24,99 €
Authentisch und souverän auftreten Acht Jahre arbeitete Terry Szuplat im Weißen Haus für Barack Obama, der als einer der besten Redner unserer Zeit gilt. Gemeinsam erschufen sie Reden, die Geschichte schrieben. Die Zutaten, Formeln und Geheimnisse eines überzeugenden Auftritts verrät Terry Szuplat in diesem Buch. Er gibt Einblicke in die Schreibwerkstatt Obamas und in viele persönliche Gespräche mit diesem, liefert praktische Tipps und faszinierende psychologische Forschungsergebnisse. Spannend und einfühlsam erklärt er, wie wir Ängste überwinden und lernen können, souverän und erfolgreich vor anderen zu sprechen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.piper.de
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht. Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen
Für Mary,
Jack und
Claire
… let me think clearly and brightly;
let me live, love and say
it well in good sentences,
let me someday see who I am …
… lass mich klar und hell denken;
lass mich leben, lieben und das
in guten Sätzen ausdrücken,
lass mich eines Tages begreifen,
wer ich bin …
Sylvia Plath
Cover & Impressum
EINLEITUNG Wie wir reden
Sie tragen es in sich
(Wirklich)
Kapitel 1 LIEBEN SIE IHRE GESCHICHTE
»DANN ERSTARRTE ICH EINFACH«
»JEDER HAT EINE GESCHICHTE, DIE IHM HEILIG IST«
»DEINE UNVOLLKOMMENHEIT IST DEINE GABE«
DEINE GESCHICHTE IST WERTVOLL
Kapitel 2 SAGEN SIE DAS, WAS NUR SIE SAGEN KÖNNEN
WARUM DAS FUNKTIONIERT
Das Publikum will Sie
Es ist weniger angsteinflößend
Es wird Sie retten
Sie werden überzeugender sein
Man wird sich an Sie erinnern (und nicht an einen Chatbot)
Sie werden Ihr Publikum inspirieren
ERZÄHLEN SIE VON IHRER MOTIVATION
ERZÄHLEN SIE VON IHREM ANTRIEB
ERZÄHLEN SIE VON IHREM WEG
»WIR SIND DAZU BERUFEN, ES AUSZUSPRECHEN«
Kapitel 3 WAS EINE REDE WIRKLICH IST
EINE REDE IST EINE PERFORMANCE
DIE ROLLE, FÜR DIE SIE GEBOREN WURDEN
EINE REDE IST EINE ERFAHRUNG
»DIE PERFORMANCE BRINGT DIE BOTSCHAFT RÜBER«
Kapitel 4 DIE 50-25-25-REGEL
Die 50-25-25-Regel in Action
DEN RAHMEN ABSTECKEN
(Zehn wichtige Fragen vor jeder Rede)
DURCHDENKEN
(Kennen Sie Ihre zehn Worte)
RECHERCHIEREN SIE
(Finden Sie das Gold)
Lernen
Zuhören
Seien Sie inklusiv
Fragen Sie jeden
Finden Sie ein überraschendes Zitat
Halten Sie nach den kleinen Dingen Ausschau
Erzählen Sie Geschichten, die ans Herz gehen
SCHREIBEN SIE ES AUF
(Improvisieren Sie nicht)
Ja, schreiben ist schwierig …
… aber Sie können es sich leichter machen …
… und vergessen Sie nicht: Ihr Vortrag hat nur drei Teile
DER DOWNLOAD
Der Anfang
Wie Sie das Publikum packen
Kapitel 5 PUNKTEN SIE MIT EINEM HALLO
GROSSARTIGE MÖGLICHKEITEN, EINE REDE ZU BEGINNEN
Sagen Sie Hallo!
Rufen Sie der Heimmannschaft etwas zu
Stellen Sie sich vor
Die Killer-Eröffnung (vielleicht)
Beginnen Sie mit einer Geschichte
Berufen Sie sich auf die Heilige Schrift
Eine bessere Möglichkeit für die Danksagung
Feiern Sie, was das Publikum liebt
Schockieren Sie es
Sprechen Sie die Sprache des Publikums (wörtlich gemeint)
NEIN, SIE BRAUCHEN KEINEN »WITZ«
Nehmen Sie sich selbst nicht zu ernst
Überraschen Sie das Publikum
Stehlen Sie von den Besten
Nutzen Sie Wortspiele
Ihr Humor sollte einen Sinn haben
DER DOWNLOAD
Kapitel 6 SEIEN SIE EIN EINIGER
MOBILISIEREN SIE IHR PUBLIKUM, UM EINE GEMEINSAME HERAUSFORDERUNG ZU BEWÄLTIGEN …
… ABER SEIEN SIE KEIN DEMAGOGE
Stellen Sie die Motive anderer Menschen nicht infrage
Greifen Sie den Charakter anderer nicht an
Nutzen Sie keine polarisierende Sprache
Vermeiden Sie Fremdmachung, Dämonisierung und Entmenschlichung
Drohen Sie nicht mit Gewalt
BESCHWÖREN SIE EINE GEMEINSAME IDENTITÄT
Die Macht Ihrer Person
Die Macht des »Wir«
Die Macht dessen, was wir tun
APPELLIEREN SIE AN EINE GEMEINSAME IDEE
Stellen Sie eine Idee infrage
Verteidigen Sie eine Idee
DER DOWNLOAD
Kapitel 7 APPELLIEREN SIE AN WERTE
DIE WERTE, DIE WIR TEILEN
WERTE SIND UNIVERSELL
WERTE SIND GUT FÜRS GESCHÄFT (NORMALERWEISE)
WERTE KÖNNEN EINSTELLUNGEN ÄNDERN
Die Mitte
Halten Sie sie fest
Kapitel 8 SPRECHEN SIE AUS IHREM HERZEN … HINEIN IN DAS DER ANDEREN
DIE GEFAHR DER DATEN
Und wenn Sie doch Statistiken nutzen müssen …
SPÜREN SIE, WAS SIE SAGEN
NUTZEN SIE EMOTIONALE WORTE
WERDEN SIE EMOTIONAL
SEIEN SIE VERLETZLICH
SPRECHEN SIE ZU EINER PERSON
ADRESSIEREN SIE DIE ERFAHRUNGEN DES PUBLIKUMS
ZEIGEN SIE EIN MENSCHLICHES GESICHT
Kapitel 9 REDEN SIE WIE EIN MENSCH
WIE MAN MENSCHLICH SPRICHT
Sprechen Sie wie ein normaler Mensch
Sprechen Sie über Menschen (nicht über Programme)
SWAP
Lassen Sie keine doppelte Verneinung nicht raus
Vermeiden Sie Juristensprech
Lassen Sie uns nicht zu pathetisch werden
DER DOWNLOAD
Kapitel 10 LASSEN SIE ES SINGEN
SEIEN SIE UNVORHERSEHBAR
VERWANDELN SIE IHRE PROSA IN POESIE
FINDEN SIE DEN RHYTHMUS
Schreiben Sie Ihre Rede wie ein Drehbuch
Bauen Sie Ihren Atem ein
Erkennen Sie Ihre Satzstruktur – und variieren Sie sie
Lockern Sie es auf
Erzeugen Sie Rhythmus durch Wiederholung
Stabreime stärken, doch stoppen Sie eine zu starke Sturzflut
Verwandeln Sie Ihre Rede in einen Song
DER DOWNLOAD
DAS ENDE
Hauen Sie sie um
Kapitel 11 SAGEN SIE DIE WAHRHEIT
GEGEN WAS WIR AUFSTEHEN
UNSERE ENTSCHEIDUNG
DU SOLLST NICHT STEHLEN
DU SOLLST DIR KEINEN SCHEISS AUSDENKEN
DU SOLLST DEINE FAKTEN RICHTIG DARSTELLEN
DU SOLLST NACH DER QUELLE SUCHEN
DU SOLLST EHRLICH HINSICHTLICH DER VERGANGENHEIT SEIN
DU SOLLST »HAPPY TALK« VERMEIDEN
DU SOLLST DEN ELEFANTEN IM RAUM NICHT VERSCHWEIGEN
DU SOLLST NUR SELTEN VERABSOLUTIEREN
DU SOLLST KEINE ANGST VOR NUANCEN HABEN
DU SOLLST DICH AN DIE HARTEN WAHRHEITEN HALTEN
Kapitel 12 LASSEN SIE WORTE ZU TATEN WERDEN
TEILEN SIE IHRE ERFAHRUNGEN
FORMULIEREN SIE EINE BITTE, JEDES MAL
Seien Sie spezifisch
Zählen Sie Ihre Forderungen auf
FORDERN SIE HERAUS
GEHEN SIE MIT GUTEM BEISPIEL VORAN
Treten Sie vor und tun Sie etwas
Machen Sie Nägel mit Köpfen
ENTWERFEN SIE EIN ZUKUNFTSBILD
Kapitel 13 DER EINZIGE WEG, EINE REDE ZU BEENDEN
DIE GEFAHR DER ANGST
DIE MACHT DER HOFFNUNG
WIR SIND AUF HOFFNUNG GEPOLT
WAS HOFFNUNG WIRKLICH IST
HOFFNUNG WIRKT
HANDELN SIE MIT HOFFNUNGEN
Hoffnung nach einem Rückschlag
Hoffnung ist ansteckend
DER DOWNLOAD
Showtime
Und das Publikum will mehr …
Kapitel 14 ES GEHT NOCH BESSER
KAUEN SIE NIEMANDEM EIN OHR AB
SCHÖNHEIT LIEGT IN DER KÜRZE
Kürzen Sie 15 Prozent
Streichen Sie unnötige Worte
Holen Sie sich eine Zweitmeinung ein. Und eine Drittmeinung. Und eine Viertmeinung.
