Säulen der Ewigkeit - Tanja Kinkel - E-Book

Säulen der Ewigkeit E-Book

Tanja Kinkel

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Beschreibung

Ein Land voller Geheimnisse, eine Frau zwischen zwei Männern – der neue Bestseller von Tanja Kinkel! Die junge Engländerin Sarah kommt 1815 als eine der ersten Europäerinnen nach Ägypten – und ahnt nicht, welche Abenteuer an den Ufern des Nils auf sie warten. Während ihr Mann Giovanni Belzoni zum erfolgreichen Jäger verlorener Schätze wird, gibt Sarah sich bald nicht mehr mit der Rolle der braven Ehefrau zufrieden. Fern der Heimat findet sie endlich jene Freiheit, nach der sie sich schon lange sehnt. Doch dabei begegnet Sarah immer wieder Bernardino Drovetti, dem größten Rivalen ihres Mannes um das kostbare Erbe der Pharaonen … Säulen der Ewigkeit von Tanja Klinkel: Dreiecksgeschichte im eBook!

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Tanja Kinkel

Säulen der Ewigkeit

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

PROLOGERSTES BUCHKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5ZWEITES BUCHKapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11DRITTES BUCHKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17VIERTES BUCHKapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23EPILOGNACHWORTAbbildungenZur Umrechnung der wichtigsten MaßeinheitenTemperaturGewichtLängeVolumen
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PROLOG

1805

Was immer du tun willst, fang damit an.

Als Sarah ihrer Arbeitgeberin diesen Satz aus einem Artikel über berühmte Dichter vorlas, spürte sie, dass sie ihn niemals wieder vergessen würde. Sie hielt inne, und Mrs. Stapleton warf ihr einen ungehaltenen Blick zu.

Was immer du tun willst, fang damit an.Es war nur ein Zitat von vielen, und nichts hatte sich geändert: Die verblassende chinesische Tapete hinter Mrs. Stapleton war die gleiche, die große Wanduhr, die Sarah bald wieder würde aufziehen müssen, tickte weiter, und trotzdem erschien es ihr, als habe dieser kurze Ausspruch sich direkt an sie gerichtet; er war wie eine Hand, die in ihre Haare griff, um sie wachzurütteln. Mrs. Stapleton räusperte sich, und Sarah erklärte, um ihre Verlegenheit zu überbrücken, der Artikel sei zu Ende. Sie ging hastig zu dem über, was Mrs. Stapleton »die leidige Politik« nannte, und zu dem Bericht über Napoleon Bonapartes Selbstkrönung zum Kaiser der Franzosen, den sie mit gemessener, sachlicher Stimme vortrug. In Mrs. Stapletons empörten Ausrufen über die Anmaßung des Korsen versank der kurze Moment der Stille.

Was Sarah jedoch die ganze Nacht nicht schlafen ließ, hatte nichts mit dem Korsen und alles mit jenem kurzen Zitat zu tun. Am Morgen hatte sie ihre Entscheidung gefällt, ihr Leben von Grund auf zu ändern, selbst wenn sie noch nicht genau wusste, wie sie das anstellen sollte. Ihr Stubenhockerdasein aufzugeben und ohne Begleitung die Straßen von London zu erkunden, statt sich auf das unmittelbare Umfeld des Hauses von Mrs. Stapleton zu beschränken, wie es von ihr erwartet wurde, schien ein guter Anfang zu sein.

Sarah hatte eigentlich keinen Grund, sich zu beklagen. Mit der Ausbildung, die ein Waisenhaus in Bristol einem aufgeweckten, fleißigen Mädchen geben konnte, war die Stelle als Gesellschafterin einer alten Dame in London, die sie seit drei Jahren hatte, das Beste, was jemand wie sie erreichen konnte. Doch es genügte Sarah nicht. Nicht mehr.

Dabei ging es ihr keineswegs um ein höheres Einkommen. Sie stammte aus wesentlich bescheideneren Verhältnissen. Bristol lebte von seinem Hafen, dem Handel und der Kohle, was bedeutete, dass die Jungen in den Waisenhäusern entweder auf den Schiffen oder in den Minen landeten, wenn sie nicht genug Intelligenz und Talent zeigten, um als Schreiber an die Handelshäuser weitergegeben zu werden. Auch die meisten Mädchen waren für die Minen bestimmt, wenn sie klein und kräftig genug waren, um sich in den engen Schächten zu bewegen. Unter der Hand flüsterte man sich zu, dass die Kinder in den Bergwerken wegen des Staubs, des Steinschlags und der Gasexplosionen so gut wie nie älter als fünfzehn Jahre würden.

Nach dem Tod ihrer Eltern hatte man Sarah und ihren älteren Bruder in das Waisenhaus gebracht, wo sie kurze Zeit später Abschied voneinander nehmen mussten; mit zehn war er alt genug gewesen, um unter Tage geschickt zu werden. Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Die Nachricht von seinem Tod war ihr erst ein halbes Jahr später überbracht worden. »Ein Jammer. Aber er konnte weder lesen noch schreiben; was gab es da schon für Möglichkeiten?«, hatte der Leiter des Waisenhauses gesagt.

Ja, Sarah hatte ihre Lektion sehr früh und sehr gründlich gelernt. Sie ließ in ihrem Eifer, gelehrig und fleißig zu erscheinen, nie nach, hatte Glück und wurde nach ihrer Ausbildung als Lehrerin für die Jüngsten im Waisenhaus übernommen. Eifrig, sagte man von ihr, Miss Banne ist sehr eifrig. Das Einzige, was dem Vorsteher des Waisenhauses an ihr nicht gefiel, war, dass sie ihren Eifer und ihre ebenso beunruhigende wie unschickliche Energie nun auch einsetzte, um ihn davon zu überzeugen, keine Kinder mehr in die Bergwerke zu schicken. Da sie bei jeder Gelegenheit ein passendes Bibelzitat zu diesem Thema zur Hand hatte, konnte er ihr noch nicht einmal vorwerfen, sie führe respektlose Reden. Schlimmer noch, es gelang ihr, die übrigen Lehrer und den Archidiakon der zuständigen Diözese, der für die finanzielle Unterstützung des Waisenhauses zuständig war, auf ihre Seite zu ziehen, so dass der Vorsteher sich schließlich dazu bereitfinden musste, nachzugeben. Doch er vergaß Sarah dieses Verhalten nie.

Als die in London ansässige vermögende Mrs. Stapleton auf der Suche nach einer billigen, gut christlichen Gesellschafterin aus ihrer Heimatstadt gewesen war und der Leiter des Waisenhauses sie empfohlen hatte – wahrscheinlich, um sie loszuwerden –, hatte es für Sarah keinen Moment des Zögerns gegeben. Diese Anstellung war ihre lang ersehnte Möglichkeit, dem Waisenhaus den Rücken zu kehren. Eine Ehe hatte sie als Alternative nie in Erwägung gezogen. Die Männer, die sie ohne Mitgift genommen hätten, waren ihr zu töricht, zu grob oder zu alt erschienen, während diejenigen, für die sie ihr Herz hätte entdecken können, in der Regel selbst zu arm waren, um auf eine Mitgift verzichten zu können. Überdies hatte keiner ihre Sehnsucht, die Welt zu sehen, verstanden. Also hatte sie sich von den Männern ferngehalten, denn für eine Liebelei zwischen Tür und Angel war sie sich zu schade.

Sarah hatte nicht damit gerechnet, dass sie in London als Gesellschafterin in einer ähnlich erstickenden Enge leben würde, wie sie es in Bristol als Lehrerin getan hatte, nur in einem neueren, viel prächtigeren Haus. Aber immerhin war sie nun nicht mehr auf das Wohlwollen einer ganzen Institution angewiesen, sondern nur noch das einer einzigen Person, auch wenn es sich bei Mrs. Stapleton um alles andere als eine einfache Dienstherrin handelte. Zurückzugehen kam selbstverständlich nicht in Frage. Nein, sie musste vorwärts blicken. Es musste ein Vorwärts geben. Immer!

Was immer du tun willst, fang damit an.Seit Sarah am Tag vor ihrem neunzehnten Geburtstag diesen einen Satz gelesen hatte, träumte sie mit neuer Energie davon, keine Gesellschafterin mehr zu sein, kein Schatten, der irgendwann nicht mehr von den Tapeten an den Wänden zu unterscheiden war; kein Mädchen, das nur noch ein paar Jahre hatte, bis es eine alte Jungfer genannt wurde und seine Tage damit verbrachte, auf ein Vielleicht zu hoffen; kein Spielball anderer, der hierhin und dahin geworfen wurde, aber sich seinen Weg nie selbst aussuchen konnte oder, schlimmer noch, auf ewig in einer vergessenen Ecke ruhte. Nichts dergleichen. Das war es, was Sarah sich in jener Nacht vornahm – und ein Jahr später, kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, war die Erfüllung ihrer Träume in erreichbare Nähe gerückt. Sie würde ein Leben führen, das sich von allem, was sie gewohnt war, völlig unterschied. Sie würde nicht länger ständig an einen Ort gebunden sein. Sie würde einen Mann heiraten, den sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie war glücklich.

Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, hätte sie fest damit gerechnet, dass am Tag vor ihrer Hochzeit noch etwas schief ging. Aber sie war entschlossen, nichts dergleichen zuzulassen.

