Zurück zum Fortschritt - Heiner Hastedt - E-Book

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Heiner Hastedt

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Beschreibung

Alternde Gesellschaften wie unsere eigene sind von der Gefahr der Stagnation bedroht. Eine solche können wir uns aber nicht leisten; denn wir brauchen Veränderungen, besonders um den Klimawandel einzudämmen und die bereits eintretenden Folgen zu begrenzen. Als Alternative zum Denken in Alternativlosigkeiten profiliert Heiner Hastedt in diesem Buch eine Hinwendung zum Fortschritt als Ermöglichung. Nach der durch das »Prinzip Verantwortung« von Hans Jonas befürworteten »Heuristik der Furcht« mit ihren Folgen für Verzagtheit und Nichtstun könnte der als »geschichtsphilosophischer Universalbegriff« (Koselleck) zu Recht kritisierte Fortschrittsbegriff vor einer Renaissance stehen, und zwar als ganz pluralistisch gedachter Maßstab für normativ erwünschtes Fortschreiten. Um ein solches Programm des Fortschritts als Ermöglichung attraktiv zu machen, steht in Hastedts Essay das Konzept der Deutungsmacht mit seiner Wende zum existentiell Möglichen im Mittelpunkt. In Abgrenzung zu Gewalt und überkommenen Machtbegriffen wird Deutungsmacht als eine einflussnehmende soft power verstanden, die Wandel – vielleicht besonders nachhaltig – ermöglichen kann. Jenseits der üblichen Links-Rechts-Verortungen in der Politik reflektiert Hastedt über Fortschritte auch im Institutionellen und versucht zugleich philosophische Debatten über Macht, Wahrheit und Vernunft in Theorie und Praxis neu zu kontextualisieren.

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Heiner Hastedt

Zurück zum Fortschritt

Deutungsmacht und die Wende zum Möglichen

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar.

eISBN (PDF) 978-3-7873-4424-6

eISBN (ePub) 978-3-7873-4456-7

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH

INHALT

Einleitung

1. Gewalt, Macht, Deutungsmacht

2. Von der Kritik der Macht zur Macht als potentia

3. Formen der Deutungsmacht

4. Rehabilitierung von Wahrheit und Fortschritt

5. Deutungen von Situationen in Theorie und Praxis

6. Urteilskraft und Reflexion im Praxistest

7. Emotionen, nudges und Institutionen angesichts menschlicher Verletzlichkeit

8. Endlichkeit und empowerment bei der Wende zum existentiell Möglichen

9. Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn: Können wir Fortschritt?

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

EINLEITUNG

Alternde Gesellschaften wie unsere eigene sind von der Gefahr der Stagnation bedroht. Eine solche können wir uns aber nicht leisten; denn wir brauchen Veränderungen, besonders um den Klimawandel schnell einzudämmen und die bereits eintretenden Folgen zu begrenzen. Als Alternative zum Denken in Alternativlosigkeiten profiliert dieses Buch eine Hinwendung zum Fortschritt als Ermöglichung. Die von Hans Jonas im »Prinzip Verantwortung« herausgestellte »Heuristik der Furcht« hatte an Veränderungen deren schlimmstmögliche Folgen hervorgehoben und damit, wenn auch unwillentlich, Verzagtheit in Kombination mit Nichtstun befördert. Im Kontrast dazu bedarf der von Reinhard Koselleck als »geschichtsphilosophischer Universalbegriff« bezeichnete und oft zu Recht kritisierte Fortschrittsbegriff einer Renaissance – pluralistisch gedacht als Maßstab für normativ erwünschtes Fortschreiten. Verbesserungen ohne die Scheuklappen des alten, oft ziemlich technokratisch und in den Werten einseitig daherkommenden Fortschrittsbegriffes zu bewerkstelligen, erfordert der vom Klimawandel ausgehende zunehmende Zeitdruck.1 »Wir können auch anders!« oder auf Neudeutsch »Yes, we can!« wären hier die Parolen für unsere Macht zur Veränderung, die ein Nichts-ist-möglich-Denken überwinden und Aufbrüche ermöglichen könnte. Doch auf Barack Obama mit seiner einnehmenden Parole folgte Donald Trump. Und der zitierte Titel des Films von Detlef Buck nimmt ironisch auf eine Gewaltdrohung Bezug. Was ist in beiden Fällen schiefgelaufen? Blieb das Können in Obamas Amerika vielleicht nur eine rhetorische Figur? Womöglich ohne Übersetzung in das tägliche Handwerk der Politik und weitgehend ohne Attraktion für zunächst oppositionell Gestimmte?

Es ist ein weiter Weg von der bloßen Möglichkeit zur wirklichen Realisierung, die durch eine gedankliche Beschäftigung mit den dazu erforderlichen kleinen Schritten vorbereitet werden muss, damit sie über bloße Absichtserklärungen hinausgeht und der Möglichkeitssinn mit dem Wirklichkeitssinn zusammenkommt. Eine solche Hinwendung zu Fortschritten des realisierbar Möglichen lässt das Schwanken zwischen unabänderlichen Sachzwängen und folgenlosen Änderungsträumen hinter sich. Nicht nur ein Weltmeister im Kritisieren zu sein, sondern Gestaltungschancen zu suchen und wahrzunehmen, ermöglicht es auf die Dauer, dass sich menschliches Leben auf der Erde nicht nur für Privilegierte erhalten lässt. Ob dies gelingen kann, stößt auf eine Frage, die nicht zuletzt durch die »Corona«-Krise in Deutschland bedrängend geworden sind: »Wie soll ein Staat, der es in einem Jahr nicht schafft, Lüfter in Klassenzimmer seiner Schulen einzubauen, den komplexen ökologischen Umbau der gesamten Volkswirtschaft steuern und neue Konzepte für Mobilität und Energie begleiten und durch Investitionen fördern?« Bei der Beantwortung dieser Frage fordert Moritz Schularick als Fachvertreter der Ökonomie ganz ohne Geld- und Zahlenfixierung »ein anderes Mindset: mehr Dynamik, den Willen zum Handeln und das Selbstvertrauen zu erkennen, dass manchmal auch unkonventionelle Lösungen zum Erfolg führen können.« Der so angesprochene Mentalitätswandel verinnerlicht die Einsicht, dass wir auch anders können, klammert sich nicht an den vermeintlich bewährten Status quo, sondern orientiert sich risikobereit an der Ermöglichung von Veränderungen; denn das »Resilienz-Paradox der Risikogesellschaft liegt gewissermaßen darin, dass wir lernen müssen, neue Risiken einzugehen, um andere, größere Risiken zu vermeiden«2.

