Sauhund - Lion Christ - E-Book

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Lion Christ

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Beschreibung

Der Debütroman von Lion Christ: Über einen jungen Mann, „der so lange fortläuft, bis er bei sich selbst ankommt – ein berührendes radikal ehrliches Buch.“ Jenny Erpenbeck

München, 1983. Flori kommt vom Land und sucht das pralle Leben, Glanz und Gloria, einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Er ist ein unverbesserlicher Glückssucher und Taugenichts, ein Sauhund und Optimist. Im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury, von erstickendem Biedersinn und wildem Hedonismus, ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Flori rennt vor seinen Eltern davon, vor seiner ersten großen Liebe, vor jedem mit Erwartungen an ihn. Er wirft sich in die Clubs und Klappen, die heimlich zweckentfremdeten Ehebetten und Berührungen in aller Öffentlichkeit. Mit „Sauhund“ setzt Lion Christ Flori und allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.

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Das ist das Cover des Buches »Sauhund« von Lion Christ

Über das Buch

Der Debütroman von Lion Christ: Über einen jungen Mann, »der so lange fortläuft, bis er bei sich selbst ankommt — ein berührendes radikal ehrliches Buch.« Jenny ErpenbeckMünchen, 1983. Flori kommt vom Land und sucht das pralle Leben, Glanz und Gloria, einen Mann, der ihn mindestens ewig liebt. Er ist ein unverbesserlicher Glückssucher und Taugenichts, ein Sauhund und Optimist. Im München von Franz Josef Strauß und Freddie Mercury, von erstickendem Biedersinn und wildem Hedonismus, ist jeder eigene Schritt eine kleine Befreiung. Flori rennt vor seinen Eltern davon, vor seiner ersten großen Liebe, vor jedem mit Erwartungen an ihn. Er wirft sich in die Clubs und Klappen, die heimlich zweckentfremdeten Ehebetten und Berührungen in aller Öffentlichkeit. Mit »Sauhund« setzt Lion Christ Flori und allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.

Lion Christ

Sauhund

Roman

Hanser

Ich will alles.

Gitte Hænning

Raum Bad Tölz-Wolfratshausen: Wehrersatzdienstleistender (21), naturschlank, große Augen (kirschholzbraun), sucht liebevollen Freund bis allerhöchstens Ende 20 für gemeinsame Unternehmungen und eine schöne Zeit zusammen. Ich gehe abends gerne mal ins Kino (La Boum!), aber auch in die Disko oder selten Museen. Vielleicht kann man sich auch erstmal im Café Roma in Wolfratshausen treffen, das Vanilleeis mit heißen Himbeeren ist bombastisch da. Ich freue mich auf Dich und unser baldiges Kennenlernen! Schreib mir bitte nur postlagernd, Kennwort: Dauerfreundschaft. Diskretion und Zuschriften mit Bild sind Ehrensache!

ADAM, März 1983

Ich muss bitte ganz rasch schön werden, denn gleich feiern wir Abschied, die Frau Eichinger und ich. Hektisch wuschle ich mir mit den Fingern durch die Haare, klettere dann aus meiner mit Apfelkompottspucke übersäten Montur. Hier unten riecht es immer ganz eigen, nach Heizöl, Petras Fixierhaarspray und hochdosiertem Essigreiniger. Das in die Betonmauer eingelassene Aluwaschbecken scheppert, während mir heißes Wasser die Hände und Unterarme versengt, aber je mehr meine Haut wehtut, desto ruhiger werde ich innerlich. Manchmal muss ich einen hellen Schmerz fühlen, damit die Welt wieder Sinn ergibt.

Ich wasche mir auch noch das Gesicht, aber mit kaltem Wasser, bevor ich erneut aufblicke und mich im gesprungenen Wandspiegel betrachte. Sakrament, noch keinen einzigen Gramm schöner. Das Deckenlicht hier unten im Personalumkleideraum des Altenheims ist erbarmungslos, ich sehe aus, als hätte ich den ganzen Sommer keinen Strahl Sonne gesehen oder als hätten sie mich hinterrücks mit Teppichbleiche übergossen. In fünfeinhalb Stunden bist du frei, Flori, das muss ich mir immer wieder selber sagen, damit ich es mir glauben kann. Dann bist du erfolgreich der Kaserne entgangen, weil deine tiefschürfende Darlegung von Gewissensgründen einen Oscar verdient hätte. Dann hast du deine sechzehn Monate Zivildienst hinter dir, legst dich in Puppling vor die Isar und stehst erst wieder auf, wenn dein Teint perfektes Karamell ist. Überreife Pfirsiche statt hohler Wangen, in die dann endlich jeder Mann aus dem Landkreis oder vielleicht sogar München beißen mag.

Der blasse Junge, der übernächtigt hinter den Spiegelscherben hervorlinst, ist mir unheimlich. Ich will ihn in die Waschtrommel packen, aber danach, wenn er wieder rauskommt, werden sie alle schauen. Naja, hoffentlich. Hastig schlüpfe ich in meine schlackernde Wechseluniform. Und schnell weg hier, bevor mich jemand beim Herumsandeln sieht, zurück die Metalltreppe hoch. Meine Schritte hallen von den nackten Wänden wider.

Gleich darauf sitze ich mit geröteten Händen und Unterarmen in einem Ohrensessel, der bei jeder Bewegung knarzt und angeblich zwei Weltkriege überstanden hat. Vielleicht der einzige Glanz in diesem senfgelben Wolfratshauser Altenheimzimmer, in dem vom Mittagessen noch ein leichter Geruch nach Kohlsuppe in der Luft hängt. Ein Gucklochfenster und eine abgeschlossene Glastür, die noch nie aufgesperrt, höchstens mal gekippt wurde, zum Parkplatz raus. Ich warte darauf, dass die Frau Eichinger mir jetzt ein Kompliment macht, weil ich mich extra hergerichtet habe, aber sie ist mal wieder beschäftigt, blättert mit spuckefeuchtem Zeigefinger in ihrer Fernsehzeitschrift herum. Mit Kugelschreiber kreist sie sich ihr Lieblingsprogramm ein, LeseZeichen, und nickt jedes Mal mit dem Kopf, wenn sie noch weitere Programmkracher entdeckt. Aus dem Kassettenrekorder rumpelt einer ihrer Rundfunkmitschnitte, eine Sinfonie oder sowas, mit Geigen, Klarinetten und Pauken, die sich alle zusammen und ohne abzubremsen in die Kurve legen. Ich stelle mir vor, zu dieser famos aufbrausenden Musik durch eine große Stadt zu flanieren, Paris oder Mailand, vielleicht auch über den Kudamm in West-Berlin, spüre die Brise, die mir die Nase umweht, die Sonnenwärme auf meiner Haut. Ich fühle mich für einen Augenblick völlig frei, wie direkt nach dem Zahnarzt, wenn man sich auf dem Heimweg zur Belohnung saure Zuckerschlangen beim Kramer holt, weil zum nächsten Termin jetzt wieder ewig lang hin ist.

Als ich kurz die Augen aufmache, sehe ich, dass Frau Eichinger zu zittern angefangen hat, und schon ist es dahin, mein kleines zuckriges Hochgefühl. Ihre dünnen weißlila Haare, die ich ihr am Morgen frisiert habe, der Versuch eines Mittelscheitels, stehen verloren in alle Richtungen.

»Soll ich Ihnen die grüne Steppjacken bringen?«, frage ich, »odern Ventilator ausschalten?«

Sie schüttelt erhaben den Kopf und ich verstehe, dass es nicht die Zugluft ist, die sie zum Zittern bringt, sondern diese andere Sache, über die sie mir zu sprechen verboten hat, weil wenn man Dinge nicht ändern könne, brauche man sich auch nicht jeden Tag den Mund darüber fusslig reden. Draußen, in der gleißenden Ferne hinter dem Personalparkplatz und dem schmalen Grünstreifen mit der Vogeltränke, springen zwei Jungs, vielleicht dreizehn oder vierzehn, in die Loisach. Meterhohe Fontänen, die man selbst durch die trübe Glastür nicht übersehen kann. Ein Tusch, bevor das musikalische Tempo auf der Rennfahrstrecke sich ändert, einen Gang zurückschaltet.