WIE MAN ÜBT
Drucken Sie sie aus
Versuchen Sie nicht, sie auswendig zu lernen
Hören Sie Ihren Worten zu
Spüren Sie Ihre Ängste
NOCH IMMER NERVÖS?
Kapitel 15 AUFTRETEN UND ABLIEFERN
KOMMEN SIE IN DEN FLOW
Lassen Sie die Kleidung für sich sprechen
Machen Sie sich ein paar Freunde
Korrigieren Sie weiter …
… aber ändern Sie nichts mehr
Nummerieren Sie Ihre Seiten
Nicht vergessen: Ihre Nervosität ist natürlich
Einfach atmen
Kanalisieren Sie Ihre Angst in Begeisterung
Pushen Sie sich hoch
MEISTERN SIE ES
Lächeln!
Schauen Sie ihnen in die Augen
Variieren Sie Ihre Stimme
Körpersprache: Nicht zu viel darüber nachdenken
Die zwei Regeln der Körpersprache
Keep Calm and Carry On
WAS AM WICHTIGSTEN IST
Epilog
NACH DEM APPLAUS
Danksagung
REGISTER
Stichwortverzeichnis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Register
Ich zitterte am ganzen Körper.
In wenigen Augenblicken war ich mit meiner Rede an der Reihe, und ich spürte bereits, wie mein Herz zu rasen anfing. Unruhig rutschte ich auf dem Sitz hin und her und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
Ich muss das hier nicht machen.
Ich werde einfach lächeln und höflich ablehnen.
»Nein, danke. Nicht heute Abend.
Vielleicht ein anderes Mal.«
Die Katastrophe abgewendet.
Die Würde bewahrt.
Aber es war zu spät.
»Und nun«, kündete eine Stimme an, »einen kräftigen Applaus für Terry!«
Alle Augen im Raum waren auf mich gerichtet. Ich fing an, ins Mikrofon zu sprechen, und spürte zugleich, wie meine Stimme schwankte. Dann dachte ich an das Publikum, das nun hörte, wie meine Stimme schwankte, was meine Stimme nur noch schwankender machte. Ich gab mir Mühe, den Zettel mit meiner Rede ruhig zu halten, doch meine Hände zitterten. Ich dachte daran, dass das Publikum meine Hände zittern sah, was sie nur noch zittriger machte.
Für einen Augenblick fühlte es sich an, als hätte ich meinen Körper verlassen – ich schwebte über mir und sah auf mich hinab, wie ich stotterte und zitterte. Mein Mund bewegte sich zwar, doch hören konnte ich nur die Stimme des Zweifels in meinem Kopf:
Sie können sehen, dass du nervös bist.
Du wirst es versauen und dich blamieren.
Bitte, lass es einfach schnell vorübergehen.
So gestresst, wie ich war, müssen Sie annehmen, dass ich vor einer großen Menschenmenge eine bedeutende Rede hielt. Weit gefehlt. Ich befand mich in einer Karaoke-Bar und war umgeben von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – Kolleginnen und Kollegen aus dem Weißen Haus, in dem ich als Redenschreiber für Präsident Barack Obama arbeitete.
Wir waren auf einer Dienstreise im japanischen Yokohama angekommen, und nach einer Woche äußerst strapaziöser internationaler Reisen wollten wir uns an diesem Abend entspannen. Ich kannte mein Publikum. Sie waren meine Freunde. Ich sprach von meinem Platz aus und musste nicht einmal aufstehen.
Eigentlich hielt ich ja nicht einmal eine Rede (und sang auch kein Karaoke). Ich hatte einen albernen kleinen Sketch auf Obama und andere Staats- und Regierungschefs verfasst, die sich bemühten, die Weltwirtschaft wie ein Autowrack aus dem Graben zu ziehen – eine Parodie auf eine Geschichte, die Obama zu Hause im Wahlkampf immer gern erzählte. Mit anderen Worten: Es war keine große Sache. Es war ganz egal, ob mein Text ankam oder durchfiel, was meine Nervosität umso frustrierender machte.
Warum passierte mir das?
Tief in meinem Innern wusste ich, warum. Obwohl ich beinahe mein gesamtes Erwachsenenleben ein professioneller Redenschreiber gewesen bin, fühlte ich mich, wenn ich selbst in der Öffentlichkeit sprach, fast immer unwohl. Ich konnte eine Rede schreiben, es offenbar aber nicht aushalten, eine Rede zu halten.
Dabei war es keineswegs so, dass ich das Reden in der Öffentlichkeit grundsätzlich vermied. In der Regel konnte ich zu einer kleineren Gruppe sprechen oder die Trauerrede bei einer Beerdigung im Familienkreis übernehmen. Manchmal gelang mir das sogar ganz gut. Meist jedoch ließ mich schon die Vorstellung, zu einer Gruppe von Menschen zu sprechen, vor Angst erstarren. Und deshalb blieb ich den Großteil meines Lebens dort, wo ich mich sicher fühlte – hinter den Kulissen, als Verfasser von Reden anderer.
Aber ich zahlte dafür einen Preis.
Ich verbrachte so viele Jahre damit, Barack Obama und anderen zu helfen, in ihrer Stimme zu sprechen, dass ich mit der Zeit meine eigene verlor. Ich brachte Rednern bei, wie sie ihre Geschichten erzählen sollten, doch die Vorstellung, meine eigene zu teilen, rief Übelkeit in mir hervor. Ich konnte Redeentwürfe für Obama erstellen, den sogar Kritiker für einen der weltbesten Redner halten, war aber beim Vortragen eines belanglosen Sketchs überfordert.
Irgendwie überstand ich den Abend in dieser Bar, auch wenn ich nur undeutliche Erinnerungen daran habe. Meine Kolleginnen und Kollegen lachten und applaudierten. Auf dem Heimweg zum Hotel durch die leeren Straßen einer unbekannten Stadt kam ich mir hilflos vor.
Es schien, als könnte ich nur darauf hoffen, dass die Angst vor dem öffentlichen Reden mit der Zeit nachlassen würde.
Was sie aber nicht tat.
Nach Barack Obamas Präsidentschaft verließ ich das Weiße Haus und versuchte, mich häufiger einem Publikum zu stellen – ich gab Interviews und sprach vor kleinen Klassen von Studierenden. Manchmal lief es gut. In anderen Fällen nicht so wirklich.
Einmal, während eines live ausgestrahlten Fernsehinterviews, verspannte ich mich, fing plötzlich an, über meine Worte zu stolpern, und hörte schließlich ganz auf zu sprechen. Ich erstarrte. Dankenswerterweise beendete der Interviewer das Gespräch damit, und ich verließ, peinlich berührt, das Studio.
Bei einer anderen Gelegenheit – einer Online-Videokonferenz mit jungen ausländischen Politaktivisten – trocknete mein Mund während meiner Präsentation vollständig aus, und ich wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Der Veranstalter schaltete mich auf stumm, während ich mich auf ein Glas Wasser stürzte und versuchte, meine Gedanken neu zu sammeln.
Eines Abends, bei einem vertrauten Abendessen mit Kolleginnen und Kollegen, ergriff jeder nacheinander am Tisch das Wort und brachte einen Toast aus, bis sie mich ansahen, da ich an der Reihe war. Ich brachte den Mut nicht auf. Ich saß einfach da und blickte auf meinen Teller hinab. Nach einigen Sekunden unangenehmer Stille begannen die Gespräche wieder, und ich spielte den Rest des Abends diese Szene immer wieder vor meinem inneren Augen ab.
Offensichtlich war ich nicht für das öffentliche Reden gemacht. Nicht einmal in einem privaten Rahmen.
Im Laufe der Zeit versuchte ich daher, diesen Situationen aus dem Weg zu gehen. Lud mich jemand ein, vor einer Gruppe über die Arbeit im Weißen Haus zu sprechen, erfand ich eine Ausrede, weshalb ich es leider nicht einrichten konnte. Bei Abendessen sah ich schweigend zu, wie andere einen Toast ausbrachten und alle ihre Gläser hoben. Ich fühlte mich wohler damit, nichts zu sagen.
Doch dann zwang ein unerwarteter Telefonanruf mich eines Tages dazu, mich meinen Ängsten zu stellen.
»Hallo, hier spricht Antti Mustakallio«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung in einem knackigen nordischen Akzent. Er sei einer der wenigen Redenschreiber in Finnland, erklärte er.
»Ich habe gehört, Sie halten viele Reden darüber, wie man Reden hält!?«, wollte er wissen.