 

»Sie haben es sehr gut bei mir«, sagte Mrs. Stapleton nicht zum ersten Mal, als Sarah erschien, um ihr die morgendliche Post und die Zeitungen vorzulesen. Mrs. Stapleton erhielt nicht nur die Tagesblätter, sondern auch die Monatsschriften diverser Gesellschaften wie der Geological Society, der Gesellschaft zur Bewahrung britischen Erbes oder der Patriotinnen gegen Bonaparte, die sich alle Hoffnungen darauf machten, in Mrs. Stapletons Testament bedacht zu werden, und sie daher kostenlos schickten. Mrs. Stapleton hatte keine Kinder, denen sie ihr Vermögen eines Tages vermachen konnte, aber auch nie eine Neigung erahnen lassen, ihr Geld für etwas anderes als ihren eigenen Komfort einzusetzen. Oder sich von etwas anderem zu trennen, an das sie sich gewöhnt hatte.

»Miss Banne, es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, wie Sie sich an einen Neger wegwerfen.«

»Er ist kein Neger«, entgegnete Sarah, ebenfalls nicht zum ersten Mal, doch Mrs. Stapleton war alt, und man musste ihr zubilligen, eher vergesslich als boshaft zu sein. Überdies war sie kurzsichtig; bei ihrem einzigen gemeinsamen Besuch des Jahrmarkts, auf dem Sarahs Verlobter sein Geld verdiente, hatte sie ihn als schwarzen Häuptling in der Pantomime Philipp Quarll, oder: Der Englische Einsiedler auftreten sehen. Ganz gleich, wie oft Sarah versucht hatte, zu erklären, dass es sich um eine Maskerade gehandelt hatte, Mrs. Stapleton beharrte darauf, den zukünftigen Gatten ihrer Gesellschafterin als Afrikaner und die Verbindung daher als zutiefst unnatürlich zu bezeichnen.

»Sie haben es mir selbst von dem Programmzettel vorgelesen«, sagte sie jetzt störrisch. »Der patagonische Samson, so stand es dort.«

»Patagonien liegt in Südamerika«, erwiderte Sarah und konnte trotz bester Vorsätze nicht verhindern, dass sich eine Spur Ungeduld in ihre Stimme mischte. »Nicht in Afrika. Außerdem war es der Veranstalter, der Mr. Belzoni diesen Titel verlieh. Mr. Belzoni stammt aus Padua, in Italien. Galilei und Kopernikus haben dort gelehrt.«

»Also ist er auch noch ein Lügner, der sich als jemand ausgibt, der er nicht ist«, sagte Mrs. Stapleton schnippisch. »Woher wollen Sie wissen, dass diese Behauptung, aus Padua zu kommen, nicht ebenfalls eine Unwahrheit ist? Im Übrigen sehe ich eine italienische Herkunft keineswegs als Empfehlung an, und das sollten Sie auch nicht. Italiener sind ja fast Korsen. Oder ist das umgekehrt? Einen Landsmann des korsischen Ungeheuers zu heiraten ist in diesen Zeiten eigentlich Vaterlandsverrat. Ist Nelson dafür bei Trafalgar gestorben?«

Sarah war durchaus bewusst, dass Mrs. Stapleton sie bereits bei der ersten Ankündigung ihrer Eheabsichten hätte entlassen können. Doch Mrs. Stapleton war zu alt, zu zänkisch und zu einsam, um ohne vertraute Gesellschaft auszukommen, und Sarah hatte gehofft, auch nach ihrer Heirat zumindest eine Weile noch für sie zu arbeiten. Giovanni Belzoni musste außer für sich selbst auch für seinen jüngeren Bruder sorgen, der bei ihm lebte, und Geld an seine Familie in Italien schicken. Ein zusätzliches Einkommen, solange sie noch in England lebten, wäre hilfreich für ihre junge Ehe.

Aber nach Wochen, in denen sie das gleiche Gespräch wieder und wieder mit der alten Dame führte, Wochen, in denen sie die Zähne zusammenbeißen und unsinnige Vorwürfe wie die Gleichsetzung ihres Liebsten mit Bonaparte über sich ergehen lassen musste, schien ihr das Geld, das Mrs. Stapleton ihr zahlte, immer weniger zu bedeuten.

»Noch ist es nicht zu spät«, sagte Mrs. Stapleton bedeutsam. »Ich bin gewillt, über Ihre Verirrung hinwegzusehen, wenn Sie diesem unsäglichen Fehltritt ein Ende bereiten, Miss Banne. Ehen mit Ausländern gehen niemals gut; seien Sie doch vernünftig.« Vernunft in Mrs. Stapletons Sinn bedeutete eine endlose Kette an Jahren eingesperrt in kleinen und größeren Zimmern mit einer zeternden alten Frau. Welcher Arbeitgeber ihr auch nachfolgte, der Höhepunkt eines jeden Tages würde nur das Vorlesen aus den Journalen sein, für das sie dankbar sein musste. Nein, dieser Art von Vernunft wollte Sarah nicht folgen. Was sie auf einen Jahrmarkt wie Bartholomew Fair getrieben hatte – so gewagt das für eine unverheiratete junge Frau auch gewesen sein mochte –, war die Sehnsucht nach mehr gewesen. Auch wenn sie nicht sagen konnte, was genau sie sich unter »mehr« vorstellte.

»Ich werde vernünftig sein«, sagte sie ruhig. »Als verheiratete Frau werde ich meinen Pflichten bei Ihnen nicht mehr zu Ihrer Zufriedenheit nachkommen können, Mrs. Stapleton. Daher gebietet es die Vernunft, meine Stelle bei Ihnen zu kündigen.«

*

Bartholomew Fair gehörte zu den ältesten Jahrmärkten von London. Er ließ sich bis in das Jahr 1123 zurückverfolgen und war ungeheuer beliebt, daran konnten auch sein schlechter Ruf und die Vielzahl der dort herumlungernden Diebe und Huren nichts ändern. Bei ihrem ersten Besuch vor einem Jahr hatte sich Sarah manche Anpöbelei gefallen lassen müssen, weil sie ohne Begleitung kam. Inzwischen kannten die Budenbesitzer, Akrobaten und Schausteller sie alle. Wenn man mit dem stärksten Mann des Jahrmarkts, wenn nicht der ganzen Stadt verlobt war, hatte man nichts Derartiges mehr zu befürchten.

Verlobt, dachte Sarah, und bald verheiratet. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Im Nachhinein sorgte die eigene Courage bei ihr für Herzklopfen, doch das Gefühl, endgültig alle Brücken hinter sich abgebrochen zu haben, war auch erleichternd. Halbheiten waren nichts für sie, entschied Sarah. Entweder alles oder nichts. Sie schlenderte zwischen den Buden und genoss die Gewissheit, dass dies von nun an ihre Welt sein würde und nicht mehr Mrs. Stapletons Salon. Sie kannte sich hier bereits gut aus und schenkte weder dem zweiköpfigen Kalb noch dem gelehrten Schwein größere Aufmerksamkeit. Eine der beliebtesten Buden, die von »General Jacko und seinem Affenregiment« belegt wurde, zog immer eine solche Menge Zuschauer an, dass man Mühe hatte, sich durchzudrängen. Jeder der Affen trug eine französische Uniform, und das allgemeine Gelächter war laut genug, um die gelegentlichen Beschwerden zu übertönen, wenn eins der Tiere außer Rand und Band geriet und den Zuschauerinnen die Hüte vom Kopf riss.

Sarah begrüßte das Bauchrednerpaar in der Bude nebenan, mit dem sie sich angefreundet hatte, und beeilte sich dann, um das große Zelt zu erreichen, in dem, wie es die Kinder des Jahrmarkts so laut durch die Gegend schrien, dass sie selbst die Affen übertönten, der »Samson aus Patagonien, der stärkste Mann der Welt« seine Kunststücke zeigte.

Es war der dritte und letzte Tag dieses Jahrmarkts, des größten in London. Morgen würden sie heiraten und zu einem der kleineren weiterziehen, die in London ständig irgendwo stattfanden, sobald in Bartholomew Fair die Buden abgebaut waren. Sarah würde keine Zuschauerin mehr sein, sondern Teil der Schausteller. Vagabunden, fahrendes Volk, hörte sie Mrs. Stapletons abschätzige Stimme. Kein respektabler Mensch wird mehr ein Wort mit Ihnen wechseln, Miss Banne.

Mrs. Belzoni. Sie würde Mrs. Belzoni sein. Mrs. Giovanni Battista Belzoni.

Miss Banne war eine Gesellschafterin, dazu da, mit der Wandtapete eins zu werden, wenn sie nicht gerade vorlas; trotzdem – oder gerade deswegen – galt sie als respektabel. Mrs. Belzoni dagegen würde zum fahrenden Volk gehören und damit Orte und Menschen kennenlernen, von denen Miss Banne nur träumen konnte – aber jemand wie Mrs. Stapleton würde sie am Sonntag in der Kirche nicht grüßen, noch nicht einmal mit einem Kopfnicken. Das Einzige, was Mrs. Belzoni und Miss Banne gemeinsam hatten, war, dass sie beide ein Korsett trugen wie jede andere Frau; als Sarah es heute Morgen anlegte, war es ihr wie ein Bindeglied erschienen zwischen dem, was sie war, und dem, was sie sein würde. Als etwas, das ihr Halt gab. Wie ein Tau, das man im Hafen von Bristol den Menschen zuwarf, die ins Wasser fielen. Trotzdem hatte sie nicht die geringste Absicht, wieder an Land zu gehen. Sie war gesprungen, und jetzt war es an ihr, im Wasser zu schwimmen.