Um ein solches mit Risiken nicht nur furchtsam umgehendes Fortschrittsprogramm attraktiv zu machen, steht bei den folgenden Überlegungen theoretisch und ebenso praxisorientiert das philosophische Konzept der Deutungsmacht mit seiner Wende zum Möglichen wiederholt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gemeint ist ein Aufbruch nicht in einem bloß ausgedachten Sinne, sondern unter Bedingungen des für Menschen tatsächlich Möglichen. Für einen solchen Aufbruch reicht es nicht, folgenlos bis ins kleinste Detail die Argumente abzuwägen, sondern Vernunft ist gefragt, die ihre eigene Durchsetzbarkeit mitbedenkt und ihre Argumente für das Große und Ganze handlungsorientiert zu dimensionieren weiß. Ohne Deutungsmacht bleibt die menschliche Vernunft auf den eigenen Resonanzraum beschränkt und entfaltet bei der Bewältigung von Zukunftsproblemen keine oder nur eine geringe Wirkung. In Abgrenzung zur Gewalt wird Deutungsmacht als eine soft power und in einer zu klärenden Weise als eine Erscheinungsform der Macht verstanden. Als Brücke zum genannten Programm wird potentia mit ihren Möglichkeiten als gedanklicher Kern des Machtbegriffes überhaupt und so auch der Deutungsmacht identifiziert.

Innerhalb der Philosophie kann zur Unterstützung des angesprochenen Mentalitätswandel ein potential turn helfen, der sich von einer kritischen Kritik in einem rein negativen Machtverständnis abgrenzt und Gegenwärtiges von den positiven Veränderungsmöglichkeiten her neu denkt. In Seminaren und in Vorträgen habe ich mich oft über die vielen ausgerufenen Turns lustig gemacht: Nach dem noch immer wirkmächtigen linguistic turn kam es zunehmend geballter zu emotional, pictorial, spatial und practical turns. Und das Ganze immer auf Englisch! Jetzt mache ich selbst mit bei diesem Jargon, um augenzwinkernd etwas als richtig Eingeschätztes mit dem potential turn zu befördern. Die Rechtfertigung für eine solche Taktik liefert Aleida Assmann: »Jeder turn ist damit die Chance eines frischen Blicks und einer Erweiterung des Sichtfeldes, aber auch eine Sache des Agenda-Settings, der Deutungsmacht von Forschungsinstitutionen und der strategischen Durchsetzung von Forschungsschwerpunkten.«3 Eine Wende zum Möglichen bietet eine solche Erweiterung des Sichtfeldes, weil sie sich nicht von den Gegebenheiten der Vergangenheit einschränken lässt. Behauptete Alternativlosigkeiten, Denkstile und Paradigmen stellen demgegenüber mächtige Begrenzungen von Denk- und Handlungsmöglichkeiten dar, die John Dewey nicht ganz ohne Ironie ein »Ministerium für Ruhestörung« fordern lässt, das »kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört, die Selbstzufriedenheit untergräbt«.

Innerhalb der Philosophie geht es nicht nur gegen eine ausschließlich kritische Kritik, sondern auch gegen eine Art der Philosophie, die vermeintlich vernünftig mehr als Logelei daherkommt denn als Klärung großer Zusammenhänge. Übergroße Erwartungen an subtile Einzelargumente zurückzustutzen, könnte die Vernunft demgegenüber auf einer umsichtigeren Basis zur Geltung verhelfen. Als Leitfigur eignet sich Immanuel Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft, der die Vernunft durch ihre Eingrenzung stärken wollte und dessen Grenzbestimmung sich hin zu einer Orientierung an Deutungsmacht erweitern lässt. Platons alte Polemisierung gegen die nur an Macht orientierte Sophistik wird mit der Erweiterung Kants obsolet, auch wenn das Bestreben bleibt, Wahrheit und Richtigkeit als Orientierung beizubehalten und nicht die reine Vernunft zugunsten einer reinen Machtfixierung aufzugeben. Wie bei Max Weber die Verantwortungsethik für eine Vermittlung von Gesinnung und politischer Macht steht und die Einseitigkeiten der reinen Gesinnungsethik und der bloßen Machtpolitik vermeidet, geht es nicht um Macht als Selbstzweck, sondern fortschrittsorientiert um Macht plus Wahrheit und Richtigkeit. Eine von John Dewey auf den Punkt gebrachte Einschätzung verdeutlicht, wie gefährlich die bloße Beschäftigung mit der Vernunft des Guten sein kann: »Während Heilige mit der Introspektion beschäftigt sind, bestimmen stämmige Sünder den Lauf der Welt.«4 Dewey ist mit seinem philosophischen Pragmatismus ohnehin ein wichtiger Gewährsmann, der sich an Problemlösungen der »ernsten Tagesfragen« orientiert statt an opportunistischer Zustimmung und bloß kritisch bleibender Negativität. Lediglich eine »Verbesserung von Techniken« und das »Wiederkäuen der Systeme der Vergangenheit« reichen hierfür aus seiner Sicht in der Philosophie nicht aus. »Die Suche nach Gewissheit« – von Dewey zeitlich parallel zu Heidegger und deutlich vor Wittgenstein kritisiert – führt zu einer Fehlorientierung, die auf ein unerschütterliches Fundament wahlweise in der Tradition von Platon oder Descartes zielt und die das tastende Suchen nach möglichen Lösungen erschwert. Die Suche nach Sicherheit ist im Grunde genommen rückwärtsgewandt, weil erst im Nachhinein das Rechthaben eine Basis gewinnt und Handlungen erst »in einer ungewissen Zukunft wirksam« werden und grundsätzlich immer das »Risiko des Unglücksfalls, des Scheiterns und des Fehlschlags« mit sich führen. Wer Gewissheit anstrebt, begünstigt das zuschauerhafte Am-Rande-Stehenbleiben, um hinterher immer schon gewusst zu haben, dass dies oder jenes nicht klappen konnte.