»Er hat immer des Eis aufgehackt im Februar, mein Bepp, ach, ein Irrer war des«, Frau Eichinger zeigt nach draußen, ihr Zeigefinger so dünn wie ein Bleistift. »Wo die nach Luft geschnappt hätten vor Kälte, die Bürscherl, hat der nicht mal mit der Wimper gezuckt, weil er eine Schau machen wollt. Hat mit eisernem Willen seinen Körper gefügig gemacht, mei, und stolz war der dadrauf, Sie machen sich keine Vorstellung!«

Sie hält kurz inne, ihr Blick, der ins Leere schrappt: »Tja, hab ihn wohl trotzdem überlebt na.«

Nach diesen Worten starrt sie philosophisch nach draußen und ich habe keine Ahnung, was ich antworten soll, sehe ihn plötzlich aber selbst vor mir, ihren Bepp: seinen verlebten Körper mit dem lichtem Brusthaar. Seine zähe Lederhaut, Dutzende Leberflecken, dazwischen glänzende Kriegsnarben, Albträume jede Nacht, wahrscheinlich bis zum letzten Atemzug. Es schneit und der Alte steigt ins Eiswasser, stößt Dampf aus seinen Nüstern aus, als er mit über alles und jeden triumphierend zusammengekniffenen Lippen untertaucht. Genau in diesem Augenblick klatscht Frau Eichinger in die Hände, als wäre sie die offizielle Triangel-Frau des Orchesters, und ich komme wieder zu mir. Sie deutet auf den Einbauschrank, der sich in allen Damenappartements rechts neben der Tür befindet, bei den Herren links. Natürlich weiß ich, was zu tun ist.

Ich springe auf und öffne das rechte quietschende Türchen, doch bevor ich die Haselnusslikörflasche samt Schnapsgläsern hervorhole, betaste ich wie immer kurz den graumelierten Pelzmantel auf der Kleiderstange, oh, das süße weiche Fell. Sie hat mir mal erzählt, dass sie als junges Ding heimlich ihren windigen Regenmantel gegen dieses Luxusfell vertauscht habe, während einer Theatervorführung 1931, vor über fünfzig Jahren, als die Beißzange von Garderobiere kurz eingeschlafen war. Ein echter Feh oder so ähnlich sei das, kein Schmarrn. Innenfutter aus Crêpe marocain, reinseiden, mit Hand gestickt. Er habe nach Trost ausgesehen, dieser Mantel, nach Allerheiligen und Sicherheit. Ihre Haut habe ihn sofort geliebt, und was man liebe, das gebe man nie mehr her!

»Findens den Likör ned?«, fragt sie ungeduldig, und ich reiße meine Hand von dem samtweichen Fell wie von einer heißen Herdplatte, stammle nur: »Doch, komm ja schon.«

Die Kristallflaschen klirren. Grassl Haselnuss steht in historischer Schreibschrift auf dem pappkartonbraunen Etikett. »Seit alter Zeit.« Darunter ist die Zeichnung eines niedlichen Eichhörnchens zu sehen, umgeben von Blattwerk und Ornamenten. Ein viel zu pappiges Zeug, das man wohl erst mit über siebzig verstoffwechseln kann. Ich werfe einen letzten Blick auf den Pelzmantel, lausche der Oboe oder Klarinette, was weiß denn ich, die uns so berührend was vorweint gerade. Dann schließe ich den Schrank wieder und stelle die Flasche auf das Tischchen zwischen unseren beiden Ohrensesseln, schaue Frau Eichinger zu, wie sie uns ruschlig einschenkt, aber zum Glück nichts verschüttet. Die samtbraune Farbe des Likörs im Glas widert mich aus Gewohnheit an.

»Bei mir nur halb«, sage ich, will mir nicht wieder den Magen verstimmen.

»Er hats ja schon lang hinter sich und Sie bald auch jetzt, nur ich sitz hier noch fest«, seufzt sie leise, als habe sie meine Bitte nicht gehört. »Mei, aber wer weiß, gell, wie langs na überhaupt noch geht bei — «

»Pssst jetzt, Frau Eichinger«, unterbreche ich sie, weil man solche Sprüche sofort im Keim ersticken muss. »Sie werden bestimmt mal über hundert, glaubens mir des mal, und ich komm eh oft auf Besuch, versprochen.«

Zumindest ein mattes Lächeln, das sie mir schenkt.

Beim Anstoßen fällt mein Blick auf den Kalender mit Blumenbildern, neben ihrem Pflegebett mit der Urinwanne darunter. Der Juni 1983 ist der Monat des Enzians. Sie hat sich diesen Freitag, heute Nachmittag, mit Rotstift eingekreist. Wenn ich es recht entziffern kann, steht da in ihrer schnörkeligen Handschrift: »Ein Lebewohl.«

»Sie müssen mir nix versprechen«, sagt sie schließlich gefasst, »versteh ich freilich, dass man als junger Mensch andere Sachen zu tun hat, als wie so alte Schrullen im Heim zu besuchen. Hat noch keiner gehalten.«

»Ich aber schon.«

Und weil sie mir nicht zu glauben scheint, danach so bedrückt an mir vorbei auf den Laminatboden schaut, schenke ich uns jetzt sogar selber nach. Ich kann das gut, über den Widerstand in meinem Körper hinweggehen, das gemeine Ziehen in meinem Magen ignorieren. Wir trinken jeder noch einen Grassl Haselnuss und dann einen dritten. Zwar ekle ich mich mit jedem weiteren Schluck noch schlimmer vor dem Zeug, aber sie soll sehen, dass ich es ernst meine: Ich bin die Ausnahme von der Regel, ich werde wiederkommen, ganz bestimmt, bevor —

Da hämmert es gegen die Tür, völlig gegen den Takt der hohl klingenden Trommeln aus dem Rekorder, ich schrecke zusammen.

»Moment«, ruft Frau Eichinger und schaltet aufgescheucht die Kassette aus, das Band kratzt und beißt. Ich stolpere in ihr winzigkleines Badezimmer davon, obwohl ich mich viel lieber im Schrank verstecken würde, eingehüllt in handgestickten Crêpe marocain, bis ans Ende der Zeitrechnung.

Mit angehaltenem Atem verharre ich neben der nach Schwarzschimmel und Zitrusputzmittel riechenden Duschkabine in der fensterlosen Dunkelheit. Vom Wasserhahn tropft es ins Keramikbecken.

»Herein bitte.«

»Habens den Flori gesehen? Glaubt wohl, der kann hier schon Stunden vorher die Segel streichen, der faule Hundling, der.«

Petras Türen und Wände durchdringende Stimme überschlägt sich mehrmals, als sie erzählt, dass der Maier links in der fünf vorne seine Windel abgemacht habe, das ganze Bett sei voll, und die verwirrte, aber stets umtriebige Lemke sei auch schon wieder irgendwohin ausgerissen, zum dritten Mal die Woche. »Wie soll ich des denn allein schaffen, hm, wo der Gerhard noch immer mit die Bandscheiben flachliegt, soll ich mich vierteilen?«

Ein paar Sekunden lang mag ich mich wirklich stellen, doch meine Füße wollen mir nicht gehorchen. Da kann sich noch so viel christliches Mitgefühl in meiner Brust aufstauen, ich bleibe ein morscher Einbauschrank, der sich für immer selbst der Nächste sein wird. Wenigstens Frau Eichinger führt jetzt ein kurzes, aber einfühlsames Gespräch mit Petra über deren Aufopfern, bevor sie behauptet, sie habe mich schon seit Stunden nicht mehr gesehen. »Tut mir leid, gell, aber Sie schaffen des schon irgendwie, meine Gute, Kopf hoch, gell.« Das kann sie wie keine Zweite, meine Frau Eichinger, so unschuldig lügen, dass man es niemals auch nur für eine Sekunde in Frage stellen würde. Wahrscheinlich ist sogar die glorreiche Geschichte mit dem geklauten Pelz erfunden und sie hat ihn in Wahrheit irgendwo im Sonderschlussverkauf ergattert, der ist eh gar nicht echt, fühlt sich beim Streicheln nur so an.

Erst als ich mir sicher bin, dass die Luft rein ist, tappe ich zurück nach vorne. Die Stille zwischen uns steht mit einem Mal so bedrückend im Raum, nichts als den Tischventilator mit seiner Flattergirlande dran hört man noch klappern.

»Ich glaub, ich sollt na vielleicht doch mal wieder arbeiten, bevor uns die Petra nen Nervenzusammenbruch kriegt.«

»Ach was, ein Letzter, kommens«, ruft Frau Eichinger da bloß und schaltet fast in Panik verfallend den Kassettenrekorder wieder an.

Ich zögere, bevor ich mich seufzend in die Senfgardine einwickle, ohne ihr zu antworten. Mir ist so schummrig, zum Glück spielt die Musik jetzt wieder. Müde wiege ich mich hin und her, natürlich trotzdem im Takt, während der kratzige Gardinenstoff um mich herum wallt, leider kein Crêpe marocain, reinseiden. Aber auch ein läppischer Vorhang reicht mir in meinem verklebten Nachmittagssuff, dass ich mich für einen Augenblick fühle, als hätte ich ein Abendkleid an, als würde ich für tausend Leute singen. Die Paukenschläge der Musik werden lauter, fahren mir bis ins Rückenmark hinab. Ein letztes Aufbrausen, danach Applaus, stehende Ovationen, das ganze Drum und Dran.

