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Heiner Hastedt

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Beschreibung

Eine kompakte Einführung in das philosophische Werk des Begründers des französischen Existentialismus', des Schriftstellers und streitbaren Intellektuellen Jean-Paul Sartre. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 173

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Grundwissen Philosophie

Sartre

von Heiner Hastedt

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Detlef HorsterPD Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf SchnellProf. Dr. Franco Volpi

Alle Rechte vorbehalten© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960105-2ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020120-6

www.reclam.de

Inhalt

1. Sartre, das »Ungeheuer«: Intellektueller, Grenzgänger und Philosoph der Freiheit

2. Sartre als Nietzscheaner in Leben und Werk

3. Sartre im Kontext der französischen Philosophie

4. Sartres Theorie und Praxis des Engagements

5. Die Freiheit der Wahl im existenziellen Individualismus

6. Das Sein und das Nichts: Phänomenologie und Interpretation von Hegel, Husserl und Heidegger

7. Fragen der Methode und Kritik der dialektischen Vernunft: Neubestimmung von Freiheit und Gesellschaft in Auseinandersetzung mit Marx

8. Der Idiot der Familie: Situierte Freiheit und das Genre einer philosophischen Biografie

9. Sartre im Humanismusstreit: Zum philosophischen Dialog mit dem späten Heidegger, dem Strukturalismus, Foucault und Lévinas

10. Sartre in derPhilosophie des 21. Jahrhunderts

Anmerkungen

Kommentierte Bibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

[7]1. Sartre, das »Ungeheuer«: Intellektueller, Grenzgänger und Philosoph der Freiheit

Jean-Paul Sartre (1905–1980) ist ein Philosoph der Freiheit – nicht der politischen oder gar der ökonomischen, sondern einer Freiheit gegenüber dem Schicksal, dem eigenen Herkommen, den Determinationen der Gesellschaft und gegenüber Gott. Geradezu süchtig hat Sartre seine Philosophie in fast jedem Genre der Literatur und Publizistik zur Geltung gebracht. Er ist ein Intellektueller, der inhaltliche Grenzen überspringt und frei mit Stilgattungen umgeht. So schafft er es wie kaum ein anderer vor und nach ihm, zugleich mit Dramen, Drehbüchern, Romanen, Tagebüchern, Briefen, Pamphleten, Zeitungsartikeln und philosophischen Abhandlungen zu brillieren. Sartre schreibt eigentlich immer, jedenfalls bis zu den autobiografischen Wörtern 1964 bzw. bis zu seiner teilweisen Erblindung im Jahr 1973.

Freiheit bildet den sachlichen Kristallisationskern seiner intellektuellen Grenzgängerei. Eine solche Figur ist nicht jedem geheuer. So schreibt Bernard-Henri Lévy: »Vielleicht ist Sartre eine Art Ungeheuer. Vielleicht bedurfte es einer gewissen Ungeheuerlichkeit, um Sartre zu sein – um jener bizarre, einzigartige, sich über alle Regeln der Gemeinschaft hinwegsetzende, ein wenig verrückte Denker zu sein […]. Vielleicht war dies eine kompliziertere, schmerzhaftere und gefährlichere Existenzweise als etwa die des weisen Aron, der friedlich in seinem Büro des Figaro vor sich hin dachte, oder als die des Professors Merleau-Ponty, der zu fester Stunde die Rue des Ecoles entlangkam, oder auch als die des guten Camus, der rasch sein Tagewerk als Schriftsteller hinter sich brachte, um im Stadion von Lourmarin ein Fußballmatch auszutragen. In jedem Fall hat die Geschichte der Philosophie nicht allzu viele [8] Ungeheuer zu bieten. Und dieses hier hat nun einmal die Besonderheit, einer der radikalsten Denker der Freiheit zu sein.«1