»Oh ja, absolut«, erklärte ich und legte so viel falsche Zuversicht in meine Stimme, wie ich nur konnte. »Ich liebe es.«
Antti Mustakallio schlug mir vor, gegen Ende des Jahres in seine Heimatstadt Hämeenlinna zu kommen. Ein paar Hundert Kilometer südlich des Polarkreises. Im November.
»Ich möchte Sie einladen, als Gastredner die Keynote-Speech zu halten, und zwar darüber, wie man eine Rede hält. Sie hätten die Bühne für sich und ein Publikum von dreihundert Zuhörern.«
Fast hätte ich aufgelegt. Antti redete weiter, ich hörte aber kaum mehr zu. Szenen meines früheren Versagens zuckten mir durch den Kopf.
»Ich denke darüber nach«, erklärte ich, ohne die Absicht zu haben, darüber nachzudenken.
Doch in den folgenden Tagen … begann ich, darüber nachzudenken. Ich war Ende vierzig. Hier bot sich mir eine einmalige Gelegenheit, die ich verpassen würde, sollte ich meinen Ängsten weiterhin nachgeben. Wie viele weitere Erfahrungen würde ich mir entgehen lassen – um es dann später zu bereuen? Würde ich mich den Rest meines Lebens vor dem Reden in der Öffentlichkeit verstecken? Außerdem: Was konnte im schlimmsten Fall passieren? Sollte ich versagen, würde das zu Hause niemand je erfahren. Es würde in Finnland passieren. Im November.
Vielleicht könnte ich es ja doch schaffen. Vielleicht wäre es dieses Mal anders. Vielleicht könnte ich versuchen, mir all das in Erinnerung zu rufen, was ich als Redenschreiber, unter anderem für Präsident Obama, gelernt hatte, und diese Lehren beim Verfassen und Vortragen einer Rede für mich selbst nutzen?
Glücklicherweise hatte ich jede Menge gelernt.
Ich hatte das Privileg, während der gesamten acht Jahre seiner Präsidentschaft für Barack Obama schreiben zu dürfen. Das war die anregendste und erhebendste, manchmal aber auch die anstrengendste und beängstigendste Erfahrung meines Berufslebens. Ich lernte jeden Tag von ihm, wenn er mit seinem Publikum in Verbindung trat, was ich hautnah miterlebte, als ich ihn auf Reisen in mehr als vierzig Länder begleitete.
In Kenia saß ich mit Obama im Präsidentenhubschrauber Marine One und sah auf die Straßen von Nairobi hinunter, in denen Menschen sich ekstatisch über Obamas Rückkehr in die Heimat seines Vaters freuten. Manche schwenkten selbst gemalte Schilder mit dem Gruß »Willkommen zu Hause!«
In Vietnam, wo Menschenmassen auf den Straßen von Ho-Chi-Minh-Stadt standen, um einen Blick auf die Autokolonne werfen zu können, durchbrachen einige die Polizeiabsperrungen – vielleicht weil sie dachten, Obama gesehen zu haben – und verfolgten mich und andere Mitarbeiter bis in ein Hotel.
Der Andrang der Menschen in Tansania war so groß, dass unser Mitarbeiterbus von der Autokolonne getrennt wurde und gegen einen Telefonleitungspfosten prallte, der beim Umstürzen die Fensterscheiben des Busses zerbrach und Glasscherben über den Schoß verängstigter Kollegen verteilte.
Solche Momente konnten nervenaufreibend sein. Sie waren aber auch aufschlussreich. Mit der Kraft seiner Worte und der Geschichte seines Lebens sprach Obama etwas Universelles an: Ideen, Werte und Hoffnungen, die die Grenzen von Hautfarbe, Religion, Nationalität und Kultur überwanden. Und die Art und Weise, wie er mit seinem Publikum in Kontakt trat – auch mit solchen Menschen, die seine politischen Vorstellungen nicht unbedingt teilten –, kann uns alle etwas lehren.
Als ich mit diesem Buch begann, wollte ein Kollege, den ich noch vom Weißen Haus kannte, scherzend wissen: »Was? Und du verrätst dann all deine Geheimnisse?«
Ja, genau.
Und warum auch nicht.
Es stimmt, Redenschreiber sollen wie Geister sein – man hört sie, sieht sie aber nicht. Und mehr als fünfundzwanzig Jahre lang war ich das auch: Hinter den Kulissen, fast immer unsichtbar, schrieb ich allein mit mir die Worte nieder, die ein Präsident, Abgeordnete, Geschäftsleute, Aktivistinnen und Prominente in aller Öffentlichkeit sagten. Warum sollten nur diese Menschen von meinen Fähigkeiten profitieren?
Die Kunst der öffentlichen Rede ist eine Fähigkeit, die wir alle beherrschen müssen, heute dringender denn je.
Es ist jetzt zwei Jahrzehnte her, dass der Redenschreiber eines US-Präsidenten zuletzt ein Buch mit Empfehlungen zum Halten von Reden veröffentlichte. In der Zwischenzeit hat sich die Welt verändert. Eine neue Generation junger Menschen – divers, ruhelos, hoffnungsvoll – erhebt ihre Stimme und verlangt, gehört zu werden.
Endlich reden wir offener über systemische Probleme, die viel zu lange unter den Teppich gekehrt wurden. Von jeder und jedem – ganz egal, ob Sie ein gewählter Volksvertreter, eine Geschäftsfrau oder Führungskraft einer Schule sind – wird heute erwartet, über globale Ereignisse und komplexe Themen wie Herkunft, Religion und individuelle Rechte reden zu können.
Zugleich haben wütende politische und soziale Debatten die Sprache zu einem Schlachtfeld werden lassen, auf dem Worte wie Waffen eingesetzt werden. Einige Menschen scheinen sich nicht bewusst zu machen, wie verletzend eine Sprache aus einer vergangenen Ära sein kann, insbesondere wenn es um ethnische Belange oder Herkunftsfragen geht und gerade hinsichtlich Gemeinschaften, die in der Vergangenheit marginalisiert wurden.
Andere sind wiederum schnell dabei, Familienmitglieder, Freunde oder Kolleginnen zu beschämen oder zu verurteilen, die eigentlich keine bösen Absichten verfolgen, aber womöglich schlicht mit dem sich schnell entwickelnden Vokabular rund um Identität, Sex und Gender nicht Schritt halten können.
Meiner Einschätzung nach fühlen sich die meisten Menschen zwischen den Fronten eingeklemmt, gefangen in einem rhetorischen Niemandsland, und wollen einerseits nicht auf die raue Sprache einer grausamen Vergangenheit zurückgreifen, sind andererseits zugleich aber verunsichert, wie sie sich weiterentwickeln sollen, ohne bei einem Fehltritt eine linguistische Landmine in die Luft zu jagen, die ihre Beziehung, Karriere oder Reputation zu zerstören vermag.
Es scheint, wir haben die Fähigkeit verloren, miteinander zu kommunizieren.
Zu viele Führungsfiguren haben offensichtlich größeres Interesse daran, rhetorische Siegpunkte gegen ihre Widersacher einzufahren, als sich auf einen Dialog einzulassen, den die Demokratie für ihr Funktionieren braucht. Zu viele Rednerinnen und Redner scheinen eifriger damit beschäftigt, jene mit einer anderen Meinung zu übertönen, als die Kunst der Überzeugung einzusetzen, die deutlich mehr Menschen für ihre Sache einnehmen würde.
Unsere Nachrichtenkanäle und unsere Gemeinschaften werden mit Falschinformationen und Grausamkeiten überflutet – boshafte Bemerkungen, die das Vertrauen, das Verständnis und die gemeinsamen Zielvorstellungen untergraben, die wir brauchen, um zusammen leben und arbeiten zu können.
Die Art und Weise, wie wir reden, muss sich ändern.
Allerdings fürchte ich, dass die Kunst der öffentlichen Rede gerade dann, wenn wir sie am dringendsten brauchen, häufig komplizierter und einschüchternder wirkt als nötig. Zu viele Rhetorikbücher haben die Stimmen von Frauen, People of Colour und historisch marginalisierten Gemeinschaften übersehen.
Manche Bücher über das öffentliche Reden verwenden derart viele unverständliche Worte aus dem alten Griechenland und Rom, das einem davon schwindelig wird. Doch hier an dieser Stelle sage ich Ihnen, dass Sie nicht wissen müssen, was ein Chiasmus ist, um ein großartiger Redner oder eine großartige Rednerin zu werden. Wissen Sie, eines hat Obama nie zu uns gesagt: »Ja, das ist wirklich schon eine gute Rede, aber jetzt brauchen wir noch mehr Chiasmen.«[1]
Unablässig verändert die Technologie die Art und Weise, wie wir miteinander reden. Zum ersten Mal in der Geschichte besitzen wir alle ein Megafon – unsere Smartphones, Social Media und Videokonferenz-Apps –, das es uns ermöglicht, augenblicklich unsere Stimme in die Welt hinauszutragen, mit all der Macht und den Risiken, die das mit sich bringt.