Nur langsam komme ich wieder zu mir, weil nämlich die Kassette hängen bleibt und es zu knacksen anfängt, als wolle der Rekorder das Band auffressen. Erschrocken blicke ich an mir hinab, lasse den Vorhang sinken. Sie muss die ganze schräge Nummer mitbekommen haben, so prüfend sieht sie mich an. Mir wird für einige Momente schwarz vor Augen und ich muss mich an der Fensterbank festhalten, auf leeren Magen trinken war vielleicht auch nicht die beste Idee.

»Versprechens mir bloß eines«, sagt Frau Eichinger mit einem plötzlich heiligen Ernst zu mir. »Wenn Sie des erste Mal auf der Bühne stehen, auf keinen Fall in so nem dreckerten Dottergelb, verstanden? Rot, des is Ihre Farbe!«

Sie lächelt verschworen.

»Ich kenn mich aus mit sowas, was glaubens, wie die mir hinterhergelaufen sind früher, wenn ich ausgangen bin?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, drehe mich nur schwer atmend aus dem Vorhang hinaus, was gar nicht so einfach ist, wenn einem irre schwindlig ist. Dann fummle ich peinlich berührt am Grundig-Kassettenrekorder herum, als hätte ich ihr nicht zugehört, aber die Klappe klemmt.

»Ich glaub, der is kaputt.«

Sie stöhnt auf.

Betreten setze ich mich wieder ihr gegenüber in den Ohrensessel und kippe das letzte Schnapsglas Haselnusslikör hinunter.

»Da hats aber wer eilig jetzt«, sagt sie und starrt auf mein leeres Glas. »Na gut, dann gehens halt.«

»Ach mei, Frau Eichinger, ich werd Sie doch auch vermissen.«

Sie lächelt erneut mit ihren winzigen Vogelaugen, dreht sich weg und tut, als würde sie sich die Nase putzen. Fast könnte man es ihr glauben.

Ungeschickt stehe ich auf, reiße nur um Haaresbreite nicht den Beistelltisch dabei um und stelze zur Tür davon.

»Ich bin ja ned aus der Welt, wahrscheinlich fang ich eh bloß wieder drüben im Loisachkaufhaus an, des sind doch nur ein paar Meter von hier zum Untermarkt rüber. Und heut nach meiner Schicht komm ich selbstverständlich auch nochmal vorbei und sag Pfiati, Ehrenwort.«

»Da schlaf ich na bestimmt schon.«

»Ach was.«

Im Einbauschrank neben mir hängt ihr schimmernder Pelzmantel, so unendlich verlockend, dass ich nur mit größter Überwindung an der spärlichen Tür vorbeigehen kann, ohne sie nochmal aufzumachen, das teure Fell an mich zu reißen und für immer damit davonzurennen. Draußen, gegenüber vom Parkplatz, rasiert seit ein paar Minuten ein sonnenledriger Kerl in Warnorange, eine Kippe im Mundwinkel, mit der elektrischen Heckenschere die Buchssträucher, bis sie alle denselben Bundeswehrhaarschnitt haben. Nur ein kreischender Motor und der Tischventilator in der Ecke drüben, sonst ist nichts mehr zu hören. Weder Pauken noch Trompeten, noch nicht mal die windigste Triangel.

Raum München: Wehrersatzdienstleistender (21, 1,76 Meter, kirschholzbraune Augen, schwarze Haare, schlank, aber in Ansätzen muskulös) sucht Freund bis Ende 20, gerne finanziell etabliert. Du magst auch Tanzen (nicht volkstümlich oder Walzer!), Du magst das kulturelle Leben oder einfach nur mal fein mit mir essen gehen? Anrufe unter der Nummer 089.58742 werden werktags ab 18:30 Uhr von meiner besten Freundin Theresa nach der Arbeit entgegengenommen, notiert und zuverlässig an mich weitergegeben. Bitte Alter und genaues Aussehen angeben. Zuschriften natürlich auch möglich (postlagernd, Kennwort: Dauerfreundschaft), bitte nur mit aussagekräftigem Bild. (Ganzfoto zurück!) Diskretion ist Ehrensache.

PS: Treffen in der Innenstadt wegen Anreise vom Land leider nur an den Wochenenden. Ich freue mich, von Dir zu hören und Dich hoffentlich bald persönlich kennenzulernen!

ADAM, April 1983

Er heisst Gregor Förg Junior, fährt einen 76er Opel Kadett, noch blauer als der Tegernsee, und hat die einzigen Segelohren, die ich je wie ein Eis am Stiel schlecken wollte, Geschmacksrichtung Flutschfinger natürlich. An der Muschel entlang und in einer eleganten Schleife immer weiter nach innen, bis zur allertiefsten Stelle. »Hm, genau da.« Wir sitzen gemeinsam am Nordhang vorm sterbenden Johannifeuer, der längste Tag des Jahres ist zwar schon eine Weile zu Ende gegangen, aber am Horizont glüht es noch immer, und meine Handflächen sind von Schweiß überzogen, seit er durchs hohe Strohgras auf mich zugestapft ist, mich nervös aus dem Augenwinkel beobachtet. Was will der bitte, so dicht neben mir? Ich konzentriere mich auf den Geruch von Asche und Heu in der Nase. Es juckt mich in den Augen, die Dunkelheit voller Birkenpollen. Noch schlimmer aber kratzen mich die Wollstrümpfe an den Waden. Das ist seit jeher und auf allen Dorffesten der Haken, so eine Lederhose sitzt ja wenigstens halbwegs bequem, nur dieses Strumpfelend immer.

Aus der Schwärze brüllt eine heisere Männerstimme: »Ha, Förge, bei wem sitzt na du, bah? Die soll mal liebern Kloanhänger putzen!«

Unter meinen Schläfen beginnt es bei diesen Worten sofort heftig zu pochen und ich merke, dass nicht nur ich, sondern auch Gregor verkrampft. Allein das Johannifeuer zuckt weiter ungehalten vor sich hin.

»Putz doch selbers Klo, verhaute Brunzkachel, du!«

Während ich das mit sich überschlagender Stimme brülle, wage ich kaum zu blinzeln, weil ich fürchte, dass Gregor sonst beim nächsten Wimpernschlag verschwunden ist. Vielleicht war er auch niemals hier, neben mir, und ich habe eh nur geträumt.

Aber er beginnt jetzt, aus vollem Hals zu lachen, bevor er überschwänglich selbst in die Nacht hineinruft: »Hast gehört, Bernlochner, selbers Klo putzen sollst.«

Jede Arterie meines Körpers wird in diesem Augenblick von honigsüßem Sirup durchflutet, oh, ganz schwummrig wird mir. Ich habe noch nie das Zeug genommen, von dem die Christiane F. so wild schreibt, aber genauso stelle ich mir seine Wirkung vor. Wahrscheinlich wird mein Bahnhof-Zoo-Gefühl aber auch davon verstärkt, dass ich sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen habe. Weil ich eh immer schlecht schlafe in letzter Zeit und so voller Erwartung bin, dass mein Leben anfängt, jetzt nach dem Wehrersatzdienst. Außerdem staut sich jede Nacht die Hitze unter meiner Dachschräge aus Kiefernholz, ich schwitze und winde mich. Schau ich eigentlich hübsch aus, oder wenigstens halbwegs passabel? Über solch einen Mist kann man tatsächlich stundenlang nachgrübeln. Oder darüber, zu welchen großen Dingen man wohl bestimmt ist. Nur wie zum Teufel komme ich je im Leben weiter ohne das Geld von meinem Sparbuch, das ich Hirntoni komplett in Bier und Wein und Rumcola und neulich diese fast unbezahlbare Jeansjacke von Levi’s investiert habe? Geld zusammenhalten war noch nie meine Stärke. Die sieht halt aber schon auch schmissig aus an mir, diese Jacke.