Es gab keine Verwandten, die ihnen beiden etwas schenken würden, also hatte Sarah selbst ein Geschenk für Giovanni gekauft: einen Ring. Kein Ehering natürlich, das war seine Sache; ein Siegelring, dessen Gravur eine Pyramide zeigte. Damit wollte sie ihm sagen, dass sie stolz auf das war, was er tat, und auf ihn. Die menschliche Pyramide war der wichtigste Bestandteil seiner Nummer, und gleichzeitig stand ein Siegelring für Würde. »Eine Pyramide bedeutet Ewigkeit«, hatte der Händler gesagt. Sarah war sich sicher, damit Giovannis Geschmack getroffen zu haben. Als Sarah das Zelt betrat, hatte er den Beginn seiner Nummer, das Verbiegen von Eisenstangen, bereits hinter sich und beeindruckte das Publikum nun mit dem Heben und Stemmen von Gewichten. Die Menge spendete Applaus, fieberte aber bereits dem Höhepunkt seiner Vorführung entgegen, der menschlichen Pyramide.

Giovannis Kostüm bestand zum größten Teil aus einem Bärenfell. Mit einem silbernen Band hatte er außerdem lange weiße Federn an seinem Kopf befestigt, die er eigentlich nicht nötig hatte; er war auch so der größte Mann hier, unübersehbar selbst in der Menge, die sich im Zelt versammelt hatte. Mr. Merryman, der die Nummer durch seine Kommentare begleitete, rief mit heller, kreischender Stimme, das geehrte Publikum möge doch einen Schritt zurücktreten, um dem großen Samson den Raum zu geben, seine unglaublichste Heldentat zu vollbringen.

Ein erwartungsvolles Raunen lief durch das Zelt. Sarah bemerkte, dass wie immer einige der anwesenden Frauen keine Anstalten machten, Mr. Merrymans Bitte Folge zu leisten, sondern eher versuchten, näher an Giovanni heranzukommen. Noch vor ein paar Wochen hatte Sarah dies gestört; inzwischen wusste sie, dass es wie der Applaus zu dieser Nummer gehörte und ihrem Verlobten zwar schmeichelte, aber wenig bedeutete. Außerdem konnte sie es den Frauen nicht verdenken. Als sie »den Samson aus Patagonien« vor einem Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihr nicht anders gegangen. Auch sie hatte gedacht, dass der biblische Samson gewiss genau so ausgesehen haben musste, mit starken, dunklen Augenbrauen, einer edlen Nase, lockigem Haar und einem weichen, kurzen Bart. Gleich darauf hatte sie sich geschämt und war errötet; sie betrachtete sich als zu vernünftig und zu alt für dergleichen Schwärmereien. Durch das Erröten war sie ihm aufgefallen.

»Hundertdreißig Pounds«, schrie Mr. Merryman, während sein Samson sich nach einem Gestell bückte, das hinter ihm auf der Holztribüne stand, »so viel wiegt allein das von ihm selbst gebaute Eisengestänge, das der stärkste Mann der Welt sich jetzt aufsetzen wird. Staunen Sie! Erleben Sie! Nicht ein, nicht zwei, nicht drei, auch nicht sechs und nicht acht Menschen haben Platz auf diesem Gestänge, nein, zwölf von uns wird Samson gleich vor Ihren staunenden Augen in die Lüfte heben! Nur hier! Nur jetzt!«

Es gehörte sich nicht, die wohlgeformten Beine eines Mannes zu betrachten, oder seine bloßen Arme, und dabei glücklich darüber zu sein, dass er bald ihr gehören würde, aber Sarah tat es trotzdem. Die Aussicht, bald Teil der menschlichen Pyramide zu sein und sich vor all den Leuten zur Schau zu stellen, war weniger schön, aber es war das Geringste, was sie für ihn tun konnte. Damals, vor einem Jahr, hatte er noch kaum Englisch gesprochen; inzwischen tat er es fließend, trotz eines immer noch starken Akzents. Er hatte es für sie gelernt.

Die zwölf Männer, die nun einer nach dem anderen auf seine Anweisungen hin auf das Eisengestänge kletterten, trugen grüne Pluderhosen und die gleiche Art weißer Federn, die auch auf Belzonis Kopf wippten. Sie waren schlank, doch keineswegs Zwerge. »Wie kommt es«, hatte Sarah ihren Verlobten einmal gefragt, auf dem ersten Spaziergang im Park, zu dem er sie überredet hatte, »dass Sie unter der Last nicht zusammenbrechen, Signore?«

»Weil Gott es nicht zulässt. Er hat mich zu Großem bestimmt.«

Zuerst hatte sie geglaubt, er scherze, und gelächelt. Dann hatte sie die Kränkung und Verlegenheit in seinen braunen Augen gesehen und begriffen, dass er längst nicht gewandt genug war, um seinen Stolz in Scherz und Ironie zu kleiden, schon gar nicht in einer für ihn fremden Sprache, und deswegen wohl oft verspottet worden sein musste. Die Verwundbarkeit, die der hünenhafte, schöne Mann ihr in diesem Moment zeigte, hatte in Sarah den jähen Wunsch geweckt, ihn zu beschützen. Gleichzeitig fand sie es wunderbar, wie fest er an sich glaubte. Sein Selbstbewusstsein rührte nicht von seiner Herkunft her, war nie von Reichtum oder Stand genährt worden. Es war ganz und gar das seine. Das war es, was sie sicher sein ließ, dass er der richtige Mann für sie war.

»… sieben«, jubelte Merryman, »… acht …« Das Publikum zählte lauthals mit; es bejubelte jeden zusätzlichen Mann. Sarah hob selbst die Hände, um zu klatschen, und spürte, wie ihre Finger dabei jemandes Gesicht streiften. Überrascht blickte sie nach unten und sah einen Jungen, der nicht älter als neun oder zehn Jahre sein konnte; er hatte sich offenbar in dem Gedränge so nahe an sie herangedrückt, um ihre Börse zu stehlen. Seine Finger befanden sich noch an ihrem Kleid, seine Augen waren weit aufgerissen und wirkten erschreckt, als er sich ertappt fand und ihre Hand an seinem Kragen spürte. Es war ein hungriges kleines Gesicht voller Sommersprossen, eingerahmt von struppigen Haaren, die unter dem Schmutz und Staub rot waren; einer seiner Vorderzähne war abgebrochen, als sei er mit einem Stein ausgeschlagen worden, so wie bei Joseph, ihrem Bruder, der nicht älter als dieser Junge gewesen war und ihr damals so groß erschien, als sie ihn zum letzten Mal sah.

Eigentlich hätte sie schreien sollen. Rufe wie »Dieb« waren auf dem Jahrmarkt alltäglich, gerade dieses Jahr, in dem eine Bande von Kindern ihr Unwesen trieb, die, wie das Gerücht lautete, sogar von einem der Schausteller organisiert wurde.

Aber sie würde morgen heiraten. Sarah war ganz und gar nicht in der Stimmung, um den jugendlichen Übeltäter an seinen Ohren zu packen und zum nächsten Gesetzeshüter zu zerren, zumal ihre Barschaft ohnehin sicher zwischen ihren Unterröcken in der Weidentruhe versteckt lag, die ihr gesamtes Gepäck darstellte und bei Mrs. Stapleton darauf wartete, abgeholt zu werden.

Wenn ihr Bruder damals fortgelaufen wäre, statt mit den Bütteln zu gehen, wäre er vielleicht noch am Leben.

»… zehn …«, brüllte Mr. Merryman.

»Lauf«, flüsterte Sarah. Zwischen den Jubelrufen und dem Applaus des Publikums ging ihre Stimme unter, doch der Junge musste sie verstanden haben; er ließ es sich jedenfalls nicht zweimal sagen, drehte sich um und verschwand zwischen den Zuschauern.

»… elf, zwölf! Zwölf Männer, meine Damen und Herren! Schauen Sie! Staunen Sie!«

Mr. Merryman drückte dem Samson aus Patagonien je eine Fahne in die linke und in die rechte Hand. Dann setzte sich Sarahs Verlobter in Bewegung, während die zwölf Leiber wie Tortenstücke auf einer Kuchenplatte um ihn gruppiert waren und auf dem drehbaren Element des Gestells um ihn rotierten. Er schritt die Bühne, auf der er stand, einmal auf und ab und schwenkte zur allgemeinen Begeisterung die englischen Fahnen.

»Viva«, rief eine ausländische Stimme.

Sarah drehte sich um und sah in einer Ecke des Zeltes Francesco stehen, den jüngeren Bruder ihres zukünftigen Mannes. »Viva Belzoni!«

Etwas von ihrem Glücksgefühl erstarb.