Mit dem Aufkommen von künstlicher Intelligenz revolutionieren Chatbots unser Lernen, unsere Kreativität und unsere Kommunikation – mit unzähligen Vorteilen und Gefahren. Dies könnte das erste Buch über die öffentliche Rede im Zeitalter der KI sein, und ich werde einige Gedanken dazu darlegen, wie wir uns diese Technologie nutzbar machen können, um unsere Stimme zu schärfen, ohne dabei die Menschlichkeit zu verlieren, die im Zentrum aller großen Kommunikation steht.
Kurz gesagt: Die Kunst der öffentlichen Rede braucht ein Upgrade, eine neue Anleitung für unsere diverse und sich verändernde Welt, mit praktischen Werkzeugen für all die Präsentationen, Verkaufsgespräche, Talks, Toasts und Trauerreden, die wir in unserem Leben halten müssen.
Ich hoffe, dieses Buch kann eine solche Anleitung für Sie sein.
Ehe es so richtig losgeht, muss ich Ihnen etwas gestehen: Ich habe nie ein Buch über das Reden in der Öffentlichkeit gelesen und auch nie einen Rhetorikkurs besucht, bevor ich Redenschreiber wurde. Jede Lektion, die ich Ihnen auf den folgenden Seiten vorstelle, habe ich durchs Selbermachen gelernt. Dies ist das Buch, das ich zu Beginn meiner Reise selbst gern in den Händen gehalten hätte.
Ich nehme Sie mit hinter die Kulissen im Weißen Haus – ins Oval Office und an Bord der Air Force One – und verrate Ihnen bis dahin gut gehütete Geheimnisse über Präsident Obama und seine Herangehensweise an das öffentliche Reden, sowohl als Präsidentschaftskandidat als auch als Amtsinhaber. Sie werden, zum ersten Mal in seinen eigenen Worten, hören, wie er zu dem Redner wurde, der mit seiner unvergesslichen Rede beim Parteitag der Demokraten 2004 in Boston die Weltbühne eroberte.
»Wir alle haben unsere Schwächen bei der Kommunikation mit Menschen«, sagte er mir einmal, als er über seine Entwicklung als Redner vor dieser besagten Convention nachdachte. »Ich hatte definitiv einige Angewohnheiten, die nicht sonderlich hilfreich waren und die ich zu korrigieren erst lernen musste.«
Dieses Buch enthält auch Erkenntnisse vieler anderer Redenschreiber, die für Präsident Barack Obama und First Lady Michelle Obama tätig waren. Denn auch wenn ich in meinem fensterlosen Büro im Keller des West Wing saß und Hunderte Reden schrieb (während ich Mäuse in der Decke hin und her huschen hörte), war ich doch nur einer in einem großartigen Team.
Sie werden erfahren, wie wir gearbeitet haben, aber auch, was noch wichtiger ist, welche Fehler wir gemacht haben (mehr als ein Mal fürchtete ich, meinen Job zu verlieren), was wir aus ihnen gelernt haben und wie Sie diese Lektionen nutzen können, um selbst eine bessere Rednerin oder ein besserer Redner zu werden.
Sie werden von einigen der weltbesten Dozenten, Psychologinnen und Neurowissenschaftler hören, deren Forschungen zeigen, warum diese Lektionen so wirksam sind. Ja, die öffentliche Rede ist eine Kunst. Doch seit ich das Weiße Haus verlassen habe, bemühe ich mich, die Wissenschaft der Rede zu verstehen – evidenzbasierte Ansätze, die uns alle besser kommunizieren lassen.
Und schließlich bin ich überzeugt: So wie wir von einem begnadeten Redner wie Obama lernen können, können wir auch durch das Zuhören untereinander lernen. Sie werden auf den folgenden Seiten Menschen aus allen Lebenslagen kennenlernen, die all das, was Sie auch in diesem Buch finden werden, bereits angewandt haben – ohne es überhaupt zu bemerken und ohne die Hilfe eines professionellen Redenschreibers –, um beeindruckende Reden zu verfassen, von denen viele viral gegangen sind und Menschen überall auf der Welt inspirierten.
So ziemlich jede dieser Reden ist im Internet zu finden, genau wie jede einzelne von Obama. Während der Lektüre dieses Buchs empfehle ich Ihnen, Pausen zu machen, das Buch wegzulegen, die Reden online zu suchen und sie so zu genießen, wie sie ursprünglich gedacht waren. Schauen Sie sie sich an. Hören Sie sie sich an. Spüren Sie die Verbindung zwischen dem Redner und dem Publikum.
Dabei werden Sie erkennen, warum die Tipps aus diesem Buch auch Ihnen helfen können – ganz egal, wer Sie sind oder zu wem Sie sprechen. Ob Sie mit dem Verfassen von Reden Ihren Lebensunterhalt verdienen oder gerade versuchen, all Ihren Mut für die erste Ansprache Ihres Lebens zusammenzunehmen. Ob Sie einen Toast ausbringen, im Büro eine Präsentation vorstellen, Ihre Stimme für ein wichtiges Anliegen erheben oder sich um ein politisches Amt bewerben, um dieses Anliegen selbst umzusetzen.
Diese Lektionen helfen Ihnen, in allen möglichen Situationen effektiver zu kommunizieren – angefangen beim Bewerbungsgespräch bis hin zu einer schwierigen Unterhaltung mit Ihrer Familie, Ihren Freundinnen oder Kollegen.
Wenn Sie diese Hinweise in Ihrem Leben anwenden, dann hoffe ich, dass wir zusammen lernen können, wie wir mit unseren Familien, Nachbarinnen, Kolleginnen und Mitbürgern mit mehr Verständnis und gegenseitigem Respekt sprechen können.
Die meisten unter uns wünschen sich wohl, dass unser öffentlicher Diskurs höflicher abläuft, aber wir scheinen nicht zu wissen, wie uns dies gelingen kann. Ich hatte das Glück, mit bedeutenden Persönlichkeiten arbeiten und von ihnen lernen zu dürfen, wie etwa Präsident Obama, die sich bemühten, einen besseren Weg voranzugehen. Dieses Buch erzählt auch von diesen Erfahrungen, denn wenn unsere diverse Demokratie bestehen bleiben soll, müssen wir einen Weg finden, höflich, empathisch und ehrlich miteinander zu reden.
Also, ja, es passiert eine Menge, wenn wir uns erheben und vor anderen unsere Meinung äußern. Das kann einschüchternd sein. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Daher gleich hier das erste Geheimnis: Sie haben bereits alles, was Sie brauchen, um erfolgreich zu sein, darunter etwas ganz Mächtiges, das niemand sonst besitzt – Ihre einzigartige Stimme.
Diese Lektion habe ich bei einem Besuch gelernt, den Obama während seines ersten Präsidentschaftswahlkampfs der kleinen Stadt Greenwood in South Carolina abstattete. Er war zu diesem Zeitpunkt ununterbrochen unterwegs. Es regnete. Er war nass, ein bisschen gereizt, und es waren nur rund zwanzig Zuhörende im Raum.
Dann, als er gerade mit seiner Rede anfangen wollte, rief jemand aus dem Publikum.
»Fired up!«
»Fired up!«, riefen die anderen zurück.
»Ready to go!«, fing die erste Stimme wieder an.
»Ready to go!«, brüllte der Rest.
Obama wusste nicht recht, was da geschah.
Es ging immer weiter, bis Obama und alle anderem im Raum … nun, sie alle hatten gezündet und waren nun bereit zum Start.
Die Stimme, die den Raum in Schwung versetzt hatte, gehörte Edith Childs, einer Stadträtin und Menschenrechtsaktivistin, und für den Rest von Obamas Präsidentschaft wurde ihr Slogan zu einem mobilisierenden Schlachtruf. Obama erzählte diese Geschichte immer wieder gern, vor allem am Ende großer Wahlkampfveranstaltungen – wie eine einzelne, schwarze Frau Ende fünfzig aus einer kleinen Stadt in der Provinz alle um sich herum inspirierte.
»Es geht nur darum zu zeigen, dass eine einzelne Stimme einen Raum verändern kann«, sagte Obama, und seine Stimme wurde kräftiger. »Und wenn sie einen Raum verändern kann, kann sie eine Stadt verändern! Und wenn sie eine Stadt verändern kann, kann sie einen Bundesstaat verändern! Und wenn sie einen Bundesstaat verändern kann, kann sie eine Nation verändern! Und wenn sie eine Nation verändern kann, kann sie die Welt verändern!«
Aber wie?
Wie finden wir unsere Stimme? Wie sprechen wir uns für das aus, an das wir glauben? Was sagen wir? Und wie sagen wir es so, dass wir die Menschen um uns herum zur Zusammenarbeit inspirieren für die Zukunft, die wir anstreben? Darum geht es in diesem Buch.
Also …
Fired up?
Ready to go?
Dann los.
Vielleicht ist alles Schreckliche
im Grunde das Hilflose,
das von uns Hilfe will.