Und immer bin ich mit dem Kopf woanders, sogar wenn sich der Gregor Förg Junior neben mich ans Johannifeuer gesetzt hat. Seine rechte Wade ist meiner gerade so nah, dass sie sich fast berühren: Haut auf Haut. Der Rauch wird stärker und der Wind weht ihn uns direkt um die Nasen, seit er gedreht hat. Wir müssen beide husten, bis unser Husten zeitgleich in heiseres Gelächter übergeht. Vor Aufregung verstecke ich meinen Kopf zwischen den Knien, spüre, wie ein verblühter Löwenzahn meine Wange kitzelt. Währenddessen bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich plötzlich schüchtern bin oder gerade nur nachmache, was ich darüber gesehen habe, wie irgendwelche blonden Oberschülerinnen sich verhalten, wenn sie Aufmerksamkeit von Marlon Brando oder James Dean bekommen wollen. Du bist verdammt nochmal nicht blond und schon zweimal keine Oberschülerin in einem Ami-Filmklassiker, sage ich mir. Jetzt reiß dich mal zusammen. In der Ferne scheppert etwas. Ich glaube, die meisten vom Burschenverein sind noch da, räumen das dreckige Geschirr von den Biertischen, spülen in der dampfigen Zeltküche ab oder zählen das Geld, das wir mit dem Verkauf von Grillwurst- oder Kotelettsemmeln und natürlich dem ganzen Bier eingenommen haben. Irgendwo drüben im Maisfeld kniet einer auf allen Vieren und übergibt sich, fast klingt es wie ein Bellen, aber von so einem richtig enormen Kläffer, einem Schäferhund oder Dobermann, wie ich ihn als Kind immer wollte, damit er alle meine Feinde totbeißt. Aber die Mam meinte dazu nur mit ihrem Du-brennst-ja-wohl-Lächeln: »Ja, ja, und wer kümmert sich na um den, wenn er nach zwei Wochen nimmer interessant ist, hm? Bleibt bloß wieder an mir hängen.«

Gregor war auch mal mein Feind, eines Nachmittags an der Sonnkirchner Bushaltestelle. Ein Tritt in meinen Rücken, ich fiel wie ein Pappkartonaufsteller nach vorn und schlug mir beide Knie auf dem Asphalt blutig, weil ich eben leider nicht aus Pappkarton bin. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht mal mehr. Unauffällig streichle ich über die kleine Narbe, die mir auf der rechten Seite geblieben ist, gleich über dem Schienbein.

Wir halten uns an unseren Flaschen fest, als würden wir sonst davongeweht. Ich merke, dass die Flammen meine Wangen zum Schmelzen bringen, sie tropfen mir einfach zwischen meine Haferlschuhe wie Kerzenwachs.

»Ach übrigens, du und die Schmidbergerin?«, brüderlich legt er mir seinen Arm um die Schulter. »Habts ja ganz schön rumgeschoben, neulich aufm Weinfest.«

Er ist jetzt so nah, dass ich nicht nur sein kräftiges Rasierwasser, sondern auch seinen Atem riechen kann, eine süßliche Schnapsfahne, ich muss an die vergorenen Marillen in unserem Vorgarten denken, ihr fauliges Braun zwischen den Grashalmen. Wespen, die in alle Richtungen schwirren, sich ein Festmahl daraus machen.

»Schmarrn, du, gar nix läuft da«, sage ich möglichst ungerührt und versuche, die Enttäuschung in meiner Stimme zu überspielen. »Hat mich einfach heimgfahren letztens, die Schmidbergerin, hab ja noch immer kein Führerschein selber.«

»Ach geh? Bist du ned schon einundzwanzig jetzt? Mei Bursch, was machen wir bloß mit dir, wenn du nie was aufd Reih kriegst?«

Ich schweige, setze die Flasche an meine trockenen Lippen und leere sie in einem einzigen Zug. Das Brennen in Hals und Speiseröhre, während ich tapfer schlucke. Danach laufen die Ameisen in meinem Bauch durcheinander. Er schaut mir tief in die Augen, aber ohne dass ich seinen Blick deuten kann, bevor er mich in die Seite zwickt.

»Naja, die lässt dich schon noch ran, mussts halt nur richtig anstellen.«

Die verkohlten Balken stürzen in die Glut. Funken, die durch die Luft wirbeln, vom Wind ins Schwarz davongetragen werden. Ich reiße mich von ihm los, damit er nicht meine glasigen Augen im lodernden Halblicht sieht, auf keinen Fall bitte.

»Ja ja«, murmele ich bloß noch. »Also pfiati.«

Dann laufe ich durch die laue Nacht an den frisch abgewischten Bierbänken und unserem bereits mit dem Schlauch abgespritzten Toilettenwagen vorbei, vor dem eine Ammoniakwolke hängt, dass mir noch dreimal schlechter wird, als mir eh schon ist. »Was träumst halt immer von nackerten Weißwürscht, Flori?«, würde der Bap jetzt wohl sagen. Manchmal würde ich mich gern selber kastrieren.

Als ich die staubige Hauptstraße erreicht habe, bekomme ich Seitenstechen. Ich haste trotzdem und so schnell ich kann voran, den Straßenrand entlang in Richtung Wald, versuche, zumindest halbwegs gleichmäßig zu atmen. Die Wollstrümpfe kratzen und ich schiebe sie möglichst weit nach unten in Richtung Haferlschuhe. Irgendwie unheimlich, allein durch diese Stockfinsternis zu laufen, selbst wenn es die kürzeste Nacht im Jahr ist. Zur Vorsicht taste ich nach meinem Taschenmesser, rechte Hintertasche. Als ich es spüre, wird mir gleich wohler. Gegen die Mücken, die mich in den Nacken stechen und in meine Spinat-Arme, kann ich jedoch nichts ausrichten, nicht mal, wenn ich um mich schlage.

Erst bei einer Kastanie mit glimmendem Gedenkgrablicht halte ich inne, weil es das einzige Licht weit und breit ist, den Mond haben die Wolken verschluckt. Ich nehme hoffentlich genügend Abstand zur Unfallstelle, damit der liebe Gott mich nicht als Nächsten zu sich raufholt, und öffne meine Lederhose, gebe dem schmerzhaften Druck meiner Blase nach. Mein Kopf schwirrt und wie auf einem Dampfer komme ich mir vor, der in Sturm gerät. Die Mam hat das mal erlebt, auf Turnerinnenfahrt am Bodensee, und das endlose Schaukeln und Wanken soll gar nicht spaßig gewesen sein. Sogar die Ertl Gerda musste in eine Tüte speiben, obwohl die immer so fein tut und sich laut der Mam für sonst wen hält.

Hinter mir tauchen jetzt die Scheinwerfer eines Wagens auf. Beinahe stolpere ich in meine eigene Pisse, kann gerade noch die letzten Tropfen abschütteln.

Er hält nicht mal einen halben Meter von mir entfernt, kurbelt ohne Umschweife das Fenster seines Kadetts runter, der in der Dunkelheit nicht mehr blauer als der Tegernsee aussieht, sondern flimmernd schwarz. Rasch knöpfe ich mir den Hosenstall zu.

»Mei, des hätt ich ja jetzt ned von dir gedacht, Flori«, gluckst er, »bist doch sonst unser Dame immer.«

»Fahr zu.«

»Jetzt stell dich ned so an, magst lieber Stunden durchn Wald latschen oder was?«

Verwundert fühle ich im nächsten Augenblick, wie meine Beine tatsächlich ein paar Schritte um das Heck herum machen, als würden sie mir nicht gehören, dass meine Hand wie von selbst nach dem Türgriff auf der Beifahrerseite fasst. Mir ist, als könnte ich keinen Schritt mehr tun: Zwei dünne Schuljungenbeine mit aufgeschürften Knien, aus denen für immer Blut sickern wird. Wie müde kann ein einzelner Mensch sein, aber gleichzeitig hellwach? Das Klacken der Autotür, die hinter mir zufällt, lässt mich zusammenfahren. Der Geruch nach verschüttetem Bier, kaltem Zigarettenrauch und Rasierwasser hängt in den Sitzpolstern. Im Seitenfach liegen benutzte Stofftaschentücher und leere Bierflaschen. Ich will vielleicht ja doch lieber wieder aussteigen, aber da dreht er schon den Schlüssel im Zündschloss und schimpft vor sich hin, weil der Motor nicht anspringt. Ich lache ihn eiskalt aus.

»Weiß gar ned, was du immer gegen mich hast«, sagt er, nachdem er den Motor beim dritten Versuch endlich anbekommen hat. »Sind doch Kameraden, Flori.«

»Kameraden«, wiederhole ich stumm, indem ich nur die Lippen bewege, versuche der Bedeutung dieser unergründlichen Silben auf die Schliche zu kommen, aber es gelingt mir nicht.

Wir preschen stumm durch die Sonnwendnacht, schlingern immer wieder auf die andere Seite. Einmal muss ich ihm ins Lenkrad greifen, als er nach seiner Bierflasche greift und sie ausext, sich währenddessen überhaupt nicht mehr auf die Straße konzentriert und wir sonst noch im Graben landen.

Mitten im Wald reißt er selbst den Lenker herum. Ich werde so fest gegen die Seitentür geworfen, dass ich mir sicher bin, morgen einen blauen Fleck auf der Hüfte zu haben.

Als ich durch meine Finger schiele, sehe ich, dass wir auf einen holprigen Feldweg eingebogen sind. Der Kadett stottert noch ein paar letzte Meter über den knirschenden Schotter hinweg, dann kommen wir zum Stehen und die grellgelben Scheinwerfer gehen aus. Es ist so finster, dass ich kaum etwas erkennen kann, weder drinnen noch draußen, nur der Zigarettenanzünder leuchtet weiter vor sich hin. Eine ganze Weile wagen wir beide nicht, uns zu rühren. Irgendwann aber höre ich Gregor dicht an meinem Ohr atmen, spüre seine Hand auf meinem Knie. Seine Finger sind rau und streichen Millimeter für Millimeter meinen Schenkel hoch, bis zum Saum meiner Hose. Ich sehe sie mit ihren Taschenlampen zwischen den Bäumen hervorkommen, zig heulende Jagdhunde. Sie springen auf die Motorhaube, rütteln an der Tür, sie treten klirrend die Scheiben ein.