Um Sartre im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen in der französischen Philosophie zu verstehen, mag es hilfreich sein, den Intellektuellen Sartre als ungeheuerliche Ausnahmeerscheinung zu deuten. Er wirkt anders als beispielsweise Albert Camus (1913–1960) auf den ersten Blick nicht besonders sympathisch. Ruft dieser kleine, hässliche Mann, der bei Frauen so erfolgreich ist und in der intellektuellen Welt mit einer geradezu abenteuerlichen Produktivität gesegnet ist, womöglich Neidgefühle hervor? Neben dem Ungeheuerlichen und dem Unsympathischen gibt es zugleich immer das Faszinierende an Sartre. Doch hat dies vielleicht mehr mit Simone de Beauvoir (1908–1986) und der ungewöhnlichen Beziehung der beiden zu tun? Oder mit ihrem Leben in Paris? Vieles an Sartre ist merkwürdig, sowohl an seinem Denken als auch an seinem Handeln. Wer ihm wohlgesonnen ist, wird bereit sein, das Merkwürdige zu übersehen oder nicht negativ zu werten. Ohne dieses Wohlwollen ist es aber nicht schwer, Sartre zu verdammen. Verdammung oder Verehrung wird ihm vermutlich ohnehin eher gerecht als ein achselzuckendes Ignorieren. Das Skandalöse an Sartre gehört zum Verständnis dieses Autors dazu; das Zeug zum unkontroversen Klassiker hat er jedenfalls auch heute noch nicht.

Ist Sartre überhaupt noch aktuell? Oder wird er gerade vergessen oder philosophisch ohnehin nicht ernst genommen? Ist er nur noch ein Philosoph für Pubertierende und Spätpubertierende, der höchstens durch seinen Lebensstil als oberflächlich attraktiv gelten mag, aber nicht durch seine philosophischen Fähigkeiten? Camus hat nach der Wende 1989 in Osteuropa eine späte Renaissance der Aufmerksamkeit erfahren, insbesondere weil er in den fünfziger Jahren einsam den Menschenrechten treu geblieben ist und einer nicht nur unter französischen Intellektuellen verbreiteten Verehrung oder zumindest Verharmlosung des Stalinismus widerstand. Für Sartre – [9] schon damals im Konflikt mit Camus – galt das nicht. Neben seinem Bekenntnis zum Stalinismus wirken seine naive Kuba-Begeisterung und seine Unterschrift unter viele abstruse Flugblätter und Aufrufe aus heutiger Sicht peinlich. Das Recht zu einer Entdeckung Sartres – sei es als Wiederentdeckung oder als Neuentdeckung – dürfte somit kaum im Bereich des Politischen zu suchen sein. Gleichwohl gibt es im Werk dieses Freiheitsphilosophen mehr zu entdecken, als seine Verächter meinen.

Vielleicht ist jetzt, ein Jahrhundert nach der Geburt Sartres und ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, die Zeit allmählich reif, um Stärken und Schwächen der Philosophie Sartres im Einzelnen differenziert zu beurteilen. Dem Intellektuellen und Grenzgänger Sartre kann man nur leidenschaftlich begegnen; doch seine philosophischen Thesen verdienen eine argumentative Würdigung ohne Voreingenommenheit. Sartre ist ein Philosoph des 20. Jahrhunderts, der wie andere auch Stärken und Schwächen vorzuweisen hat. Eine Gefahr bei der Rezeption von Sartre besteht darin, dass sein Werk unter seiner zeitweise geradezu fantastischen weltweiten Berühmtheit leidet, die zur Verbreitung von Klischees enorm beigetragen und das Werk fast verstellt hat. Ruhm hat Sartre allerdings schon früh angestrebt; so charakterisiert er sich 1926 selbst in einem Brief: »Ich stelle mir den Ruhm wie einen Ballsaal voll befrackter Herren und dekolletierter Damen vor, die mir zu Ehren ihre Gläser erheben. Das ist sicherlich eine Bilderbuchvorstellung, aber ich habe dieses Bild seit meiner Kindheit in mir. Es lockt mich nicht, doch lockt mich der Ruhm, denn ich möchte weit über den anderen stehen, die ich verachte.«2