Auch wenn Hans Jonas die »Heuristik der Furcht« nach der Debattenlage der Zeit um 1980 auf die aus seiner Sicht menschheitsgefährdenden Technologien vom Typ Atomkraft und gentechnologische Keimbahneingriffe beschränkt, ist die breite Wirkung seines Vorrangs der Furcht vor der Hoffnung nicht nur in Deutschland auch im Umgang mit Techniken und ökologischen Veränderungen überhaupt festzustellen. Vom Schlimmsten auszugehen wurde zu einem mit Jonas rechtfertigungsfähigen Prinzip, wonach die »Unheilsprophezeiung« gemacht wird, um ihr »Eintreffen zu verhüten«, und es ungerecht wäre, »Alarmisten später damit zu verspotten, dass es doch gar nicht so schlimm gekommen« sei.5 Eine solche Heuristik der Furcht richtet sich zwar zu Recht gegen einen blinden Fortschrittsoptimismus, kann aber dazu führen, dass man sich die Anstrengung einer Abwägung zwischen Handlungsalternativen erspart. So entsteht die Neigung, einen jeweils im Raum stehenden Vorschlag zurückzuweisen und im zeitlichen Abstand dazu oft auch den nächsten, alternativ dazu vorgeschlagenen Lösungsweg. Nach diesem Muster hat Deutschland in der Energieversorgung einen Kurs eingeschlagen, der zuerst nach dem Unfall in Fukushima nach und nach vollständig aus der Atomenergie aussteigt und gleichzeitig nur zögerlich die Einstellung der Kohleverstromung in Angriff nimmt, nicht zuletzt weil die Fernleitungen in den Süden für den an den Küsten umweltfreundlich durch Wind erzeugten Strom nicht fertig gestellt sind. Verhinderungskoalitionen finden sich leicht, Ermöglichungskoalitionen dagegen eher nicht. Gegen eine solche letztlich falsch verstandene Heuristik der Furcht, die Veränderungen über Verbote erhofft, aber solche in Wirklichkeit gerade ausbremst, setzt der potential turn auf eine an normativ erwünschten Fortschritten orientierte Aufbruchstimmung.

Deutungsmacht ist mit ihrer Ermöglichung ebenso wie mit ihrer Verunmöglichung hochpolitisch; fake news spielen nicht nur im Populismus mit der Verächtlichmachung missliebiger Wissensinhalte eine zentrale Rolle, sondern auch für spin dictators: Sergei Guriev und Daniel Treisman zeichnen für den späteren Teil des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung nach, die wegführt von den alten Diktatoren vom Schlag Hitlers, Stalins und Maos mit ihren terroristischen, auf Verbreitung von Angst zielenden Gewaltherrschaften und mit weltanschaulich geschlossenen Ideologien im Sinne von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse. Neue Diktatoren, die wie die namensgebenden Spin-Doktoren in amerikanischen Wahlkämpfen Storys erzählen, arbeiten mit eher geringer oder doch zumindest kaschierter Gewalt und setzen ganz auf Deutungsmacht: Durch meinungsstark vorgetragene und häufig wiederholte fake news der allgemeinen Desinformation überzeugen sie ihre Bevölkerung und können so erfolgreich Wahlen bestehen, die einer wirklichen Opposition keine Chance lassen. Unterdrückung und Zensur beschränken sich auf eine dosierte Anwendung und verhindern primär ein Überspringen von Kritik auf die Gesamtbevölkerung. Das Anfang 2022 erschienene Werk von Guriev und Treisman sieht in Singapur in Gestalt von Lee Kuan Yew einen idealtypischen spin dictator, aber auch Orban und Erdogan sind in ihrer Unterminierung der Demokratie auf diesem Weg unterwegs.6 Die Autoren zählen zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Werkes auch Wladimir Putin zu den spin-Diktatoren: Es bleibt abzuwarten, ob Putin mit dem Ukraine-Krieg dauerhaft zurückschaltet auf einen traditionellen Gewalt-Diktator. Auffällig ist im Ukraine-Krieg, dass die russische Seite immer wieder Kriegsverbrechen begeht, diese aber mit Geschichten verbrämt, die das eigentlich Skandalöse verdecken, ins deutlich Harmlosere zu ziehen suchen oder möglichst gleich ganz ins Gegenteil einer Schuldzuweisung für die Seite des Westens zu verwandeln. An der semantischen Oberfläche des Konfliktes bleibt keine Anschuldigung ohne Antwort, so dass gerade mit Blick auf die russische Innenpolitik Aussagen zur Verfügung stehen, die wie Argumente aussehen. Am Beispiel dieser rhetorischen Ausrichtung zeigt sich, dass Allgemeinbegriffe und Narrationen besonders leicht deutungsmächtige Plausibilität erzeugen, aber gleichwohl nicht wahr sein müssen. Geschlossene Narrationen mit ihren großen Worten verdienen mindestens ebenso viel Misstrauen wie die Einzelinformationen, die als gefälschte gezielt in die Irre führen. Für Guriev und Treisman ist klar, dass es auf mehr vernünftige Deutung und Fokussierung ankommt.7 Es geht in dieser von mir geteilten Sicht um das Zusammenkommen von Deutungsmacht und Vernunft. Um Wahrheit muss man sich in einer stimmigen Zusammenschau kümmern, sie setzt sich nicht von alleine durch. Einzelne gute Argumente werden oft nicht gehört – und gerade in einer Demokratie bedarf es großer Aufmerksamkeit, um der Vernunft eine Chance zu geben und ihr zur Macht zu verhelfen.