Aber Schmarrn, nur sein schweres Schnaufen. Und meines. Draußen sowieso die allerdunkelste Stunde gerade. Er nimmt meine Hand, führt sie in Richtung seines Schritts. Obwohl das Krachleder dick und verkrustet ist, ertaste ich etwas Festes darunter, ganz deutlich, kaum spürbar vor sich hin zuckend. Kurz darauf steigt er auf den Rücksitz durch, kämpft mit der Hose, den sperrigen Trägern.

Erst nach einigem Zögern folge ich ihm, dann jedoch wie ferngesteuert.

Als er sich untenrum freigestrampelt hat, greife ich mit klopfendem Herzen nach seinem, aber er leider nicht nach meinem.

»Ein Hübscher bist fei schon«, flüstert er und ich hätte so gerne einen Rekorder, um alles mitzuschneiden, damit ich es mir nüchtern noch glauben kann, man soll es in der Rundschau ausstrahlen bitte. Aber ich habe nun mal leider nichts als diesen Moment, aus dem ich alles rausholen muss, denn gleich ist er für immer vorbei. Ich will ihn unbedingt endlich küssen, nur da drückt er bereits meinen Kopf nach unten.

»Und ein Braver, hm?«

Ich kann ihm nicht antworten, weil ich viel zu aufgeregt bin und meine Stimme beben würde. Zum Glück habe ich das mit dem Blasen schon mal im Englischen Garten hinterm Haus der Kunst ausprobiert, mit so einem schlaksigen Schlipsträger mit Geheimratsecken, anstatt nach der Berufsschule pünktlich fürs Abendessen zurück aufs Land heimzufahren. Die aus den Zeitschriftenanzeigen im ADAM waren leider immer so schüchtern, haben gar nichts versucht, sondern nur sehnsüchtig geschnauft, wenn wir uns zum Abschied fest umarmten. Mit schaumweichen Knien musste ich deshalb auf eigene Faust durch die Münchner Abenddämmerung streifen, immer tiefer in die Sträucher hinein, auf der Suche nach diesem ganz speziellen Blick, der wie ein schwindelerregender Geheimvertrag zwischen zwei Männern sein kann, auf der Suche nach zwei genauso ausgehungerten Augen wie meinen, die mir gefallen würden. Von meinem Schlipsträger weiß ich seitdem auch, dass man immer mit den Zähnen aufpassen sollte: »Aber sonst machst des gut, Kleiner.«

Ich umschließe die feuchte Spitze zwischen meinen Lippen, was salzig schmeckt, irgendwie abgestanden auch. Kurz ekelt es mich, aber gleich darauf nehme ich eh nur noch meine eigene Spucke wahr. Und immer weiter am Schaft hinab, möglichst vorsichtig, bis er ganz in meinem Mund ist. Meiner ist auch schon wach, aber in der Hose eingesperrt. Ich hoffe, das fühlt sich schön für ihn an, wie eine feuchtwarme, unendlich starke Faust, die ihn für immer so umschließen mag. Ich hoffe, er macht es sich mit der Erinnerung von heute Nacht ganz oft selber, und auf keinen Fall darf er das hier jemals vergessen, also jetzt nochmal alles geben. Er atmet schneller und immer schneller, mein Gregor, winselt sogar vereinzelt, was sich anhört, als würde ich ihm wehtun, aber ich hoffe mal, nicht. Dann keucht er plötzlich so heftig wie die ganze Zeit über nicht, krampft und zuckt unter mir zusammen. Etwas Klebriges, das auf meine Zunge schießt, meinen gesamten Mund ausfüllt, woran ich mich fast verschlucke. Panisch suche ich die Wagenklinke, reiße die Tür auf und spucke ins pechschwarze Gras aus: »Bah, warum sagst denn nix!«

Ich denke an Maiglöckchen, die dort irgendwann wachsen werden, wenn es jemals wieder regnet, und die ich als Kind nicht anfassen durfte, weil sie giftig sind, »kusch, Finger weg«. Ich denke an meine Beerdigung, zu der niemand kommen wird, wenn sich erst herumspricht, woran ich gestorben bin, außer vielleicht Frau Eichinger. Ihr Pelzmantel glänzt wie eingeölt und mit jahrzehntealter Liebe gebürstet im heißen Sonnenlicht, sie ist ganz krähenfaltig und verschwitzt, fächert sich mit einem zerfledderten Gotteslob Luft zu: »Mei, alle habens schon hinter sich, bloß ich noch ned.«

Gregor neben mir schnauft nach wie vor schwer, sitzt sonst aber beängstigend wortlos da. Achtlos wischt er sich mit seinem Ärmel sauber und beginnt auf der Sitzbank herumzurutschen. Ob er gleich dasselbe bei mir machen wird? Die Bierflaschen im Fußraum klirren gegeneinander und draußen zirpen eine Million Grillen, dass die Nacht nicht mehr ewig, sondern leider bloß viel zu kurz dauern wird.

Schließlich steigt er aus dem Wagen und wirft die Tür hinter sich zu, er scheint sich die Hose und die Träger wieder hochzuziehen und in den Wald hineinzulaufen, immer tiefer, sein Umriss wird fast sofort verschluckt, ist nicht mehr zwischen den spindeldürren Fichten und Tannen auszumachen. Hoffentlich muss er nur schnell mal austreten, ist gleich wieder da, und dann bin ich an der Reihe, das wird vielleicht noch schöner. Ich warte und warte, nicke einmal kurz ein, bestimmt nur ein paar Minuten, aber als ich aufschrecke, ist es draußen bereits fahlblau. Die Scheiben sind bis obenhin beschlagen. Und als ich irgendwann erneut hochfahre, ist es draußen auf einen Schlag taghell, aber ich bin leider noch immer mutterseelenallein hier auf der engen Rückbank. Mein Steißbein pocht, ein fieser Stich im Rücken. Wo ist der bitte hin verschwunden? Schwer zu sagen, ob es eine halbe oder drei Stunden sind, seit er vor mir davongelaufen ist. Die Vögel haben längst zu singen angefangen und mir ist so elend zumute, dass ich bitte ganz schnell von hier wegwill. Wacklig steige ich aus, aber draußen ist der Vogelchor leider noch lauter. Ich stelle mir vor, dass ich ein Kleinkaliber habe und auf sie ziele, sie in die Mitte des Ringkorns rücke. Und peng, schon flattert leblos etwas zu Boden, tanzen weiße und graue Federn durch die kaltfeuchte Morgenluft.

Dreckskerl. Was hab ich denn falsch gemacht?

Ich greife in meine rechte hintere Hosentasche und taste wieder nach meinem Taschenmesser, das ich damals von meinem Paten, dem Gschwend Herrmann, einem Großcousin vom Bap, zur Firmung bekommen habe, hole es hervor, streichle über den Walnussholzgriff, schon leicht abgewetzt. Nicht zu verachten waren natürlich auch die dreihundertsiebzig Mark, die ich hinterher in lauter hübschen Umschlägen von der versammelten Verwandtschaft überreicht bekam. So reich wie nach dem heiligen Sakrament der Firmung war ich seither nie wieder, ich wünschte, man könnte sich jede Woche firmen lassen, da wäre ich glatt dabei.

Mit der Fingerspitze fahre ich über die Klinge, bin hin- und hergerissen. Dann knie ich mich tatsächlich neben den Hinterreifen und steche zu. Beim ersten Mal schaffe ich es nicht durch das dicke Gummi, beim zweiten Mal auch nicht, vielleicht weil ich noch immer zweifle: Was tue ich hier bloß gerade?

Erst nach dem dritten, diesmal fest entschlossenen Stich, in den ich all meine Kraft lege, zischt es leise, kaum hörbar.