Rainer Maria Rilke
Der erste Schritt auf dem Weg zu jeder guten Rede oder Präsentation ist – und ich glaube, hier scheitern schon viele – der Glaube daran, dass wir es können. Es geht um die Zuversicht, dass es auf unsere Stimme ankommt und dass wir es verdienen, gehört zu werden. Zu häufig glauben wir nicht daran. Wir lehnen uns selbst ab, wir bleiben im Schatten und schweigen, um uns davor zu schützen, womöglich von anderen abgelehnt zu werden.
Als ich erwog, ob ich diese Rede in Finnland halten sollte oder nicht, wurde mir klar, dass es genau das war, was mich schon so lange plagte.
Dabei war ich gar nicht immer so ängstlich gewesen, was das öffentliche Reden angeht. Ich wuchs in Falmouth, Massachusetts, auf, einem Küstenstädtchen an der südwestlichen Spitze von Cape Cod, mit grau geschindelten Häuschen und einer malerischen Hauptstraße, in der man stets Bekannten begegnete, und meine Eltern und Lehrer ermutigten mich immer, meine Stimme zu erheben. Und ich hatte auch Spaß daran.
Ich hielt meine erste »Rede« in der vierten Klasse, bei einer Buchvorstellung und als Präsident John F. Kennedy verkleidet. Ich sagte Dinge wie »Fragt nicht, was euer Klassenzimmer für euch tun kann, sondern fragt, was ihr für euer Klassenzimmer tun könnt!« (Niedlich, aber null Punkte für Originalität.) Ich nahm an einem Rede-Wettbewerb einer örtlichen Veteranen-Vereinigung teil, las für unsere wöchentliche Nachrichtensendung im High-School-Fernsehen vor laufender Kamera Texte vor und leitete später als Vorsitzender der Studierendenvereinigung Sitzungen mit mehreren Hundert Studierenden.
Dann ging ich nach Washington, D. C., ans College und hielt jahrzehntelang keine Rede mehr.
Was war geschehen?
Das Gleiche, das vielen Menschen passiert – vielleicht auch Ihnen.
✳
Die Angst, vor einer Gruppe von Menschen zu sprechen, ist eine der am weitesten verbreiteten Phobien der Welt. Laut einigen Umfragen fürchten sich manche Menschen mehr vor dem Reden in der Öffentlichkeit als vor Schlangen oder vor dem Betreten eines Flugzeugs – vermutlich sogar mehr als vor Schlangen im Flugzeug.
Ich habe einen Freund, der über Jahre hinweg vor jedem seiner Vorträge einen trockenen Würgeanfall bekam. Als Redenschreiber arbeitete ich mit weltbekannten Schauspielerinnen und Schauspielern zusammen, von denen einige völlig nackt vor einem Millionenpublikum auf der Kinoleinwand auftauchten, die aber immer noch nervös wurden, wenn sie live vor einem Publikum im Saal sprechen sollten (und dabei die Kleidung anbehalten durften).
Toastmasters International, die Menschen helfen möchten, bessere Rednerinnen und Redner zu werden, sind in fast 150 Ländern der Erde vertreten. Es scheint, als sei die Angst vor dem öffentlichen Reden zutiefst menschlich.
Um den Grund dafür herauszufinden, wandte ich mich an das Center for Anxiety and Related Disorders (Zentrum für Angstzustände und verwandte Störungen, Anm. d. Übers.) der Boston University, wo man mich an Dr. Ellen Hendriksen verwies. Sie ist klinische Psychologin und behandelt Menschen mit sozialen Angststörungen, darunter die paralysierende Angst vor öffentlicher Rede. »Wir alle sind soziale Wesen«, erklärte mir Dr. Hendriksen. »Wir alle haben das Bedürfnis, uns sicher, geliebt und einer Gruppe zugehörig zu fühlen.«
Die Angst, von einem Publikum abgelehnt zu werden, kann ihrer Meinung nach in unseren uralten Überlebensinstinkten begründet sein. »Früher konnte die faktische Ablehnung einem Todesurteil gleichkommen. Wurde man von seiner Familie oder seiner Gruppe verstoßen, war man den Wölfen überlassen. Man geriet wirklich in Lebensgefahr.« Heute »kann sich die soziale Ablehnung wie die Überholspur zum Tod anfühlen«.[2]
Damit ergaben meine eigenen Ängste vor dem öffentlichen Auftritt plötzlich einen Sinn.
Als Kind hatte ich zu Hause die Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit gespürt, all das, von dem Dr. Hendriksen sprach. Selbst in Washington war ich mit Freunden gesegnet und hatte Gelegenheiten, die mein Selbstvertrauen hätten aufbauen müssen. Ich durfte an meiner ersten Rede für einen US-Präsidenten arbeiten, für Bill Clinton, da absolvierte ich als College-Student gerade ein Praktikum im Weißen Haus.[3]
Ein paar Jahre später bekam ich meinen ersten Job als Redenschreiber im Pentagon und stieg zum persönlichen Redenschreiber des Verteidigungsministers auf. Ich verliebte mich, heiratete eine außergewöhnliche Frau, Mary Abdella – klug, geistreich, liebevoll und meine beste Freundin –, und wir bekamen zwei wunderbare Kinder, Jack und Claire. Während ich im Arbeitszimmer saß und an den Reden schrieb, schoben sie ihre winzigen Finger unter meiner Tür durch, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen und mir Zettel zuzustecken (»Wan bisd du fertich?«).
Das Leben war gut.
Ein paar Monate nach Obamas Amtsantritt – ich war 36 Jahre alt – wurde ich einer seiner Redenschreiber für die Außenpolitik, und ich werde nie vergessen, wie ich ihm zum ersten Mal begegnete. Es war während eines Treffens von Redenschreibern im West-Wing-Büro von David Axelrod, einem der engsten Berater des Präsidenten. Obama war erst seit Kurzem Präsident, und ich hatte seine erste Ansprache für eine militärische Abschlussfeier an der Naval Academy verfasst.
»Wer ist der Neue?«, wollte Obama wissen, als er Axelrods Büro betrat und dabei mit einem Fußball spielte. »Gute Arbeit«, lobte er mich und schüttelte meine Hand.
Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.
Und doch: Je mehr Zeit ich in Washington verbrachte – eine von Herkunft, Macht und Reichtum besessene Stadt –, umso mehr spürte ich, dass ich nicht mithalten konnte.
Privilegierter Familienhintergrund? Nicht bei uns Szuplats. Die ukrainischen Eltern meines Vaters schufteten während des Zweiten Weltkriegs in einem Arbeitslager im »Dritten Reich«. Mein Vater Stach war noch ein Kind, als sie in die Vereinigten Staaten emigrierten und sich in der Fabrikstadt Amsterdam, New York, niederließen. In seiner Kindheit war er zeitweise auf Essensmarken angewiesen, meldete sich später bei der Navy und verliebte sich in meine Mutter Peggy, die älteste Tochter einer vielköpfigen irisch-katholischen Familie in Boston. Sie arbeitete als Sekretärin.
Reichtum? Kein Thema bei uns. Als Frischvermählte lebten meine Eltern in einem möblierten Trailer in den Außenbezirken der Heimatstadt meines Vaters. Nach meiner Geburt zogen wir in eine kleine Wohnung in Roslindale, das damals die Arbeitersiedlung von Boston war. Mein Vater war Lehrling bei einem Klempner, und meine Eltern lebten von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck. Noch Jahre später erinnerte er sich, dass sie freitags »gerade noch genug Geld für ein Sixpack Bier und Pizza« hatten.
Als mein Vater eine neue Stelle bekam, zogen wir nach Falmouth auf der Halbinsel Cape Cod, wo trotz ihres Rufs, im Sommer der Treffpunkt der Schönen und Reichen zu sein, stolze Arbeiter auch das ganze Jahr über hart arbeiten und für ihre Familien sorgen. Wie überall gab es auch in Falmouth Ungleichheiten. Die Leute erklärten es meiner Mutter in den 1970er-Jahren bei unserer Ankunft scherzhaft so: »West Falmouth ist das alte Geld. North Falmouth ist das neue Geld. Und East Falmouth ist ohne Geld.«
Wir lebten in East Falmouth. Wir lebten an einem drei Kilometer langen Boulevard mit Hunderten Häusern, die damals meist nur im Sommer vermietet waren, und jeden Morgen startete mein Vater seinen alten Chevy Bel Air mit einer Drehung seines Schraubenziehers in der Zündung. Als meine beiden jüngeren Schwestern und ich ins College-Alter kamen, suchte mein Vater sich zusätzliche Klempner-Jobs, und meine Mutter begann in der Essensausgabe meiner High School zu arbeiten, zudem als Sekretärin in einer Abendschule und später in der städtischen Bibliothek.
Dank einer Mischung aus Geldern eines Bundesförderprogramms, Nebenjobs und Stipendien – und den wenigen Ersparnissen, die ich durchs Rasenmähen und einen Job im Dollar Store beiseitegelegt hatte – konnte ich glücklicherweise eine großartige Hochschule besuchen, die American University in Washington, D. C. Die Professoren waren Weltklasse, und mir boten sich lebensverändernde Gelegenheiten – ein Praktikum im Weißen Haus, im US-Senat und während eines Auslandssemesters im britischen Parlament.