*

»Gio Batta«, sagte Francesco und gebrauchte in seiner Verzweiflung den familiären Kosenamen, mit dem eigentlich nur ihre Mutter Giovanni Battista noch anredete. »Überleg es dir noch einmal. Mama bricht es das Herz, dass du keine Katholikin heiratest. Deine Kinder werden Heiden sein.«

Sein Bruder, der sein Kostüm auszog und sich abtrocknete, schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sie werden im wahren Glauben erzogen werden«, sagte er, obwohl er nie mit Sarah darüber gesprochen hatte. »So Gott uns Kinder schenkt.«

»Aber sie ist Engländerin! Du weißt doch, dass Mama und Papa darauf hoffen, dass wir eines Tages nach Hause kommen. Wenn wir unser Glück gefunden haben.«

»Wir haben unser Glück noch nicht gemacht, Francesco«, sagte sein Bruder bestimmt und schlüpfte in ein ordentliches Hemd. Es war eines seiner besseren, das ihre Mutter noch selbst bestickt und das all die Wanderungen durch Europa überstanden hatte. Warum Giovanni, dem die Mädchen daheim in Padua nachgeseufzt hatten, sich für eine kleine Engländerin mit aschblonden Haaren und viel zu blasser Haut schmuck machen wollte, würde Francesco nie verstehen. »Und ich kann mir auch nicht vorstellen, ohne Sarah an meiner Seite glücklich zu werden. Der Himmel hat mir zugelächelt, als sie eingewilligt hat, meine Frau zu werden. Denk doch nur, was sie für mich aufgeben wird. Jetzt lebt sie in einem Salon mit Lords und Ladies und …«

Francesco schnitt eine Grimasse. »Du meinst, sie lebt als Dienstmädchen bei einer alten Schachtel mit Geld, die gelegentlich Besuche von Erbschleichern bekommt.«

»Vorleserin«, verbesserte Giovanni. »Sie ist Vorleserin, kein Dienstmädchen. Und eine gebildete Dame. Du und ich, wir haben auf unserer Reise Rosenkränze verkauft, um nicht zu verhungern, Francesco. Und nun verdiene ich mein Geld im Wettbewerb mit einer Gruppe dressierter Affen. Dass eine Dame wie meine Sarah mich für würdig hält …«

Francesco hatte die von ihm wenig geschätzte Miss Banne in der Menge gesehen, und er wusste, dass sie, wie es sich schickte, vor dem Zelt wartete, während sein Bruder sich umkleidete und die Menge sich nach der Vorstellung verlief. Gewiss war sie in Hörweite. »Nein, der Himmel hat ihr zugelächelt«, unterbrach er seinen Bruder daher nun und wechselte in sein immer noch holpriges Englisch, damit sie verstand, was er zu sagen hatte. »Sie ist nicht richtig für dich, Bruder. Knochiges englisches Mädchen. Schon über zwanzig Jahre. Daheim wäre sie alte Jungfer. Und hier ist sie …«

… wahrscheinlichnoch nicht einmal das, wollte er sagen, überlegte es sich jedoch in letzter Sekunde anders. Die Jungfräulichkeit der Verlobten seines Bruders in Frage zu ziehen war etwas, das gegen alle Sitten verstieß, die ihr Vater ihnen beiden eingetrichtert hatte, und wäre für Giovanni Grund genug, für den Rest seines Lebens kein Wort mehr mit ihm zu sprechen. Selbst dann, wenn sich herausstellen sollte, dass Sarah Banne ihm allnächtlich Hörner aufsetzte, wofür es aber leider überhaupt keine Anzeichen gab. Also brach Francesco mitten im Satz ab, was sich als Glücksfall erwies, denn die Miene seines Bruders hatte sich bei seinen Worten ohnehin sehr verdüstert. Ohne auf den Wechsel ins Englische zu achten, stürmte Giovanni in der Mundart ihres heimatlichen Padua auf ihn ein: »Knochig sagt du? Knochig? Meine Sarah? Sie hat die reizende Gestalt einer Elfe, zierlich, gewiss, doch ein Mann, der ihre lieblichen Brüste nicht sieht, ist kein Mann!« Dramatisch riss er die Hände in die Höhe. »Ihr Haar gleicht dem Honig, den ich auf ihren weichen Lippen koste, und …«

Himmel, hilf mir, dachte Francesco. Man durfte Verliebte nicht reizen, wenn man sich nicht einen fürchterlich sentimentalen Wortschwall einhandeln wollte. Das galt ganz besonders für seinen Bruder. Honig? Sarah Banne hatte Haar, das man mit einigem Wohlwollen als aschblond bezeichnen konnte. Über ihre Lippen vermochte Francesco nichts zu sagen; dachte er an diese Frau, fiel ihm zuerst ihre scharfe Zunge ein und ihr Wesen, das so ganz und gar nicht sanftmütig war, wie es sich für eine Frau ziemte.

»… ihr Gesicht hat die Form eines Herzens, meines Herzens, das ihr auf immer gehören wird«, fuhr Giovanni im Brustton der Überzeugung fort, »und ihre Augen sind wie das Meer …«

»Jetzt weiß ich, dass du blind bist. Sie hat keine grünen Augen«, unterbrach Francesco unwillkürlich auf Italienisch.

»Das Meer ist blau«, sagte Giovanni vernichtend. »Und Sarahs Augen sind es ebenfalls.«

Francesco entschied sich für ein anderes Argument, da es ohnehin nichts bringen würde, Giovanni darauf hinzuweisen, dass die Farbe von Sarahs Augen eher dem Grau einer Stahlklinge glich. Erneut sprach er englisch, damit sie ihn verstand, falls sie lauschte.

»Aber sie hat kein Geld. Was ist mit deinen Träumen, Gio Batta? Du findest reiche Braut, du kannst machen, was du willst. Studium, selbst jetzt noch. Frauen laufen dir hinterher, brauchst nur Richtige zu wollen, die dir kann wirklich geben, was Herz so lange schon ersehnt.« Wenn dem englischen Weibsstück wirklich etwas an seinem Bruder lag, dann würde sie begreifen, was sie zu tun hatte. Möglicherweise, das gestand Francesco sich ein, tat er ihr unrecht. Aber er würde nicht zulassen, dass Giovanni wegen einer kleinen Schwärmerei die Chance verlor, etwas aus seinem Leben zu machen. Das war er ihm schuldig, seit sie vor vielen Jahren als Jungen von zu Hause weggelaufen waren. Gio Batta hatte Rom sehen wollen, das ewige Rom, aus dem ihre Familie stammte, wie Papa fest behauptete; natürlich wollte er alleine gehen, doch Francesco hatte nicht lockergelassen und der große Bruder schließlich nachgegeben. Bis Ferrara waren sie gekommen; dann hatte der Händler, bei dem sie mitfahren durften, Geld haben wollen, und weil sie keines besaßen, hatte der Mann ihnen ihre Kleidung weggenommen. Francesco war in Tränen ausgebrochen, und Gio Batta hatte für ihn auf das Abenteuer verzichtet. Er war mit seinem kleinen Bruder nach Padua zurückgekehrt, obwohl er schon damals groß und stark genug war, um sich allein hätte durchschlagen zu können.

So war Gio Batta. Gutmütig bis zum Letzten. Keine Ausländerin sollte das ausnützen. Und wenn es schon eine sein musste, dann war es nur vernünftig, zu erwarten, dass sie reich war.

*

Es war nicht Sarahs Art, zu lauschen. Überdies sprach sie nur sehr wenig Italienisch, obwohl sie begonnen hatte, es zu lernen, als Überraschung für Giovanni. Dass sie einen Schritt näher an die Zeltplane herantrat, lag allein daran, dass sie es angenehm fand, Sätze zu hören, deren Sinn sie zwar kaum verstand, die aber von einer ganz besonderen Melodie durchzogen wurden. Eine Kindheit im Waisenhaus stellte sicher, dass man lernte, wegzuhören; wenn sie abends in ihrem Bett lag, hatte sie oft die Augen geschlossen und sich vorgestellt, auf einem Schiff zu sein, weit fort, auf einer Reise, und das Geschwätz der anderen war zu dem Gemurmel der Wellen und den exotischen Sprachen fremder Menschen geworden. Den Brüdern zuzuhören, empfand sie nun ähnlich.

Dann wechselte Francesco ins Englische und erhob seine Stimme gerade genug, um deutlich zu machen, dass er nicht nur im Zelt gehört werden wollte, und ihre träumerische Stimmung zerriss. Ein bitterer Geschmack verbreitete sich in ihrem Mund; sie konnte nicht entscheiden, ob er von Zorn herrührte oder der Demütigung, als knochige alte Jungfer bezeichnet worden zu sein. Rasch trat sie vom Zelt weg. Zu bleiben hätte bedeutet, dass sie auf Giovannis Antwort wartete, dass sie sich ihrer Sache nicht sicher war, dass sie ihm nicht vertraute. Nichts davon entsprach ihren Gefühlen.

Sarah presste die Lippen zusammen und wandte sich der gegenüberliegenden Bude zu, in der ein Steinesser inzwischen eine Schar von Bewunderern um sich geschart hatte. Mr. Merryman, der gleiche Ankündiger, der auch mit ihrem Verlobten arbeitete, schrie den Leuten zu, der unglaubliche Mr. Gargantua werde nun von Kieseln zu Pflastersteinen übergehen. Froh über die Ablenkung machte Sarah einen weiteren Schritt nach vorne, ohne zu bemerken, dass Bewegung in die Menge rechts von ihr kam. Ehe sie es sich versah, war jemand direkt in sie hineingerannt, so schnell und so heftig, dass er sie dadurch auf den Boden warf und auf sie fiel.

Es war der kleine Junge von vorhin. Er erkannte sie sofort. »Miss, Miss«, flüsterte er hastig, und sie verstand ihn kaum, weil er einen fürchterlichen irischen Akzent hatte, »Miss, sagen Sie, ich wär Ihr kleiner Junge, bitte. Ich will in kein Gefängnis nicht hinein, und in ein Arbeitshaus auch nicht.«

Sie wusste nicht, ob er sie für alt genug hielt, um einen Sohn wie ihn zu haben, oder für reich genug, um sich einen kleinen Pagen leisten zu können. Aber warum sollte sie einen Dieb decken, nachdem sie ihn schon einmal hatte gehen lassen? Der Junge rutschte von ihr weg.

