen die Spielparteien auf dem Spielfeld gegeneinander zum Angriff und Verteidigung [sic]. Ein jeder hat den Platz, auf welchen er gestellt ist, mit dem Aufgebot aller körperlichen und geistigen Mittel und Kräfte zum Vorteil seiner Partei auszufüllen und alles zu tun, um seinen Leuten, seiner Farbe den Sieg zu sichern.«31 Entsprechend betrachtete es der 1900 in Leipzig gegründete DFB als seine Pflicht, »durch die Pflege des Fußballspiels in der frischen freien Luft die Gesundheit unseres Volkes und damit seine Wehrkraft im besten Sinne des Wortes« zu heben.32 Der Fußball hatte der Nation zu dienen und zur »Wiedergeburt unseres Volkes« beizutragen, indem er die »physische Volkskraft« steigerte.33

Der Erfolg dieser Aneignung wilhelminischer Leitvorstellungen war beachtlich. Trotz der erheblichen Widerstände, die ihm die etablierten Turner entgegensetzten, gelang es dem Fußball, gesellschaftlich Fuß zu fassen. Zwar blieb er an vielen Schulen des Kaiserreichs verboten, aber auf den Schiffen der Hochseeflotte, bei der Schiffsjungendivision, Torpedodivision, Werftdivision und auf der Schiffsartillerieschule war er schon vor dem Ersten Weltkrieg in den Ausbildungsplan aufgenommen worden. Das preußische Militär entwickelte sich zu einem der wichtigsten Multiplikatoren des jungen Sports, indem es alte Exerzierplätze als Spielflächen zur Verfügung stellte. Als der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn im Deutschen Fußball-Jahrbuch von 1913 sogar ein Grußwort an die Leser richtete,34 hatte sich endgültig eine Prophezeiung bewahrheitet, die der DFB drei Jahre zuvor mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein gewagt hatte: Der Fußball »befindet sich auch hier auf dem Marsche, und nichts wird seinen Weg aufhalten«.35

Die Anfeindungen, denen sich die Vorreiter ausgesetzt sahen, und die Strategie, mit der sie ihnen erfolgreich begegneten, führten früh die Neigung vor Augen, diesen Sport partout nicht als das auffassen zu können, was er im eigentlichen Kern bis heute geblieben ist: ein simples Spiel, bei dem zwei Mannschaften versuchen, unter Einhaltung bestimmter Regeln das runde Leder ins gegnerische Tor zu bugsieren. Gerade wegen seiner rasant wachsenden Beliebtheit konnte es nicht ausbleiben, dass der Fußball die Aufmerksamkeit von Personen und gesellschaftlichen Kreisen auf sich zog, die mit ihm die unterschiedlichsten Vorstellungen und Ideen verbanden. Die Gründe für diese wechselnden Sinnzuschreibungen waren vielfältig und ergaben sich zumeist aus der subjektiven Wahrnehmung und persönlichen Interessen. Wie in der Auseinandersetzung zwischen Turnen und Fußball stand zumeist das gewöhnliche Ringen um Macht und Einfluss im Vordergrund. Dabei spielten unterschiedliche politische Weltanschauungen hinein, das Bestreben, gesellschaftliche Normen aufzuweichen oder zu fundieren, ökonomische Hintergedanken oder die aufrichtige Suche nach der letzten Wahrheit, die schon bald mancher Philosoph in dem Geschehen auf dem Rasen zu finden glaubte.

Dieser Trend, den Fußball mit bestimmten Vorstellungen aufzuladen, setzte sich in dem Maße fort, wie er neue Anhänger gewann und zu einer starken Bewegung wuchs. Spätestens in der Zeit der Weimarer Republik, als der DFB die Schwelle von einer Million Mitgliedern überschritt, war jedem aufmerksamen Beobachter klar geworden, diese machtvolle Erscheinung, dieses offenkundige Kulturphänomen,36 zur Kenntnis nehmen zu müssen. Dies galt umso mehr, als der Fußball seit der Kaiserzeit den Kommerz anzog. Er bewegte also nicht nur die Menschen, sondern auch das Geld. Hinzu traten die Massenmedien, zunächst Zeitungen und Fachzeitschriften, später das Radio und das Fernsehen, die eigene Interessen verfolgten, andere Erwartungen an ihn stellten und mit ihrer Art der Berichterstattung neue Deutungen des profanen Spiels produzierten. Gerade weil er rasch zu einem bisweilen unübersichtlichen Aktionsfeld verschiedenster Kreise und Gruppierungen avancierte, war es selbst für denjenigen, der in diesem Sport nie mehr als eine blödsinnige Treterei zwischen 22 merkwürdig umherlaufenden Personen zu erkennen vermochte, kaum möglich, ihn snobistisch zu ignorieren: Es bestand die Gefahr, ein Terrain preiszugeben, auf dem es um politische Deutungsmacht, gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten und materiellen Wohlstand ging. So versuchten zunehmend Politiker verschiedenster Couleur, Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen sowie Künstler jeglicher Denkrichtung, sich bei Begegnungen in den Vordergrund zu drängen – selbst wenn sie die Kickerei im Innersten zutiefst verabscheuten.

