Sämtliche Werke - Band 14 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 14 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

»Arbeiten dieser Art muß man auf Zuwachs schreiben: sie werden niemals abgeschlossen sein«, so Ernst Jünger in seiner Einleitung zu »Sprache und Körperbau«. Und so versammelt der vierzehnte Band der »Sämtlichen Werke« eine Sammlung von elf Essays und Maximen. Der vorliegende Band folgt Band 12 der gebundenen Ausgabe. Hinzugefügt wurde der Text »Herbst auf Sardinien«, der den ersten Teil des Essays »Sardische Heimat« bildet und bislang in Band 18 zu finden war. Vom »Lob der Vokale« über tagebuchartige »Federbälle« und »Philemon und Baucis« bis hin zu »Epigrammen« und »Mantras« reicht Jüngers essayistischer Bogen. Oft bildet eine konkrete Beobachtung den Ausgangspunkt einer Reflexion, und so spiegelt sich im scheinbar Nebensächlichen das Hauptsächliche. Oder Jünger belässt es – wie in den »Federbällen« – auch bei heiter-humoristischen Anekdoten, in denen sich gleichwohl nicht weniger etwa das menschliche Wesen spiegelt. Der Band enthält: »Lob der Vokale«, »Sprache und Körperbau«, »Das Sanduhrbuch«, »November«, »Dezember«, »Sardische Heimat«, »Der Baum«, »Steine«, »Federbälle«, »Philemon und Baucis«, »Rund um den Sinai«, »Epigramme« und »Mantrana«.

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Seitenzahl: 673

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 14

Essays VI

Fassungen I

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band folgt Band 12 der gebundenen Ausgabe. Hinzufügt wurde der Text »Herbst auf Sardinien«, der den ersten Teil des Essays »Sardische Heimat« bildet und bislang versehentlich in Band 18 zu finden war.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96314-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10914-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

FASSUNGEN I

INHALT

Zur Symbolik

Lob der Vokale

Sprache und Körperbau

Einleitung

Die Hand

Rechts und Links

Hand und Faust

Kopf und Fuß

Oben und Unten

Die fünf Sinne

Der Tastsinn

Das Gesicht

Das Gehör

Geschmack und Geruch

Schluß

Das Sanduhrbuch

Sanduhrstimmungen

Uhren und Zeit

Sanduhren

Sanduhrzeit als Heilmittel

Neue Elementaruhren

Sanduhr-Miszellen

Inhaltsübersicht

November

Dezember

Sardische Heimat

Herbst auf Sardinien

Ein Gang durch das Museum von Cagliari

Der Baum

Steine

Federbälle

Ansprache

Federbälle I

Federbälle II

Philemon und Baucis

Der Tod in der mythischen und in dertechnischen Welt

Rund um den Sinai

Maximen

Epigramme

Mantrana

Einladung zu einem Spiel

Mantras

ZUR SYMBOLIK

 

LOB DER VOKALE

ERSTDRUCK 1934

REVIDIERTE FASSUNGEN 1937 UND 1963

 

Die folgende Betrachtung soll den Vokalen gewidmet sein.

1

Wenn man diese Laute zunächst mit den Konsonanten vergleicht, so fällt das zartere und vergänglichere Leben auf, das ihnen innewohnt.

In diesem Sinne bilden sie das eigentliche Fleisch der Worte und Sprachen, während durch die Konsonanten das festere Knochengerüst verkörpert wird. Daher werden auch durch die Veränderungen der Sprache, durch ihr Wachstum, ihre Wanderungen und ihren Verfall, die Vokale am ersten und leichtesten berührt. Sie wittern wie der flüchtige Lebensstoff am schnellsten aus dem Körper der Sprache heraus, während der härtere Panzer der Konsonanten oft durch Jahrhunderte hindurch und selbst über den mannigfaltigen Wechsel der Rassen, Völker und Sprachen hinweg seinen Zusammenhang bewahrt.

Der Konsonant zeichnet sich also im Hinblick auf die Angriffe der Zeit durch größere Beständigkeit und Zuverlässigkeit aus. In den semitischen Sprachen wird er als Träger der Grundbedeutung des Wortes behandelt, die der Vokal lediglich schattiert. Entsprechend werden in den Schriften die Vokale häufig durch untergeordnete Zeichen ausgedrückt. Ohne Zweifel steht diese Tatsache mit dem Geiste eigentlicher Gesetzesvölker im tieferen Zusammenhang – mit einem Geist, wie er sich in der Unverbrüchlichkeit der Überlieferung, der Verwendung steinerner Urkunden und der dienenden Rolle der Frau offenbart.

Wir führten dieses letzte Kennzeichen an in Hinsicht auf den schönen Satz Jacob Grimms, daß »offenbar den Vokalen insgesamt ein weiblicher, den Konsonanten insgesamt ein männlicher Grund beigelegt werden muß«.

2

Der Vokal stellt also den vergänglicheren Stoff des Wortes dar. In ihm ruht die Farbe, während durch den Konsonanten die Zeichnung gegeben ist.

Nun wissen wir aber, daß das Vergängliche mit ganz verschiedenen Blicken betrachtet werden kann, denn es gleicht den alten Idolen, die den Leib eines Tieres mit dem Gesicht eines Dämons vereinigen. Auf der einen Seite ragt es in die Zeit und wird unaufhörlich von ihr zerstört, auf der anderen schießt gerade in das Vergängliche das eigentliche Leben ein, das zugleich einmalig und ewig ist.

Dieses Verhältnis wird uns deutlich, wenn das Gedächtnis das Bild entschwundener Tage zurückzurufen sucht. Nicht die großen und gesetzlichen Gefüge bieten sich ihm als Handhabe an, sondern das Leben strömt in Farben, Klängen und Gerüchen wieder ein. So erinnern wir uns leichter an die Blumen, die gerade blühten, als an den Kalendertag. Merkwürdig ist auch, daß dergleichen uns zufliegen muß und daß keine Anstrengung des Willens es erzwingt.

Gilt dies aber nicht für die Laute überhaupt, und warum soll gerade der flüchtige Vokal ein besonderer Schlüssel zu den Herzkammern des Lebens sein? Das näher zu verdeutlichen, wollen wir uns mit einer weiteren Eigentümlichkeit der Vokale beschäftigen.

Bei der Betrachtung von Wörtern werden wir entdecken, daß im Vokal die allgemeine, oder besser: die ungesonderte, im Konsonanten dagegen die besondere Bedeutung zum Anklang kommt. Im Vokal ruht die Einheit, der Konsonant trägt das Mannigfaltige hinzu. Entsprechend werden alle besonderen Umstände, wie etwa die Eigenart der Stoffe und Bewegungen, durch Konsonanten sinnfällig gemacht. Greifen wir, um ein Beispiel zu nennen, das W heraus, das in unserer Sprache merkwürdige Beziehungen zum Wasser und darüber hinaus zum Gleichgewicht besitzt. So findet es sich in allen Gedichten, in denen das Spiel des Wassers zum Ausdruck kommt. »Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll«, beginnt die Ballade vom Fischer, in der der Wassergeist unübertrefflich zur Darstellung gelangt. Das W tritt in zahllosen Wörtern auf, denen eine nähere oder fernere Verwandtschaft zur Bewegung, sei es des Wassers, sei es der Waage, innewohnt, so in Welle, Woge, Wirbel, Quelle, Qualle, Quecksilber, schwanken, schwellen, wallen, wackeln, Wendel, wenden, Wiege, Gewicht, wricken, Wechsel, weben, Wette, Wandel, Wahl. Ebenso fällt die Rolle auf, die das W in unseren Fragewörtern spielt – also in solchen Wörtern, in denen zu einer Wahl oder zu einer Erwägung aufgefordert wird. Ein Umstand wird durch der und denn begründet, durch wer und wenn in Frage gestellt. Eine ruhende Spitze bezeichnen wir als Gipfel, während wir die bewegte als Wipfel ansprechen.

Ähnliche Beziehungen trifft man bei fast allen Konsonanten, die man geradezu nach den vier Elementen der Alten gruppieren kann. So ist das H ein Luftzeichen, wie das W ein Wasserzeichen ist. Hamann, der sich auf Buchstaben verstand, spricht es in seinem wunderbaren Schriftchen »Neue Apologie des Buchstaben H« als das Symbol und den Hauch des Geistes an.

Die Konsonanten dürfen wir also als Zeichen betrachten, in denen der besondere Umstand, die Art und Weise, kurzum das Veränderliche, zum Ausdruck kommt. Diese Tatsache ist um so merkwürdiger, als doch der flüchtige und vergängliche Stoff des Wortes gerade durch die Vokale gebildet wird. Sie folgt jedoch einem allgemeinen Gesetz, denn auch das Auge modert eher als die Kapsel, die es umschließt, und doch fallen uns durch die Physiognomik tiefere Aufschlüsse über den eigentlichen Menschen als durch die Schädellehre zu.

Wie sehr der Konsonant es ist, dem es obliegt, das Mannigfaltige abzuwandeln, ersehen wir vielleicht am deutlichsten aus Versen, in denen die Sprache bei beharrendem Selbstlaut die Arten und Abarten eines Zustandes durch ein Spiel von Mitlauten zu erfassen und zu erschöpfen sucht. So im Goetheschen »Hochzeitlied«:

Da pisperts und knisterts und flisterts und schwirrt

oder

Nun dappelts und rappelts und klapperts im Saal.