Ich wanke den Schotterweg Richtung Hauptstraße entlang, überrascht davon, wie angesoffen ich mich noch immer fühle, durchquere den Rest des dunkelblauen Fagnerholzes. Überall schillert Tau, auf den Blättern und Nadeln der Bäume, dem kurzgemähten Gras, sogar auf den Straßenleitpfosten. In meinem Rücken brüllt die erste Morgensonne nach der Sonnwende, dass ich gefälligst zugehen soll, schon seit Stunden daheim sein wollte. Nach einer halben Ewigkeit oder vielleicht auch nur zwanzig Minuten kommt endlich das Ortsschild von Sonnkirchen in Sicht, Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Am liebsten würde ich mich vor lauter Erschöpfung und Verwirrtheit in den Misthaufen vom Schreiner sacken lassen und nicht mehr aufstehen, aber keine Faxen jetzt, sondern immer brav weiter. An der gekiesten Hofauffahrt vorbei, am Stall, hinter dessen blinden Fenstern schon das kalte Melklicht flackert. Hoffentlich sieht mich keiner aus Sonnkirchen in diesem Zustand hier und kann später bei der Kriminalpolizei gegen mich aussagen: »Der Flori ausm Unterdorf ist erst im Morgengrauen heimgestolpert. Na sicher war der des mit dem Förg Junior seinem Hinterreifen, wir haben dem ja noch nie übern Weg traut, dem kleinen Grattler, dem.«

Von irgendwoher Heugabeln, die über Metallgitter scharren. Und mit müden Beinen, aber tapfer weiter, am Friedhof und der Sankt-Valentins-Kirche vorbei, dem Kriegerdenkmal mit seinen Keramiktöpfen davor. Frischgegossene Geranien, wie immer altrosa. Schließlich, hinter den gestutzten Buchenhecken, graugepflastert und das Gras in den Fugen wie mit der Nagelschere getrimmt: die frischgekehrte Einfahrt zum Haus meiner Eltern. Selten war ich so froh über diesen Anblick.

Ich sperre die Haustür auf, tapse nach unten in den Keller, ziehe dort meine speckige Lederhose aus und hänge sie im Heizungsraum in die hinterste Ecke, weil sie so dermaßen nach Rauch und Schnaps stinkt, dass ich die Mam schon seufzen höre: »Mei, des war ja wieder ein Welterfolg, gell.«

Dann wanke ich bloß in Unterhose und möglichst leise hoch in mein Zimmer. Totenstarr liege ich auf dem Bett, blicke die gemaserte Dachschräge an, unter der sich auch heute die Hitze des Tages gestaut hat, des ganzen Sommers, nein, Jahrzehnts. Eine Weile kommt es mir vor, als wäre nie etwas passiert. Alles Räubergeschichten. Unleugbar jedoch schmecke ich seinen Samen zwischen den Zähnen, selbst ganz hinten am Gaumen, wenn man genau drauf achtet. Ich denke, dass ich Mundwasser hätte nehmen sollen, um die Keime abzutöten, bevor sie mich krank machen. Was aber habe ich denn noch, außer seinem Geschmack? Zum Glück sieht er gesund aus und macht solche Sachen sonst bestimmt nur mit Mädchen, und zwar welchen aus dem Landkreis, er kann es eh überhaupt nicht haben. Wo hätte er sich anstecken sollen, wenn es nur so welche wie ich bekommen, und vor allem solche, die wie blöd auf der ganzen Welt rumschieben und überhaupt völlig anders leben, ohne Anstand und alles? Bei uns in der Bundesrepublik gibt es doch kaum Fälle bis jetzt, ich sollte mich mal zusammennehmen. Aber so bin ich leider bei jeder Krankheit, weshalb die Mam schon gar nicht mehr erwähnt, woran die Leute in Sonnkirchen oder den Nachbarorten gestorben sind, weil ich sie sonst nur wieder frage: »Aber du, Mam, also ist des na sicher kein schwarzer Hautkrebs, da am Hals bei mir? Ich wollt mich doch auch ums Verrecken nie eincremen lassen als Bub, weißt des nimmer?«

Wie unbegreiflich das alles ist. Wie hart er in meinem Mund war, sein rasselnder Atem an meinem Ohr, seine rauen Finger in meinem Nacken. Ich schlage das Laken zurück und reibe immer ungehaltener an mir herum. Es tut ein bisschen weh an der Eichel, aber ich bin gerade viel zu erregt, um vorsichtig mit mir selbst zu sein. Nicht mal zwei Minuten dauert es, bis ich keuchend in ein Taschentuch rinne. Die Morgensonne knallt mittlerweile mit voller Wucht durch das Fenster herein und ich höre ein Auto, das sich auf der Hauptstraße nähert, widerstehe dem Drang, aufzustehen und nachzusehen, ob es ein 76er-Kadett ist, blau wie der Tegernsee. Dann fällt mir ein, dass er damit so schnell nicht mehr vorbeifahren wird, und nur recht so. Mir ist trotzdem nicht wohl. Ich kämpfe mir das Laken komplett von den Gliedern, weil es mich begraben will, und setze mich nackt und endlos müde auf. Vielleicht wird sich am Ende ja alles aufklären, vielleicht hat er sich tatsächlich nur nach dem Pissen verirrt, so hinüber, wie der war, und ist gar nicht weggelaufen, vor mir oder sich selber, wer weiß das schon. Ich hoffe, der zeigt mich nicht an, aber das soll er sich mal trauen, du. Und lieber Gott, bitte mach, dass er nicht betrunken und mit zerstochenem Reifen losgefahren ist, auf halber Strecke einen Unfall wegen mir gebaut hat und gegen einen Baum gekracht, jetzt schwerverletzt oder sogar tot ist. Zefix, was habe ich mir bloß gedacht? Aber nein, Quatsch, das war ein spitzer Stein oder eine Glasscherbe, die sich da ins Profil gebohrt haben. Ja, genauso war das in Wirklichkeit! Ich mache solche Sachen nicht, ich war schon immer ein Guter. Wieso ist der vorhin bloß ohne ein einziges Wort zwischen den Fichten verschwunden, dieses Arschloch? Dabei hätte ich ihn so gern geküsst.

Lieber Alexander,

Gratulation, daß Du Dein Abitur fast mit Bestnote bestanden hast. Das freut mich tierisch für Dich. Jetzt steht dem Durchbruch als Fußorthopäde ja wirklich nichts mehr im Weg, die Regierung daheim ist bestimmt stolz, oder? Können wir uns denn nochmal sehen? Ich fand es wirklich schön, mit Dir an der Isar zu sitzen und mit Niveau und Tiefgang zu reden. Ich bin ja selbst einer der wenigen mit Realschule in Sonnkirchen, und da ist es mal eine tolle Abwechslung, mit jemand anders Klugem zu sprechen. Was Du alles gelesen hast und wo Ihr jedes Jahr im Urlaub wart, wir können wahnsinnig gern auch mal gemeinsam verreisen!

Ich wollte mich außerdem noch bei Dir bedanken, dass Du mir Deine Strickjacke geborgt hast für den Heimweg zurück aufs Land. Das war irre lieb von Dir und ich würde sie Dir gerne zurückgeben. Die Mam hat aber natürlich angeschlagen wie ein Mauerhund: Woher na bittschön diese Jacke sei? Ich mußte ihr mehrmals versichern: »Ach die? Hab ich mir neu gekauft.« — Aber warum die dann überhaupt nicht neu riechen tue oder aussehe. »Herrgott, weils vom Münchner Flohmarkt auf der Theresienwiese ist, wars des jetzt mit dem Kreuzverhör?«

Aber Du kennst das bestimmt auch, oder, solche Diskussionen?

Vielleicht darf ich Dich ja irgendwann mal besuchen und Du erzählst mir, wie das ist, im ersten Semester einen toten Menschen aufzuschneiden, wie er riecht und ausschaut, ob man da noch erkennen kann, ob es jemand Nettes oder Gemeines war. Sieht man sowas vielleicht sogar irgendwo in den Organen: Die ganze Wut und den Ärger, was Menschen zu Lebzeiten alles runterschlucken mussten, jede unglückliche Liebesgeschichte, die ihren Herzmuskel wie einen Socken ausgeleiert hat? Erzähl mir das ganz bald bitte, alles!

Dein Flori von der Isar

Brief, Mai 1983

Mit dem letzten Linienbus komme ich zwei Wochen nach Johanni und einem schier endlosen Arbeitstag in Sonnkirchen an, stolpere auf den Bürgersteig ins schwelende Abendlicht hinaus und verstauche mir auf Höhe der beschmierten Telefonzelle — »die Jaud Uschi machts mit jedem« — fast den Fußknöchel. Neue Anstellung, wie ein Weltmeister Hosen im Loisachkaufhaus zusammenlegen, sonst alles beim Alten leider.

Die Pflastersteine im Ort sind vom Teufel persönlich geschliffen worden und seit Jahren locker. »Drecksgemeinde«, mehr sagt der Bap dazu nicht mehr, wenn er von hinter dem Küchenvorhang aus dem Fenster lurt, als würde er nur darauf warten, dass endlich mal ein handfestes Unglück passiert: »Ja, bald hauts uns eine Alte aufm Weg in die Kirch zsam und dann is des Gschrei groß, ich sags euch.« Ein bisschen warten wir vielleicht auch alle darauf, oder überhaupt mal auf ein Unglück. Irgendwas, das Aufsehen erregt, egal was.