Es wäre verfehlt, den Siegeszug des Fußballs in Deutschland allein mit seiner Eigenschaft zu erklären, dem Publikum ein weites Feld für vielfältige Interpretationen und Sinnbezüge anzubieten. Nüchtern betrachtet, ließe sich vieles von dem, was in ihn seit dem späten 19. Jahrhundert hineinprojiziert wurde, auch über andere Mannschaftssportarten wie Handball, Hockey oder Tauziehen sagen. Und dennoch vermochte keine dieser Disziplinen nur annähernd jenen Status zu erreichen. Daher erscheint der Umkehrschluss plausibler: Aufgrund seiner großen Faszinationskraft, aufgrund seiner Fähigkeit, vielen Menschen bei der aktiven Ausübung oder beim passiven Zuschauen wie keine andere Sportart Freude zu bereiten, regte er dazu an, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Erst dadurch konnte er diese Menge an verschiedenen Deutungsmustern erzeugen, erst dadurch entwickelte er sich wie kaum ein anderes Phänomen zu einem Seismographen für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Von dieser Warte aus ist es nicht erstaunlich, dass die vorherrschenden Sinnzuschreibungen, die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr, den politischen Entwicklungen in Deutschland hinterherliefen, im Positiven wie im Negativen.37 Wurde er bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vornehmlich als Disziplin verstanden, die dem deutschen Vaterland und seinem militaristischen Geist zu dienen hatte, waren in der Zeit der Weimarer Republik vor allem Töne zu vernehmen, die den Völker verbindenden Charakter des Spiels in den Vordergrund stellten. Nach 1933 hingegen wurden all die hehren Ziele rasch über Bord geworfen, um den Wettkampf mit dem runden Leder als Vehikel für die Verbreitung nationalsozialistischer Ideen zu missbrauchen.

Indes gab es im Fußball Sinnzuschreibungen, die alle historischen Zäsuren überdauerten und folglich auf den Plätzen der jungen Bundesrepublik fortlebten. An erster Stelle stand dabei der Gedanke vom gemeinschaftsstiftenden Spiel. Große Denker erkannten schon früh die Neigung des Individuums, bei erlebnisstarken Ereignissen die eigene Persönlichkeit aufzugeben und mit anderen zu einer homogenen Gruppe zu verschmelzen. Sobald »irgend etwas Objektives« geschehe, so schrieb Arthur Schopenhauer um 1850, »sei es eine Gefahr oder eine Hoffnung oder eine Nachricht oder ein seltener Anblick, ein Schauspiel, eine Musik oder was sonst auf alle zugleich und gleichzeitig einwirkt«, werde »eine zahlreiche Gesellschaft zu lebhafter gegenseitiger Mitteilung und aufrichtiger Teilnahme unter allgemeinem Behagen erregt«.38 Indem »es alle Privatinteressen überwältigt«, erzeuge es eine »universelle Einheit der Stimmung« und eine »gesellige Gemeinschaft«. Der Fußball als Faszinosum, das schnell eine magische Anziehungskraft auf Millionen von Menschen in Deutschland ausübte, war offenkundig solch ein Ort von Vergemeinschaftungsprozessen. Im Frühjahr 1977 nannten bei einer Umfrage, welche die Stiftung Warentest unter den Zuschauern durchführte, rund drei Viertel Aspekte der Geselligkeit wie zum Beispiel »die Stimmung im Stadion« als wichtigsten Grund dafür, warum sie eine Bundesligabegegnung besuchten.39

Der scheinbar eindeutige Begriff der Gemeinschaft, mit dem der Fußball in Verbindung gebracht wurde, bewegte sich allerdings im Lauf der Jahrzehnte auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen und wurde mit verschiedenen Konzepten in Zusammenhang gebracht. In der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik verband er sich mit der Hoffnung, Klassengegensätze als Folge der Modernisierung, welche die Einheit der Nation zu zersetzen schienen, überwinden zu können. Erich Stutzke, Geschäftsführer des Baltischen Rasen- und Wintersportverbands, formulierte 1912 am deutlichsten diesen Gedanken: »Unser Sport will um seiner selbst willen betrieben und geliebt werden. Alle Bestandteile politischer und konfessioneller Natur hat er seiner Struktur von Anfang an ängstlich ferngehalten, und er muss, will und wird es auch weiter tun.«40 Der DFB schwor, sich »für eine politisch streng neutrale Sache« einzusetzen, »für unsern Sport, der die Klassen vereinigen, die Gegensätze ausgleichen will«.41 Nach 1933 hingegen verschmolz der Gemeinschaftsgedanke im Fußball mit der Idee der nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft«.42 Sie propagierte zwar weiterhin das Ziel der klassenlosen Gesellschaft, die sich aber völkisch definierte, sodass sie jeden ausgrenzte und schließlich zu vernichten trachtete, der nicht dem Ideal des NS-Regimes entsprach. In der jungen Bundesrepublik wiederum drängte das Wort »Kameradschaft« in den Vordergrund, das nach der moralischen Diskreditierung des Volksgemeinschaftsbegriffs eine unverfänglichere Variante von gemeinschaftlicher Vorstellung darzustellen schien.