Auch wenn Bernard-Henri Lévy die Schwächen dieses »absoluten Intellektuellen«3 scharf herausarbeitet, erklärt er Sartre zu dem Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf Martin Heidegger (1889–1976), Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und Theodor W. Adorno (1903–1969) gibt es allerdings keinen Grund, Sartre im deutschsprachigen Raum den gleichen [10] Stellenwert wie in Frankreich einzuräumen. Hier reicht es zur Würdigung Sartres, davon auszugehen, dass er überhaupt zu den wichtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts gehört. Die unübertroffene Besonderheit Sartres sehe ich weniger in seiner ausgearbeiteten Philosophie als vielmehr in seiner süchtigen Intellektualität, die sich alles zum Gegenstand der Untersuchung nimmt. Kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts hat eine derartige Kombination von Ehrgeiz und Konfusion, Abstraktion und Konkretion, Fähigkeit zur ideenreichen Synthese und Schwäche der Argumentationskraft ausgebildet wie Sartre. Seiner Philosophie kann man wohl nur gerecht werden, wenn man sich von ihr begeistern lässt und ihr zugleich skeptisch, vielleicht sogar ablehnend gegenübersteht. Das Besondere Sartres ist, dass es ihm gelingt, in fast jedem Gegenstand aus Literatur, Theater, Kunst und Politik philosophische Bedeutung zu sehen. Bemerkenswert ist Simone de Beauvoirs Bericht über ein Essen zu dritt mit Raymond Aron (1905–1983): »Aron wies auf sein Glas: ›Siehst du, mon petit camarade, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!‹ Sartre erbleichte vor Erregung: das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie.«4

Die Intention dieser Einführung ist es, gedankliche Quereinstiege in die Philosophie Sartres zu finden und Kontexte herzustellen, die seine Philosophie zugleich als aktuell und sachlich interessant erschließen. Es wird nicht nur der Philosoph Sartre im engeren Sinne zum Gegenstand, sondern das Wirken Sartres wird insgesamt als ein Engagement unter philosophischen Vorzeichen gedeutet, das eine »konkrete« Philosophie ausdrückt. Sartre wird in die Philosophie des 20. Jahrhunderts und speziell in die französische Philosophie mit ihren Besonderheiten eingeordnet. Dabei werden seine philosophischen Hauptwerke Das Sein und das Nichts, Fragen der Methode, Kritik der dialektischen Vernunft und Der Idiot der Familie besonders gewürdigt.

[11] Sartre ist ein Philosoph, über den es vieles zu erzählen gibt. Auch wenn dies keine Biografie ist, soll diese Dimension nicht ausgeklammert werden, zumal er selbst die philosophische Biografie zu einem eigenen Genre entwickelt hat und die Freiheit nicht nur thematisiert, sondern auch lebt. So liebt er das Leben im Hotel mit der damit einhergehenden Anonymität, auch wenn er zwischenzeitlich durchaus in Wohnungen gelebt hat. Er reist viel, vermeidet dabei aber Aufenthalte.5 Sartre besitzt wenig, nicht zuletzt weil er sein reichlich verdientes Geld gleich wieder verschwenderisch ausgibt. Berühmt ist die Höhe seiner Trinkgelder. Trotz aller Grenzüberschreitungen ist Sartre allerdings fast immer Bewohner von Paris geblieben. Die beiden Stadtteile Saint Germain des Prés und Montparnasse bildeten das »Biotop« seiner »Bohème-Existenz«.6 Und wenn er sich zum Beispiel während seines Lehrerdaseins in Le Havre oder während des Zweiten Weltkrieges eine Zeit lang doch nicht dort aufhält, dann geschieht dies unfreiwillig. Ungeachtet der vielen Reisen stellt Paris seine eigentliche Heimat dar, und die anderen Grenzen kann er vielleicht gerade deshalb souverän überschreiten, weil er diesen Mittelpunkt seines Lebens immer behält. Sartre schreibt oft in den Bistros seines Stadtteils, in einer vertrauten Öffentlichkeit also, die wie das »Deux Magots« und das »Café Flore« heute ganz zu Kultstätten des Tourismus geworden sind.