Stellen dieser Art haftet übrigens nicht ohne Grund etwas Unbefriedigtes und Hungriges an; sie stellen einen Versuch, die Welt zu verschlingen, dar, wie denn auch Sade in seinen Dramen ähnliche Wortaufzählungen liebt. Wir streiften bereits das Verhältnis des Konsonanten zum Gesetz, aber auch zwischen den Konsonanten und dem Willen besteht ein geheimnisvoller Zusammenhang. Der Stabreim ist ein männlicher Reim; die Sprache der Technik ist an Vokalen arm. Das gilt vor allem dort, wo sie in die reine Lautsprache übergeht.

Keine Bewegung der Konsonanten jedoch vermag zu erzwingen, was der Vokal mühelos gewährt. Verse wie die des »Hochzeitliedes« besitzen etwas Offenes; sie fordern zur Fortsetzung auf, während dort, wo der Zauber der Vokale beschworen wird, der Eindruck des Endgültigen und Abgeschlossenen entsteht.

Auf diesem Verhältnis beruht der höhere Rang, welcher dem lyrischen Gedicht gegenüber der Ballade einzuräumen ist, obwohl es eine Grenze gibt, an der beide ineinander übergehen. Die Ballade ist der Zeichnung, dem Willen, dem Konsonanten, das lyrische Gedicht der Farbe, der Ruhe und den Vokalen zugeneigt. Ungeachtet des eben angeführten Beispiels ist zu sagen, daß den Goetheschen Balladen eine tiefere Ruhe innewohnt als denen Schillers, bei denen der konsonantische Effekt zuweilen sogar stört. Dieser Eindruck steigert sich, wenn sich zugleich das Versmaß verhärtet und hochtrabend wird, oft bis zum Komischen, wie etwa bei Freiligrath. Das Volk hat für solche Anmaßungen ein feines Ohr; es antwortet durch die Parodie. Freilich gibt es auch ein konsonantisches Vermögen von Rang, dem indessen leicht der Beigeschmack des Brillanten und Artistischen anhaftet. Auch setzt es eine metrische Begabung voraus, die den Vers leicht und geschmeidig zu ziehen vermag – das Metrum gliedert eine solche Sprache wie die Gelenke den Knochenbau. Hierist Rückert bei uns der Meister, und das steht ohne Zweifel mit seiner besonderen Begabung für die orientalischen Sprachen im Zusammenhang. Erinnert sei auch an den altberühmten Hufschlag des »Quadrupedante putrem …«

Der Konsonant zieht die oberflächliche Betrachtung an, er richtet den Sinn auf die Einzelheit. Dieser Unterschied leuchtet dort besonders ein, wo ein und dieselbe Stimmung einmal auf eine die Ballade streifende, das andere Mal auf rein lyrische Art zum Ausdruck kommt. So etwa die Erwartung in dem zierlichen Schillerschen Gedicht, das den gleichen Namen trägt:

Hör ich das Pförtchen nicht gehen?

Hat nicht der Riegel geklirrt?

Nein, es war des Windes Wehen,

Der durch diese Pappeln schwirrt.

Auch in den folgenden Zeilen aus Trakls »Herbst« spricht sich ein Gefühl der Erwartung aus:

Weit offen die Totenkammern sind

Und schön bemalt vom Sonnenschein.

Man fühlt ohne weiteres, wie durch die erste dieser beiden Strophen das Gemüt einer Fülle beweglicher Eindrücke, bei Trakl dagegen einer einzigen ruhenden Empfindung zugeleitet wird. Obwohl wir die anatomischen Künste nicht lieben, möchten wir doch auf den Unterschied hinweisen, der sich ergibt, wenn man aus beiden Stellen die Vokale heraushebt und deklamiert. Anordnungen dieser Art entspringen einem geheimen Gesetz, an dessen Beherrschung man den Meister erkennt.

Auch die Schwierigkeit, vielmehr: die Unmöglichkeit, das lyrische Gedicht zu übersetzen, dürfte vor allem bei den Vokalen zu suchen sein. Diese Aufgabe gleicht der Nachbildung eines Schmuckes mit anderen Stoffen; und gewiß läßt sich dabei die metallische Fassung leichter ersetzen als die Farbe und Anordnung der Steine, die sie umschließt. Hiermit hängt zusammen, daß der Rhythmus leichter zu übernehmen ist als jener »innere Reim«, von dem Pascal spricht – das heißt: als der Akkord, der den Versen die bunten und zauberhaften Schwingen verleiht. Der Rhythmus besitzt eine konsonantische, der Akkord eine vokalische Natur. Man wird daher häufig bei Übersetzungen finden, daß der ruhende Eindruck in einen Bewegungseindruck, daß also der innere Transport der Worte in einen äußeren verwandelt wird. So besitzen wir von der Strophe:

Nulla unda

Tam profunda

Quam vis amoris

Furibunda

die unübertreffliche Übersetzung:

Keine Quelle

So tief und schnelle

Als der Liebe

Reißende Welle.

Und doch ist der Unterschied zwischen dieser Übertragung und ihrem Urbilde nicht weniger tief als jener, der zwischen den Nixen und den Sirenen oder zwischen der Quelle und der Zisterne besteht. Hier spiegelt sich das Wasser in seiner hellen, bewegten, durchsichtigen und dort in seiner dunklen und unergründlichen Eigenschaft.

Am stärksten aber wird die ruhende und überlegene Macht der Vokale im Endreim offenbar. Die Alten nannten das Dichten auch »rîme binden«, und in der Tat stellt der Reim eine Bindung dar, für deren flechtende Bewegung die Konsonanten das Mittel sind. Es wird mit den Konsonanten, aber auf den Vokal gereimt. Also auch hier fällt die Darstellung der Verschiedenartigkeit den Mitlauten zu.

Diese Tatsache ist erstaunlich, wie alle einfachen Dinge erstaunlich sind; denn wenn man einem Menschen ohne alles Gehör, etwa einem Mondbewohner, als Axiom mitteilen würde, daß die Vokale die eigentlichen Träger des sprachlichen Lebens seien, so würde er daraus schließen, daß deren Spiel und Wechsel auch das stärkste Mittel des Ausdrucks sei.

Das Gegenteil ist, wie gesagt, der Fall; und dieses Verhältnis entspricht einem allgemeineren Gesetz. So lieben wir in der Baukunst, deren Verwandtschaft mit der Sprache und der Musik ja schon oft bemerkt worden ist, die Mannigfaltigkeit der tragenden, aber die Einheit der lastenden Elemente, und so verändert während der Schlacht der Feldherr am wenigsten den Platz.

Worauf aber mag der höhere Rang des Vokals beruhen, der hier so deutlich wird? – denn es ist ein sicheres Kennzeichen des höheren Ranges, daß eine Kraft durch ihre Ruhe mehr als eine andere durch ihre Bewegung bewirkt. Ist es etwa der Wohlklang des Echos – eine Antwort aus dem Zauberreich? Ist es ein Spiegel, in dem der geheime Körper des Wortes sich selbst erblickt? Wir fühlen wohl, daß wir hier die Bedeutung streifen, aber wenn es so wäre, dann müßte jeder zweite Vers dem ersten gegenüber schwächer sein. Näher treten wir den Verhältnissen, wenn wir im Reim einen doppelten Spiegel erkennen, der einen in der Mitte ruhenden Gegenstand zwiefach sichtbar macht, oder ein doppeltes Echo, das ein und dieselbe Urstimme erweckt. Hier aber müssen wir einhalten, denn wir sprechen nicht mehr von den Vokalen selbst. Wir wissen aus der Geometrie, daß eine Figur unzählige ähnliche Figuren, aber nur eine kongruente besitzt. Die Beschwörung durch den Reim ist eine doppelte. Er beschwört einmal, und zwar durch den Konsonanten, die Mannigfaltigkeit der Welt und die Ähnlichkeit ihrer Bildungen, zum andern aber ihre tiefste Übereinstimmung, die einer zeitlosen Quelle entspringt und das flüchtige Gefäß der Vokale erfüllt.

Wir begannen diesen Abschnitt mit der Erinnerung. Der Reim ist die Erinnerung an die gemeinsame Wurzel der Worte, bis zu der keine Sprachforschung jemals vordringen wird und die der Dichter in seinen Träumen errät.

3

Die Wörter sind aus Mitlauten und Selbstlauten zusammengesetzt. Eine merkwürdige Ausnahme in unserer Sprache bildet das Wort Ei; Ausnahmen dieser Art, wie das französische Eau oder das englische I, regen überhaupt zum Nachdenken an. Rein vokalische Präpositionen wie das lateinische A- und E- sind unserer Sprache unbekannt; wir haben es hier auch kaum noch mit Wörtern, sondern eher mit Signalen zu tun, wie denn auch das -O des Vokativs in einen reinen Ausruf oder eine Beschwörung übergeht.

Hier berühren wir eine jener Gaben, über die der Mensch täglich verfügt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie er denn überhaupt seine eigentlichen Kräfte als Organe einer angeborenen Bildung gebraucht. Wir meinen die Tatsache, daß der Mensch neben der Wortsprache eine reine Lautsprache besitzt, die die Wortsprache umfaßt und durchdringt. Sie durchdringt sie insofern, als überall, wo der Mensch wirklich spricht, die Lautbedeutung die reine Wortbedeutung zu steigern und zu beflügeln sucht. Wir streiften diese Tatsache bereits bei der Erwähnung des »inneren Reims« und werden uns noch eingehender mit ihr beschäftigen. Die Lautsprache umfaßt aber auch die Wortsprache insofern, als der Mensch sich der Wortsprache nur innerhalb eines beschränkten Ausschnittes bedient.