Die Massen interessierten sich hingegen kaum für diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen, auf denen sich der Gemeinschaftsbegriff bewegte. Die verschiedenen Konzepte waren zumeist intellektuelle Schöpfungen von Funktionären, Spielern, Trainern, Journalisten, Politikern oder Wissenschaftlern, die im Rahmen ihrer besonderen Stellung über Deutungsmacht verfügten und dadurch imstande waren, eigene Vorstellungen in diesen Sport hineinzutragen. Die große Menge in den Stadien und auf den Spielplätzen hingegen bestand nicht aus vergeistigten, politisierenden oder ideologisierenden Wesen, die in ihrem simplen Hobby ein besonderes Motiv oder einen höheren Sinn erblicken mussten. Vielmehr setzte sie sich aus Menschen zusammen, die den Fußball in einer wesentlich schlichteren Weise erlebten. Die Vereinszeitungen räumten den Anhängern in den fünfziger und sechziger Jahren bisweilen Platz ein, damit sie ihre subjektive Erfahrungswelt darstellen konnten. Dabei entstanden Berichte, die einen entschlackten Gedanken von Gemeinschaft freilegten. Sie drangen zum eigentlich Kern vor, der den Fußball jenseits aller zeitgebundenen Sinnzuschreibungen befähigte, zur populärsten Sportart in Deutschland zu werden. Anschaulich beschrieben sie, wie die Prozesse der Vergemeinschaftung funktionierten und somit die häufig beschworene »Vereinsfamilie«43 begründeten.

So war es gang und gäbe, sich in der Kneipe zu treffen, wobei es an »der Theke […] natürlich nur ein Thema: Fußball« geben konnte.44 Schnell erkannte man den Gleichgesinnten am Vereinsemblem, das an der Kleidung deutlich sichtbar zur Schau getragen wurde.45 Schon war das Eis gebrochen: Meinungen wurden ausgetauscht, Wetten abgeschlossen, mit besonderem Wissen geprahlt, gefachsimpelt. Sobald man sich wieder traf, wurde der Bund »mit schallendem Tischgesang und witzig munteren Reden« erneuert.46 Man »pendelte zwischen Theke und Tisch, löste sich herzlich von einem alten Bekannten und wurde vom anderen gestellt«. So »verrannen« die Stunden wie »im Fluge«. Auch am Arbeitsplatz drehten sich die Gespräche, wie »nicht anders zu erwarten war«, die ganze Woche »vorwiegend um das runde Leder«.47 Bisweilen staunten die Autoren dieser Erlebnisberichte selbst darüber, »wer sich jetzt alles für Fußball« interessierte. Wenn es um Wohl und Wehe des eigenen Vereins ging, schien die Scheu im Gespräch mit Leuten anderer Herkunft, anderer Milieus, anderer Schichten zu verfliegen. Sobald das Wort »Fußball« ertönte, stand auf einmal »der Handwerker neben dem Arzt, der Fabrik- und Landarbeiter neben dem Rechtsanwalt, der Oberstudiendirektor neben dem Lohnbuchhalter«.48 Gemeinschaft reduzierte sich also auf zerstreuende Geselligkeit und spontane, soziale Barrieren überwindende Verbrüderung, die sich aus der gemeinsamen Begeisterung für den Sport und ihren Verein ergab. Dieses Spiel war offenkundig eine der einfachsten Formen, Hemmungen im Umgang mit anderen Menschen zu überwinden und eine Ebene herzustellen, auf der man rasch zueinanderfinden konnte.

In einem solchen Umfeld konnten viele etwas empfinden, was ähnlich wie das Bedürfnis nach Gemeinschaft das Jahr 1945 überdauerte: das Gefühl von Heimat. Dabei ist mit diesem Begriff nicht allein die ursprünglich damit verbundene Raumbeziehung gemeint. Eine unumstößliche Gegebenheit wie beispielsweise der Ort der Kindheit oder Jugend verliert in dem Augenblick an Bedeutung, in dem das Individuum sein neues Lebensumfeld mit positiven Sozialkontakten emotional durchdringt. In diesem Sinne setzt die erfolgreiche Entwicklung eines Heimatgefühls eine gelebte Form von Gemeinschaft voraus, die das verbreitete Bedürfnis nach Geborgenheit, Stabilität und Kontinuität befriedigt.49 Der Brückenschlag zum Sport liegt auf der Hand: Nur wenige Bereiche des Alltags offerieren die Möglichkeit zur sozialen Selbsteinbettung in dem Ausmaß wie ein Verein, in dem viele Menschen über ein gemeinsames Hobby zusammenfinden.