In der Bundesrepublik Deutschland blieben uns spin-Diktatoren erspart und jahrzehntelang war es richtig, die eigenen staatlichen Institutionen gerade im Kontrast zu den NSDAP- und SED-Diktaturen als die bisher besten Arrangements einer Demokratie auf deutschem Boden zu sehen. Aus dieser Einschätzung ist allerdings mit den Jahren immer mehr ein nicht gerechtfertigter Konservatismus zugunsten von bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen in und außerhalb der Politik geworden. Aus einer immer schon pauschalen Einschätzung wurde so nach und nach eine Abschottung gegen Veränderungen, die den Blick auf international erprobte Alternativen verstellte. Als politisches Beispiel lässt sich der Länderföderalismus in Deutschland nennen, der nach 1945 nach dem Prinzip der das Lokale und Regionale zuerst in der Verantwortung sehenden Subsidiarität zur Zähmung des Zentralstaates eingeführt wurde und der nach wie vor in seiner Grundidee im Gegensatz beispielsweise zum übermäßig auf Paris fixierten Frankreich Stärken aufweist. In Deutschland ist seit Jahren jedoch ein Prozess festzustellen, der den bundesrepublikanischen Zentralstaat innerstaatlich mit einer parallel dazu laufenden Europäisierung auf Kosten der Bundesländer hat immer stärker werden lassen und der zugleich eine ineffektive Kleinstaaterei in Kombination mit einer Verantwortungsdiffusion zwischen Bund, Ländern und den europäischen Institutionen verzeichnet. Die Konferenzen der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten während der »Corona«-Pandemie verkörperten unter Moderation der Bundesregierung diesen Mangel besonders markant, weil die im Prinzip so wichtige Gewaltenteilung zu unguten Blockierungen führte, die an das Sprichwort »Viele Köche verderben den Brei« erinnern ließ. Im Ergebnis kommt allzu oft ein Schlingerkurs unter Vernachlässigung des Subsidiaritätsprinzips zustande. Angesichts von widerstrebenden Interessen und einer oft nur formal zelebrierten Demokratie richtet sich in Wirklichkeit vor allem überbürokratisiert alle Aufmerksamkeit auf vermeintlich oder tatsächlich komplizierte Details, was eine Sicherheitsfixierung begünstigt und die Kunst der Verständigung unter Abwägung von Risiken als Basis für fortschrittsorientierte Aufbrüche vernachlässigt.

Neben und sogar unabhängig von der Politik könnten solche Aufbrüche mit neuen Techniken einhergehen, die in einer von Furcht geprägten Umgebung ausgebremst wurden und die als »Kunst des Möglichen« (Christoph Hubig) effektiv dem Klimawandel und dessen Negativfolgen entgegenarbeiten. Deren Bewältigung erfordert selbst bei einer zumindest gedanklich möglichen, aber vermutlich unrealistischen weitgehenden Änderung von Bedürfnissen, die sich am Verzicht orientiert, technische Innovationen. Wo die Technikbewertung – wie in der Philosophie schon oft beobachtet – zwischen Euphorie und Ablehnung schwankt, könnte es an der Zeit sein, die reflexive Abwägung wieder etwas stärker von der habitualisierten Ablehnung hin zur Öffnung für technische Zukunftsmöglichkeiten zu verändern: Wenn zum Beispiel eine nachhaltige Wärme- und Elektrizitätserzeugung bei nicht stetig verfügbarer Sonnen- und Windenergie etabliert würde, die mit nicht nur kurzfristigen Speicherungen und mit Weiterleitungen aus wind- und sonnenreichen Gebieten (wie beim vorerst gescheiterten Desertec-Projekt) arbeitet, könnte sich dies als Segen erweisen. Diskutierenswert ist neben der unstrittigen CO2-Bindung durch Bepflanzung von Gebäuden und Ödland eine CO2-Abscheidung aus der Luft als direct air capture mit anschließender Gesteinseinlagerung. Ähnlich weitreichend wäre eine Wasserstoffwirtschaft, die Beton und Stahl klimaneutral herstellen lässt, die Entwicklung von synthetischen Kraftstoffen auch für Flugzeuge sowie in Wassermangelgebieten die Schaffung einer möglichst effektiven Meerwasserentsalzung. Wenn an die Stelle einer falschen Heuristik der Furcht wieder eine keineswegs auf das Technische beschränkte Hoffnung treten soll, dann bleibt es allerdings wichtig, nicht hinter die Dekonstruktion großer Fortschrittserzählungen im Sinne von Jean-François Lyotard zurückzufallen. Doch die Abschaffung des Konzeptes eines einlinigen großen Fortschrittes mit seiner Tendenz zur einseitigen Fixierung auf Wirtschaftswachstum schließt – so die These dieses Buches – das Ringen um viele kleine nicht aus. Schon Max Weber hatte in seiner Pluralisierung nach einem jeweiligen Maßstab viele kleine Fortschrittserzählungen nahegelegt.8 Einen Fortschritt im Singular in einer großen Erzählung, bei der wie auf einer Linie alle Etappen der Menschheitsgeschichte mit Aufwärtstendenz eingetragen werden, gibt es nicht. Nicht zuletzt in einer interkulturellen Perspektive hat eine solche Orientierung in einem kolonialistischen und durchaus auch sozialistischen »Entwicklungstotalitarismus« viele unterdrückende Wirkungen gezeitigt. Daher stellt es selbst einen Fortschritt dar, wenn ein solcher einliniger Begriff verschwindet und stattdessen jeweils einzelne Verbesserungen anhand eines ausgewiesenen normativen Maßstabes als Aufwärtsbewegung zwischen zwei Zeitpunkten gedacht werden. Räumlich und zeitlich können bei einer solchen Pluralisierung Fortschritte mit Rückschritten zwischen anderen Punkten koexistieren. Eine gleichzeitige Aufwärtsbewegung in allen Dimensionen des Zusammenlebens ist unwahrscheinlich. Ob etwas als Fortschritt einzuschätzen ist, bleibt kontrovers und deutungsmachtabhängig. Es wäre in solchen Kontroversen gleichermaßen geschichtsvergessen, wenn einerseits die eingetretenen Fortschritte der Vergangenheit beispielsweise in der Medizin, trotz aller Ambivalenzen in der Technik, bei sozialen Errungenschaften und auch bei ersten Erfolgen im Umweltschutz wie der Verbesserung der Qualität von Luft und Wasser ignoriert würden und wenn anderseits die gravierenden Kehrseiten wie Kolonialismus, der menschengemachte Klimawandel, das Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts mit ihren massenhaften Grausamkeiten nicht in den Blick kämen. Die Sicht auf die Moderne bleibt ambivalent und erfordert eine differenzierte Abwägung in ihrem Verhältnis von Fortschritten und Rückschritten. Auf Zukunft bezogen wären Fortschritte in einer Wende zum Möglichen mit einer sensiblen Vermeidung von damit verbundenen Rückschritten einzeln zu erringen. Zurück zum Fortschritt sieht sich nicht als eine Form des Kulturkonservatismus, sondern als eine Orientierung, die die eingetretene und noch drohende Stagnation für die jetzige und die zukünftigen Generationen zum Wünschenswerten hin überwinden hilft.