Aber um keinem unrecht zu tun: Wenn der Bap draußen vor dem Haus werkelt und die alte Eberl oder sonst wen vorbeischeppern sieht, befiehlt er ihnen mit seiner schallendsten Obergefreiter-der-Reserve-Stimme, stehenzubleiben, holt dann ohne zu zögern seinen glänzenden 3er-BMW aus der Garage und fährt jeden einzelnen fußkranken Menschen, der ihm nicht entkommt, persönlich die vierhundert Meter von unserem Haus zum Friedhof rauf. Das nennt man einen Anstand haben.

Die Rabatten vorm Gasthof sind auch heute Abend staubig und mit gelben Pollen verhangen, als ersticke ein durchscheinendes Laken sie. Fast will ich mich zu ihnen fläzen und nie mehr aufstehen, das wäre eine Schau, nicht wahr? Darüber ließe sich tage-, nein wochenlang reden. »Was flackt der sich mitten neben die Hauptstraße aufn Grünstreifen und steht nimmer auf, spinnt der jetzt ganz?« Wann immer der Alltag mir ohne Vorwarnung von hinten eine Plastiktüte über den Kopf zieht, sehne ich mich nach so einmalig großen Taten. Ich will dann umso dringender irgendwas Tiefes fühlen oder komplett Verdrehtes tun, nur bitte nicht länger schlafwandeln.

Es riecht nach Fritteusenfett und Brathendl auf dem Bürgersteig, weil ab Mittwochabend der Biergarten geöffnet hat. Das heisere Gelächter und Gemurmel, die vertraut aneinanderklirrenden Krüge.

Ich haste weiter, klettere über unseren Gartenzaun, obwohl der Bap und die Mam das nicht mögen, angeblich zertrete ich doch immer alle Tulpen und Gerbera, egal wo welche wachsen. Auf dem ausklappbaren Gartentisch stehen eine Schüssel bunter Nudelsalat mit Bonduellegemüse vom Abendessen, mit beschlagener Frischhaltefolie abgedeckt, und daneben ein Porzellanteller für mich, aber dafür habe ich jetzt sowieso keine Zeit. Kein Hunger, seit Wochen schon, zumindest nicht auf diese stumpfe Weise. Stattdessen husche ich über die Terrasse ins Haus und atme erst wieder durch, als ich sehe, dass unser Bad unten frei ist.

»Du zahlst jetzt na beim Wasser mit, hast mich?« Das Hämmern vom Bap gegen die Holztür, das ich kühn ignoriere, weil dann verzupft er sich am schnellsten wieder, bloß noch resigniert vor sich hin brummend. Bei dieser Hitze aber muss man zweimal am Tag duschen dürfen, finde ich, tut mir leid, sonst stinkt man meterweit gegen den Wind.

Nach der Brause verteile ich gleich mehrere Handvoll Rasierschaum auf meinen Wangen, um den Flaum wegzurasieren, kein einziger Stoppel darf in meinem Gesicht zu sehen sein, sonst bin ich hässlich. Ich will bitte für immer ein Junge sein dürfen und nie ein Mann werden müssen, ich will glatt und zart rüberkommen und natürlich völlig unschuldig, obwohl ich das in Wahrheit vielleicht kein Stück bin, was weiß denn ich … nur, dass die Zeit einfrieren soll, wenn ich am schönsten war: »Hier, schauts mich an, alle!«

Zum Schluss strubble ich mir noch durch die Haare, bis ich wie Annie Lennox’ drolliger Bruder aussehe, und betupfe meinen Hals mit Bogner-Man-Parfum.

Oben in meinem Zimmer ziehe ich mir ein Paar alte, aber bequeme Jeans und ein T-Shirt an, und mein kleines Silberkettchen, wie immer unter dem Ausschnittsaum versteckt. Gebückt unter der Dachschräge überlege ich, mir auch die Strickjacke überzuwerfen, die ich Alexander nach der Isar damals vor Monaten nie zurückgegeben habe, und mich mit ihr ins Bett zu kuscheln, es ist aber leider viel zu tropisch für so eine Jacke heute, und ich will den Geruch nach süßlichem Rasierwasser, einem Hauch von Moschus und seinem vornehmen Schweiß nicht übertünchen, nach diesem irrsinnig schönen und gebildeten Körper, den ich leider nie richtig anfassen durfte, nur eine halbe Minute lang zum Abschied an mich drücken. Bloß nicht daran denken, dass er auf meinen letzten Brief noch immer nicht geantwortet hat, der Scheißkerl. Bestimmt hat er mittlerweile einen anderen gefunden, einen schleimigen Studenten oder so, jemanden, der muskulös und straßenköterblond und natürlich perfekt italienisch braungebrannt ist, weil seine Eltern eine Ferienwohnung in Rimini oder sonst wo an der Adria haben. Na, sollen sie halt für immer glücklich werden, meinetwegen. Wenn sie auf ihrem nächsten Autotrip ans Meer von einem Maul mit spitzen Reißzähnen gefressen werden wie die blonde Frau im Weißen Hai, geschieht es ihnen nur recht aber.

Ich knalle die Schranktür zu, schalte meine kleine Röhre an und setze mich aufs Bett, versuche, mich auf Alexis Colbys neueste Intrige zu konzentrieren. Sie marschiert gerade in weißem Luxuskostüm mit Riesenhut und schwarzem Netzschleier vor dem unergründlichen Gesicht in einen Gerichtssaal ein, bei den Amis drüben, die eiskalten Augen noch zusätzlich unter einer Sonnenbrille verborgen. Alle Blicke sind auf sie gerichtet, ihre Eleganz, diese Wahnsinnspower. Das ist ein Macher, die Frau. Doch bevor sie ihren Schleier lüften kann, klopft es plötzlich leise. Und schon in der nächsten Sekunde öffnet sich die Tür, wie immer, ohne dass sie auf mein »Herein« wartet. Die Mam lugt aus einem karierten Frotteehandtuch hervor, in das sie ihre nassen Haare zum Trocknen eingeschwungen hat. Sie hat diesen ganz speziellen Blick auf, als wäre etwas Unerhörtes passiert und sie müsse es jetzt sofort jemandem erzählen, aber natürlich nicht irgendjemandem, sondern als Erstes mir.

»Du, der Förg Gregor steht unten.«

Die Sensation in ihrer Stimme rührt wohl daher, dass ich auf einmal beliebt im Ort sein könnte, über Nacht ein geschätztes Gemeindemitglied geworden, ihr leibhaftiger Sohn.

Möglichst gleichgültig, aber in Wahrheit innerlich aufgewühlt, wende ich mich von ihr ab, hefte meinen Blick zurück auf das Flimmern der Mattscheibe und die nahende Enthüllung, die mit jeder Sekunde des Zögerns noch spektakulärer zu werden verspricht.

»Was mag er denn?«

»Keine Ahnung, hat er ned gesagt. Auf komm, der wartet doch.«

»Sag halt einfach, ich bin ned da.«

»Bin ich deine Sekretärin? Und überhaupt, beschwerst dich ja sonst auch bloß in einer Tour bei mir, dass dich keiner zum Weggehen fragt und dass du kein einzigsten Spezl im Ort hast. Des wär doch mal die Chance!«

Sie bleibt eisern in der abgeschliffenen Tür stehen, bleiche Flecken, wo ich einst als Kind mit Filzstiften das Holz beschmiert habe. Ein Denkmal, dass ich ein Schrat sein kann, mit der Schleifmaschine vom Bap dort hingehobelt, nicht dass wir das je vergessen.

Tja, hilft wohl alles nichts. Ich rapple mich demonstrativ seufzend auf und folge der Mam, kehre dem Gerichtssaal und Alexis Colbys nach Krawall riechender Entschlossenheit den Rücken. Was ist das bloß immer mit den reichen, hinterhältigen Frauen im Fernsehen, warum interessieren die mich am allermeisten?

Nervös trete ich unten in unser Vorhäusl mit seinen ganzen frisch imprägnierten Schuhen. Es riecht nach Insektenvernichtungsmittel, Moder, Marillen im Einweckglas.

»Ihr machts aber kein Schmarrn, gell? Morgen is Arbeit«, sagt die Mam und zieht mir spielerisch das Ohr lang, wie immer das linke. Wenn mich jemals einer genauer anschaut, wird er merken, dass ich zwei verschieden große Ohren habe, so lange geht das schon. Erst jetzt, da sie ihre Pflicht erfüllt hat, kann sie zurück ins Wohnzimmer gehen und selbst Denver-Clan weiterschauen, dazu Zitterpudding essen und ihren Rotwein trinken. Den teuren, den sie immer heimlich im Weinfachhandel in Wolfratshausen besorgt, um dann felsenfest zu behaupten, dass es der reduzierte vom Spar wäre. Für sie ist es ja fast schon ein Verbrechen, wenn sie sich mal was gönnt. Sobald der Bap aus dem Hobbykeller hochkommt und den »amerikanischen Dreckmist« in der Glotze entdeckt, »geh, wirklich ned«, wird außerdem nach dem immergleichen leidigen Hin und Her umgeschaltet. Danach kommt sie fluchend zu mir hochgerannt, wenn sie am Ende doch wieder nachgegeben hat, weil das Argument, warum auf zwei verdammten Fernsehern im Haus ein und derselbe Scheißdreck laufen müsse, leider unschlagbar ist, will atemlos von mir wissen: »Was hab ich na verpasst, hm?«

Alexis Colby würde sich sowas niemals gefallen lassen, sich vor eine halb so große Mattscheibe mit Bildstörung vertreiben lassen. Alexis Colby würde der Welt das Preisschild ihres schweineteuren Weins direkt vor die Nase halten und bittersüß dazu lächeln.