Die Publikationen der fünfziger und sechziger Jahre enthalten zahlreiche Berichte von zumeist ungenannten Anhängern, die dieses vertiefte Verständnis von Heimat bestätigen. Sie offenbaren das Verlangen nach Vertrautheit, die sie in dem rituellen Gemeinschaftserlebnis auf dem Sportplatz, in der Kabine, auf der Tribüne oder im Vereinsheim fanden. Über 800 Fans – so hieß es in einem Magazin des 1. FC Köln aus dem Jahre 1962 über eine Reise zu einem Auswärtsspiel nach Frankfurt – versammelten sich in der Kölner Hauptbahnhofshalle, »um wieder einmal zu einem bedeutenden Fußballspiel« zu fahren.50 Das Fußballfieber war »einmal mehr ausgebrochen«, was beim 1. FC Köln »schon zur Gewohnheit geworden« war. Obgleich es viele mögliche Gesprächsthemen gab, unterhielt man sich »natürlich doch wieder über die vermutliche Mannschaftsaufstellung« mit all den Leuten, deren Namen, zumindest aber deren Gesichter man kannte. Das in Gemeinschaft gebildete Gefühl der Vertrautheit wurde durch nostalgische Erinnerungen an die Vergangenheit vertieft: »Auf der Fahrt gingen die Gedanken natürlich zurück zu jenem Junitag 1960, als der gleiche Sonderzug der Bundesbahn […] zur Mainmetropole fuhr […].« Und all dies spielte sich vor der malerischen Rheinkulisse ab, wobei der offen bekundete Enthusiasmus für die Landschaft das enge Wechselverhältnis zwischen der soziokulturellen Dimension des Heimatbegriffes und dem geographischen Raum bezeugte. So schrieb der Anhänger des 1. FC Köln von seinen Impressionen auf der Tour: »Die Rheinlandschaft zwischen Koblenz und Bingen zieht, besonders im Sonnenschein, immer wieder die Blicke der Reisenden an. Das Wasser des Vater Rhein, sandsteinfarben von der Schneeschmelze, wäre schwerlich in goldenen Wein zu verwandeln gewesen.«

Sportclubs wie TuS Schwarz-Rot Oberhausen förderten in den fünfziger Jahren unter dem Nachwuchs Heimat- und Gemeinschaftsgefühle.

© TuS Schwarz-Rot Oberhausen: S. 25

In ihrer täglichen Arbeit trugen die Clubs dazu bei, dass sich schon bei Kindern und Jugendlichen dieses Band zu den heimatlichen Gefilden ausbilden konnte. In den Sommerferien organisierten sie »Jugendlager«, die den Nachwuchs in die regionale Umgebung führten – etwa ins Alte Land, nach Berchtesgaden, in den Harz, in den Pfälzer Wald oder zu anderen Zielen, die damals mit knappem Budget erreichbar waren. Sie wurden, wie es in den Vereinsnachrichten des SV Werder Bremen hieß, mit der Zeit »zu einer festen Einrichtung«, die »für die Zukunft nicht mehr hinweggedacht werden« könne.51 Die Wirkung solcher Veranstaltungen auf die Gemüter der Heranwachsenden war kaum zu überschätzen. Die Zeit war nicht nur angefüllt mit Fußballspiel, sondern auch mit Schwimmen, Schnitzeljagd und dem Betrachten des Sternenhimmels. Daraus erwuchsen Rituale, die dem Heimatgefühl über die Generation hinaus Dauerhaftigkeit verliehen. Ähnlich wie der FC Schalke 04 erkannten viele, was diese sich verfestigenden Gewohnheiten bedeuteten. Der »Wert der Tradition« bestand darin, dass die »Jahrzehnte im Vereinsleben« einen »Erinnerungswert« erlangten,52 der die Sehnsucht nach der Heimat wach hielt. Hier bestätigt sich die These von Kulturwissenschaftlern, wonach die Aneignung von Heimat eine vornehmlich auf Erinnerungen beruhende Vorstellung ist, in der prägende Erlebnisse der Vergangenheit das gegenwärtige Erleben und die Erwartungen an die Zukunft stark beeinflussen.53