In der Verbindung der Deutungsmacht mit der Wende zum Möglichen lädt dieses Buch zu einer selbst fortschreitenden Gedankenreise ein. Ausgehend von Judith Shklars Liberalismus der Furcht grenzt Kapitel 1 den Begriff der Gewalt von Macht und Deutungsmacht ab, die in Kapitel 2 und 3 nacheinander genauer untersucht werden. Am Ende steht ein Konzept von Deutungsmacht, bei dem das auf Einfluss abhebende Machtverständnis von Niklas Luhmann – ebenso wie das von Michel Foucault und Hannah Arendt – an die Seite und teilweise an die Stelle der Kritischen Theorie in der Tradition von Karl Marx tritt. Die in Kapitel 4 eigenständig gerechtfertigte Renaissance des Fortschrittsbegriffes steht im Kontext einer erneuerten Wahrheitsorientierung, die in der an der Dekonstruktion großer Erzählungen orientierten Postmoderne als verdrängt galt. Nach den vor allem machttheoretisch ausgerichteten Teilen des Buches leitet das Kapitel 5 dazu über, angeregt durch Isaiah Berlin und John Dewey Situationen als Herausforderung für eine Deutungsmacht in Theorie und Praxis zu verstehen, die sich nicht mit Allgemeinbegriffen begnügt. Während sich Reflexion und Urteilskraft philosophisch starkmachen lassen, wird deren Deutungsmacht in gesellschaftlichen Konflikten hingegen in Kapitel 6 als begrenzt eingeschätzt. Die anthropologisch und existenzphilosophisch ausgerichteten Kapitel 7 und 8 verknüpfen das Konzept der Deutungsmacht unter Einbeziehung von Martha Nussbaums Nachdenken über Emotionen und Fähigkeiten mit der Endlichkeit von verletzlichen Menschen. In Kapitel 9 stehen sozialphilosophische Vorschläge zur deutungsmächtigen Verbindung von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn im Zentrum der Aufmerksamkeit, die utopischen Phantasien und der Kunst der Kompromisse nicht nur mit Blick auf den Klimawandel einen besonderen Platz einräumen.