Die Wortsprache ist einer Mittellage angemessen, und zwar jener Lage, in welcher der Mensch über das ihm zugeordnete Gut der Freiheit verfügt. Hier besteht ein geziemender Abstand zwischen ihm und dem Wort – wir sagen, daß der Mensch das Wort ergreift oder sich der Rede bedient. Freilich hat dieser Abstand seine Spannweite – etwa von der großen Entfernung, die das geschriebene Wort vom Schreibenden trennt, bis zur unmittelbaren Nähe, die der Geist während der bewegten Rede zur Sprache gewinnt. Überall jedoch, wo er in seinen Ordnungen schaltet und waltet, ist der Mensch der unbeschränkte Herr über sein Wort, und dieser Freiheit entspricht eine Verantwortung, die sich bis zur bindenden Gewalt des Eides zu steigern vermag.

Wir leben jedoch nicht in der menschlichen Ordnung allein, sondern gehören zugleich dem Elementarreich an, das diese Art der Freiheit nicht kennt. Wo wir in seine Zone einschneiden, verläßt uns die Wortsprache bald, und es stellt sich die reine Lautsprache ein. Das gleiche geschieht, wenn das Bewußtsein unserer Freiheit durch die Begegnung mit dem Übermächtigen aufgehoben wird. In solchen Lagen schmilzt der Abstand zwischen der Sprache und dem Sprechenden ein; das Wort versagt seinen Dienst. Zugleich freilich stellen sich Arten des Verständnisses ein, die auf Worte nicht angewiesen sind. Die Sprache steht uns wie unsere Sehkraft zu Gebot, die uns sowohl im Dunkel als auch im blendenden Lichte verläßt. In jenen hohen und tiefen Schichten, in denen die Freiheit mächtigen Einbeziehungen weicht, verstummen die Worte, oder es bleiben nur ihre Samenkörner zurück.

Von jeher hat man daher auch auf dieser einen oder anderen Seite den Ursprung der Sprache vermutet; die Verschiedenartigkeit dieser Vermutungen hat ihren Ausdruck gefunden in der alten und großen Streitfrage, ob die Sprache tierischen oder göttlichen Ursprungs sei. Sie wird nie entschieden werden, wie alle großen Streitfragen dieser Art, von denen wir nur wenige besitzen und die jedes neue Geschlecht von neuem stellt und zu beantworten sucht. Der eigentliche Sinn solcher Fragen, wie der nach der Freiheit oder der Unfreiheit des Willens, nach der Vergänglichkeit oder der Unsterblichkeit, liegt darin, daß sie die Prüf- und Feuersteine des Gedankens sind. Man errät sie nie, aber man verrät sich durch ihre Beantwortung.

In der Tat schmelzen die Bedeutungen der Lautsprache mannigfaltig ineinander ein, und unentwirrbar sind die Extreme der Leidenschaft. Wohl auf keinem Gebiet wird dies deutlicher als auf dem der Tragödie. Hölderlin sagt in einem, übrigens nicht einfach zu entziffernden, Absatz seiner Anmerkungen zum »Ödipus«, daß die Darstellung des Tragischen vorzüglich auf diesem Verhältnis beruhe, und oft stoßen wir in seiner Übersetzung dieses Trauerspiels auf Stellen, an denen die Gewalt des Schmerzes die Gefüge der Wortsprache vulkanisch zersprengt:

Weh! Weh! Weh! Weh!

Jo Dämon, wo reißest du hin?

Jo Nachtwolke mein! du furchtbare,

Umwogend, unaussprechlich, unbezähmt,

Unüberwältiget! o mir! o mir!

Das sind Laute, die an Götter und Steine gerichtet sind.

4

Jeder bedeutende Schmerz, auf welchem Gebiet er auch empfunden werden mag, drückt sich nicht mehr durch Worte, sondern durch Laute aus. Die Stätten der Geburt und des Todes sind von solchen Lauten erfüllt. Vielleicht haben wir sie in ihrer vollen Stärke zum ersten Male wieder im Kriege vernommen – auf den nächtlichen, von den Rufen der Verwundeten erfüllten Schlachtfeldern, auf den großen Verbandplätzen und in der Erstarrung des jähen Todesschreies, dessen Bedeutung niemand verkennt. Das Herz empfindet diese Laute anders als Worte; es wird gleichsam durch Wärme und Kälte unmittelbar berührt. Die Menschen werden sich hier sehr ähnlich; durch den großen Schmerz wird die Eigenart dessen, der ihn empfindet, zerstört. Ebenso werden die Besonderheiten der Stimme zerstört. Die Konsonanten werden verbrannt; die Laute des höchsten Schmerzes sind rein vokalischer Natur.

Aber nicht nur der Schmerz besitzt seine Lautsprache, sondern die Leidenschaft überhaupt. Liebe, Haß, Wut, Entsetzen, das Geschlecht, der Triumph des Sieges, die Klage des Untergangs, die hohe Begeisterung – sie alle haben ihre Laute, deren Kenntnis und Anwendung uns auf natürliche oder übernatürliche Weise durch Geburt gegeben ist. Sie alle umschließen nicht nur die Wortsprache, sondern dringen auch in sie ein. Wie oft erstaunt man, wenn man die großen Reden liest, die die Geschichte uns überliefert hat und die die Hörer so unwiderstehlich begeisterten, über die völlige Nichtigkeit ihrer Inhalte. Freilich nimmt man, indem man das Verklungene liest, nur die ausgebrannte Hülse wahr, nicht aber das Feuerwerk der politischen Leidenschaft.

Bei allen wesentlichen Begegnungen zwischen Menschen horchen wir durch die Wortbedeutung auf die reine Lautbedeutung hindurch. Wir erkennen den Feind besser an seiner Stimme als an dem, was er sagt. Aus diesem Grunde ist es schwieriger, in einem dunklen Zimmer zu lügen als in einem beleuchteten. Die feinsten Ohren hat die Furcht, wie denn auch die furchtsamsten Tiere Ohrentiere sind. Die besten Gespenstergeschichten zeichnen sich dadurch aus, daß man die Annäherung des Gefährlichen nicht sieht, sondern hört; und in der Schlacht wird man am heftigsten durch Geräusche erschreckt. Das Opfer erkennt seinen Mörder bereits in dem Augenblick, in dem er es in ein Gespräch zu verwickeln sucht, und die Stimme, die uns das Todesurteil spricht, unterscheidet sich von allen anderen. In engen Wohnvierteln der großen Städte wird man zuweilen Zeuge jener Steigerung, mit der der reine Wortstreit sich zu ungezügelten Ausbrüchen des Hasses entflammt, und das Lautbild, das man so empfängt, gehört zu den Symbolen menschlicher Unzulänglichkeit. Unterschiede, die in der Sprache der Diplomaten so lautlos wie der Gang von Katzenpfoten sind, setzen sich auf anderen Ebenen im Jubel der Angreifer und im Geschrei der Sterbenden fort.

So lassen sich beliebig Beispiele anführen für den Umfang, den die wortlose Sprache der Leidenschaft besitzt, und immer wieder erstaunt man über die Rolle, die der Vokal in dieser Sprache spielt. Diese Rolle beginnt mit dem »lallenden Wörterbuche der Ammenstube«, wie es Herder nennt, mit der ersten Verständigung zwischen Mutter und Kind, die rein vokalischen Charakter besitzt. Sie greift aber auch weit über die menschliche Ordnung hinaus, wie es sich in den Lauten offenbart, durch die wir uns mit den Tieren zu verständigen suchen, und wir lesen in den Augen des Hundes, daß er unsere Neigungen und Absichten errät. Selbst die Schlange wird durch Laute gebannt, und umgekehrt liegt eine tiefe Bedeutung in der Sage, daß Siegfried, nachdem ihn das Drachenblut berührt hatte, die Sprache der Vögel verstand. Das Blut des Drachen, die Wurzeln der Kräuter, der Zauber der Steine und Runen erschließen die Geheimnisse der elementaren Natur.

Aber auch in anderer und geistigerer Richtung greift der Mensch fortwährend über seinen Umkreis hinaus. Vor den Opferaltären und in den Ringen der Zauberer, in den Kirchen, Klöstern und Einsiedeleien der großen Kulte ist man mit der Macht der Anrufe vertraut. In den mächtigen lösenden und bindenden Formeln ist die magische Kraft uralter Laute verwahrt. Endlich schildert uns die Überlieferung von der Ausgießung des Heiligen Geistes eine Lautsprache von so hoher geistiger Gewalt, daß sie die Bedeutung aller Muttersprachen in sich vereint.

5

In den Interjektionen oder Empfindungswörtern sind uns die Überreste oder die Ansätze einer reinen Vokalsprache aufbewahrt. Zwar können viele Worte, insbesondere die Namen von Göttern und Menschen, den Charakter von Interjektionen annehmen, doch gilt dies vor allem und im buchstäblichen Sinn von den fünf Vokalen, die wir unterscheiden, und von ihren Verbindungen und zahllosen Schattierungen.

Leibniz hielt eine rein auf musikalischen Zeichen beruhende Sprache für möglich, und Vico nimmt an, daß die Ursprache aus gesungenen Vokalen gebildet gewesen sei. Eine solche Sprache müßte freilich zugleich einfacher und tiefer sein als die künstlich erfundenen kosmopolitischen – sie müßte eine Elementarsprache sein. Jedenfalls sind Gelegenheiten, bei denen der Mensch sich rein durch die Anwendung der Vokale unterhält, gar nicht selten, und sie sind vielleicht die einzigen, bei denen die Menge zur einstimmigen Äußerung fortgerissen wird.