»Bitte«, flüsterte er eindringlich, stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, während hinter ihm empörte Rufe laut wurden. Die Hand war schmutzig, mit Nägeln, die abgekaut waren. Sarah fiel auf, dass er viel zu dünn für seine Größe war. Sie erinnerte sich an das Essen in Waisenhäusern. Sie erinnerte sich nur zu gut.

Die Minen, dachte Sarah, die Minen.

Sie stand auf, ohne seine Hand zu ergreifen, und klopfte sich den Staub aus den Röcken. Der Junge starrte sie verzweifelt an. Inzwischen hatte sein Verfolger, der sich als ein stattlicher Bürger entpuppte, dessen Gesicht rot vor Empörung war, ihn erreicht und am Rand seines zerlumpten Hemds gepackt. »Jetzt habe ich dich, du dreckiger kleiner …«, begann er, erblickte Sarah und schluckte den Rest hinunter. »Tut mir leid, Miss. Hat der kleine Schurke Sie ebenfalls bestohlen?«

Sie erinnerte sich an Rohrstöcke und Schläge auf die geöffneten Handflächen.

»Nein«, sagte Sarah. »Er … ist mein Diener.«

Das ungläubige Schnauben des Mannes festigte sie nur noch mehr in ihrem Entschluss. Sie wusste, was er in ihr sah; eine Frau in einem grauen Kleid, grau, weil man daran den Staub und die Abnutzung weniger gut erkennen konnte, eine Frau, die auf der Grenze zwischen Bürgertum und Dienstboten stand, wenn nicht bereits auf der falschen Seite.

»Mein Diener«, wiederholte Sarah und hörte, dass ihre Stimme ruhig und fest klang. »Ich gründe einen Hausstand. Mein Mann und ich brauchen … Personal. Der Junge wird sich um Mr. Belzonis Requisiten und unser Gepäck kümmern.«

Der gerade noch ungläubige und forschende Blick des Mannes wurde verächtlich. Sie war gerade offenkundig in seiner Einschätzung vom Hausmädchen zur Jahrmarktvagabundin abgerutscht, genau wie Mrs. Stapleton es prophezeit hatte.

»Dieser Junge …«, begann er drohend, wurde jedoch von einer tiefen Stimme unterbrochen.

»Sarah, mein liebwertester Schatz, warum wartest du denn hier draußen?«

Sie hatte ihm einmal, höchst diskret und darauf bedacht, nicht herablassend zu wirken, erklärt, dass man in England keine Koseworte in der Öffentlichkeit gebrauchte und sie voneinander vor Dritten als »Miss Banne« und »Mr. Belzoni« sprechen sollten, doch in diesem Moment hätte Sarah nichts lieber gehört. Giovanni trat hinter sie. Er trug normale Straßenkleidung statt Bärenfell und Federn, doch auch in Hosen und einer Jacke war er immer noch mehr als einen Kopf größer als die übrigen Besucher; den bestohlenen Herrn überragte er um zwei Haupteslängen.

»Unser Diener hier, der gute …«, sagte sie hastig.

»Jemmy«, warf der Junge ein, der nicht zögerte, sein Glück zu nutzen.

»James«, sagte Sarah mit strenger Stimme, »hat offenkundig ein Missverständnis erregt. Mit diesem Herrn.«

Der Mann blickte von Giovanni zu ihr und wieder zurück. Dann sagte er mürrisch, doch weniger bedrohlich als zuvor: »Das war kein Missverständnis. Der kleine Schurke hat versucht, mich meiner Börse zu berauben. Gerade eben.«

Wenn dem Mann tatsächlich die Börse fehlt, würde er nicht von einem Versuch sprechen, dachte Sarah. Offenbar war der Kleine als Dieb nicht sehr geübt.

»Das muss ein Missverständnis gewesen sein«, beharrte sie. »James ist ein guter Junge. Er würde dergleichen nie tun.«

»James«, sagte Giovanni, und der Name klang aus seinem Mund mehr wie Giacomo, »geh ins Zelt und lass dir dort von Mr. Francesco eine Tracht Prügel verabreichen.« Er wandte sich an den Jahrmarktsbesucher. »Wenn unser Diener Sie belästigte, Sir«, sagte er höflich, »wird er bestraft werden.«

»Belästigt?«, knurrte der Mann. »Bestehlen wollte er mich …« Doch er hatte den erschrockenen Blick gesehen, mit dem James auf Giovannis Anordnung reagierte, musterte sein Gegenüber und entschied offenbar, dass eine Tracht Prügel als Strafe für den Übeltäter genug war und es darüber hinaus nicht ratsam schien, sich mit einem solchen Hünen anzulegen. »Nun gut«, erklärte er. »Der Schlingel wird es Ihnen nicht lohnen, achten Sie auf meine Worte. Aber sei’s drum. Für diesmal. Menschen, die zum Hängen geboren sind …« Mit einer Grimasse wandte er sich ab und ließ den kleinen Zuschauerkreis, der sich um sie versammelt hatte, hinter sich.

Sarah entschloss sich zu einer weiteren Geste, die ihr an einem anderen Tag in der Öffentlichkeit unangemessen erschienen wäre. Ihre Rechte stahl sich in die große, warme Hand Giovannis und drückte sie dankbar.

»Können wir jetzt wieder dem Mann beim Steineessen zugucken?«, fragte ein kleines Mädchen ihren Vater. Die Zuschauer wandten sich wieder um; Mr. Merryman begann erneut, lautstark die Künste von Mr. Gargantua anzupreisen.

Der talentlose Taschendieb dachte vermutlich, dies sei ein geeigneter Augenblick, um zu verschwinden, doch Giovanni streckte einen Arm aus und ergriff ihn bei den Schultern. Einen Augenblick später befanden sie sich alle im Zelt, wo der Junge ihnen nach einigem Zögern erzählte, er heiße Jemmy Curtin.

»James«, verbesserte Sarah erneut.

»Was hast du auf diesem Jahrmarkt verloren, Junge?«, fragte Giovanni freundlich und ging in die Knie, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. James schien zu spüren, dass ihm hier keine Gefahr drohte und es nicht notwendig war, sofort wieder die Flucht zu ergreifen.

»Ich bin mit meinen Eltern vor einem Jahr aus Irland gekommen … und habe beide an die Cholera verloren«, murmelte er.

»Dummes Gerede«, sagte Francesco auf Italienisch zu seinem Bruder. Da er nicht vorhatte, für immer in England zu bleiben, hatte er sich wesentlich weniger Mühe gegeben, die Sprache zu lernen, und vermied, sie zu sprechen, wenn es ihm nicht gerade darauf ankam, gewisse Dinge deutlich zu machen. »Du glaubst das doch nicht etwa? Er versucht, als Bettler mehr Glück zu haben denn als Dieb!«

Sarah verstand ihren zukünftigen Schwager nicht und achtete auch nicht auf ihn. Sie musterte James Curtin und fragte sich, was aus ihm würde, wenn sie ihn jetzt wieder fortschickte. Wahrscheinlich hatte sie dann das Gefängnis oder das Arbeitshaus nur um ein paar Stunden hinausgezögert.

»Weißt du nicht, dass Stehlen falsch ist, ragazzo?«, fragte Giovanni. Der Junge erwiderte nichts, aber der Blick, mit dem er Giovanni Belzonis muskulöse Figur musterte, war vielsagend.

»Wo lebst du?«, fragte Sarah.

»Beim Würstchenverkäufer«, murmelte James, »Mr. Tablott.«

Sarah vermutete, dass der Würstchenverkäufer derjenige war, der den Jungen zum Stehlen losgeschickt hatte. »Nun«, sagte sie langsam, »wie es aussieht, lebst du dort nicht sehr gut. Man scheint sich weder um deine Seele noch um dein leibliches Wohl zu kümmern. Es wird wohl besser sein, wenn wir dich …«

»Ich will nicht zurück ins Waisenhaus!«, rief der Junge verstört.

Sie biss sich auf die Lippen und schaute zu Giovanni. Er hob die Hand und begann, sein Kinn zu kneten.