1

GEWALT, MACHT, DEUTUNGSMACHT

Eine Welt ohne oder zumindest mit weniger Gewalt stellt für die meisten heute Lebenden eine bessere Welt dar und manifestiert – so der später noch zu thematisierende Steven Pinker – einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit, in der Gewalt eine geradezu zentrale Rolle spielt. Ob auch eine Welt mit weniger Macht und Deutungsmacht eine bessere wäre, lässt sich im Gegensatz zur Gewalt bestreiten. Schon an diesem Punkt kündigt sich eine untersuchungsbedürftige Differenz zwischen einerseits Gewalt sowie andererseits Macht und Deutungsmacht an. Im Zentrum der Bedeutung von Gewalt steht die körperliche Brutalität als physischer Zwang von Menschen gegenüber Menschen, die zu mehr oder weniger schweren Verletzungen bis hin zum Tod führt oder führen kann. In Annäherung an die Gegenwart wird zunehmend psychischer Zwang, der über eine äußerlich bleibende Form der Manipulation hinausgeht, in die Gewaltdefinition einbezogen, insbesondere wenn Zwang angedroht wird und auf eine grausame Demütigung zielt.9 Gewalt als eng gefasster Begriff lässt sich mit Judith Shklar durch Grausamkeit charakterisieren und so von der Macht abgrenzen: Da Gewalt normativ nur im Ausnahmefall zum Beispiel der Notwehr rechtfertigungsfähig ist, geht mit der Einstufung als Gewalt im Normalfall aufgrund der den Begriff bestimmenden Grausamkeit eine Ablehnung einher. Nach diesen Umschreibungen sind kriminelle Aktionen unter Nutzung oder Androhung von Waffen ebenso wie körperliche Züchtigung und sexualisierte Nötigungen eindeutige Formen von Gewalt. Mobbing in Arbeitsverhältnissen oder im Internet sowie Stalking gehören wegen ihres psychischen Nötigungscharakters ebenfalls ins Spektrum der Gewalt. Unübersichtlicher ist in der Bewertung das Konzept der strukturellen Gewalt, wie es von Johan Galtung entwickelt worden ist. Neben Aspekten, die auf die vielfältige Gewalt von Verhältnissen unabhängig von Gewalt zwischen Personen aufmerksam machen, gibt es die problematische Tendenz, jede Beschwernis mit dem Ausdruck »Gewalt« zu belegen: Freiheitsberaubung ist eine Form der Gewalt, die dann als strukturelle angesehen werden kann, wenn beispielsweise ganze Teile einer Bevölkerung in einem eng gefassten Territorium eingesperrt werden. Eine solche strukturelle Gewalt kann so konzipiert sein, dass die unmittelbare Gewaltanwendung durch Personen die Ausnahme bleibt. Wenn in der »Corona«-Pandemie das verpflichtende Tragen von Masken als Freiheitseinschränkung und damit strukturelle Gewalt verstanden wird, dann scheint allerdings jedes Maß verlorenzugehen und der Gewaltbegriff überdehnt zu werden. Strukturelle Gewalt sehe ich als ein graduelles Konzept an, das auf der einen Seite zu Recht genutzt wird, auf der anderen Seite jedoch ohne Trennschärfe in kontroversen Debatten zur Diffamierung anderer Sichtweisen dient. Lebensbedrohlicher Hunger, der in vielen Ländern, insbesondere bei der von Paul Collier sogenannten »untersten Milliarde«, an der Tagesordnung ist, gehört eindeutig in das Themenfeld der strukturellen Gewalt. Aus der berechtigten Sicht der Betroffenen ist ein solches Hungern ein klarer Fall von Gewalt, aber es wäre inkonsistent, einerseits aus dieser Perspektive das Strukturelle zu betonen und andererseits strukturvergessen ganz auf Personen fixiert Täter benennen zu wollen. Personale Gewalt erfordert die Überführung einzelner Täter; strukturelle Gewalt verlangt nach überpersonalen Auswegen. Insgesamt hat das Konzept der strukturellen Gewalt seine wichtige Bedeutung in der Kritik von Verhältnissen, aber Verantwortliche für diese Form der Gewalt lassen sich weniger einfach finden als im personalen Fall. In der Summe ist Gewalt in seiner definierenden Bezugnahme auf Grausamkeit normativ zu vermeiden; dies trifft auf öffentliche Gewalt ebenso zu wie auf Gewalt im Privaten.

Im Alltag wird Macht oft mit Gewalt (oder auch mit Zwang und Herrschaft als hier nicht eigens diskutierten Begriffen) assoziiert und nicht selten wird dann – so in einer Einführung zu Theorien der Macht – »Gewalt als eine Steigerungsform der Macht« gesehen. Ziel muss bei einem solchen Machtbegriff eine Welt ohne Macht sein. Die Bewertung von Macht ist allerdings in der Philosophie im Vergleich zur fast immer als negativ einzuschätzenden Gewalt deutlich ambivalenter: Vom »Lob der Macht« bis zur »Kritik der Macht« lässt sich eine vermutlich noch zu vergrößernde Spannweite der Bewertung finden.10 Eine Kritik der Macht legt eine Welt ohne Macht nahe und wird von Urteilen wie dem von Lord Acton inspiriert: »Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut.« Demgegenüber betont Rainer Hank in seinem »Lob der Macht« das dauerhaft überwiegend Segensreiche der Macht und strebt keine »Utopie der Machtlosigkeit« an. Die Brücke zwischen beiden Ansichten könnte die Unterscheidung bilden, dass manche Formen der Macht erwünscht und andere unerwünscht sind. Doch was bedeutet das für die Definition der Macht? Zur ersten Annäherung schlage ich folgende Umschreibung vor: Macht bezeichnet die Fähigkeiten von Menschen und von sozialen Verbänden, auf andere Menschen und Verbände mit Erfolg einzuwirken. Das Einwirkungsverhältnis ist aber nicht im Sinne der Gewalt als direktem Zwang oder auch nur im Sinne eines zwingenden Kausalverhältnisses zu verstehen, sondern die Macht erhöht lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass ihrem Einfluss gefolgt wird. Macht als Einfluss verstanden ist nicht grundsätzlich unvereinbar mit Handlungsfreiheit, zumal wenn sie in der Tradition der Aufklärung mit Hank als den Horizont öffnende Ermöglichung verstanden wird: »Macht ist nicht schlimm, solange sie bestreitbar ist, ökonomisch gesprochen: solange der Markt der Macht offen ist.« Beispiele für legitime Macht sind verfassungsgemäß zustande gekommene Parlamentsentscheidungen, die Anspruch auf eine Durchsetzung haben. Interessant ist die Frage nach der Macht des Geldes; denn offensichtlich erhöhen sich durch Geld und vor allem durch viel Geld die Chancen auf die Durchsetzung eigener Ziele. Wenn andere von solchen Zielen negativ betroffen sind, stellen sich Herausforderungen, ob hiergegen im »Wettbewerb als Entmachtungsverfahren« erfolgreiche Gegenmächte mobilisierbar sind. In vielen Fällen ist Macht nicht das Problem, sondern die mit Macht verbundenen »Missetaten« und vor allen die »Monopolisierung der Macht«.11 Die prinzipielle Bestreitbarkeit der Macht und die Chance auf ihre Entmachtung ist für die Legitimität der Macht zentral. Die wohl gegenwärtig am häufigsten zitierte Umschreibung von Macht, deren Vermeidung keineswegs wünschenswert ist, stammt von Max Weber. In einer kurzen Passage in »Wirtschaft und Gesellschaft« charakterisiert er Macht als Durchsetzungschance: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« Als Elemente von Webers Umschreibung lassen sich unterscheiden: das Chancenhafte der Macht, die keineswegs auf gewisse Realisierung setzen kann, das Widerstreben, das immer auch mit Gegenmacht rechnet, und vor allem die Konzentrierung von Macht zunächst auf eine Beziehung zwischen Personen.