Aus heutiger Sicht scheint dieses verbreitete Heimatgefühl im deutschen Fußballsport der frühen fünfziger Jahre verstaubt zu sein. Man ist geneigt, es als eindeutiges Zeichen antiquierten Denkens zu interpretieren, das sich nahtlos in den Konservatismus der Adenauer-Zeit einfügte. Der Eindruck rückständiger Folklore verstärkt sich durch die schwülstigen Formulierungen, die mit Verweisen auf die »schöne […] Heimat«54 verbunden waren. Geradezu fremdartig mutet es an, dass sich selbst der DFB-Bundestag, das legislative Organ der Dachorganisation des bundesdeutschen Fußballs, in den fünfziger Jahren bisweilen dazu entschloss, einen Teil seiner Sitzungen nicht in stickigen Sälen zu verbringen, sondern in freier Natur, um die herrliche Pracht der Gegend zu erkunden.55 Die Vermutung, dass sich solche Emotionen zum Hemmschuh für notwendige Veränderungsprozesse entwickeln könnten, scheint sich mit der Beobachtung zu bestätigen, dass Heimatgefühl und die Angst vor dem Verlust von Tradition häufig zu einer Verklärung der Vergangenheit führten. Oft war zu hören, dass es »damals« in der »Vereinsfamilie« viel schöner gewesen sei und dass noch jeder »Rücksicht« auf den anderen genommen habe.56 Vor allem »die Jugend« gab den Nostalgikern Anlass zur größten Sorge und zu den »landesüblichen Klagen«.57 Für dekadente Tendenzen, die notorische Kulturpessimisten unter ihr ausgemacht zu haben glaubten, wurde die »Moderne« verantwortlich gemacht. »Unserer Jugend fehlt die Bewegung«, hieß es im Januar 1962 in den Vereinsnachrichten des FC Schalke 04.58 Der Autor gab sich überzeugt, die Gründe für die vermeintlich nachlassende physische Stärke des Nachwuchses zu kennen: »Hast, Lärm und Reizüberflutung unseres modernen Lebens, häusliche Verhältnisse[,] die zu wünschen übrig lassen, insbesondere dort, wo beide Elternteile zur Arbeit gehen, und nicht zuletzt die Einflüsse und Überforderungen, denen die Kinder in der Schule ausgesetzt sind.« Ein anderer Autor sah im wachsenden Wohlstand und Wohlleben den eigentlichen Grund für eine angebliche Verweichlichung.59 Das Beharrungspotenzial, das die Bindung an Heimat im soziokulturellen Sinne erzeugen konnte, war also unübersehbar.

Allerdings übersieht eine Perspektive, die lediglich auf die konservativen Ausdrucksformen des Heimatgefühls verengt bleibt, die Tatsache, dass es weit über die Adenauer-Ära hinweg bis in die Gegenwart hinein das Verhalten vieler sportbegeisterter Menschen bestimmt. Der gesamte Vereinsfußball wäre ohne die lebensweltliche Verankerung der Clubs in ihren lokalen Beheimatungen nicht denkbar. Überdies trat bereits in der Zeit des Wiederaufbaus gerade im Fußballsport zutage, dass das Heimatgefühl notwendige Modernisierungsprozesse nicht behindern musste, sondern im Gegenteil befördern konnte. Man muss sich dabei in Erinnerung rufen, dass das Jahr 1945 einen gravierenden Einschnitt in den europäischen Bevölkerungsbewegungen markierte. Für etwa 15 Millionen Menschen bedeutete das Kriegsende den Beginn einer brutalen Vertreibung aus Ostdeutschland oder aus Ost- und Südosteuropa; 13 Millionen deutsche Soldaten erlebten ihre Demobilmachung.60 Viele mussten sich fern ihrer Heimat in einer fremden Umgebung zurechtfinden, sich an andere Mentalitäten gewöhnen und sich mit neuen Sitten vertraut machen. Die Fußballvereine trugen mit ihrem Angebot, durch das gemeinsame Erlebnis ein neues Heimatgefühl aufzubauen, dazu bei, dass das Trauma der Vertreibung gelindert wurde. Wer sich in den neuen Gefilden zunächst fremd fühlte, konnte im Club ein innigeres Verhältnis zu Sprache, Bräuchen und Lebensverhältnissen seiner neuen Heimat entwickeln. Dieser Erfolg, der für die Entwicklung der Bundesrepublik zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Staat enorm wichtig war, steht Pate für gegenwärtige Konzepte, die im Kontext neuer Migrationsbewegungen große Hoffnungen an den Fußballsport knüpfen: das Spiel als Katalysator für Integration.61

Angesichts der großen Bedeutung, die Gemeinschaft und Heimat für die Anhänger des Fußballs haben, wird schließlich der große Beitrag ersichtlich, den dieser Sport zur Stiftung kollektiver Identitäten leistete.62 Die Wahl der Gemeinschaft, die der Mensch aufsucht, und der Heimat, die er dort zu finden hofft, ist ein Bekenntnis, mit dem er ein äußeres Merkmal der Gruppe annimmt. Indem er sich mit ihr identifiziert, bildet er seine eigene Persönlichkeit aus. Gleichzeitig unterwirft er sich einer Fremdbestimmung, die durch das von der Gruppe vertretene kollektive Sinnmuster ausgeübt wird. Vereinfacht ausgedrückt: Der Mensch macht sich bis zu einem gewissen Grad gemein mit den Werten, Zielen und Leitbildern, denen sich die Gruppe verschrieben zu haben glaubt.