Das ist bei starken sinnlichen Eindrücken der Fall, vor allem dort, wo das Schöne sich mit dem Barbarischen berührt. So setzt sich während eines Feuerwerkes das Aufsteigen und die Entfaltung der bunten Raketen in Laute der Bewunderung um, deren Einhelligkeit erstaunlich ist. Ähnliche Laute hört man überall, wo der Mensch grell und ohne Verfeinerung angesprochen wird und wo er zum Genuß einer naiven Festfreude versammelt ist, auf den Volkswiesen und Jahrmärkten mit ihren Spaßmachern, Kaspertheatern, Ungeheuern, Zoten, Hexenschaukeln, Glücksrädern, magischen Laternen, Lach- und Spiegelkabinetten und ähnlichen Darbietungen. Wie kommt es übrigens, daß es auf all diesen Plätzen so viel Einrichtungen gibt, die die Erzeugung des körperlichen Schwindels beabsichtigen?

In Tiergärten, in denen Pfauen gehalten werden, stößt man zuweilen auf Gruppen, die den Pfau durch Laute einer schmeichlerischen Bewunderung zur Entfaltung seines Rades zu verführen suchen. Wir hören hier ein besonders gefärbtes, angestrahltes A, O und Ei, Laute, durch die der Mensch die Tiere überhaupt mit Vorliebe anzulocken strebt.

Der große Beifall in den Theatern steigert sich häufig zu vokalischer Einstimmigkeit; dasselbe gilt vom Theaterskandal. Selbst die Instrumentation dieser Kundgebungen ist auf Vokale abgestimmt. Im Klatschen drückt sich das A der Bewunderung aus, während in den Pfiffen das I des Abscheus verborgen ist. Wo die Zerrüttung der menschlichen Ordnungen bis zum Blutvergießen vorgeschritten ist, wird sich das durch eine Veränderung der Laute ausdrücken, wie wenn Wasser ins Kochen gerät. In den beratenden und gesetzgebenden Versammlungen wachen Stimmen auf, die kein besonnener Zuspruch, keine geordnete Rede zu besänftigen vermag. Zugleich wird man auf den Straßen und Plätzen Rufe und Lieder vernehmen, die über Nacht geboren und am Morgen in aller Munde sind. Hierher gehört das

Ah! ça ira, ça ira, ça ira!

Les aristocrats à la lanterne!

in dessen beiden farbigen Vokalen, deren Kontrastierung durch zischende und pfeifende Konsonanten gesteigert wird, deutlich zum Ausdruck kommt, was die Uhr geschlagen hat. Wo solche Laute erwachen, muß das freie Wort verstummen, so wie man im Zirkus die Götterbilder verhüllte, wenn blutige Spiele bevorstanden.

Hell und dunkel, wie Blut und Erde, sind die Rufe, die den Stier begrüßen, der in der Arena erscheint. Einstimmig ist ferner der Schrei des Entsetzens, der uns bei plötzlichen Unglücksfällen erstarren läßt – allerdings unterscheidet er sich nach den Geschlechtern, denen ein verschiedenes Verhältnis zum Tode gegeben ist. Bei einem Straßenunfall etwa vernimmt man vor allem den schrilleren weiblichen Laut. Der berühmte Untergang der »Titanic« hat auf unsere Geistesgeschichte einen ähnlichen Einfluß ausgeübt wie seinerzeit das Erdbeben von Lissabon; Zeugen schildern, daß in dem Augenblick, in dem das Wrack im Meere versank, der Todesschrei von fünfzehnhundert Menschen die Luft erschütterte.

Vor allem aber ist es der menschliche Gesang, in welchem der Vokal sich mit dem Wohlklang vereint. In ihm ist dem Menschen eine Kunst verliehen, in der sich die Freiheit des Wortes mit der Gebundenheit des Lautes vermählt. In seinen Chören durchdringt sich geistiges Maß mit jener elementaren Sicherheit, die den Wendungen des Vogelzuges innewohnt. Immer galt er daher als das Mittel hoher und höchster Übereinstimmung. Vom Gesang wird gerühmt, daß er das Niedere, Trennende verbannt und dem Sinn das Einende und Heilsame erschließt. Er begleitet und krönt den geselligen, staatlichen und kultischen Kalender, in dem das Leben schwingt und sich wiederholt. Neben dem Gebet ist er die Form des unmittelbaren Anrufes.

Ebenso wie eine Verständigung durch musikalische Zeichen möglich ist, wären wohl auch Darstellungen von bezaubernder Gewalt möglich, durch die einem Zuschauerringe das vokalische Uralphabet entrissen werden könnte, das dem allen zugrunde liegt. Vielleicht hat dies unter den Künsten des Menschen bisher die griechische Tragödie am nächsten erreicht.

6

Wenn wir nun versuchen, die einzelnen Vokale in ihrer besonderen Beziehung zu den Leidenschaften zu betrachten, so finden wir bald, daß es hier an greifbaren Regeln fehlt. So teilen sich in das A und das O sowohl die Lust als auch der Schmerz. Zwar sind wir mit großer Leichtigkeit imstande, den Wert auch der feinsten Schattierung zu unterscheiden, aber es fällt uns sehr schwer, uns von dem Schlüssel Rechenschaft zu geben, der solche Unterscheidungen möglich macht. Darüber hinaus besitzt nicht nur jeder einzelne Vokal eine große Spannweite, sondern die sinnliche Bedeutung der Vokale wandelt sich auch mit dem Unterschiede der Sprachen, der Dialekte, ja selbst der Stammeseigentümlichkeiten ab. So drückte das doppelt oder vierfach ausgerufene E bei den Griechen einen Zustand hohen Schmerzes aus. Indem wir diesen Laut als »Weh!« übersetzen, wandeln wir eigentlich schon eine reine Lautbedeutung in eine Wortbedeutung um.

Es besteht zunächst innerhalb der Spannweite jedes einzelnen Vokals ein Unterschied von Hell und Dunkel, Klar und Dumpf, Reinheit und Oxydation, der jedoch mit dem Unterschied der Tonhöhen durchaus nicht immer korrespondiert. So hören wir, daß in einem Rufe wie Oho! das erste O noch ein reines Erstaunen, das zweite bereits einen Zusatz von Drohung enthält. Die Arten des Erstaunens und der Überraschung lassen sich überhaupt mit fast allen Vokalen zum Ausdruck bringen, ebenso die des Schmerzes, seltsamerweise aber nicht die des Glückes und der Lust.

Ebenso wie die einzelnen Vokale in sich selbst, so weisen sie auch untereinander Spannungen auf. Innerhalb dieser größeren Spannung drängt sich die allgemeine Beobachtung auf, daß das A und das O den hohen und erhabenen, das I und das U den tieferen und dunklen Dingen zugewandt sind, während das E eine Mittellage beizubehalten strebt. An eine Welt des A und O schließt sich eine andere des I und U, und es klingen hier nicht nur die Unterschiede zwischen Oben und Unten, Hoch und Tief, Flamme und Dunkelheit, sondern auch die zwischen Vater und Mutter an. Da wir uns jedoch mit diesen Verhältnissen auf einer höheren Ebene als auf der der Leidenschaften beschäftigen wollen, seien vorerst einige untergeordnete Beziehungen angeführt.

In unseren Zurufen drücken das A und das O vor allem Zuneigung, Bewunderung, Beifall aus. Dem U und I dagegen sind Abneigung, Ekel, Verachtung und Angst zugeteilt. Ein Anruf wie unser Hallo, mit dem wir ein Ferngespräch einzuleiten pflegen, scheint uns der passende Ausdruck für eine Anknüpfung oder eine Verbindung zu sein. Eine Darbietung, die gefällt, wird mit Da capo und Bravo begrüßt; das Mißfallen dagegen bricht in Pfui- und Schluß-Rufe aus. Dieser Unterschied deutet sich auch im Klang der Glocken an, die man ihren Aufgaben entsprechend stimmt. In den Vokalen des bekannten Glockenspruches:

Vivos voco

Mortuos plango

Fulgura frango

klingen die verschiedenen Arten des Geläutes trefflich an.

Bedeutend und die Mittel der Tragödie streifend ist die Stelle in den »Karamasows«, in der das Unheil mit dem Klang eines Schlittenglöckchens näherkommt. Die kleinen Glocken, deren sich die Feuerwehr bedient und die man in den Nächten häufig vernimmt, strahlen eine bösartige Wachsamkeit aus; sie stimmen zum grellen Licht der Scheinwerfer.

Überhaupt sind die Laute, von denen wir in unseren großen Städten umgeben sind, meist trauriger und gefährlicher Natur; sie sind fast alle auf U oder I gestimmt. Der Ton der Sirenen, die zur Arbeit rufen, könnte von Dämonen erfunden sein. Vom Strom der Verkehrsmittel geht unaufhörlich eine Fülle von heulenden, pfeifenden, schrillenden oder dunkel warnenden Signalen aus. Ganz unverhüllt tritt das Drohende und Gebieterische dieser Laute in den peitschenden Pfiffen des Panzerwagens hervor, der eine Volksmenge zerstreut. All diese Töne vereinigen sich bei den großen Katastrophen, von denen die Zivilisation begleitet ist, und sie klingen um so schrecklicher, als man die Lichter, die sie sonst mildern, löscht. Sie verkünden den Tod, der sich in ausströmenden Gasen oder in feindlichen Geschwadern nähert, und vielleicht müßte man in sehr großer Höhe über diesen nächtlichen Revieren schweben, um ihren Einklang als den Urschrei eines seltsamen Ungeheuers zu verstehen.