Aber so ziemlich in jedem Moment meiner Karriere schien es mir doch so, dass die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen an einer der Eliteuniversitäten, den sogenannten Ivy Leagues, studiert hatten. Washington kann sich in vielerlei Hinsicht wie eine Kleinstadt anfühlen, die von Alumni der elitärsten Hochschulen des Landes am Laufen gehalten wird. Häufig ist es nur eine Frage der Zeit, bis man in einem Gespräch gefragt wird, auf welchem College man war oder welche Graduate School man besucht habe (ich gar keine). Und nachdem man geantwortet hat, kann man förmlich spüren, wie man eingeschätzt wird und einen Platz in der Hierarchie zugewiesen bekommt.
Um ehrlich zu sein: Redenschreiber zu werden war für mich zumindest anfangs eine Notlösung. Zu College-Zeiten träumte ich davon, als Anwalt Fälle von historischer Bedeutung vor dem Obersten Gerichtshof durchzufechten. Doch auf dem Weg zur juristischen Fakultät kam mir eine Kleinigkeit dazwischen. Ich wurde nicht zum Studium zugelassen. Nirgends. (Ich war nie besonders gut in diesen standardisierten Tests, und meine Ergebnisse in der Aufnahmeprüfung für das Fach Jura waren … wie würde das ein Anwalt formulieren … suboptimal.)
Während ich mich auf die Wiederholungsprüfung vorbereitete, bekam ich diesen Job als Redenschreiber im Pentagon. Er gefiel mir, und ich träumte einen neuen Traum – vielleicht, ganz vielleicht, könnte ich eines Tages Reden für den Präsidenten schreiben und dabei helfen, der Welt Amerikas Geschichte zu erzählen. Und mein Traum wurde wahr.
Und trotz allem tat ich, was so viele von uns tun. Anstatt darauf zu vertrauen, wer ich war, fokussierte ich mich zu oft darauf, wer ich nicht war. Ich versteckte den Zweifel recht gut. Doch in den Nischen meines Geistes machte ich mir weis, dass es immer jemanden gab, der es eher verdiente als ich, der erfahrener, qualifizierter war oder mehr Referenzen besaß.
Das war meine Geschichte – zumindest die Geschichte, die ich mir oft selbst einredete.
Um mich aufzubauen, schickte mir meine Schwester Erica, die als begabte Künstlerin auf Cape Cod lebt, das Buch The War of Art des Schriftstellers und Drehbuchautors Steven Pressfield. Darin führt er auf, was uns daran hindert, zuversichtlich und kreativ zu sein, und warnt davor, sich selbst nur über den Vergleich mit anderen zu definieren. Eine Person, die »sich selbst durch ihren Platz in einer Hackordnung definiert«, so Pressfield, wird »ihr Glück/ihren Erfolg/ihre Leistung über ihren Rang innerhalb dieser Hierarchie bewerten«.
Mir wurde klar, dass ich die meiste Zeit meines Berufslebens genau das getan hatte. Was auch bedeutete, dass die Stimme des Zweifels immer präsent war und dass sie genau in den wenigen Momenten, in denen ich aufstehen und vor anderen Menschen sprechen wollte, am durchdringendsten war.
Du spielst hier nicht in ihrer Liga.
Du wirst versagen.
Sie werden dich verurteilen.
Ich hörte diese Stimme auch noch, als ich überlegte, für besagte Konferenz nach Finnland zu reisen. Glücklicherweise konnte ich mich auch noch an eine weitere Stimme erinnern – an die Barack Obamas, wie er mir von seinen anfänglichen Schwierigkeiten berichtete, sowohl was seine Identität als auch seine Rolle als Redner anging, und wie er daran gearbeitet hatte, um sich zu verbessern.
Studierende am Occidental College in Los Angeles organisierten 1981 eine Veranstaltung, um auf Südafrikas brutale Apartheidspolitik der »Rassentrennung« aufmerksam zu machen. Der damals neunzehnjährige Barack Obama, gerade im zweiten Studienjahr, sollte als Erster reden. Er brachte allerdings nur ein paar Sätze heraus, bevor zwei Studenten auf die Bühne stürmten und so taten, als seien sie südafrikanische Sicherheitsleute, die ihn verschleppten – ein kleines Polittheater, um auf die Unterdrückung von Antiapartheidaktivisten hinzuweisen.
»Das Ganze war eine Farce«, erklärte er Jahre später, und seine »einminütige Rede« sei »die allergrößte Farce« gewesen.[1]
»Das war das letzte Mal, dass du mich hast reden hören«, ließ er anschließend eine Freundin wissen. »Ich habe beschlossen, dass es nicht meine Aufgabe ist, für Schwarze zu sprechen.«
Jahrzehnte später fragte ich Obama, was er damit gemeint habe. Er antwortete, dass die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft – mit einer weißen Mutter aus Kansas und einem schwarzen Vater aus Kenia, erzogen zum Großteil von seinen weißen Großeltern – »zum Teil« der Grund für die Stimmung gewesen sei, die ihn bei dieser Veranstaltung überkam. Stärker waren jedoch die großen Zweifel über seinen Platz in der Welt und ob seine Stimme überhaupt ein Gewicht habe.
»Ich denke, der Ausgangspunkt für eine effektive Rede, zumindest für mich und für die meisten Menschen, die ich überzeugend finde, ist: Spüren die Redner, wer sie sind und was sie glauben?«, erläuterte er mir.
Obama hatte es nicht vergessen: Bei der Kundgebung auf dem Campus »war ich ein unreifer Jugendlicher und versuchte herauszufinden, wer ich war und an was ich glaubte. Ich war neunzehn Jahre alt und dachte ›Verdiene ich es überhaupt, im Scheinwerferlicht zu stehen? Habe ich etwas Konkretes zu diesem Thema zu sagen, wo ich doch noch immer nicht weiß, wer ich bin und was ich darstelle?‹« Die Veranstaltung hatte ihm die Gelegenheit verschafft, seine Stimme zu erheben. Doch im Rückblick auf sein jüngeres Ich erkannte er: »Ich war noch nicht bereit.«
Nach dem College hatte Obama manchmal das entgegengesetzte Problem – kein Mangel an Selbstvertrauen, sondern vielleicht zu viel davon. Mehrere Jahre lang organisierte er Veranstaltungen für Kirchengemeinden in Chicagos South Side. »Damals war ich es gewohnt, vor Menschen zu sprechen«, erklärte er mir. »Es lag nicht in meiner Natur, nervös zu sein« – bis sein Stolz ihn eines Tages in den Untergang riss. Diese Geschichte hatte ich noch nie gehört.
»Ich erinnere mich noch lebhaft«, schilderte Obama. Er war vierundzwanzig und in ein Hochhaus im Stadtzentrum Chicagos gekommen, um in einem Raum voll potenzieller Spender mit einer Fundraising-Rede um Geld zu bitten. »Ich war ziemlich anmaßend«, gab er zu. »Ich hatte mir keinerlei Notizen gemacht. Ich glaubte, ich könne einfach jeden Raum betreten und dann improvisieren, was sich als fürchterlicher Fehler herausstellte.«
Er begann mit seiner Rede. »Vor mir saßen viele Männer im Anzug«, erinnerte er sich. »Ich sah eher zerlumpt und unpassend angezogen aus. Ich sprach etwa vier oder fünf Minuten, dann erstarrte ich einfach. Ich geriet völlig aus dem Konzept.«
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Ich befand mich in einer ungewohnten Umgebung mit Menschen, die ich nicht kannte, und für mich stand etwas auf dem Spiel« – das Geld, das er für die weitere Arbeit in den Gemeinden brauchte.
»Es war furchtbar«, fuhr er fort. »Mir lief der Angstschweiß herunter, ich fing an zu stottern und stockte, das war alles nicht besonders zusammenhängend.«
Ich hakte nach, ob er noch wisse, wie er sich gefühlt habe.
»Das löscht man aus seinem Gedächtnis«, scherzte er zunächst. Dann dachte er genauer darüber nach.
»Man fühlt sich«, er hielt kurz inne, um die richtigen Worte zu finden, »dumm und peinlich berührt.«
Wie gelang es Obama, sich zu verbessern?
Es gibt vier Orte, erzählte er mir, die »das Konzept meines Stils der öffentlichen Rede« prägten.
Nachdem er in diesem Konferenzsaal erstarrt war, setzte Obama seine Arbeit als Gemeindeorganisator fort, was ihn an den ersten Ort brachte, an dem er lernte, ein effektiver Redner zu sein – die Keller unter den Kirchen.
»Manchmal sprach ich dort vor nur zwölf Menschen«, so Obama. »Doch nach und nach verhalf mir das Reden vor einem größeren Publikum zu einem grundsätzlichen Selbstvertrauen bei der Kommunikation mit Menschen.« Dabei lernte er eine der wichtigsten Regeln der Kommunikation – zuhören, bevor man selbst spricht.
Seine Ansprachen in diesen Kellerräumen »waren Reden, aber sie waren auch Gespräche« mit den Anwohnern und Verantwortlichen aus der Nachbarschaft, erinnerte er sich. »Die besten Redner sind in einem Gespräch mit ihrem Publikum. Sie sprechen nicht zu ihrem Publikum. Sie sprechen mit ihrem Publikum«, und das bedeutet auch, sich anzuhören, was den Menschen wichtig ist, mit denen man kommuniziert.