»O nein«, sagte Francesco, immer noch auf Italienisch. »Gio Batta, ich kenne diesen Blick! Wie viele Leute willst du noch durchbringen?« Dann wechselte er ins Englische und wandte sich an Sarah. »Gewiss wollen nicht Ehe beginnen mit flohverseuchtem Nichtsnutz, Miss Banne? Oder ist … Verwandter?«

Das genügte ihr. Sarah dachte an das, was sie vorhin gehört hatte, was sie hatte hören sollen. Außerdem war ihr klar, dass er mit »Verwandter« nicht »Neffe« oder »Cousin« meinte, sonst hätte die kleine Pause in seiner Frage keinen Sinn gehabt. Natürlich war klar, dass er nicht ernsthaft glaubte, dass sie einen unehelichen Sohn im Alter dieses Jungen hatte; er mochte sie für eine gefallene Frau halten, konnte aber rechnen. Nein, das war ganz deutlich eine Demütigung, aber eine, die er leugnen konnte, falls sie ihn beschuldigte, sie beleidigt zu haben. Nun, diese Genugtuung wollte sie ihm nicht bereiten. Mit einem milden Lächeln entgegnete sie stattdessen: »Natürlich ist er es nicht – doch wenn er es wäre, würde ich mir nie anmaßen, Mr. Belzoni darum zu bitten, auf die Gesellschaft eines Verwandten zu verzichten. Familienbande sind auch mir heilig.«

Während Francesco sie ungläubig anstarrte und sich überlegte, ob er wirklich gerade von dem englischen Weibsstück beleidigt worden war oder etwas missverstanden hatte, und Giovannis Lippen zuckten, atmete Sarah einmal tief durch und sagte zu dem Jungen: »Du hast gewiss genügend Vorstellungen hier beobachtet. Glaubst du, dass du Mr. Belzoni zur Hand gehen könntest? Ihm die Gerätschaften reichen und beim Aufbau der Buden helfen? Du bekämst Kost und Kleidung dafür. Doch nur, solange du ehrlich bleibst.«

James schaute von ihr zu Giovanni, die Augen weit aufgerissen. Es war Sarah bewusst, dass sie eben etwas getan hatte, für das sie – selbst wenn sie und Giovanni bereits verheiratet gewesen wären – erst um Erlaubnis hätte bitten müssen. Außerdem war sie im Gegensatz zu dem, was Francesco glauben mochte, nicht blind. Wenn man selbst nicht mit Reichtum gesegnet war, dann war es nicht sehr vernünftig, sich einen ausgewiesenen Dieb in den gerade zu gründenden Hausstand zu holen.

Doch es gab auch eine andere Wahrheit. Sarah glaubte nicht an Tatenlosigkeit und das Abschieben von Verantwortung. Ihr war soeben die Möglichkeit gegeben worden, das Leben eines Kindes zum Besseren zu wenden, zu tun, was niemand für ihren Bruder getan hatte. Wenn sie den Jungen jetzt wieder auf die Straße schickte, dann wäre sie nicht besser als der Pharisäer, der an dem verwundeten Mann auf dem Weg vorbeigegangen war. Sie hatte die Lektionen ihrer eigenen Kindheit gut gelernt, die religiösen wie die praktischen.

»Kannst du treu sein, Giames?«, fragte Giovanni den Jungen, und Sarah fühlte die Dankbarkeit und Liebe, die sie für ihn empfand, überquellen. Francesco drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zum Zelt hinaus.

 

»Er ist ein guter Junge«, sagte Giovanni später, als sie gemeinsam über den Jahrmarkt spazierten. Sarah brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass er nicht von ihrem irischen Findling, sondern von Francesco sprach. »Heimweh hat er, das ist alles, und Sorgen macht er sich um unsere Familie und mich. Er wird noch lernen, dich als seine Schwester zu sehen, bestimmt.«

Das bezweifelte sie. Aber die Erinnerungen an eine Familie und Geschwister lagen zu weit zurück und waren zu wenige, als das sie sicher sein konnte. Etwas von dem, was Francesco so laut und deutlich gesagt hatte, ging ihr nach, und es waren nicht die unschmeichelhaften Worte über ihre Person.

»Giovanni«, sagte sie, und der Name, noch ungeübt statt des formellen Mr. Belzoni, glitt ihr überraschend leicht von den Lippen, »Giovanni, ich dachte, du wolltest immer schon Schauspieler werden und irgendwann auf einer echten Bühne stehen. Hast du wirklich von einem Studium geträumt?«

Er seufzte und nickte. »Ja, früher«, sagte er. »Ein Ingenieur wollte ich werden und Maschinen bauen wie der große Leonardo.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Mein Papa ist ein Barbier und hätte das nicht bezahlen können, aber die Patres in Rom hätten mich bestimmt umsonst genommen, wenn das korsische Ungeheuer nicht in unser Land gekommen wäre und alle jungen Männer von der Straße gefangen hätte wie wir die Vögel mit Leimruten. Francesco und ich wollten nicht in der Armee der Franzosen enden, und so haben wir die alten Träume hinter uns gelassen.« Einen Moment lang schwiegen sie, dann heiterte sich sein Gesicht wieder auf. »Aber nicht alle. Ich wollte schon immer die Welt sehen, carissima. Und das hat mich zu dir geführt.«

Er wusste, dass Robinson Crusoe das erste Buch gewesen war, das Sarah nach der Bibel lesen durfte, und dass sie seitdem vom Meer träumte, von anderen Ländern, anderen Völker. Der Ferne.

Giovanni blieb stehen und ergriff ihre Hände. Sarahs Finger waren kalt, wie meistens, zumal der Abend herandämmerte und es schnell kühl wurde. Seine Hände, groß genug, um in einer Handfläche ihre beiden zu bergen, glühten vor Wärme.

»Sarah«, sagte er, »wir werden gemeinsam reisen und die Welt sehen. Und die Welt wird uns sehen und sich an uns erinnern. Das verspreche ich dir.«

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ERSTESBUCH

1815Ankunft

Kapitel 1

Mrs. B war beunruhigt, das konnte James sehen, selbst wenn sie es noch so gut versteckte. Nach zehn Jahren mit den Belzonis kannte er sich selbst mit den kleinsten Anzeichen aus. Er glaubte zu wissen, was ihr Sorgen machte. Das Malteser Publikum war es nicht. Niemand konnte schlimmer sein als die Schotten. In Gedanken an Edinburgh spuckte James aus, etwas, das er sich immer noch nicht hatte abgewöhnen können, obwohl er sich Mühe gab, es nicht in Mrs. B’s Gegenwart zu tun. Aber die Schotten waren das Ausspucken wert.

Mr. B hatte in Edinburgh für sie gespielt, keine einfache Nummer, nein, eine richtige Theaterrolle, in einem Spektakel namens Valentin und Orson. Er war der Orson gewesen, ein junger Prinz, der in der Wildnis bei einer Bärin aufwuchs. Im Lauf der Handlung wurde die Bärin von Jägern angeschossen und hatte in Orsons Armen zu sterben, nachdem er alle Jäger niedergerungen hatte. Normalerweise war das für Mr. B eine Kleinigkeit – nur in Edinburgh nicht, wo die dummen Schotten die Bärin von einem echten Bären spielen ließen, statt zwei Leute in ein Bärenfell zu stecken, wie sonst überall. Mr. B war tapfer, aber nicht seines Lebens müde und hatte das Tier deswegen auf Abstand gehalten. Das hatte das Publikum zum Zischen und Toben gebracht, dass man hätte meinen sollen, Napoleon selbst stünde auf der Bühne. »Gib deiner armen alten Mutter einen Kuss!«, hatten sie gebrüllt, die schottischen Schurken.

Das war Mr. B’s letzter Auftritt in Schottland und auf den britischen Inseln überhaupt gewesen. Nach einem Jahrzehnt gab es keinen Jahrmarkt mehr, auf dem er nicht mehrfach gastiert hatte, und kaum ein Theater, von Sadler’s Wells in London, wo die Belagerung von Gibraltar mit riesigen Wasserbecken nachgestellt worden war, bis zum Crow Street Theatre in Dublin, wo man sich ebenfalls an einer Feuer-und-Wasser-Nummer versucht und dabei fast die Musiker ertränkt hatte. Es gab einfach nichts mehr, was die Belzonis in Großbritannien noch nicht erlebt hatten.

Deswegen hatten sie das Meer überquert und waren in Portugal und dem befreiten Spanien aufgetreten. Jetzt, wo der Korse endlich besiegt und nach Elba geschickt worden war, hielt Mr. B das Reisen auf dem restlichen Kontinent wieder für sicher. Sicherer als in Schottland war es allemal. Selbst die Malteser, die ein ziemlich eingebildeter Haufen waren mit ihrer Rittervergangenheit und sich mit dem Applaus oft zierten, hatten ihnen keine lebenden Bären auf den Hals gehetzt. Da sich Mr. B’s Engagement im Manoel seinem Ende näherte, standen sie vor einer Entscheidung. Mr. B war ehrgeizig. Er hatte gehört, dass der Sultan in Konstantinopel die besten Akrobaten aus allen Ländern zu sich rief und reich belohnte; die Herrscher des Orients verfügten, den Geschichten nach, die man sich erzählte, alle über unendliche Schätze. Aber er hatte auch Heimweh, vor allem, seit sein Bruder Francesco, den James kein bisschen vermisste, zu seinen Eltern zurückgekehrt war, und Italien lag näher als Konstantinopel. James war bereit, jede nur mögliche Summe, die er nicht hatte, darauf zu wetten, welche Aussicht Mrs. B seit Tagen im Magen lag.

»Wird schon Konstantinopel werden«, sagte er tröstend und half ihr beim Aufstellen der Reisekörbe, die im einen wie im anderen Fall gepackt werden mussten. »Italien ist immer da. Und ich hab Mr. B selbst sagen hören, dass er die Pyramide nicht gar so viele Jahre mehr wird vorführen können. Da zeigt er sie dem Sultan doch bestimmt lieber jetzt!«

Mrs. B krauste die Stirn, aber sie nickte.