Aber nicht nur den sehr lauten, sondern auch den sehr leisen Geräuschen unserer Welt haftet dieser dunkle Charakter an. So spricht sich im Summerton, der bei uns eine große Rolle spielt, eine Art von insektenhafter Bösartigkeit aus. Das wird uns besonders deutlich, wenn wir nachts in ein Zimmer treten, in dem dieser Ton schon lange, und zuweilen durch ein feines Klingeln unterbrochen, erscholl.

Das E hält in diesem Zusammenhang eine Mittellage ein. Unsere Anrufe auf E zielen meist auf die Erregung einer zunächst inhaltlosen Aufmerksamkeit ab und lassen eine Entscheidung offen; so entspricht unser Wer da? einer Lage, die ebensogut eine freundliche wie eine feindliche Begegnung einleiten kann. Im Vergleich mit ihm bildet das französische Qui-vive? ein Beispiel dafür, daß in zwei völlig gleichen Lagen das eigentliche Lebensgefühl sich sehr unterscheiden kann – es ist bedeutend mehr auf den Gegner zugespitzt. Das französische Eh dagegen scheint geeigneter, eine Frage im Zustand einer oberflächlichen Unbestimmtheit zu lassen, als unser entsprechendes Nun. Das E ist unser häufigster Vokal; es tritt mit Vorliebe in den unbetonten und unwichtigen Silben auf. Merkwürdig ist ferner, daß ein Redner, der »steckenbleibt«, die entstehenden Pausen mit Vorliebe durch ein eingestreutes E auszufüllen sucht.

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Die verschiedenen Beziehungen der Vokale zu den Leidenschaften klingen naturgemäß auch in den Arten des Lachens und Weinens an. Besonders hat man im Lachen von jeher einen Prüfstein gesehen, an dem man die Eigenart und Andersartigkeit eines Menschen erkennt. In der Tat kann es nichts Verräterischeres geben als ein Gelächter, vor allem, wenn es aus einem Augenblick des Schweigens heraus erschallt. So hört man zuweilen in den Theatern ein vereinzeltes Lachen, das eine vollkommen ernste oder auch feierliche Stimmung unterbricht. Ein solcher Laut ist nicht weniger aufschlußreich als jener Zuruf, der den Kranichen des Ibykus galt. Wir dürfen hier unter anderem auf einen großen Unterschied der Rassen schließen, wie man denn auch in China bei Hinrichtungsszenen lachen soll. Das Lachen verrät auch den niederen Rang, der sich unwillkürlich offenbart; das Unziemliche wird uns deutlich, wenn wir sehen, daß jemand sein Gelächter zu verbergen sucht, indem er sich den Mund mit der Hand verschließt.

Als vollkommen angenehm empfinden wir eigentlich nur das Lachen auf A, weniger das auf O, während das E bereits bedenklich klingt und das Hämische streift. Als durchaus bösartig betrachtet man ganz allgemein das Lachen auf I, aus dem man Spott, Ironie, verhüllte Schadenfreude und Schlimmeres hört. Merkwürdig ist, daß man gerade dieses Gelächter, das »Kichern«, häufig von gnomenhaften und verwachsenen, aber auch von ausgesprochen geistreichen Personen vernimmt. Auf U endlich lacht überhaupt kein Mensch.

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Bevor wir nun einen letzten Aussichtspunkt über die Welt der Vokale zu erreichen suchen, sei noch die Möglichkeit eines naheliegenden Mißverständnisses gestreift. Dieses Mißverständnis würde in der Meinung bestehen, daß die Lautbedeutung aus der Wortbedeutung abzuleiten und daß der reine Sprachgeist gewissermaßen aus ihr herauszudestillieren sei. Dies ist jedoch keineswegs der Fall; Wortbedeutung und Lautbedeutung unterscheiden sich oft genug. Gewiß kann man überall treffliche Beispiele in Hülle und Fülle anführen, aber für jedes dieser Beispiele gibt es wiederum den entgegengesetzten Fall. Wer so das Hörrohr an die Worte hält, gerät bald auf den Weg der Künstelei; und es trifft für ihn die schöne Bemerkung Pascals zu, daß jemand, der »Antithesen macht, indem er die Worte zwingt, demjenigen gleicht, der der Symmetrie wegen falsche Fenster setzt«. Man könnte auch sagen, daß er an den Mann erinnert, der die Bedeutung seiner Träume in einem Traumbuch nachzuschlagen sucht. Wir berühren hier die Klippe der meisten kombinatorischen Versuche überhaupt.

In das Verhältnis zwischen Laut und Wort spielt auch die Perspektive ein, insofern man sowohl die eine als auch die andere der beiden Größen im Vordergrunde betrachten kann. Vom Wort aus gesehen, kann an der dienenden Rolle des Lautes kein Zweifel bestehen. Dies ist an der Art ersichtlich, in welcher der Laut am Wort als an einem bald flüssigeren, bald zäheren Mittel arbeitet. Hierfür bieten die Sprachgeschichte und in der Gegenwart die Einschmelzung vieler Fremdwörter gute Beispiele. Als Ausnahme wäre die reine Tonmalerei zu betrachten, in der das Wort unmittelbar dem Laut entspringt. Da derartige Bildungen, wie sie etwa Bürger in seinen Gedichten anwendet, dem Belieben anheimstehen, geben sie dem Vortrag leicht einen spielerischen Klang oder auch einen anarchischen Zug. Die eigentliche Freiheit der menschlichen Sprache liegt aber gerade darin, daß sie nicht Echo oder Nachahmung ist; und das Wort entsteht nicht wie jene Klangfiguren, die man erzielen kann, indem man eine Glasplatte mit dem Geigenbogen streicht.

Dieses Verhältnis ändert sich freilich in spiegelbildlicher Art, wenn man den Laut in den Vordergrund der Betrachtung rückt. Während die Sprachen der Geschichte angehören, stehen die Laute außerhalb der Zeitrechnung. Die Sprachen leben wie Pflanzen, aber die Laute gehören, wie die Erde, in der sie wurzeln, zum Urstoff der Welt. Als Symbol, als reines Bild steht der Laut, und der Selbstlaut im besonderen, daher außerhalb der Sprache und ihrer Bewegungen. Die Sprache reicht mehr oder weniger an diese Bedeutung heran, und die Wörter zeichnen sich mehr oder weniger scharf im Spiegel des Urbildes ab. Wo wir daher im folgenden Wörter zu Rate ziehen, ist es in diesem Sinne gemeint – im Sinn einer Aushilfe, da ja die Beschreibung auf Wörter angewiesen, während das Urbild seinem Wesen nach unbeschreiblich und nur aus den Wirkungen seiner Kräfte zu erraten ist.

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Nicht mehr als eine Aushilfe ist es auch, wenn wir die Töne zu anderen Gebieten der sinnlichen Wahrnehmung, etwa zu dem des Lichtes, in Beziehung setzen. Wir kommen so nicht um einen Schritt näher an die Urbilder heran, jedoch wird uns ihr Umfang deutlicher.

Daß zwischen dem Licht und den Lauten Verwandtschaften bestehen, hat man zu allen Zeiten gewußt. Ein schönes Sinnbild dieser Verwandtschaft ist der harfenartige Ton, den der Sonnenaufgang der Memnonssäule entlockte; die Alten erkannten in ihm den Gruß, den Memnon seiner Mutter Eos erwiderte. Für Angelus Silesius sind Farben und Töne im Geiste eins; Hoffmann weiß den Blick, indem er sie vertauscht, auf ihre tiefere Einheit zu richten, die französischen Romantiker folgen ihm hierin nach. Von Rimbaud stammt das schöne Gedicht, in dem jedem Vokal eine Farbe zugeordnet wird. Daß solche Verwandlungen nicht etwa lediglich als Spiele einer eingebildeten schöneren Welt aufzufassen sind, lehrt uns die praktische Erfahrung jeden Tag. Die Verwandlung der Töne in Licht und des Lichtes in Töne gehört zu den technischen Künsten unserer Zeit.

Das eben erwähnte Gedicht von Rimbaud steht zu unserer Untersuchung in besonderem Zusammenhang. Wir besitzen von ihm die vortreffliche Übertragung von Ammer; die Übersetzung von George ist weniger gut. Rimbaud meint den Sinn der Vokale zu erfassen in der Zusammenstellung A: schwarz, E: weiß, I: rot, U: grün, O: blau; er erläutert diese Zusammenstellung durch kurze Vergleiche aus der sinnlichen Welt.

Wenn wir nun diese Entsprechungen prüfen, so empfinden wir bei den meisten ein Gefühl des Widerspruchs, mit Ausnahme des E, dessen Beziehung zum Weiß unmittelbar einleuchtet. Auch zwischen dem I und dem Rot können Beziehungen bestehen. Da Rimbaud über einen Blick verfügt, der auch jenseits der rein artistischen Sphäre zu sehen versteht, so deutet sich hier wohl die tiefe Verschiedenheit zwischen zwei Sprachen an. Jedenfalls sehen wir uns eher geneigt, dem A und dem O die beiden Lichtfarben Rot und Gelb zuzuordnen, während I und U den dunkleren Erdfarben nahestehen.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den Vokalen und den Farben liegt freilich darin, daß die Farben sich im Nebeneinander, die Vokale im Nacheinander unseren Organen darstellen. Während wir daher die Farben in bildhafter Ruhe betrachten können, treten die Vokale im beschleunigten Gang der Sprache in stets wechselnden Folgen und Verbindungen auf, in kaleidoskopischen Konfigurationen, in denen das einzelne Steinchen immer neue und überraschendere Tönungen gewinnt.