Diese Gespräche »halfen mir zu verstehen, dass wir alle für uns selbst eine Geschichte zusammensetzen, über unser Leben und über das, was uns wichtig ist, darüber, woher wir kommen und wohin wir gehen, wie dies unsere Werte und unsere Ängste und Enttäuschungen definiert«.
»Jeder hat eine Geschichte, die ihm heilig ist«, sagte er mir, »eine, die den eigenen Wesenskern berührt. Und indem ich zuhörte, wie andere Menschen ihre Geschichte erzählten, verstand ich meine eigene.«
Wie beim Zuhören in den Kirchenkellern lernte er auch an einem zweiten Ort, ein besserer Redner zu werden – am Lesepult oben im Kirchenraum. »Wissen Sie, wer mir gute Lehrer waren?«, wollte Obama von mir wissen. »All die schwarzen Pastoren, bei denen ich in der Kirche war. Der Pastor einer kleinen Ladenkirche, der tagsüber für die Busgesellschaft arbeitet und am Samstag predigt – man beobachtet ihn, wie er seiner kleinen Herde von hundert Menschen eine Geschichte erzählt.
Es gibt dort eine starke Tradition, eine besondere Oral History, eine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Prediger wissen, wie sie predigen müssen. Ich nahm eine Menge davon in mich auf, einfach durchs Aufpassen, Zuhören und Zusehen.« Von all den Orten, an denen er lernte, eine Rede zu halten, waren die kleinen Kirchen in Chicago mit ihren Pastoren »vermutlich die wertvollsten«, so Obama.
Wenige Jahre später sollte er eine erste Gelegenheit bekommen zu zeigen, was er gelernt hatte.
Als 28-jähriger Jurastudent in Harvard war er zum Präsidenten der Law Review gewählt worden, einer von Studierenden herausgegebenen Fachzeitschrift. Zu seinen Aufgaben gehörte damit eine Rede beim jährlichen Dinner der Law Review, bei dem ein Ehrengast ausgezeichnet wurde – in diesem Fall die Bürgerrechtsikone John Lewis. »Er war einer meiner Kindheitshelden«, so Obama über den Kongressabgeordneten. »Ich wollte sichergehen, dass ich ihm gerecht wurde.«
»Hier hielt ich zum ersten Mal eine große öffentliche Rede vor vielen Menschen, die ich nicht kannte, in einem Rahmen, der mir wichtig war, und zu einem Thema, das mir am Herzen lag. Ich dachte lange darüber nach, was ich sagen wollte. Ich schrieb die Rede auf. Ich lernte die Rede auswendig. Und dann hielt ich die Rede« – die eher eine kurze Begrüßung war und vielleicht fünf bis sieben Minuten dauerte und vor ein paar Hundert Menschen gehalten wurde.
Soweit Obama sich daran erinnern kann, sprach er über die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und ehrte die Rechtsanwälte, Professorinnen und Studierenden, die sie hochhielten. Als erster African American, der zum Präsidenten der Law Review gewählt worden war, thematisierte er auch seinen eigenen Lebensweg. Und er zollte Lewis aus vollem Herzen Anerkennung, der bei seinem Einsatz für die Bürgerrechte schwere körperliche Angriffe und Gefängnisstrafen hatte erdulden müssen – Opfer, durch die es erst möglich wurde, dass Obama nun auf diesem Podium stehen konnte. Es schien zu funktionieren.
»Hier spürte ich zum ersten Mal ›Ich habe das Publikum, ich erreiche es, ich erzähle ihm eine Geschichte, die bei ihm nachhallt‹«, so Obama. Es kam alles zusammen – »das Material, der Moment, der Vortrag«.[4]
Langsam fand Obama seine Stimme. Im Laufe der nächsten zehn Jahre arbeitete er daran, sie zu verfeinern, unter anderem am dritten Ort, an dem er das öffentliche Reden lernte: dem Klassenraum. Auch als er schon in den Senat von Illinois gewählt worden war, unterrichtete er weiterhin noch an der juristischen Fakultät der University of Chicago und hielt Vorlesungen zum Verfassungs-, Zivil- sowie Wahlrecht. »Ich stellte mich vorne in den Unterrichtsraum vor die Studierenden hin und dachte ›Ich werde das nicht vermasseln‹«, erinnerte er sich. »Hier lernte ich, mich auch über längere Zeit hinweg in einem Dialog mit anderen Menschen wohlzufühlen.«
Dieser Dialog setzte sich am vierten Ort fort, an dem Obama lernte, besser zu kommunizieren: bei seinen frühen politischen Wahlkämpfen. Er sprach vor Wählerinnen und Wählern in Gemeindesälen und Kirchen, hielt Reden vor dem Senat in Springfield und bewarb sich im Jahr 2000 um einen Sitz im Kongress – die einzige wirklich bedeutende Wahl, die er je verlor.
»Als ich mich bei der Kongresswahl bewarb«, sagte er, »hatte ich in manchen Situationen, darunter bei Debatten und improvisierten Ansprachen, die Tendenz, nicht Geschichten zu erzählen, sondern reihte Stichworte, nebensächliche Details und politische Schlagworte auf. Ich war zu abstrakt, zu detailversessen und folglich daher zu langatmig. Ich hatte einfach nicht genug Training« – ausreichend Zeit, es zu üben. »Ich musste noch lernen, wie man unter Druck eine effektive, improvisierte Rede vor einer großen Gruppe Unbekannter hält.«
Vier Jahre später, und nach einer Menge Trainingsstunden, griff er auf all die Lektionen zurück, die er bislang gelernt hatte, um unter dem bis dato größten Druck seines Lebens in der Öffentlichkeit zu reden.
Als ehrenamtlicher Redenschreiber beim Parteitag der Demokraten 2004 in Boston waren mir Gerüchte zu Ohren gekommen, dass der Keynote-Speaker, ein Senator aus Illinois, dessen Name mir völlig unbekannt war, ziemlich gut sein sollte. Also sorgte ich dafür, dass ich zum richtigen Zeitpunkt im Publikum stand, umgeben von Delegierten in Rot, Weiß und Blau.
Barack Obama betrat die Bühne – lachend, klatschend, der Menge winkend –, richtete das Mikrofon und begann seine Rede, indem er sich den Menschen in der Halle und den Millionen vor den Fernsehern vorstellte.
Mein Vater war ein ausländischer Student, geboren und erzogen in einem kleinen Dorf in Kenia. Er wuchs als Ziegenhirte auf, ging in einer Blechdachhütte zur Schule. […] Während des Studiums hier [in den Vereinigten Staaten] lernte mein Vater meine Mutter kennen. Sie stammte aus einer Stadt am anderen Ende der Welt, sie kam aus Kansas. […] [Meine Eltern] gaben mir einen afrikanischen Namen, Barack oder »gesegnet«, in dem festen Glauben, dass in einem toleranten Amerika der Name kein Hindernis für den Erfolg darstellt.
Alle in der Menge um mich herum jubelten.
»Ich stehe heute hier, dankbar für die Vielfalt meines Erbes«, fuhr er fort. »Ich stehe hier und weiß, dass meine Geschichte Teil der größeren amerikanischen Geschichte ist, dass ich all denen, die vor mir kamen, etwas zu verdanken habe und dass meine Geschichte in keinem anderen Land der Erde überhaupt möglich ist.«
Damals verstand ich es nicht, aber in den folgenden sechzehn Minuten war alles enthalten, alles, was Obama im Laufe der Jahre über die öffentliche Rede gelernt hatte. Er erzählte Geschichten von Menschen, denen er zu Hause in Illinois zugehört hatte. In manchen Augenblicken sprach er mit dem Rhythmus der Prediger, die er auf der Kanzel beobachtet hatte. Er sprach dabei nicht zu uns im Publikum, sondern mit uns – ein Dialog, ein Gespräch.
Anstatt detailversessen Stichworte abzuarbeiten und Nebensächlichkeiten zu betonen, erzählte er eine größere Geschichte – und seine Stimme wurde gegen Ende der Rede immer eindringlicher –, eine Geschichte darüber, wer wir als Land waren, was unsere Werte waren, woher wir kamen und wohin wir gingen:
Jetzt, während wir sprechen, gibt es diejenigen, die sich darauf vorbereiten, uns zu spalten […]. Nun, ihnen sage ich heute Abend, es gibt kein linkes Amerika und kein konservatives Amerika; es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt kein schwarzes Amerika und kein weißes Amerika und kein lateinamerikanisches und asiatisches Amerika; es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich hatte noch nie jemanden so reden gehört – jemand, der unsere Diversität als Volk so ungeniert nicht als Schwäche ansah, die man für politische Zwecke ausnutzen konnte, sondern als Stärke, die gefeiert und genährt werden sollte; jemand, der dieser Vielfalt nicht nur eine Stimme gab, sondern sie verkörperte, der sich selbst als »dünnen Jungen mit einem komischen Namen« bezeichnete, der »glaubt, dass Amerika auch einen Platz für ihn hat«.