Seine Philosophie ist nicht vom akademischen Milieu einer Universität geprägt. Zwar hat er an einer der französischen Eliteuniversitäten studiert, aber universitär angestellt ist Sartre nie gewesen. Er arbeitet zunächst als Gymnasiallehrer in der Provinz und lebt dann mit zunehmendem Erfolg als freiberuflicher Schriftsteller. Freiheit bedeutet für Sartre auch Freiheit von der Enge der Universität und Freiheit in der Bestimmung eines eigenen Tagesrhythmus: »Ich schrieb Bücher, die meine ganze Zeit in Anspruch nahmen […]. Ich betrachtete es nicht als eine Ehre, Professor am Collège de France zu sein.«7

Wichtiger als der akademische Hintergrund sind für Sartre [12] denn auch die Medien: Er ist der erste große Philosoph des Medienzeitalters. Régis Debray hat markant drei Epochen des französischen Geisteslebens im 20. Jahrhunderts unterschieden und in ihrer jeweiligen Dominanz auch mit Daten versehen. Nach dem Universitätszyklus – datiert von 1880 bis 1930, in dem die wirkungsmächtigen Intellektuellen zugleich an der Universität tätig sind – folgt für Debray der Zyklus des Verlagswesens, der überlappend von 1920 mindestens bis 1960 reicht und dann langsam an Bedeutung verliert. Es ist dieser über die Verlage medienorientierte Zyklus, der für Sartre den Hintergrund bildet, so dass sein Verlag Gallimard geradezu seinen Erfolg garantiert. Der 1968 beginnende Medienzyklus im engeren Sinne wird aus der Sicht Debrays nach und nach vom Fernsehen dominiert und bringt andere Intellektuelle (z. B. Bernard-Henri Lévy, geboren 1949, als neuen Philosophen und späteren Verfasser einer Sartre-Monografie) immer stärker zur Geltung. Im Verlagszeitalter steht das publizierte Buch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; die mediale Präsenz folgt den erfolgreichen Büchern. Wo der Schreiber arbeitet, spielt dabei keine große Rolle. Sartre ist also in den Zeitungen und im Rundfunk als den Medien der fünfziger und sechziger Jahre präsent, insofern er der Autor von Büchern ist, die im Verlag Gallimard bereits erschienen sind.

Nicht zuletzt weil er einen so treuen und großzügigen Verlag hat, kann er verschwenderisch mit seinen Texten und Werken umgehen, denn er schreibt sie – und vergisst sie: »Sartre liest seine Manuskripte nicht noch einmal durch, korrigiert kaum die Fahnen, verifiziert niemals die Korrektheit oder den Ursprung eines Zitates, beläßt es bei Unkorrektheiten, Schwächen und Redundanzen, die ein schlichtes Noch-einmal-Lesen aufgespürt hätte.«8 Sartre als Autor müssen also Eigenschaften zugesprochen werden, die ihn nicht gerade zum Vorbild für Proseminararbeiten machen (jedenfalls so lange nicht, bis sich die eigene Genialität gefestigt hat). Typisch für ihn ist auch das Unfertige als Merkmal aller seiner größeren Bücher. Immer wieder werden Fortsetzungen [13] angekündigt, die nie erscheinen (oder doch nur als Fragment nach seinem Tod).