Diese Mannigfaltigkeit der Anordnung erhebt sich durch die Stimmung in eine weitere Potenz. So stehen in den Anfangsversen des Ça ira nicht nur die beiden Vokale im Kontrast, sondern das A weist auch noch eine innere Spannung auf, indem es sowohl einen triumphierenden als auch einen parodierenden Beiklang trägt.

Überhaupt ergibt sich bei solchen Vergleichen die besondere Schwierigkeit, daß die symbolische Bedeutung sich in Widersprüchen offenbart. So ist das Rot die Farbe der Herrschaft und des Aufruhrs, das Gelb die Farbe der höchsten Vornehmheit und des Pöbels, das Blau die Farbe des Nichts und des Wunderbaren zugleich.

Ähnliche Widersprüche werden uns entgegentreten, wenn wir uns mit der Bedeutung der Vokale im einzelnen beschäftigen.

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Das A, das in fast allen Alphabeten den ersten Platz behauptet, ist als der unbestreitbare König der Vokale anzusehen. Selbst dort, wo man es als reines Bedeutungszeichen verwendet, kündet es das Erste und Hervorragende an. In der Offenbarung Johannis wird es als Symbol des Höchsten und Allumfassenden angesprochen, in der Logik veranschaulicht es, sich selbst gleichgesetzt, den Satz der Identität. In der Algebra treffen wir es als das Zeichen der ersten bekannten Größe, auf den Geldstücken als den Stempel des ersten Münzortes an. Jacob Grimm rühmt das A als den ersten und edelsten Vokal, der gleichsam die Mutter aller Laute sei.

Dieser letzte Vergleich indessen scheint uns nicht glücklich gewählt. Das A ist vielmehr der eigentlich väterliche Laut, das höchste und königliche Zeichen der Paternität. In ihm klingt zugleich die Höhe und die umfassende Weite des Lebens und der Herrschaft an. Seine doppelte Ausdehnung tritt in unserem Wort Aar prächtig hervor; ihr entspricht in der mütterlichen Welt die Silbe Ur-, die in uns die Vorstellung der dunklen Tiefe und des Ursprungs erweckt und die zu den Worten zählt, in denen der deutsche Sprachgeist am bedeutendsten zum Ausdruck kommt.

Die Farbe, die wir für das A wählen würden, müßte der Purpur sein – ein Purpur, der an den tonlosen oder sich dem E nähernden Stellen allmählich verblaßt.

Als Ausruf kündet das volle A den höchsten Grad der Bewunderung an, im Lachen die hohe, joviale Heiterkeit.

In unseren großen Formeln, Zaubersprüchen und Gebeten verkündet das A den Anruf der höchsten Macht, und je weiter wir in dieses Gebiet eindringen, desto mehr erstaunt uns der hohe Grad von Notwendigkeit, der unserer Sprache innewohnt. Die gewaltigste dieser Formeln lautet: »Im Namen des Vaters«, und außerordentlich sind auch die ersten Worte der Genesis: »Im Anfang schuf«, in denen sich die Höhe der Macht mit der dunklen Tiefe der Zeugung vereint.

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Während im A der Gegensatz von Höhe und Weite ruht, tritt im O der Gegensatz von Höhe und Tiefe hervor. Das O ist der Laut der Aristokratie, die zugleich beschränkter und exklusiver ist als das väterliche Königtum. Es leuchtet daher ein, daß es von der Sprachforschung nicht den ursprünglichen Vokalen zugerechnet wird. Unter den Farben scheint ihm die gelbe, unter den Metallen das Gold zugeordnet, was auch damit zusammenhängt, daß in ihm der eigentliche Lichtlaut zu erblicken ist. Selbst wenn wir es heute schreiben oder drucken, verwenden wir noch ein uraltes Ideogramm, das nach der Form des geöffneten Auges gebildet ist. Poe bezeichnet es in seiner »Philosophie der Komposition« als den klangvollsten Vokal. Das A ist der Adler, das O der Falke der tönenden Welt.

Wir finden das O in vielen Sprachen in den Wörtern, welche die Sonne bezeichnen; sehr rein tritt der Vokal auch im Namen des strahlenden Apollo hervor. Vico führt in seiner »Neuen Wissenschaft« die Entstehung dieses Namens auf einen vokalischen Schutz- und Verehrungsruf der Griechen anläßlich der Tötung des großen Drachens Python zurück. Auch der Lichtklang verschiedener Versmaße, so der italienischen Terzine, wird vorzüglich durch das O wie durch den rhythmischen Anschlag an Glocken hervorgebracht.

Das anrufende O des Vokativs führt sich wohl auf Urformen der Verehrung zurück. Wie sehr solche Formen doch immer unbewußt lebendig sind, kann man unter anderem feststellen, wenn man im Register der Kirchengesangbücher die große Zahl der Lieder nachschlägt, die mit O oder auch mit Hoff, Komm oder Lob beginnt.

Als Ausruf ist das O ebenso wie das A Zeichen der Bewunderung, allerdings einer Bewunderung, die in ausgesprochener Weise Richtung besitzt. In der lateinischen Sprache verbirgt sich im O des Vokativs die Richtung vom Sprechenden auf den angesprochenen Gegenstand, im A des Ablativs dagegen die Ausstrahlung vom Gegenstande her. Auch in diesem Verhältnis spiegelt sich der Unterschied von Aristokratie und Monarchie.

Endlich tritt der dem O innewohnende Gegensatz zwischen Hoch und Tief auch im Gelächter hervor; das Lachen auf O birgt einen vorwiegend überlegenen, höhnischen, aber auch trotzigen Klang. Während das O als Ausruf nach oben gerichtet ist, klingt es als Spott- und Hohngelächter in entgegengesetzter Richtung herab.

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Wie dem A die Höhe und Weite, dem O die Höhe und Tiefe, so ordnet sich dem E die Ausdehnung der Ebene zu. Die beiden Reiche, die sich in diesem Laut begegnen und überschneiden, sind die des Leeren und des Erhabenen. Dem E steht die weiße Farbe zu; Wörter wie Meer und Schnee, See und Seele besitzen einen schimmernden Glanz. Dicht neben der Eigenschaft der höchsten Reinheit steht die des Langweiligen und Eintönigen, wie sie uns in Wendungen wie »Der Regen regnete« sinnfällig wird. Aus diesem Grunde vermeidet man auf der Bühne die reine Aussprache dieses Vokals. Das E ist der einzige Laut, mit dem man mühelos den vokalischen Inhalt ganzer Sätze bestreiten kann.

Unter den Elementen ist dem E vielleicht der Sauerstoff am engsten verwandt; es verfügt über einen hohen Grad an Durchsichtigkeit und Geschmacklosigkeit, auch besitzt es oxydierende Kraft. Es stellt sich mit Vorliebe an den leeren und unbedeutenden Stellen der Sätze ein und ist der Vokal der unbetonten Endungen und der rein grammatikalischen Veränderung. Seine oxydierende Kraft erweist sich in der großen Leichtigkeit, mit der es sich mit anderen Vokalen vermischt.

Die doppelte Beziehung zum Leeren und zum Erhabenen verleiht dem E einen besonderen mathematischen Rang. Es gleicht den gedachten Linien, mit denen man beliebige Inhalte begrenzt. In dieser Eigenschaft bietet es sich der Sprache als der Vokal des abstrakten Denkens an. So werden im Alphabet, das heißt, im abstrakten Katalog der Laute, die weitaus meisten Konsonanten durch das E vokalisiert. Auch sehen wir es vornehmlich in Verben auftreten, die eine ganz allgemeine Tätigkeit ausdrücken, welche auf eine Unzahl von wechselnden Inhalten bezogen werden kann. Sehen, reden, denken, nennen, messen, rechnen, begrenzen, leben, werden, weben, erkennen, entstehen, vergehen, verwesen sind Tätigkeitswörter solcher Art, von denen unsere Sprache eine unerschöpfliche Fülle besitzt und die sich im besondern in jenen Sätzen einstellen, in denen wir uns mit den Formen des Denkens selbst, also mit der Logik, beschäftigen. Hierauf beruht auch der völlig andersartige Urklang, den wir empfinden, je nachdem, ob ein Werk der höchsten Anschauung oder des höchsten Denkens uns im Banne hält. Es ist der große Unterschied zwischen Offenbarung und Erkenntnis, der uns hier entgegentritt. So vergleiche man die beiden Buchanfänge »Im Anfang war das Wort« und »Die Welt ist meine Vorstellung«.

Der Ersatz des E durch einen farbigeren Vokal gehört zu den Kunstgriffen, die jedermann beim Sprechen und Schreiben täglich vollzieht, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gibt. Ein farbiger Vokal stellt sich im gleichen Augenblick ein, in dem man den allgemeinen Begrenzungen einen besonderen Inhalt oder eine besondere Richtung zu geben wünscht. Indem wir etwa Sehen durch Blicken, Gehen durch Schreiten, Denken durch Begreifen, Nennen durch Bezeichnen ersetzen, machen wir vom geheimen Gesetze der Einschränkung Gebrauch und nähern uns der Anschauung. Das Wort Kern läßt sich in einem allgemeineren, weniger plastischen Sinn verwenden als Korn; wir sprechen von einer Kernfrage oder vom Kern eines Problems. Geld ist das abstrakt gewordene Gold. In Gulden klingt Schweres, Gewichtiges und in gülden Schimmerndes, Glühendes an.

Vermöge seiner Farblosigkeit spielt das E eine große Rolle in der sprachlichen Ökonomie. So gehört es zu den Schliffen des Ausdrucks, das E der Endungen zu verwenden oder auszusparen, je nachdem es der Rhythmus verlangt.