Deutungsmacht ist unter der Überschrift der Macht aufgrund seines herausgestellten Deutungsanteils gesondert thematisierbar: Der Interpretations- und Kommunikationsanteil, der verbal oder nicht verbal zum Ausdruck kommt, greift im Fall der Deutungsmacht in das Einflussverhältnis ein. Daraus ergeben sich unterschiedliche Formen der Deutungsmacht, auf die später noch differenziert eingegangen wird. Generell ist Deutungsmacht als soft power filigran und entfernt sich so nicht nur von der Gewalt, sondern auch von plumperen Formen der Macht. Hinter der mächtigen Parlamentsentscheidung und dem Wirken des Papstes als Teil einer Institution stehen Legitimitätsauffassungen, die sie deutend tragen; für die Macht des Geldes gibt es viele ökonomische Theorien, die ihre freie Entfaltung im Kapitalismus rechtfertigen oder umgekehrt mehr oder weniger grundsätzlich kritisieren. Hinsichtlich des Verhältnisses von Macht und Deutungsmacht muss mit mindestens drei Lesarten gerechnet werden, die jeweils gute Argumente auf ihrer Seite haben: Nach der einen hat Deutungsmacht immer einen integralen Anteil an jeder Form der Macht, so dass Macht immer Deutungsmacht enthält. Nach der zweiten Lesart ist Deutungsmacht eine Unterklasse der Macht, die sich von anderen Machtformen und von Gewalt unterscheidet. In einer dritten Lesart wird davon ausgegangen, dass beide Lesarten richtig sein können, wenn in manchen Kulturen und zu manchen Zeiten jede Erscheinung der Macht mit Deutungen verbunden, aber nicht immer und überall Deutungsmacht an Macht beteiligt ist. Die Abgrenzung von Macht und Deutungsmacht gelingt zwar rein äußerlich schon über das begriffliche Hinzukommen der Deutung, aber die Abgrenzbarkeit in der Wirklichkeit erfordert eine interdisziplinäre Beschäftigung mit dem empirischen Material. Der Basta-Kanzler Gerhard Schröder kann als ein interessantes Beispiel fungieren: Schröder hatte nicht selten die Neigung, Regierungs- und Parteikonflikte möglichst ohne große Debatten und insofern ohne Deutungsmacht einfach mit Macht zu entscheiden und so Einwände gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wäre diese Beschreibung richtig, dann gäbe es tatsächlich Macht ohne Deutungsmacht. Mir scheint es jedoch überzeugender zu sein, den Verzicht auf Debatten als taktischen Versuch zu verstehen, Deutungen nicht persönlich und konfliktreich explizit vertreten zu müssen. Im Hintergrund wirkten Deutungen anderer Art in Regierung und Partei, wenn Überlegungen wie »Wollen wir in einer Rebellion gegen das Basta wirklich den Kanzler und unsere Regierung schwächen?« mächtig wurden. So verstanden wird auf Deutungsmacht zugunsten der Macht nur auf der Vorderbühne verzichtet, während sie in den Hinterzimmern umso stärker zur Geltung kommt. Auch wenn offen bleibt, welche der Lesarten im Verhältnis von Macht und Deutungsmacht – wissenschaftlich spezifiziert in unterschiedlichen Untersuchungsgebieten – letztendlich überzeugt, bevorzuge ich bis auf Weiteres die Hypothese einer Allgegenwärtigkeit der Deutungsmacht.

Wie verhalten sich Gewalt, Macht und Deutungsmacht in einer historischen oder auch interkulturellen Perspektive? Lässt sich hier eine Fortschrittsgeschichte erzählen, wonach Gewalt zunehmend durch Deutungsmacht ersetzt wird? Norbert Elias scheint mit seiner Zivilisationstheorie eine solche Lesart zu begünstigen, wonach die rohe Gewalt des Alltags zumindest am Hof von Versailles – zugespitzt formuliert – durch die Essmanieren ersetzt wurde. Den Impuls von Elias hat Steven Pinker in seiner »Geschichte der Menschheit« aufgegriffen.12 Auch wenn das voluminöse Werk von Pinker in seiner wissenschaftlichen Methodik nicht überzeugt, enthält sein Buch doch interessante Anregungen zum Nachdenken über die Verbreitung von Gewalt besonders im Alltag. Trotz der von ihm selbst eingeräumten statistischen Herausforderung einer solchen Behauptung führt Pinker beispielsweise an, dass die europäischen Staaten zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert einen zehn- bis fünfzigfachen Rückgang der Mordquote erlebten. Noch bedeutsamer für seine Einschätzung ist die sich nach der Aufklärungszeit allmählich verbreitende Ächtung von Sklaverei, Duellen, Folter, überhaupt grausamen Strafen bis hin zur Ausbreitung pazifistischer Bestrebungen: »Parallel zur Verringerung gewalttätigen Verhaltens verringerte sich auch die Neigung, Gewalt zu tolerieren oder zu verherrlichen.« Es bleibt zweifelhaft, ob es Pinker wirklich gelungen ist, die historische Abnahme von Gewalt mehr als anekdotisch zu präsentieren. Der nahe liegende Einwand, wonach der Holocaust des 20. Jahrhunderts die größte Erscheinung von Gewalt in der Menschheitsgeschichte darstellt, wird von Pinker allerdings durchaus gedanklich integriert. Die systematische Vernichtung von Menschen wird von ihm gerade als furchtbarer Rückfall gegenüber einem übergeordneten Trend zu weniger Gewalt verstanden. Vor diesem Hintergrund ist die Sinnfälligkeit seiner Gedanken auf den Spuren von Elias nachvollziehbar, wenn Pinker den Rückgang von Gewalt im Alltag hervorhebt: »Die Vergangenheit wird weniger harmlos, die Gegenwart weniger düster. Man beginnt, die kleinen Geschenke des modernen Miteinander zu schätzen, die unseren Vorfahren utopisch erschienen wären.« Ob dies wirklich weltweit als Trend belegbar ist, sei angesichts des jetzigen Ukraine-Krieges ebenso wie mit Blick auf den Völkermord in Ruanda 1994 in der Brutalisierung gerade auch des Alltags dahingestellt. Insgesamt bleibt es in wissenschaftlicher Hinsicht bei der Einschätzung, dass Pinker vielleicht Recht hat, aber definitive Belege am einzelnen Material methodisch gestützt herausgearbeitet werden müssten.