Vermutlich weil er das Unfertige und den ständigen Neuanfang liebt, lehnt er auch die mit dem Älterwerden nicht ausbleibenden Ehrungen ab, 1964 sogar den Nobelpreis für Literatur. Lévy spricht von seinem Misstrauen »gegenüber allem, was ihn in eine Statue verwandeln und auf diese Weise ersticken könnte«9. So ist auch die permanente Grenzüberschreitung deutbar, die ihm die Gewähr bietet, nicht zur festgelegten, also unfreien Statue zu werden: »Während seiner gesamten Existenz hat Sartre nicht aufgehört, sich neu in Frage zu stellen.«10 Sogar das letzte vor seinem Tod geführte und publizierte Gespräch zeigt Sartre noch als munteren »Kobold«, der sich mit ungewohnten Themen wie dem jüdischen Messianismus, der Hoffnung und der Brüderlichkeit auseinander setzt.11 Viele Weggefährten haben 1980 dieses Gespräch als Distanzierung von seinem bisherigen Werk empfunden und sogar versucht, die Zeitungspublikation zu verhindern – meines Erachtens zu Unrecht, denn Sartres Treue zu sich und anderen liegt im permanenten Aufbruch und nicht im Beibehalten des einmal Erreichten.

Sartre überwindet nicht nur die Grenzen von Literatur, Theater, Publizistik und Philosophie, sondern ist zugleich ein Anhänger von Philosophen, die gewöhnlich als kaum miteinander vereinbar angesehen werden: Marx und Nietzsche zugleich zu verehren, schafft er ebenso wie eine gedankliche Kombination von Hegel, Husserl und Heidegger vorzunehmen. Sachlich versucht er Freiheit und Faktizität ebenso zusammenzudenken wie Existenzialismus und Marxismus. Sartre hat in seinem Leben häufiger seine Grundsätze geändert, ein Phänomen, das wir auch bei anderen großen Philosophen des 20. Jahrhunderts finden: Ludwig Wittgenstein verlässt nach dem Tractatus Logico-Philosophicus die Philosophie, um sie nach einer Kunstpause schließlich doch ganz neu zu beginnen (u. a. dokumentiert in seinen Philosophischen Untersuchungen). Martin Heidegger vollzieht nach Sein und Zeit[14] eine Kehre zur Lichtung des Seins. In der Zeit nach Sartre hat Michel Foucault seinen besonders häufigen Meinungswandel geradezu zum Prinzip erklärt.

Der unbändige Individualist, der Nietzscheaner, kommt vor allem in Sartres frühen literarischen Werken und in seinem Lebensstil zur Geltung. Nach seiner Auseinandersetzung mit Husserl, Heidegger und Hegel, vor allem in Das Sein und das Nichts, wird er in der Kritik der dialektischen Vernunft zu einem hegelianischen Marxisten. Sein Lebenswerk wird schließlich gekrönt durch die gedankliche Vermittlung von Freiheit und Gesellschaft in seinen philosophischen Biografien, vor allem in seinem autobiografischen Roman Die Wörter und im mehrbändigen Flaubert-Projekt Der Idiot der Familie.

Mit Lévy lässt sich der frühe Sartre als »Champion aller Klassen des metaphysischen Antitotalitarismus«12 deuten. Umso erstaunlicher ist es daher, wie sehr Sartre sich durch seine Äußerungen ab den fünfziger Jahren in die Nähe des Stalinismus begeben hat und in der Kritik der dialektischen Vernunft zum Gemeinschaftstheoretiker wird. Möglicherweise besteht hier sogar ein Zusammenhang: Der metaphysische Antitotalitarist, dem es zu »kalt« wird, mag geradezu anfällig sein für den politischen Totalitarismus.13 Bei Sartre kommt an diesem Punkt wohl die gleiche Ambivalenz zur Geltung, die wir aus der 68er-Generation kennen: Die persönliche Unkonventionalität erscheint gekoppelt mit einem politischen Holzweg, der durch Empfänglichkeit für politischen Totalitarismus gekennzeichnet ist. Der eher private Nietzsche scheint mit dem öffentlichen Marx kombinierbar zu sein. Um Sartre insgesamt als Philosophen der Freiheit zu profilieren, soll im Folgenden zunächst Nietzsche den gedanklichen Ausgangspunkt bilden, während die Beschäftigung mit Marx für die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Gesellschaft im Werk Sartres steht.