Mit den konstruktiven Eigenschaften des E hängt wohl auch zusammen, daß es im fortschreitenden Verlauf der Zivilisation die Sprachen stärker entfärbt, wie es etwa im Ersatz der starken Flexionen durch schwache zum Ausdruck kommt.

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Obwohl eine Betrachtung der Um- und Doppellaute hier zu weit führen würde, sei mit dem Ei und dem Au, die beide in unserer Sprache eine so große Rolle spielen, eine Ausnahme gemacht.

Das Ei ist der Laut der heiteren Zauberei und der glänzenden Geheimnisse. Man kann sich diesen Laut schlecht einfarbig vorstellen, eher als ein Weiß, das in Regenbogenschimmern spielt. Seine strahlende Wirkung tritt besonders dort schön hervor, wo es gegen das eintönige Weiß des E abgesetzt erscheint, so in Wörtern wie Edelstein, Elfenbein, Geschmeide, Ehrenkleid. Unsere Sprache wendet das Ei mit Vorliebe in Nachsilben an, wie in -ei, -heit und -keit, und sie hebt damit die Bedeutung der Wörter empor, die sie durch Nachsilben, in denen das U regiert, in die Tiefe versenkt. So vergleiche man Wortpaare wie Zufriedenheit und Befriedigung, Weisheit und Weistum, Fürstenheit und Fürstentum, Zauberei und Bezauberung. Je tiefer wir uns in solche Bildungen versenken, desto höher erstaunen wir über das gewaltige Erbteil, das uns in unserer Muttersprache überliefert wird.

Das Ei ist auch merkwürdig als der einzige Laut, der unmittelbar aus sich selbst heraus ein Tätigkeitswort erzeugt; im Niedersächsischen gibt es das Verbum eien, das die Bedeutung von »liebkosen« besitzt. Dieses Wort ist deshalb aufschlußreich, weil es gewissermaßen den reinen Euphon enthält, der in Wörtern von sehr verschiedener Sprachgeschichte widerklingt. Auffällig ist, daß eine große Zahl von ihnen heilende, segnende oder weihende Bedeutung trägt. Man darf daher in diesem Laut eine Kraft vermuten, wie sie dem Handauflegen innewohnt. Bezeichnend ist die richtende und aufrichtende Anrede, die mit Sei beginnt, dann viele Verben wie streicheln, streichen, reichen, reinigen, weihen, heilen, verleihen, gedeihen, feien, verheißen, leiten, breiten, bereiten; auch Wörter wie Heil, Eid, Feier, Geleit gehören hierher. Bemerkenswert ist die ungewöhnliche Bildung von benedeien aus benedicere, als Beispiel für den freien Zug, mit dem der Sprachgeist einen Laut dorthin zu bringen vermag, wo er seiner bedarf.

Als Ausruf ist das Ei der Laut der angenehmen Verwunderung. Auch begrüßen wir mit ihm das Schöne, das offen sichtbar wird, insbesondere das Bunte, Glatte und Strahlende. Kindern und Tieren gegenüber wird es als ein Zeichen der Zärtlichkeit verwandt; es ist recht eigentlich der Laut, der an Wiegen und Nestern erschallt.

In dem Choral »Sei Lob, Ehr, Preis und Herrlichkeit« leuchtet die bewundernde und auf den hohen Glanz gerichtete Anrufung deutlich hervor.

Der gleiche Laut strahlt wohltätig zurück. In dem Gedicht, in dem Kaiser Otto über seinen Bruder Gnade walten läßt, ist daher das »Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!« ein Anfang, der Gutes verheißt.

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Neben dem Ei ist es nicht minder das Au, das unserer Sprache eine ganz bestimmte Färbung verleiht. Seine eigentümliche Kraft liegt darin, daß in ihm der höchste Vokal sich mit dem tiefsten durchdringt; dies ruft in der körperlichen Welt eine schattige Wirkung, in der geistigen ein Gefühl des Schwindels hervor, wie es uns im Nebeneinander von Höhe und Tiefe befällt. Für den einen Anklang nennen wir das Laub, für den anderen den Traum. Mit dem Helldunkel hängt zusammen, daß es sich bald heiteren, bald traurigen Stimmungen zuzuwenden vermag; der Wechsel ist das Bezeichnende. Auch scheinen das Helle und das Dunkle bald kräftig voneinander abgesetzt, wie wir es etwa in Raum, Rausch, gaukeln und schaukeln empfinden, bald schmelzen sie ineinander ein – daher sind Wörter wie grau, Grauen, Schauer, raunen gut geeignet zur Andeutung unbestimmter Zustände. So bietet sich das Au der Sprache dar als ein Laut, in dem sich das Lebensgefühl sowohl mächtig zusammenzufassen als auch in seine feinsten Abstufungen und Beziehungen zu verlieren vermag. Darauf dürfte beruhen, daß es nicht leicht fällt, Stellen zu finden, an denen dieser Laut in seinem Umfang gemeistert wird und sich der Geist zur vollen Höhe der Sprache erhebt. Um so lieber führen wir eine Strophe an, in der man seine Eigenschaften frei und mühelos entfaltet sieht – es ist die dritte von »Der Kirchhof«, einem Hölderlinschen Gedicht:

Wie still ists nicht an jener grauen Mauer,

Wo drüberher ein Baum mit Früchten hängt;

Mit schwarzen, tauigen, und Laub voll Trauer,

Die Früchte aber sind sehr schön gedrängt.

Auch im Au als Ausruf erscheint seine helldunkle Art. Sie spiegelt die Folge, in der uns der physische Schmerz angreift. Der grellen Überraschung schließt sich unmittelbar die Wahrnehmung der Verletzung an.

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Schwierig ist die Deutung des I, das wie alle Vokale eine zwiefache Richtung in sich birgt. Während das A und das Oder väterlichen Welt zugeordnet sind und das E einen geschlechtslosen Charakter besitzt, gehört das I dem mütterlichen Reiche zu. Wir hören in ihm den eigentlichen Lebenslaut, den Laut der Verbindungen und des Zerfalls, und vom fleischigen Kern des Lebens aus strebt die eine seiner Fähigkeiten der tiefen Einheit, die andere der Verwesung zu. Seine lebhafte und feurige Seite tritt in dem französischen vivre schön hervor.

Bezeichnend ist vor allem das in als eine erotische Ursilbe von wirkender Kraft. Entsprechend bedeutet es als Nachsilbe in Wörtern wie Herrin und Löwin das Geschlecht. In der Voranstellung drückt es gern das Ein- und Abgeschlossene aus, so in Innung, Insel, Inhalt, Ingrimm, Inbegriff. Auch belebt es als Einschluß Wörter wie Ring, Minne, Linnen, Linde und Sinn. In Norwegen trifft man noch heute Vornamen wie Birgit, Ingrid und Sigrid an.

Auch viele andere Endungen, in denen das I regiert, sind geschlechtlichen Ursprunges, wie es im -lich von Beiwörtern wie sachlich, kindlich, das die Artgleichheit betont, besonders deutlich wird. Hierher gehört auch das Auftreten dieses Vokals in zahlreichen Verkleinerungssilben, die sich entweder dem Wesen nach wie unser -ling in Weichling, Feigling, Keimling oder der Sache nach wie das altdeutsche -lin und das Schweizer -li auf die geringere Größe beziehn.

Unsere Endungen auf -ie und -nis wie Industrie, Aristokratie oder Erlebnis, Gleichnis, Geheimnis, Erkenntnis geben den Worten einen abgeschlossenen Sinn, der Vorstellungen des Ringes oder des Kreises erweckt. Endungen dieser Art lokken zum Eindringen an, während umgekehrt Endsilben, in denen das Ei regiert, eine ausstrahlende Wirkung eigentümlich ist. So dringen wir in eine Wildnis ein, aber wir werden durch Wildheit überrascht. Das Sprachgefühl verwendet die Mannigfaltigkeit der Nachsilben mit einem schattierenden Instinkt.

Das I ist dem O in der Richtung entgegengesetzt; während das O den weiten, lichten Abstand betont, ist das I der Laut der tiefen Verbindungen. In diesem Sinne waltet hier der Unterschied zwischen Aristokratie und Demokratie; das I hat einen magnetischen, reißenden Zug. Es ruft zur inneren und innigen Gemeinsamkeit auf – oft in unwiderstehlichen Formeln, wie sie der mystischen Stimme oder auch dem Liebeszauber eigen sind. Dies klingt durch in unserem »Ich liebe dich«, jenem Wort, das auch die stolzeste Sonderung und die tiefste Kluft zwischen den Menschen zu überwinden vermag. Sehr schön hört man die verschiedenen Richtungen des I und des O anklingen in dem Hölderlinschen:

Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen.

Zwischen dem A und dem I bestehen ähnliche Spannungen; wir streiften sie bereits bei der Erwähnung des Ça ira. Leicht tritt hier das Hallende und Imperatorische zum Verbindlichen und Eindringlichen in Gegensatz, und daß wir für dieses Verhältnis auch in Kleinigkeiten ein feines Ohr besitzen, deutet sich darin an, daß wir es nicht lieben, wenn jemand auf eine Frage, die wir an ihn richteten, mit Was? repliziert. Als höflicher gilt es, mit Wie? oder Wie bitte? zu antworten.