»Hier in Malta erzählen sie einem gruselige Geschichten von den Türken«, sagte James, der ein Talent dafür hatte, sehr schnell so viel von einer fremden Sprache aufzuschnappen, wie nötig war, um auf Märkten zu handeln und die haarsträubendsten Gerüchte in Erfahrung zu bringen. »Dass sie kleine Kinder gegessen haben während der Belagerung und einem sofort die Kehle durchschneiden, wenn man ein Christ ist.«

»Die Belagerung Maltas liegt fast dreihundert Jahre zurück«, sagte Mrs. B mit ihrer sachlichen, vernünftigen Stimme und begann, das Bettzeug zusammenzulegen, das sie aus England mitgebracht hatte, weil sie dem in ausländischen Herbergen nicht traute. »Wer will das heute noch so genau wissen …«

»So lange schon?«, fragte James enttäuscht. Auf dem Markt hatte es so geklungen, als sei es gestern gewesen. Er hatte sich schon darauf gefreut, die Belzonis mit dem Schwert zu verteidigen. Nicht, dass er ein Schwert besaß, aber die Türken hatten welche, und Mr. B würde ihm bestimmt gestatten, eines zu kaufen, wenn es nötig war.

»Außerdem hat die Regierung Seiner Majestät einen Botschafter in Konstantinopel. Das wäre wohl kaum möglich, wenn Christen dort die Kehle durchgeschnitten würde«, fuhr Mrs. B fort und zerstörte mit ihrer vernünftigen Art seine spannendsten Tagträume.

»Vielleicht geht es ja doch nach Padua«, sagte James schnell, um ihr die Zerstörung seiner Belagerungsphantasie heimzuzahlen, und bereute es sofort. Mrs. B war sein ein und alles; er wollte ihr keinen Kummer machen. Doch manchmal konnte sie einen dazu bringen, die Wände hochzugehen. Wie sie es fertig gebracht hatte, zehn Jahre lang mit Mr. B auf Bühnen und Budenbrettern zu stehen und mit den abgehärtetsten Managern um gute Plazierungen der Nummer zu verhandeln, ohne sich auch nur das Fluchen anzugewöhnen, wusste James nicht, aber so war es nun einmal. Manchmal dachte er, wenn Mr. B ein Engagement in der Hölle annehmen würde, dann wäre Mrs. B imstande, dem Teufel selbst eine Lektion in Manieren zu geben, während ringsherum alle Ungeheuer der Unterwelt aufmarschierten. James war sich nie sicher, ob er das an ihr bewunderte oder sich nicht doch wünschte, sie einmal, nur einmal wirklich ihre Beherrschung verlieren zu sehen.

Zu seiner Erleichterung hörte er Mr. B die Treppe hochkommen. Es konnte kein anderer sein; bei seiner Größe und seinem Gewicht bestand keine Gefahr, seine Schritte mit denen eines anderen zu verwechseln.

Mr. B öffnete die Tür und strahlte sie an. »Sarah«, rief er, und breitete die Arme aus, »Sarah, James, wir werden die Reise aller Reisen unternehmen! Was denn, noch nicht gepackt? Ich habe dem Kapitän versichert, dass wir morgen früh auf dem Schiff sein werden, wenn es ablegt!«

»Dann geht es nach Konstantinopel?«, fragte James hoffnungsvoll.

»Bah«, sagte Mr. B mit einer wegwerfenden Geste und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Konstantinopel, was soll uns das!«

James’ Herz sank. Er traute sich nicht, zu Mrs. B hinüberzublicken. Hoffentlich war der Rest der Belzonis nicht so wie Francesco, der ihm immer eins hinter die Ohren gegeben hatte, wenn sich ihm die Gelegenheit dafür bot.

»Nein«, fuhr Mr. B fort, trat zu Mrs. B, packte sie um die Taille und hob sie hoch, als sei sie eines seiner leichtesten Übungsgewichte, »wir segeln nach … Ägypten!«

Mrs. B lachte, als er sie herumwirbelte. Sie hatte die dreißig inzwischen hinter sich gelassen, doch ihre Figur war noch so zierlich wie damals, als James sie kennengelernt hatte, was in einigen von Mr. B’s Nummern hilfreich war. Wenn Mr. B den Samson von Patagonien gab, traten Mrs. B und James in türkischen Pluderhosen als zwei der zwölf Personen auf dem Gestell auf, und selbst Francesco hatte einmal geknurrt, wenigstens könne man sich bei dem englischen Weibsbild darauf verlassen, dass es nicht zunähme, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen und dem »dummen Jungen«. James hatte keine Meinung über Mrs. B’s Figur; das wäre ihm respektlos erschienen. Ein Kind war er aber schon lange nicht mehr. Also nutzte er die Gelegenheiten, die sich boten, wenn es in anderen Nummern Frauen in Kostümen gab und diese sich hinter der Bühne umkleiden mussten. Manchmal wurde man erwischt und es setzte Ohrfeigen … aber meistens war es die Sache wert.

»Ich wusste nicht, dass es in Ägypten auch Jahrmärkte gibt«, sagte er.

Mr. B setzte Mrs. B ab, machte eine weitere seiner dramatischen Handbewegungen und dröhnte: »Ich bin nicht als Akrobat nach Ägypten eingeladen worden!«

»Eingeladen?«, wiederholte Mrs. B erstaunt.

»In der Tat.« Er machte eine geheimnisvolle Miene. »Der Pascha von Ägypten höchstpersönlich hat um Giovanni Belzonis Hilfe ersucht!«

Nun war es nicht so, dass James Mr. B für einen Lügner hielt. Aber mit einigen von Mr. B’s Behauptungen war es eben so wie mit den Ankündigungen, die James selbst für Mr. B. auf den Jahrmärkten Englands, Schottlands, Spaniens und Portugals gebrüllt hatte: Sie stimmten … in gewisser Weise. Die Wahrheit in ihnen war wie ein Kern, den man mit besonders leuchtenden Farben angemalt hatte. Also nahm er das, was Mr. B gerade sagte, nicht wörtlich; worauf man sich verlassen konnte, war, dass irgendjemand in Ägypten Mr. B tatsächlich engagiert hatte.

James wusste nichts über Ägypten, außer dass Nelson dort irgendwann Napoleon besiegt hatte und dass einige Zeit vorher die Kinder Israels das Land verlassen konnten, nachdem sein Pharao von sieben Plagen heimgesucht worden war. So stand es in der Bibel, mit der Mrs. B ihm das Lesen beigebracht hatte.

»Aber Mr. B«, fragte er neugierig, »was sollen Sie denn für ihn tun, wenn nicht Ihre Kunststücke vorführen?«

Mr. B reckte das Kinn. »Seine Hoheit der Pascha«, sagte er, »sucht europäische Ingenieure.«

»Giovanni …«, begann Mrs. B in dem Tonfall, den sie stets für ihren Mann reserviert hielt und in den sich Stolz mit Sorge mischte. Mr. B begeisterte sich so glühend für Dinge, dass er manchmal völlig übersah, was sie alles für Haken haben konnten. Auf diese Weise war er zu dem Engagement in Edinburgh gekommen; er hatte es fertig gebracht, die Klausel mit dem echten Bären völlig zu übersehen, und als Mrs. B sie entdeckte, waren sie alle schon auf dem Weg nach Schottland.

»Für Wassermaschinen«, fuhr er fort. »Ich habe bei der großen Wassermaschine von Sadler’s Wells mitgebaut, wie du sehr wohl weißt, und die hat immerhin eine ganze Bühne geflutet. Mr. Dibdin hat mein Talent damals selbst gelobt. Also kann ich auch eine Wassermaschine bauen, die dem Pascha dabei hilft, seine Äcker zu bewässern!«

James konnte sich an das große Spektakel erinnern, bei dem einer von Nelsons Siegen nachgestellt worden war. Es stimmte, Mr. B hatte geholfen … hauptsächlich beim Tragen von schweren Rohren, die sonst nur mehrere Leute zusammen heben konnten, soweit James es beobachtet hatte, doch vielleicht war ihm Wichtiges entgangen.

»Das ist meine Bestimmung«, schloss Mr. B. »Ich habe es gewusst. Ich habe es immer gewusst! Schluss mit dem Vagabundendasein. Du wirst die Frau des Mannes sein, der Ägypten in das Land verwandelt, in dem Milch und Honig fließen, mein Schatz!«

»Giovanni«, sagte Mrs. B behutsam, »erzähl mir alles von Anfang an. Wer genau hat dich engagiert? Wie kam es dazu?«

Mr. B teilte ihr mit, er würde ihnen alles erzählen, aber bei einem Mahl, wie es sich für die Feier eines neuen Lebens gehörte, und wollte nichts davon hören, dass erst zu Ende gepackt werden musste. Wenn er in dieser Stimmung war, ließ er sich von nichts abbringen, und so saßen sie binnen kurzem in einer Schenke bei Oliven und frisch gebratenem Fisch, während Mr. B von seiner Begegnung mit einem gewissen Kapitän Ismail Gibraltar in einem Kaffeehaus erzählte. Der Name klang für James genauso echt wie »der Samson aus Patagonien« oder irgendeiner der anderen Jahrmarktsnamen, und er hoffte, dass Kapitän Gibraltar zumindest auch einen wahren Kern hatte, genau wie Mr. B. Auf jeden Fall hatte dieser Ismail Gibraltar sich als Beauftragter des Herrschers von Ägypten ausgegeben, der kein Sultan, sondern ein Pascha war und offenbar noch nicht lange an der Macht am Nil.