Dass der Fußballsport im Lauf der Zeit eine große Zahl solcher Identifikationsmöglichkeiten bot, wird selbst demjenigen schnell bewusst, der sich in seiner Geschichte kaum auskennt. Die Vereine repräsentierten am Anfang zumeist einzelne Stadtviertel. Ihre Bewohner waren stolz darauf, dass die Spieler, die unter ihnen aufgewachsen waren, die Mannschaft des anderen Stadtviertels besiegen konnten. Die starke Rivalität, die Lokalderbys bis heute ihre besondere Brisanz verleiht, zeugt von der Stärke und Dauerhaftigkeit dieses Identifikationsangebotes. Fußballvereine konnten zu einer Projektionsfläche für bestimmte Schichten werden. Bezeichnungen wie »Arbeiterverein« oder »bürgerlicher Club« blieben bis weit in die sechziger Jahre hinein häufig benutzte Kategorien und verloren erst mit der Auflösung traditioneller Milieus allmählich an Bedeutung. Die Möglichkeit zur Identifikation konnten einzelne Spieler eröffnen, die durch wahre oder vorgetäuschte Charakteristika die Massen zu faszinieren vermochten (ein Trend, der sich, wie später zu sehen sein wird, in den sechziger Jahren verstärkte). Und nicht zuletzt konnten bestimmte »Spielphilosophien« Menschen dazu bewegen, sich kollektiven Einheiten anzuschließen, um mit ihrer gemeinsamen Begeisterung für diesen Verein eine bestimmte Eigenschaft für sich zu beanspruchen. Formulierungen wie »moderner Angriffsfußball«, »erfolgsorientierte Spielweise« oder »ehrlicher Kampf«, mit denen Mannschaften in Verbindung gebracht werden, vermitteln einen vagen Eindruck von der Attraktivität solcher Zuschreibungen.

Es spricht also viel dafür, dass die dauerhafte Popularität des Fußballsports wesentlich auf seine Fähigkeit zurückzuführen ist, nicht nur das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Heimat befriedigen zu können, sondern auch eine Vielzahl an Identifikationsmöglichkeiten zu erzeugen.

Eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen bleibt in diesem Zusammenhang, ob dieser Sport die Kräfte zur Konstruktion kollektiver Identitäten erst hervorruft oder bereits vorhandenen Formen von Identität nur zur Anschauung verhilft. Nicht zuletzt das »Wunder von Bern«, das zum Mythos und Fluchtpunkt bundesrepublikanischer Fußballgeschichte werden sollte, spricht für die These, dass der Fußball bestehende Identifikationsbedürfnisse verstärkt und zum Ausbruch bringt. Damit tritt die Bedeutung des Sports als Indikator für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Befindlichkeiten umso deutlicher zutage.

1954: Der folgerichtige Triumph deutscher Profis als Wundererzählung

Kein Fußballereignis ist tiefer im Bewusstsein der Deutschen verankert als der Sieg der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft von 1954 in der Schweiz. Die Literatur zu diesem Ereignis füllt seit dem 50. Jahrestag im Jahre 2004 lange Bibliotheksregale.63 Die interessantesten Veröffentlichungen zu diesem Thema64 haben aus unterschiedlichen Blickwinkeln nachgezeichnet, wie die Zeitgenossen diesen Sieg zu einer Heldengeschichte aufbauten, die sich über Jahrzehnte mit erstaunlicher Zähigkeit hielt und bis in die Gegenwart hinein kaum etwas von ihrem rührenden Zauber verloren hat. Spätestens wenn zu den Bildern vom entscheidenden Treffer und vom Jubel nach dem Schlusspfiff die sich überschlagende Stimme aus der Radioreportage von Herbert Zimmermann ertönt, vermögen sich zuweilen selbst bekennende Fußballmuffel kaum der Tränen zu erwehren. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Identifikationsmöglichkeiten, die der 3:2-Sieg der Herberger-Elf über das favorisierte Ungarn den Massen bot, zahlreich sind und sich durch eine ungewöhnliche Zeitlosigkeit auszeichnen.

In den Augen vieler Zuschauer war der Triumph durch eine Tugend errungen worden, die mit der verbreiteten Sehnsucht nach einem alle verbindenden Gemeinschaftsgeist harmonierte. Die Öffentlichkeit assoziierte den Triumph mit dem »Wort ›Kameradschaft‹«, das, so der Sportbericht im Juli 1954, »bei Herberger ganz groß im Notizbuch« gestanden habe.65 Fritz Walter, Kapitän der Weltmeisterelf, verstärkte diesen Eindruck, indem er sich in seinen Selbstdarstellungen als braver Chronist und treuer Repräsentant des kameradschaftlichen Geistes ausgab.66 Selbst 2008 noch erklärte Horst Eckel, Außenläufer in der Finalmannschaft von 1954, das tiefere Geheimnis des Erfolgs mit diesem Begriff: »Ohne die Kameradschaft, nicht nur bei den elf Leuten, die Weltmeister geworden sind, sondern bei allen 22, wären wir nie Weltmeister geworden.«67