»Was gibts«, frage ich Gregor, bemühe mich, möglichst teilnahmslos zu klingen, unerreichbar für ihn. »Ich hab zu tun grad.«

»Ach schad, ähm, ich hab dacht, naja, vielleicht magst heut mal wieder was mit mir machen, Flori?«

Ich schüttle den Kopf, als hätte er mir verdorbene Austern angeboten, und will die Tür zuwerfen, doch wie im Reflex stellt er seinen Fuß in den Spalt und lächelt mich schüchtern an.

Als ich ein paar Tage nach der Sonnwendnacht zum Bauwagen bin, Wochenendsaufen, weil wie immer nirgends sonst was los war, haben wir kein Sterbenswort miteinander geredet, uns nicht mal anschauen können. Nein, sobald ich seinen aufgewühlten Blick im Halblicht der flackernden Lampions auf mir spürte und durch den Bier- und Rauchnebel zurückspähte, huschten seine Augen leider gleich wieder fort.

Auch jetzt mustere ich ihn schweigend, wie er auf unseren Boden voll imprägnierter Schuhe hinabblinzelt.

»Und du arbeitest na wieder im Loisachkaufhaus, hab ich gehört? Kriegst wenigstens mehr Kohle, hm?«, nuschelt er.

Ich antworte ihm nicht, weil ihn das nichts angeht, fordere ihn lieber weiter mit meinem Blick heraus.

Erst nach einer ganzen Weile traut er sich, endlich wieder zu mir aufzusehen. In seinen Augen ein Flehen jetzt.

Mit schwitzigen Fingern nehme ich meine Levi’s-Jeansjacke vom Haken, falls es in der Nacht doch kühl wird, und steige über das Meer der vor sich hin dünstenden Halbschuhe vom Bap und der Mam hinweg.

»Wo hastn parkt?«, frage ich ihn flüsternd, wobei ich mich zu ihm vorbeuge, möglichst dicht an sein niedliches Segelohr komme.

Die Härchen in seinem Nacken stellen sich auf, das sehe ich ganz deutlich. Er schluckt, starrt auf einen ausgebesserten Sprung in der Vorhausfensterscheibe, schluckt noch heftiger.

»Im Oberdorf, vorm Getränkemarkt.«

»Na gut, dann komm halt.«

Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, wandelt er hinter mir her, über die dämmrige Auffahrt in Richtung Hauptstraße. Ich bilde mir ein, einen Fuchs in der verwilderten Buchshecke unserer Nachbarn verschwinden zu sehen. Oder einen Marder? »Wenn die jetzt ned mal ihr Hecken schneiden, dann setzts was«, verkündet der Bap jeden Sonntag beim Frühschoppen in der Wirtsstube nach der zweiten Halben leutselig, das Zentrum aller Stammtisch-Aufmerksamkeit, fast wie von einer Bühne herab. Davor, bei den Liedern in der Heiligen Messe, würde ihm nie auch nur für eine Sekunde einfallen, die Lippen einen Millimeter weit aufzumachen. Das machen gestandene Männer nicht, die wie Schutzpolizisten hinten am Kircheingang stehenbleiben und den ganzen Gottesdienst lang mit wachsamem Blick die Betenden bewachen als wäre draußen Bombenhagel.

Gregor trabt hinter mir her, am Kriegerdenkmal vorbei und über den verwinkelten Friedhof hinweg, der im einsetzenden Halbdunkel schaurig wirkt, selbst wenn die Gräber nicht mit Moos und Ranken überwachsen sind, sondern astrein gepflegt, es gibt hier in Sonnkirchen keine wichtigere Visitenkarte als das Grab der Verwandtschaft. Neben dem Steinbrunnen hinter einem Kiefernstrauch steht der Reisinger am Urnengrab seiner Witwe, gießt es hingebungsvoll und wandert dabei wie immer als gebücktes Männchen im Kreis drum herum. Aus dem linken Augenwinkel sehe ich Gregor zusammenschrecken, weil er den krummen Alten zu spät bemerkt hat.

»Griaß euch, Burschen«, brummt es aus der Dämmerung zu uns her.

»Ah, griaß Sie, Herr Reisinger«, rufe ich mit etwas zu schriller Stimme, »mei, war des eine Hitz heut wieder, da kommt man ja gar nimmer mit dem Gießen hinterher, gell?«

Gregor schweigt bloß betreten und zieht mich ohne auch nur für eine Sekunde stehenzubleiben unsanft am Ärmel weiter. Ich ärgere mich über seine Herzlosigkeit, aber bin dann doch selber froh, heute keine todtraurigen Geschichten mehr hören zu müssen: »Oh mei, des brave Weibe immer, so eine wünsch ich euch mal, Burschen, des sag ich euch, aus nix hats noch was Feines kocht.«

Auf dem Parkplatz vorm Getränkemarkt mit dem Leuchtreklameschild Alois Krautenbacher und Söhne — Bier, Schnaps und Frucade steht sein dunkelblauer Kadett und glitzert wie der Tegernsee im letzten Licht vor sich hin. Nur das Gummi des linken Hinterreifens ist auffällig hell, viel heller als beim Vorderreifen, und ohne eigene Silberfelge. Ich kann mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen.

Wir brettern eine schmale Landstraße entlang, festgefahrene Erdklumpen auf dem von Gregors Kadett-Scheinwerfern erhellten Asphalt. An den Rändern des grellgelben Lichtkegels franst die Straße ins blutleere Dunkelgrau aus. Bei einem verblühten Rapsfeld biegen wir ab, heizen weiter in Richtung Wald. Gregor dreht am Radio herum, doch es kommt nichts als Gewitter aus dem Lautsprecher, bloß vereinzelt flackern Gesprächsfetzen oder Keyboardakkorde durch den Krach. Er rüttelt am Armaturenbrett herum. »Kimm, gibts doch ned!«

Du meine Güte, hat der sogar extra die zerknüllten Taschentücher aus dem Seitenfach geräumt und die Flaschen in einer Plastiktüte zusammengeklaubt, nur für mich? Am Rückspiegel baumelt ein nagelneues Duftbäumchen, falsches Tannenaroma, das mir beißend in die Nase steigt. Erst in einem dusteren Waldstück voller dürrer Fichten, irgendwo hinter Berg, werden wir langsamer. Wir biegen auf einen Feldweg ein, ruckeln immer tiefer ins Geäst hinein, das selbst noch das spärlichste Licht verschluckt. Alle paar Meter streift ein trockener Ast oder Zweig die Scheibe, wie ein Fingernagel, den man zu schneiden vergessen hat. Es kommt mir alles so bekannt vor und ich fürchte leider, dass es exakt wie letztes Mal laufen wird. Nur komme ich diesmal, irgendwo im Nirgendwo, zwanzig Kilometer entfernt von Sonnkirchen, nicht so leicht zu Fuß nachhause. Wir bleiben so abrupt stehen, dass mir der Gurt tief in die Brust schneidet. Gregor, der sich nie anschnallt, denn er ist keine »Schisserin«, kraxelt durch die Dunkelheit auf die Rückbank, als gelte es auch heute, keine Zeit zu verlieren, stößt sich vor lauter Hast den Kopf an der Wagendecke. »Ach geh, zefix.«

Mir ist das diesmal zu blöd, ich steige aus, taste mich an der Karosserie entlang durch die Finsternis und setze mich schließlich wie ein zivilisierter Mensch hinten neben ihn, aber mit dem Mittelsitz-Sicherheitsabstand zwischen uns. Ich sehe nur seinen spärlichen Umriss neben mir, bin mir nicht sicher, ob er mich gerade sehnsüchtig anblickt oder gleichgültig woanders hin. Schon die ganze Zeit habe ich einen alten Bravo-Ratgeber im Ohr, den ich vor vielen Jahren mal gelesen habe: »Lieber Fritz, lass dich nicht immer so unrecht von deiner Monika behandeln, du bestimmst, wie der Hase läuft … Dein Dr. Jochen Sommer.«

Gregor rückt an mich heran, die Sitzbank knarzt unter seinem Gewicht. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch und Prilwasser, mein Gott, vielleicht hat der sogar die Scheiben des Kadetts gewischt.