Anders als in Pinkers Fortschrittsgeschichte, für die ich hier trotz aller Schwächen Sympathie behalte und die – wie gleich zu zeigen sein wird – mit Hannah Arendt Macht und Gewalt voneinander abgrenzt, habe ich in einem früheren Artikel Macht noch als einen Oberbegriff angesehen, der gradualisiert auf der einen Seite vor allem die Gewalt in den Blick nimmt und auf der anderen Seite beispielsweise die wirkmächtige Interpretation von Texten. Sowohl Gewalt als auch Textauslegung könnten demnach Macht ausüben. Handfeste Gewalt, die zu Verletzungen von Menschen führt, und beeinflussende Deutungen stünden dann unter der gleichen Überschrift der Macht, auch wenn sie normativ durchaus gegensätzlich einschätzbar sind. Gegen eine solche Überdehnung des Machtbegriffes scheint mir das zu Verurteilende der Gewalt normativ angemessener zur Geltung zu kommen, wenn Gewalt und Macht schon begrifflich gegenübergestellt werden. Durch die Gedanken von Hannah Arendt, die Macht und Gewalt voneinander abgrenzt, lässt sich dies untermauern. Für sie ist Macht ein positiv besetzter Relationsbegriff des kollektiven Handelns, während Gewalt das Gegenüber nur beziehungslos durch ihren »instrumentalen Charakter« zum Objekt macht. »Von Links bis Rechts« werde fälschlicherweise unterstellt, dass »Macht und Gewalt dasselbe sind, beziehungsweise dass Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht.«13 Wäre dies richtig, dann käme die größte Macht aus den Gewehrläufen, wie Mao tatsächlich suggerierte. Gewalt ist für Arendt jedoch nicht zur Legitimitätserzeugung geeignet; denn kein Staat kann sich »ausschließlich auf Gewaltmittel« verlassen und sogar die »totale Herrschaft, deren wesentliche Herrschaftsmittel Konzentrationslager, Polizeiterror und Terror sind, bedarf einer Machtbasis«. Da nicht hinter jedem Einwohner ein Spitzel der Geheimpolizei stehen kann, braucht es immer Reste von wie auch immer erlangter Legitimität, zu deren Beschaffung spin dictators besonders begabt sind und die sich im Totalitarismus in ganzheitlichen Ideologien findet. Der für Arendt positiv besetzte Machtbegriff gehört zum »Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht«.

Die neuzeitliche politische Tradition des staatlichen Gewaltmonopols geht davon aus, dass politische Macht – spätestens sobald sie angefochten wird – durch Gewalt gestützt wird. Diese Sichtweise, die auch bei Max Weber zu finden ist, widerspricht der gedanklichen Herangehensweise von Hannah Arendt. Wie verhält sich also das neuzeitlich propagierte Gewaltmonopol zu der hier präferierten Machtorientierung? Den Schlüssel bieten das Kriterium der Grausamkeit von Judith Shklar und die Erinnerung daran, dass der hier eingeführte Gewaltbegriff nicht mit dem im »Gewaltmonopol« implizierten identisch ist. Die von Thomas Hobbes beförderte Orientierung am staatlichen Gewaltmonopol will den Bürgerkrieg verhindern und setzt institutionell auf den »Leviathan«, ohne dass der Staat notwendigerweise in seinen Mitteln gewaltsam und grausam vorgehen muss. Vielmehr geht es um Streitschlichtung und Streitentschärfung, die später in Abkehr oder zumindest in Weiterentwicklung von Hobbes mit dem Rechtsstaatgedanken verbunden wurden. Das sogenannte Gewaltmonopol basiert dann auf der Legitimität einer zentralisierten Macht, die etwaige Gegenmächte nur auf der Basis definierter Spielregeln vorzugsweise demokratisch zulässt, um immer wieder einen Bürgerkrieg oder Ansätze dazu zu verhindern. Die Wichtigkeit, Macht gegenüber der Gewalt auch beim staatlichen Monopol zu bevorzugen, betont Collier gerade für die ärmsten Länder der Welt, da Gewalt ein »Hindernis« für ein »verantwortungsvolles und rechtmäßiges Regieren« darstelle, das sich gegen die »Annahme« stelle, eine »Regierung habe zu herrschen und nicht zu dienen«.14

Kann Macht zur Gewalt werden? Um diese Frage zu beantworten, hilft ebenfalls ein Blick auf den »Liberalismus der Furcht« von Shklar, die ein Leben ohne Furcht als Kompass auf dem Weg zu einer gelungenen Gesellschaft nimmt und nicht, wie Jonas, die Furcht als Hinweis auf einen falschen Weg.15