Die enorme Karriere, die dieses Wort im Zusammenhang mit den »Helden von Bern« machte, wäre ohne die große Depression, die das Land in den Jahren nach Kriegsende erlebt hatte, kaum denkbar gewesen. Kameradschaft schien ein Gebot der Stunde gewesen zu sein, als die Alltagsprobleme für die Überlebenden oft mit der Suche nach einer halbwegs menschenwürdigen Bleibe begannen. Auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik waren etwa ein Viertel aller Wohnungen zerstört worden. In den Städten, die das bevorzugte Ziel der alliierten Bomben gewesen waren, belief sich der Wohnraumverlust sogar auf 50 Prozent. Die noch bewohnbaren Häuser mussten daher häufig mit Vertriebenen und Flüchtlingen geteilt werden. Ein massives Problem hatte unmittelbar nach dem Krieg auch die Versorgung mit Lebensmitteln dargestellt. Ab Frühsommer 1945 waren die Ernteerträge kontinuierlich gesunken, sodass die Menschen in einigen Regionen mit weniger als 1000 Kalorien am Tag auszukommen hatten. Die Mangelernährung und die schlechten hygienischen Verhältnisse förderten die Ausbreitung ansteckender Krankheiten wie Diphtherie, Typhus oder Tuberkulose, von denen man zuvor geglaubt hatte, dass sie weitgehend besiegt seien. Die große Not äußerte sich nicht minder in der Kriminalitätsrate. Insbesondere die Fälle von Raubmord und Diebstahl jeglicher Art stiegen bis 1948 teilweise auf mehr als das Zehnfache des Standes von 1938.68 Ohne den Willen, den, wie es damals häufig hieß, Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen, ohne die Bereitschaft, auch im ursprünglichen Sinne des Worts zusammenzurücken, hätten viele Menschen diese Jahre der Entbehrungen nicht überleben können. Von dieser Warte aus drängte sich das Wort »Kameradschaft«, das aus dem italienischen camerata stammt und »Kammergemeinschaft« bedeutet, als Erklärung für einen historischen Sieg im Fußball auf: Er schien in Gemeinschaft auf dem Sportplatz genauso hart errungen worden zu sein wie die neue Lebensperspektive unter den Trümmern der Nachkriegsgesellschaft.

Die Attraktivität des Kameradschaftsbegriffs bestand nicht zuletzt darin, auf eine unverdächtige Variante von Gemeinschaftsvorstellung zurückgreifen zu können. Weitgehend vergessen war die Tatsache, dass das Wort erst in den zwanziger Jahren aus dem engen Bereich des Militärischen ausgebrochen war. Noch im Ersten Weltkrieg hatten es vornehmlich Soldaten benutzt, die sich mit dieser männlichen Idee von Gemeinschaft von der zivilen Gesellschaft absetzen wollten.69 Quell der Kameradschaft war ursprünglich das gemeinsame Kriegserlebnis gewesen, bei dem der »Feldgraue« in den Bunkern oder Schützengräben in engster körperlicher Nähe zu seinem Gefährten gegen die gegnerischen Truppen kämpfte. Der tiefe Zusammenhalt, das unbedingte Einstehen füreinander, das ständige Bemühen, Schwächen des anderen auszugleichen, galten als selbstverständliche Tugenden, um die nächste Feindberührung überleben zu können. Die Übertragung des Begriffs auf den Fußballsport war insofern naheliegend, als das Spiel gemeinhin als ein Kampf verstanden wurde, bei dem es darum ging, die gegnerische Mannschaft zu besiegen. Auch dies konnte nur gelingen, wenn man zusammenhielt, füreinander einstand und die Fehler seines Nebenmanns auszubügeln versuchte. Das Gefühl von Kameradschaft, das alle individuellen Unterschiede überwand, stellte sich spätestens in der Kabine oder unter der Dusche ein, wo die Spieler unter ähnlicher körperlicher Enge wie die Soldaten im Schützengraben den Sieg mit gemeinsamen Schlachtrufen feierten oder die Wunden der Niederlage tapfer zu ertragen versuchten.

Ebenso nachhaltig wie der Begriff der Kameradschaft hielt sich im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft in der Schweiz die verbreitete Auffassung, dass es sich dabei um ein großes Mirakel gehandelt habe. Die zeitgenössische Presse sprach vom »Berner Wunder der deutschen Auferstehung« und machte mit Schlagzeilen wie »Nach dem Wirtschaftswunder das deutsche Sportwunder« auf.70 Ohnehin geizte die bundesrepublikanische Gesellschaft damals nicht mit diesem Wort, versuchte sie doch, mit dieser Vokabel nicht nur den Sieg der Nationalmannschaft und die positive Entwicklung der Konjunktur, sondern auch die vermeintlich außergewöhnliche Schönheit deutscher Mädchen zu erklären (»Fräuleinwunder«). In solchen Wendungen tat sich zum einen ein authentisches Erstaunen über die rasche Regeneration des zerstörten Landes kund; zum anderen dienten sie der Selbstvergewisserung und der Selbstentschuldung einer durch die nationalsozialistischen Gräuel moralisch zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Da das Wort vom Wunder bei Ereignissen bemüht wird, die sich natürlichen Gesetzmäßigkeiten und menschlicher Vernunft zu entziehen scheinen, hat seine Verwendung eine zutiefst religiöse Dimension. Wunder werden häufig als göttliches Zeichen gewertet, weshalb derjenige, dem sie widerfahren, sich im Lichte der Auserwähltheit wähnen zu dürfen glaubt. Wenn den Bundesdeutschen nach dem Krieg so viele Wunder zuteilwurden, konnte die eigene Schuld nicht derart schlimm gewesen sein, wie man sie sich bei nüchterner Betrachtung hätte eingestehen müssen.