Wo das I den wunderbaren und tiefen Sinn des Lebens trifft, stehen ihm klare, durchsichtige Farben an – etwa solche, wie sie die alte Initialmalerei verwendete. Es kann jedoch auch Beziehungen gewinnen zu jenem dunklen Rot, das man auf den Schlachtbänken erblickt und das an den Rändern ins Schwarze sticht. Mir wurde diese Farbe sehr deutlich, als ich auf einem südfranzösischen Markt in einem merkwürdigen, schrillen Dialekt den Ausruf vivi, sardini vivi! vernahm – er rührte von einer Frau her, die hinter mit kleinen Fischen überfüllten Körben um Käufer warb. Man muß Rimbaud recht geben, wenn er das I einem Blutsturz vergleicht.

Während das E der Laut der abstrakten Erkenntnis ist, finden wir im I den Laut der lebendigen Inhalte. Es kann daher nicht wundernehmen, daß dieser Vokal zum Witz eine tiefe Beziehung besitzt als zu einer Form des Geistes, die ganz auf das Konkrete und Besondere gerichtet ist. Das E verläuft geradlinig, das I hat Spitzen, und man könnte ihm das Symbol eines Kreises verleihen, der Widerhaken trägt. Unter den deutschen Schriftstellern hat Lichtenberg eine ausgesprochene Beziehung zum I. Auffällig ist, daß die Schrift von Menschen, die auf I lachen, also die Schrift von geistreichen, witzigen und boshaften Charakteren, häufig eine zugespitzte Führung besitzt, die an die Ausschläge eines Seismographen gemahnt. Endlich spielt in diesen Laut die Welt des Wahnsinns ein. Die Verwandtschaft, die das Wiehern der Pferde zum Irrsinn besitzt, wurde häufig bemerkt; in den Kriegslazaretten erschreckte ein ähnlicher, an ein schrilles Gelächter erinnernder Laut.

Als Ausruf kündet das I ein sonderbares und meist unangenehmes Gefühl der Überraschung und bei lebhafterer Bewegung das Sichtbarwerden der Verwesung an. Der geschlechtliche und fleischliche Charakter dieses Lautes verrät sich unter anderem durch seine Beziehung zur Prüderie.

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Unter allen Vokalen fällt dem U die mächtigste Schwerkraft zu. Das U ist dem väterlichen A entgegengesetzt; seine Tiefe und Geschlossenheit ist weitaus bedeutender als die des I, denn in ihm klingen Formen des Daseins an, die diesseits oder jenseits der Verwesung stehen. Auch ist es nicht eindringend, sondern verkörpert die Tiefe dimensional. Sehr entfernt ist es vom lichten O; dies tritt recht anschaulich in dem Wortpaar Bronnen und Brunnen hervor, durch das wir unterscheiden zwischen dem hellen, bewegten und dem dunklen, ruhenden Quell.

Im U begegnen sich die Geheimnisse der Zeugung und des Todes; es steht unterhalb der farbigen und mannigfaltigen Welt. Sein Reich umschließt die Gründe der Gesteins- und Meereswelten, der uralten Kulte, der unbekannten Geschlechterfolge und die Schwerkraft unsichtbarer Gestirne, die aus unermeßlicher Entfernung wirkt. Das U ist der Laut des mehr als logischen Grundes, der Wurzel, des Ursprunges und der feierlichen Dunkelheit. Voll tiefer Geschlossenheit baut es sich nicht ring- oder kreisförmig wie das I, sondern in Kugel- oder Würfelformen in die Sprache ein. Es verleiht insbesondere der lateinischen Sprache ihren architektonischen Rang, dem unsere gute Barockprosa mit ihren altertümlichen Endungen und den in Antiqua eingedruckten Fremdwörtern nahekommt. Auch bei spätbarocken Schriftstellern, wie bei Jean Paul, finden wir eine Vorliebe für das U; sein Schüler Ernst Wagner beklagt in seinem »A-B-C« die Auslöschung dieses Vokals, die die gravitätische Kraft von Wörtern wie Titul, Regul oder Insul verringerte. Eine solche Gewichtsverminderung und Aufhellung findet auch beim Übertritt vieler lateinischer Wörter ins Französische statt; so wiegt profundus schwerer als das entsprechende profond; für das schöne plumbum steht plomb, für cuculus cücülüs, concombre für cucumis. Unsere Nachsilben auf U vertiefen bedeutend, vor allem unser ehrwürdiges -tum, das an Schwere die Vorsilbe ur- beinahe erreicht. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, daß unser Ohr das Wort Untiefe für eine seichte Stelle als sprachlichen Fehlgriff empfindet; dies ist ein überzeugendes Beispiel dafür, daß ein Wort, das völlig nach den Gesetzen der Sprachlogik gebildet ist, gegen das geheimere Gesetz der Lautung verstoßen kann. Eine ähnliche Unsicherheit ruft das Wort urbar hervor, das eher die Vorstellung des unbestellten als des bebauten Landes erweckt.

Wenn man auch, wie gesagt, die Gleichsetzung der Lautbedeutung mit der Wortbedeutung durchaus vermeiden muß, so drängt sich doch die Beobachtung auf, daß in einer großen Zahl unserer Wörter, in denen das U auftritt, der Sinn des Abgeschlossenen und Verborgenen enthalten ist. Solche Wörter sind Urne, Grube, Gruft, Grund, Sund, Mulde, Muschel, Truhe, Krug, Turm, Burg, Kugel, Brust, Mund, Stube, Bund, Hut, Glucke, Schuh, rund, unten, zu. Erwähnt sei noch der wälderdunkle Ruf des Kuckucks, der bei uns das U vertritt wie der leuchtende Pirol das O und wie der bewegliche Fink in seinem »guten Weingesang« das I.

Auf der Todesseite des U stehen das Ehrwürdige, das Feierliche, der Ahnenkult, das Nächtliche, das dunkel Dämonische und Gespenstische. »Nun ruhen alle Wälder« beginnt ein Lied, in dem die herandunkelnde Abend- und Todesahnung uns mächtig ergreift. Das U ist der Laut der Gräber, des hohen saturnischen Alters und des Sturmwindes, der sich nächtlich erhebt. Durch den saturnischen Charakter des U wird man häufig in Dichtungen stark angesprochen; so birgt ihn in der bekannten Ballade »Die Uhr« das regelmäßig wiederholte sie schlug, das das Gedicht wie der dumpfe Schlag einer Stundenuhr durchdröhnt. Unter allen Sprachen besitzt vielleicht die unsere in dem Wörtchen und das bedeutendste Bindewort. Überhaupt regen solche kurzen Wörter, deren Geschichte sich völlig im Dunkel verliert, besonders zum Hören an.

Die andere, die Lebensseite des U, birgt die Geheimnisse der Tiefe, der ungeschriebenen Gesetze und der mütterlichen Fruchtbarkeit. In diesem Zusammenhang ist das U auch der Laut der häuslichen Gemütlichkeit und des sicheren Schutzes, den man in Burgen, Türmen und Stuben genießt. Zum vollen Genuß dieser Sicherheit gehört der dunkle Laut des Sturmes und die grausige Nähe des Geister- und Totenreichs. Diese Stimmung finden wir in zahllosen unserer Märchen und Gedichte, so in Bürgers »Lenore« oder in dem Drosteschen »Knaben im Moor«. Beide Bedeutungen des U klingen auch im Summen der Insekten an, das je nach den Umständen als heimelig oder unheimlich empfunden wird.

Leonardo da Vinci ist der Maler, der den wunderbaren und an Geheimnissen reichen Geist des U wie in einem magischen Spiegel eingefangen hat. Auf seinen Bildern vereinigt sich der feierliche Frieden der Grotten mit der gefährlichen und fruchtbaren Tiefe der Meereseinsamkeit. Er ist ein Seher im mütterlichen wie Rubens ein Fürst im väterlichen Reich.

17

Hier schließen wir unseren Ausflug in das Reich der Vokale ab. Das A bedeutet die Höhe und Weite, das O die Höhe und Tiefe, das E das Leere und das Erhabene, das I das Leben und die Verwesung, das U die Zeugung und den Tod. Im A rufen wir die Macht, im O das Licht, im E den Geist, im I das Fleisch und im U die mütterliche Erde an. An diese fünf Laute in ihrer Reinheit und in ihren Trübungen, Vermischungen und Durchdringungen tragen die Mitlaute die Mannigfaltigkeit des Stoffes und der Bewegung heran. Durch wenige Schlüssel erschließt sich so die Fülle der Welt, soweit sie sich dem Ohr durch die Sprache offenbart.

Zuweilen, wenn wir sprechen oder schreiben, beginnen wir zu stocken: wir suchen nach einem deutlicheren und zwingenderen Wort. Wenn diese kurze Betrachtung irgendwo einen solchen Augenblick der Besinnung hervorrufen würde, hätte sie ihre Aufgabe erfüllt.

 

SPRACHE UND KÖRPERBAU

ERSTAUSGABE 1947

REVIDIERTE FASSUNGEN 1949 UND 1963

 

EINLEITUNG

Arbeiten dieser Art muß man auf Zuwachs schreiben: sie werden niemals abgeschlossen sein. Sie gleichen Sträußen, die man im Garten der Sprache pflückt. Tritt man durch eine andere Tür ein, lustwandelt man zu anderen Jahreszeiten oder auch nur in anderer Stimmung, so wird man neue Blumen leuchten sehen und sie dem Strauß hinzufügen. Denn unerschöpflich ist der Grund, aus dem die Worte hervorsprießen.

Auch wird der Leser, der den Autor begleitet, zum Weiterwandeln angeregt. Er wird von sich aus manche Blüte, manches Blatt entdecken und sich in dem Genuß bestärken, den die symbolische Betrachtung schenkt.