»Es steht außer Frage«, erzählte mir sein Berater David Axelrod Jahre später, dass »Obama diese Rede nicht hätte halten können, hätte er nicht viele Jahre lang ernsthaft über seine eigene Identität nachgedacht. Er wusste, wer er war, und er verstand, wie seine Geschichte ihn geformt hatte.«
Er war ein effektiver Redner, da er wusste, wer er war.
Ich dachte über Obamas Weg nach, während ich die Argumente für und gegen die Rede in Finnland abwog. Und je länger ich über seine Entwicklung als Redner reflektierte, wie er anfänglich hatte kämpfen müssen und sich dann daranmachte, besser zu werden, umso mehr begann ich zu glauben, dass vielleicht auch ich besser werden könnte.
Weitere Inspiration fand ich in jemandem, den ich im Fernsehen gesehen hatte, einem Jungen namens Brayden.
An einem Sommertag 2020 bekam der dreizehnjährige Brayden Harrington einen Telefonanruf, den er kaum glauben konnte.
Er wurde eingeladen, eine Rede zu halten. Im Fernsehen. Landesweit ausgestrahlt, vor einem Millionenpublikum.
»Ich erschrak gewaltig«, erinnerte er sich später.
Der in der Kleinstadt Boscawen, New Hampshire, aufgewachsene Brayden war ein ziemlich normales Kind. In seiner Freizeit spielte er mit seinen Freunden Fangen oder sah sich die Basketballspiele der Boston Celtics im Fernsehen an. Seine Lieblingsfächer in der Schule waren Englisch und Naturwissenschaften, und er hatte gute Noten.
In einer Fernsehsendung aufzutreten ist an sich schon eine nervenaufreibende Angelegenheit – für jeden. Und Brayden war zudem ein Kind. »Ich hatte noch nicht so viel Selbstvertrauen«, erzählte er später. Bei ihm kam allerdings außerdem etwas Weiteres hinzu. Brayden hat einen Sprachfehler.
Daher rührte übrigens die Einladung, die von den Organisatoren des Sommerparteitags der Demokraten ausgesprochen worden war. Einige Monate zuvor hatte Brayden Joe Biden getroffen, während dieser bei seinem Präsidentschaftswahlkampf durch New Hampshire tourte. Ein Video von der Begegnung der beiden – zwei stotternde Menschen, die durch diese gemeinsame Herausforderung einander verbunden sind – war viral gegangen.
Nun war Brayden hin und her gerissen. Er fühlte sich einerseits geehrt, bei so einer großen Veranstaltung sprechen zu dürfen. Zugleich plagten ihn schmerzvolle Erinnerungen daran, wie er in der Schule stotterte und andere Kinder darüber lachten. »Manchmal zogen sie mich damit auf.« Er fürchtete, bei einer landesweit ausgestrahlten Rede im Fernsehen würde es noch schlimmer. »Ich hatte Angst davor, was die Leute von mir denken würden.«
In den folgenden Tagen ließ sich Brayden die Sache durch den Kopf gehen. Und je länger er darüber nachdachte, umso mehr kam er zu der Überzeugung: »Ich könnte vielleicht eine Menge Leute inspirieren.«
Und er entschloss sich, die Einladung anzunehmen.
In den folgenden Wochen arbeiteten Brayden und seine Familie an der Rede, und ein Redenschreiber des Parteitags half ihnen bei der Überarbeitung. Als seine kleine Schwester Annabelle vorschlug, er solle doch sagen »Wir alle wollen, dass es der Welt besser geht«, nahm Brayden den Satz in seine Rede auf. Er übte, sie laut aufzusagen, an einem Tag mehr als zwanzig Mal. Doch als der Tag der Rede näher kam, wurde der Druck zu groß.
»Die Worte kamen einfach nicht aus meinem Mund«, erinnerte er sich. »Ich brach weinend zusammen.«
Braydens Eltern sagten ihm, er brauche die Rede nicht zu halten. Doch er war entschlossen. »Ich wollte, dass andere Kinder mit einem ähnlichen Sprachfehler an sich glaubten.«
In der Woche des Parteitags, der wegen der Covid-Pandemie virtuell abgehalten werden musste, versammelten sich Brayden und seine Familie im Kinderzimmer, in dem eine Kamera aufgebaut worden war, um seine Rede aufzuzeichnen. Sein jüngerer Bruder Camden alberte herum und versuchte, ihn mit Grimassen zu entspannen.
Mit dem Text in der Hand holte Brayden tief Luft, setzte sich aufrecht hin und begann zu sprechen. Dann fing er an zu stottern. Er begann von vorn. Er stotterte wieder. Also fing er wieder neu an. Er hielt inne, setzte neu an und versuchte es wieder. Er brauchte mehrere Male, dann schaffte er es. Wenige Tage später war sein Gesicht im ganzen Land im Fernsehen zu sehen.
»Hallo. Mein Name ist Brayden Harrington, und ich bin dreizehn Jahre alt«, fing er lächelnd an, und seine Zahnspange glitzerte im Licht. Lässig in ein rosa T-Shirt gekleidet, mit seinem Schreibtisch und den Schulbüchern im Hintergrund, erzählte er, wie er Joe Biden getroffen hatte, der ihm sagte, sie seien beide »Mitglieder im selben Club«.
»Wir …«, begann Brayden, machte eine kurze Pause, um tief Luft zu holen und auf den Text in seinen Händen zu schauen. Doch das nächste Wort wollte und wollte nicht kommen.
Brayden schaute an der Kamera vorbei. Er machte den s-Laut und schloss die Augen, als wollte er das Wort aus seinem Mund herausziehen. Aber noch immer nichts. Er holte wieder Luft.
Endlich kam das Wort.
»… stottern.«
Alle paar Sätze blieb ihm ein Wort im Hals stecken. Doch jedes Mal blieb Brayden dran. »Wir alle wollen, dass es der Welt besser geht«, sagte er, und auf der anderen Seite des Zimmers strahlte Annabelle stolz. »Wir alle brauchen, dass es der Welt besser geht.«
Braydens Rede war nur knapp zweihundert Worte lang. Er sprach keine zwei Minuten. Doch »das war das Beängstigendste, das ich in meinem Leben getan habe«, gestand er mir, als ich ihn ein paar Jahre später dazu befragte, wie er es denn hinbekommen habe. Er fand den Mut zum Sprechen, so erklärte er mir, indem er sich an das erinnerte, was seine Mutter ihm immer gesagt hatte: »Deine Unvollkommenheit ist deine Gabe.«
Bereits kurz darauf schickten Menschen von überall her Brayden Dankesworte dafür, dass er seine Gabe mit ihnen geteilt hatte. Seine Rede ging viral. Hashtags verbreiteten sich online, darunter #BraydenHarrington2044.
»Im Laufe der Jahre habe ich mich immer mehr mit meinem Sprachfehler arrangiert«, so Brayden. »Ich glaube nicht, dass er mich definiert. Ich glaube, man kann in seinem Leben etwas Schlechtes oder vielleicht auch Schmerzendes anpacken und es in etwas Gutes verwandeln. Es gibt viele Leute, die ihre Stimme nicht erheben, weil sie Angst haben. Aber wenn du die Gelegenheit bekommst, solltest du sie ergreifen. Denn es ist wichtig, was du zu sagen hast.«
Obamas Entwicklung als Redner und Braydens Mut, sich seinen Ängsten zu stellen, lehren uns alle etwas Wichtiges: Niemand wird als perfekter Redner geboren. Das Reden in der Öffentlichkeit ist eine Fertigkeit, und wie jede Fertigkeit kann sie erlernt und verfeinert werden – und sie beginnt mit der Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen.
Mit der Zeit versuchte ich, auch meine eigene Geschichte besser zu verstehen und stolz auf sie zu sein. Aber nicht jene Geschichte, die ich schon so lange in meinem Kopf hörte – das Narrativ, bei dem ich mich im Vergleich zu anderen definierte und über das, was ich nicht war. Nein, ich versuchte vielmehr zu verstehen, wer ich wirklich war und wie mich meine Geschichte prägte. Und wenn es eine größere Geschichte gibt, von der ich mit gutem Recht behaupten kann, an ihr teilzuhaben, dann die, dass wir mit der Liebe und Unterstützung der Menschen in unserer Umgebung immer besser werden können, in unserer Arbeit, in unserem Leben, bei allem, worauf wir Wert legen.
Deshalb bin ich meinen Eltern so unendlich dankbar, die sich krummgelegt haben, Geld sparten und zusätzliche Jobs annahmen, damit meine Schwestern und ich aufs College gehen konnten. Ich schulde meinen geduldigen Mentoren Dank, darunter Barack Obama, die mir neue Arten des Zuhörens, Schreibens und Kommunizierens beigebracht haben. Und heute kann ich auf einen Weg zurückblicken, den ich mir nie so erträumt hätte: Ein Junge aus einer Arbeiterfamilie arbeitete im Weißen Haus und half dem Präsidenten, Menschen auf der ganzen Welt von den uns alle verbindenden Werten und Hoffnungen zu erzählen.