Erstaunlich ist daher weniger, dass viele im Sommer 1954 den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft nur mit einem Wunder erklären wollten, obgleich sich schon einige Zeitgenossen gegen eine solche irrationale Überhöhung wehrten.71 Vielmehr verblüfft die Tatsache, dass diese Bedeutungsofferte bis heute nichts von ihrer Strahlkraft verloren hat. Bis in die Gegenwart hinein gilt, wie nicht zuletzt der gleichnamige Film des Regisseurs Sönke Wortmann aus dem Jahre 2003 bezeugte, »Das Wunder von Bern« als Synonym für den Sieg im Finale gegen Ungarn. Die Verstetigung dieser Erzählung legt die Vermutung nahe, dass sie sich tief ins Kollektivgedächtnis der Deutschen eingebrannt hat. Sie ist gewissermaßen zu einem Glaubenssymbol geworden, das aufgrund seiner als positiv empfundenen Wirkung auf das Selbstverständnis der Deutschen nicht beschmutzt werden darf. Wie stark dieses Glaubenssymbol geworden ist, verdeutlicht nicht zuletzt das gewaltige Konfliktpotenzial, das jeder zu gewärtigen hat, der es zu entzaubern versucht. Als zum 50. Jahrestag einige Journalisten und Sportwissenschaftler alte Gerüchte über Doping, das den Spielern vor dem Finale verabreicht worden sei, mit neuen Indizien unterfütterten, stießen sie in der Öffentlichkeit auf eine fast feindselige Mauer der Ablehnung.72 Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Vermutungen verdeutlichten solche Reaktionen die unerschütterliche Beharrlichkeit, mit der die Menschen an lieb gewonnenen Erzählungen festhalten wollen.

Das Problem, das sich aus diesem zementierten Mythos vom »Wunder von Bern« für eine historische Darstellung der Bundesligagründung ergibt, ist erheblich. Die verbreitete Weigerung, den großen Triumph der Nationalmannschaft mit rationalen Gründen zu erhellen, verfestigte selbst in Teilen der Wissenschaft die Ansicht, dass der bundesdeutsche Fußballsport im Vergleich zu anderen Fußballnationen wie England, Frankreich oder Italien in den fünfziger Jahren eigentlich zweitklassig, rückschrittlich und in diesem Sinne konservativ gewesen sei. Er habe personelle und ideologische Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus aufgewiesen und sei somit von überholten Überzeugungen und Strukturen geprägt gewesen.73 Die Tatsache, dass es damals in der Bundesrepublik keine einheitliche Spitzenklasse gab, scheint die These vom »Modernisierungsschub«, den das Land auch im Fußball zur Beendigung seines »Sonderwegs«74 benötigt habe, zu bestätigen. Diese Auffassung lenkt die Fußballgeschichte unvermittelt ins Zentrum einer Debatte, die mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten geführt und teilweise zu erbitterten Kontroversen geführt hat: Wann und durch wen wurde die Bundesrepublik modernisiert?75

Diese bisweilen nur schwer zu verstehenden Streitereien speisen ihre Vehemenz aus handfesten geschichtspolitischen Motiven. Es geht um die Frage, wem das Lob dafür gebührt, dass die Bundesrepublik Deutschland trotz aller Fehler und Krisen insgesamt als eine »geglückte Demokratie«76 bezeichnet werden konnte. Gegen die Tendenz unter führenden Repräsentanten der Adenauer-Ära, dieses Verdienst für sich zu beanspruchen, erhob sich in den sechziger Jahren eine »kritische Generation«, welche die Auffassung vertrat, dass der Konservatismus ihrer Eltern ein abscheuliches Relikt der Kaiserzeit gewesen sei, der den Nationalsozialismus erst ermöglicht und nach dem Krieg zu einer Restauration überholter Denkmuster geführt habe. Erst mit dem gesellschaftlichen Wandel und dem Beginn der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt seien frischer Wind und damit die »Moderne« in die vermieften Räumlichkeiten der Bonner Republik eingezogen.

Neben solchen politisch-ideologischen Grabenkämpfen nährt sich die Heftigkeit dieser immer wieder aufflammenden Kontroverse aus dem normativen Verständnis von Begriffen wie »Moderne«, »Progressivität« oder »Fortschritt«, die mit bestimmten positiven Vorstellungen wie Demokratisierung, Liberalität und Humanität verbunden werden.77 Daher sträubten sich viele Historiker lange Zeit gegen die Erkenntnis, dass selbst ein solch undemokratisches, illiberales und inhumanes Phänomen wie der Nationalsozialismus modernisierende Kräfte freisetzen konnte, die in der Bundesrepublik in den Wiederaufbaujahren wirksam waren. Dennoch hat sich mittlerweile Martin Broszat mit seinem schon 1983 formulierten Diktum von einem »Modernitäts- und Mobilisationsappeal der NS-Bewegung« weitgehend durchgesetzt.78 Der Doyen der Deutschen Gesellschaftsgeschichte, Hans-Ulrich Wehler, der über jeden Verdacht erhaben ist, einem einseitig konservativen Geschichtsbild verpflichtet zu sein, stimmte dieser These zwei Jahrzehnte später ausdrücklich zu.79