[15]2. Sartre als Nietzscheaner in Leben und Werk

Ein Nietzscheaner ist ein Philosoph der radikalen Freiheit, der konventionelle ebenso wie moralische Ansprüche seiner Mitwelt zurückweist. Wie Friedrich Nietzsche (1844–1900) selbst neigt ein von ihm inspirierter Mensch zu einer gesteigerten Individualität und begreift sich als Teil einer Avantgarde. Der nietzscheanische Zug äußert sich bei Sartre weniger in seinen explizit philosophischen Werken als in seinen literarischen Arbeiten und in der Gestaltung des eigenen Lebens als Kunstwerk. Auch wenn er schreibt, »man muß wählen: leben oder erzählen«1, wird sein Leben doch gerade erst durch die erzählerische Begabung ein besonderes. Es gehört zum Faszinosum von Sartre, wie stark er sich in seinem Leben erzählend, und im Erzählen das Leben steigernd, von den bürgerlichen Selbstverständlichkeiten entfernt hat. In keiner Verästelung des Werks kommen wir dem Phänomen Sartre so auf die Spur wie bei seiner Inszenierung des Lebens.

Der Einfluss von Nietzsche steht bei ihm für eine Orientierung an der Freiheit, die nicht gleich wieder begrifflich stillgestellt wird. Wie Sartre lebt, ist nicht einfach bloß eine persönliche Marotte, sondern eine sehr bewusste Gestaltung eines philosophischen Lebensprogramms der nietzscheanischen Wildheit und Antikonventionalität. Auch die Partnerschaft mit Simone de Beauvoir und ihr Pakt, der ausdrücklich sexuelle Beziehungen zu anderen erlaubt, lässt sich aus einer von Nietzsche inspirierten Perspektive deuten. Ein Nietzscheaner versucht, sich frei gegenüber Bindungen zu verhalten, denn diese stehen im Verdacht, Freiheitseinschränkungen zu bewirken. Für Lévy gibt es den Nietzscheaner Sartre als »einen anderen, weniger erörterten, geheimeren Sartre […], als Dandy, als entschlossenen Rebellen, übertriebenen Individualisten, [16] Künstler, Ästheten, Häretiker, Romantiker, Zerstörer von Götzenbildern, Tragiker, freien Menschen, pathetischen Feind aller Philister, entschiedenen Anti-Kantianer, ungezwungenen Pessimisten«2. Lévy unterscheidet einen frühen von einem reifen Sartre, der als der Mann der Verirrungen gekennzeichnet wird; der frühe hingegen sei der Sartre »vor den großen kubanischen, sowjetischen und maoistischen Irrwegen«.

Philosophie ist so unterschiedlich wie die Philosophen, die sie betreiben. Zum Philosophen Sartre gehören seine literarischen Texte und die Gestaltung seines gesamten Lebens. Wer Philosophie nur als die argumentative Verfolgung von Thesen begreift, wird das Phänomen Sartre nicht erfassen. Auch die ausdrückliche Auseinandersetzung mit philosophischen Autoren stellt nur eine Erscheinungsform der Philosophie Sartres dar. Als Nietzscheaner bezieht er die ästhetische Dimension des Nachdenkens, Lebens und Schreibens immer mit ein; er steht in einer Tradition französischer Philosophie, die den Philosophen als Intellektuellen und Schriftsteller sieht. Die Fähigkeit zum ästhetisch ansprechenden Schreiben ist hier eine unbedingt erforderliche Qualität des Philosophen (und steht nicht im Verdacht der Oberflächlichkeit wie oft in Deutschland). Sartre steigert das französische Erbe allerdings auf eine nur ihm eigene Art und Weise, indem er persönliche Lebenskunst und die Stilisierung als intellektuelle Leitfigur mit der Interpretation der philosophischen Tradition verknüpft und so seine Ausnahmebegabung kultiviert.