»Wenn der Pascha europäische Ingenieure für sein Land braucht«, fragte Mrs. B, »warum schickt er seine Gesandten dann nicht zu den Universitäten?«

»Das hat er wahrscheinlich«, sagte Mr. B. »Aber die feinen Gelehrten werden sich zu gut dafür gewesen sein, sich auf ein Abenteuer bei den Muselmanen einzulassen.«

»Vielleicht wollten sie auch zuerst Geld sehen?«, mutmaßte James. Mr. B warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Mir ist ein Gehalt versprochen worden. Ich werde angemessen entlohnt werden, und man wird mir alles zur Verfügung stellen, was ich für die Konstruktion brauche. Eine Wassermaschine baut sich schließlich nicht aus dem Nichts. Glaub mir, Junge, ich habe an alles gedacht. Aber es gibt etwas, das ihr beiden nicht vergessen dürft.« Er wurde ernst. »Wir sollten kein Wort darüber verlieren, dass ich, nun … eine andere Ausbildung habe als andere Ingenieure. Der große Belzoni, der Samson von Patagonien, das ist etwas, das den Pascha nicht zu kümmern braucht. Es gibt ihn nicht mehr, capisce? Im Übrigen«, schloss Mr. B mit einem bitteren Lächeln, »war das ohnehin nur eine Frage der Zeit. Es steht einem Mann von fünfunddreißig Jahren nicht an, sich immer noch für die Menge zum Affen zu machen, wenn er will, dass man ihn respektiert.«

James, der sich stets bewusst war, dass er irgendwo im Gefängnis säße oder in einem Armengrab läge, wenn er den Belzonis nicht begegnet wäre, nickte sofort – und sprach nicht aus, was er dachte: Mit fünfunddreißig Jahren konnte man nicht mehr lange den stärksten Mann der Welt verkörpern. Mr. B war für ihn nicht nur ein Gigant, zu dem er aufsah, sondern auch der Vater, den er sich immer gewünscht hatte. Aber wenn man auf Jahrmärkten aufwuchs, dann wusste man, was auf starke Männer wartete, wenn sie erst einmal die vierzig überschritten hatten; im besten Fall nahm man sie noch als Hilfskräfte mit, die beim Bühnenaufbau halfen. So etwas kam für Mr. B natürlich nicht in Frage.

Mrs. B blickte skeptisch drein. Zuerst dachte James, es läge daran, dass Mr. B von ihr verlangte, die Wahrheit ein klein wenig zu verbiegen, doch dann erinnerte er sich daran, dass Mrs. B. ihre Bibeltreue durchaus mit der praktischen Auffassung verband, dass Lügen in der Not gerechtfertigt waren. Nein, was sie zweifeln ließ, musste etwas anderes sein.

»Ich hoffe, der Pascha steht zu den Versprechen seiner Beauftragten«, sagte sie.

»Ägypten, Sarah«, sagte Mr. B beschwörend.

Ihre Stirn glättete sich, und ihr Gesicht wurde weich.

»Ägypten«, wiederholte sie.

*

Als Sarah an Bord der Benigno stand und auf die weißen Häuser von Valetta zurückblickte, die sich wie Vogelnester an den Felsen schmiegten, bemerkte sie auch die rot und grün gestreiften Barken mit ihren Segeln aus Kattun. Während das Schiff sich langsam aus dem großen Hafen von Malta entfernte, erschienen ihr die Barken wie bunte Vögel, die zwischen den schweren, wuchtigen Streitrössern der Ozeane hin und her flogen. Der Wind kam vom Land her und blies ihr ins Gesicht; ein wenig kam sie sich selbst wie ein Vogel vor, hoch genug über der azurblauen Meeresoberfläche, um von der Gischt nicht berührt zu werden. Sarah genoss das Gefühl. Die Brise umspielte sie, fuhr in ihre Haare und versuchte, sie aus der strengen Frisur zu lösen. Sarah ertappte sich dabei, wie sie sich wünschte, in den Nacken zu greifen und den Knoten zu öffnen, zu fühlen, wie der Wind ihr Haar zerzauste. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft schmeckte nach Salz; Sarah roch das Meer und die alten Planken, auf denen sie stand. Tief unter ihr schlugen die Wellen gurgelnd gegen den Schiffsrumpf. Sie hob das Gesicht in Richtung Sonne und überließ sich ganz den Eindrücken, die auf sie einströmten.

Natürlich war dies nicht ihre erste Seereise, und doch fühlte es sich für Sarah an, als würde sie zum ersten Mal aufbrechen, zum ersten Mal all die Geräusche und Gerüche des Meeres in sich aufsaugen. Sie wünschte, Giovanni würde neben ihr stehen und dieses Erlebnis mit ihr teilen, doch sie konnte sich nicht überreden, diesen kostbaren Moment zu unterbrechen, um ihn zu holen. So stand sie an der Reling, mit allen Sinnen genießend, aber äußerlich gefasst wirkend, so wie man sie kannte, bis ihr die Seeleute rieten, unter Deck zu gehen, um ihr Gesicht nicht zu verbrennen. Da wurde ihr nicht nur das leichte Glühen ihrer Haut bewusst, sondern auch der Umstand, dass sie ihr Korsett heute Morgen zu locker geschnürt haben musste; es scheuerte ein wenig und hielt sie nicht so aufrecht, wie es sollte. Sie trat von der Reling zurück, doch mit dem Schatten, der von einem Vordach auf sie fiel, kehrten auch die Sorgen zu ihr zurück.

Sarah hatte keine Gelegenheit gehabt, dem Beauftragten des Paschas selbst zu begegnen. Ismail Gibraltar war, wie Giovanni erklärte, in Malta geblieben, um von dort aus bald nach Italien weiterzureisen und weitere europäische Wissenschaftler und Handwerksmeister anzuwerben. Immerhin hatte er den Belzonis einen Brief an seinen Herrn mitgegeben, der Giovannis Dienste anpries. Natürlich konnte keiner der beiden ein Wort davon lesen. Sarah hatte sich das Dokument mit den seltsamen Schriftzeichen aushändigen lassen und war damit im Hafen von Valetta so lange von Mann zu Mann marschiert, bis sie jemanden fand, der in der Lage war, ihr den Brief zu übersetzen.

Ein Jahrzehnt des Lebens mit Giovanni war in vielerlei Hinsicht wunderbar gewesen; sie hatte sich stets lebendig gefühlt, auch und gerade wenn sie ihm auf der Bühne in einem Kostüm assistieren konnte. Sie hatte immer wieder Neues erlebt und ihre Entscheidung für ihren Gatten keinen Wimpernschlag lang bereut. Sarah und Giovanni hatten keine Kinder, und manchmal fragte sie sich, ob dieser Mangel der Preis war, den Gott sie für ihr erfülltes Leben zahlen ließ. Doch wenn sie sich vorstellte, einer ungewissen Zukunft mit Säuglingen entgegenzusehen, dann musste sie anerkennen, dass es sich auch um eine Gnade handeln konnte.

Die Aussicht, ein so fernes Land wie Ägypten zu besuchen, stimmte sie durchaus freudig; sie hatte auch keine Angst davor, umgeben von Menschen zu sein, deren Sprache sie nicht verstand. Daran war sie mittlerweile gewöhnt. Aber sie wollte sicherstellen, dass Giovanni, James und sie selbst dort nicht von der Hand in den Mund leben würden. Vor allem, wenn Giovanni tatsächlich mit dem Akrobatenleben aufhören wollte. Sie wusste, dass er an die Zukunft dachte, an das, was auf ihn zukam, wenn seine Kraft nachlassen und ihm kein Einkommen mehr sichern würde; erst gestern hatte sie ihn dabei ertappt, wie er sich mit gequältem Gesichtsausdruck ein graues Haar aus dem Bart zupfte. Sarah hatte nichts dazu gesagt, aber ihre Hand auf die seine gelegt und den Ring, den sie ihm geschenkt hatte, unter ihren Fingern gespürt.

Der Brief, so stellte sich heraus, als man ihn ihr übersetzte, war nicht nur ordentlich gesiegelt, sondern klang auch echt, aber man sagte ihr, er sei mit arabischen Buchstaben in türkischer Sprache geschrieben. Das beschäftigte sie noch, als der Kapitän des Schiffes, Pietro Pace, zu ihr trat und höflich seinen Kopf neigte. Er hatte sie bereits begrüßt, als sie an Bord gekommen waren und Giovanni die Passdokumente vorgewiesen hatte, die für sie alle drei ausgestellt worden waren, also musste er nun wohl ein Gespräch suchen.

»Signora Belzoni«, sagte er und fügte etwas hinzu, das sie nicht verstand.

»Mein Italienisch ist mehr schlecht als recht, fürchte ich.« Sarah war verlegen; sie hatte ihre Sprachkenntnisse eigentlich für gut gehalten, bis sie die ersten Italiener gehört hatte, die nicht Giovanni und sein Bruder waren und völlig andere Dialekte sprachen, noch dazu in einem Tempo, das sie schwindlig werden ließ. »Könnten Sie bitte langsamer …«

»Aber selbstverständlich«, sagte Kapitän Pace und wiederholte: »Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann, Signora?«

Sie wollte schon verneinen, als sie begriff, warum er fragte. Als Nächstes würde er sie bitten, unter Deck zu gehen. Sie, Giovanni, der bereits unter Deck war und eifrig an einem Entwurf für eine Wassermaschine zeichnete, und James waren nicht die einzigen Passagiere, doch Sarah war die einzige Frau. Offenbar war der alte Aberglaube über Frauen an Bord eines Schiffes noch verbreiteter, als sie angenommen hatte.

»Ja, Kapitän«, entgegnete sie mit liebenswürdigem Lächeln. »Sie haben Ägypten bereits öfter bereist, nicht wahr?«

»Ich war in Alexandria«, sagte Pietro Pace. »Den Rest des Landes, nun …« Er zuckte vielsagend die Achseln. »Ich bin Seemann, Signora.«