Die Abschätzigkeitsperspektive im Ekel

Der Ekel ist ein Text, der besonders vom Geist Nietzsches durchdrungen ist. Im Mittelpunkt steht – wie in Sartres frühen Romanen häufig – ein einsamer Mann. Gesteigert durch diese Einsamkeit ist der Nietzscheaner jemand, der die Wirklichkeit demaskiert. Die leeren Worte vom Menschen als Krone der [17] Schöpfung und als Vernunftwesen werden schonungslos entlarvt. »Der Ekel« erweist sich als Ekel vor der falschen Gemeinschaftlichkeit. Den Preis und die Kehrseite der Individualität bildet die Einsamkeit: »Ich besitze nur meinen Körper; ein ganz allein lebender Mensch, der nur seinen Körper hat, kann die Erinnerungen nicht festhalten, sie gehen ihm durch die Lappen. Ich sollte mich nicht beklagen: ich wollte nur frei sein.«3 Die radikale Ehrlichkeit des Nietzscheaners richtet sich keineswegs nur gegen die anderen, sondern genauso auf das Ich selbst: »Mein augenblickliches Leben ist nicht besonders glanzvoll […]. Ich habe gerade erfahren, unvermittelt, ohne ersichtlichen Grund, daß ich mir zehn Jahre lang etwas vorgemacht habe.«4 Bei aller Auseinandersetzung mit anderen und mit sich selbst ist aber immer klar, dass im Mittelpunkt das Ich steht. In der folgenden Passage findet sich eine Kaskade von Ich-Sätzen: »Ich hatte keinen Hunger; ich wollte vor allem nicht weggehen. Ich arbeitete noch einen Moment, dann schreckte ich auf: ich fühlte mich von Stille umhüllt. Ich hob den Kopf: ich war allein.«5 Während heute – im Zeitalter des Narzissmus – fast jeder nur das eigene Ich sieht, stellt die Konzentration auf das Ich zu Sartres Zeiten noch eine echte Kulturleistung dar, nämlich den Mut, Bindungen und Gemeinschaften hinter sich zu lassen und sich ganz auf den eigenen Lebensweg zu konzentrieren, so einsam dieser Weg auch sein mag. Vor dem strengen Auge des Ich kann die Welt nur als banal empfunden werden, und dementsprechend endet denn der Ekel mit der Mitteilung: »morgen wird es auf Bouville regnen«6.

Auch wenn das Überlegenheitsgefühl Sartres ebenso wie das seiner literarischen Figuren nichts Triumphales hat, geht es doch mit einer Verachtung der Bürgerlichkeit einher. Im Angesicht eines bürgerlichen Lebens kann sich ein Individuum nur ekeln. Damit ist Sartre der Propagandist einer Kritik der Spießbürgerlichkeit geworden. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen – diese bekannte Bemerkung Adornos wird von Sartre variiert als Aversion gegen die bürgerliche Normalität.

[18] Dem heutigen Leser mag Sartres Kultivierung der Perspektive des Abschätzigen merkwürdig erscheinen, denn diese Perspektive ist zwischenzeitlich zum Gemeingut und insbesondere im großstädtischen Leben schon lange zur Selbstverständlichkeit geworden. Sartre bringt in der Mitte des 20. Jahrhunderts die kalte Distanz zu Papier und ermöglicht so einen Durchbruch und eine Besonderheit, die heute zur statistischen Normalität geworden ist. Dies macht den Ekel zu einem Text, der uns an den Anfang der modernen Kälte und des Abschätzigen führt, das von Sartre zugleich als Freiheit in Einsamkeit empfunden wird.

Die Wand

Die Wand scheint zunächst dafür zu sprechen, dass Sartres literarisches Werk nicht in einer nietzscheanischen Perspektive aufgeht. Die in der alten Übersetzung als Die Mauer veröffentlichte kleine Erzählung spielt im Spanischen Bürgerkrieg. Der Grundton des Textes ist getragen von dem existenziellen Ernst einer Gruppe zum Tode verurteilter Republikaner. Doch zum Ende der Erzählung ändert sich der Ton und es finden sich angesichts der vermeintlich näher rückenden Stunde der Hinrichtung Sätze wie »kein Leben war etwas wert« und »nichts war mehr wichtig«7