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Wie Schach beliebter wurde als je zuvor Schach hatte lange Zeit ein altmodisches Image und wurde mit bebrillten, schüchternen Männern und exzentrischen russischen Genies in Verbindung gebracht. Heute jedoch liegt Schach mehr denn je im Trend und ist überall: 10 Millionen Menschen spielen täglich online Schach, es ist als feministischer Serienhit bei Netflix eingezogen, und in den Mainstream-Medien wird heftig diskutiert, ob Newcomer Hans Niemann gegen das Schach-Genie Magnus Carlsen geschummelt hat. Dieses neu erreichte Hoch an Begeisterung nimmt der profilierte Schach-Journalist Peter Doggers zum Anlass, die erstaunliche Geschichte des Brettspiels und seiner Figuren zu erzählen – und dringende Fragen zu seiner Rolle im 21. Jahrhundert zu stellen: Welche Individuen haben das Spiel zu dem gemacht, was es heute ist? Wie hat Schach die Erforschung künstlicher Intelligenz vorangetrieben? Warum waren die meisten berühmten Spieler Männer, und wie wird in der Schachwelt mit Rassismus umgegangen?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Schach-Euphorie
PETER DOGGERS, geboren 1975, ist international gewerteter Schachspieler, Direktor für Nachrichten und Veranstaltungen beim Marktführer im Online-Schach, Chess.com. Er spielt seit fünfunddreißig Jahren Schach und berichtet seit über siebzehn Jahren darüber. Er hat Dutzende von Großmeistern interviewt, Basketball mit Magnus Carlsen gespielt und Garri Kasparov am Grab von Bobby Fischer interviewt. Kurzum, er ist einer der am besten vernetzten und bekanntesten Menschen in der heutigen Schachwelt.
»Eine spannende Lektüre über das schönste Spiel, das der menschliche Geist je kreiert hat.«GEORGIOS SOULEIDIS, BEKANNT ALS THE BIG GREEKChess.com-Journalist erforscht Schach als kulturelles Phänomen von seinen frühesten Anfängen im alten Indien über seine größten Stars und dramatischsten Momente bis hin zu den Auswirkungen von Internet und künstlicher Intelligenz. Dabei zeigt er, wie Computer und das Internet die zeitlose Magie des Schachs im digitalen Zeitalter noch verstärkt und zu einem neuen Höhepunkt der Popularität und kulturellen Relevanz geführt haben.
Peter Doggers
Warum das königliche Spiel uns immer wieder neu begeistert
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs
Ullstein
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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2024© für die deutsche Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH Berlin 2024 © Peter Doggers, 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhbG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.de, MünchenUmschlagabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Maria EmelianovaE-Book-Konvertierung powered by PepyrusISBN: 978-3-8437-3270-3
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Einleitung
Teil I Schach als kulturelles Phänomen
Kapitel 1 1500 Jahre Magie: Eine Geschichte des Schachs in der populären Kultur
Kapitel 2 Duchamp, Nabokov, Bogart, Kubrick: Schach in den Künsten
Kapitel 3 Gegenseitiges Verständnis: Schach und Wissenschaft
Kapitel 4 Brillanz am Brett: Die größten Stars im Schach
Teil II Der Einfluss der KI: Wie der Computer das Spiel verändert hat
Kapitel 5 KI und Schach: Von Babbage zu Deep Blue
Kapitel 6 Jenseits von Deep Blue: Das Zeitalter der neuronalen Netzwerke
Kapitel 7 Die dunkle Seite: Betrug beim Schachspiel
Teil III Die Onlinerevolution: Wie das Internet das Spiel verändert hat
Kapitel 8 Die Anfangstage: Schach mit 28,8 kbit/s
Kapitel 9 Wie Chess.com kam, sah und siegte
Kapitel 10 Die Streaming-Revolution
Epilog
Anhang
Danksagung
Quellen
Appendix
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Einleitung
Für Míria
Mein Vater brachte mir Schach bei, als ich acht Jahre alt war. Mein Interesse wuchs dann in der Grundschule, als ich in den Pausen gegen meinen Lehrer spielte. Ein paar Jahre später, ich war vierzehn, fragte mich Gino, ein befreundeter Nachbarsjunge: »Ich gehe zu meinem Onkel, um Schach zu spielen. Kommst du mit?« Sein Onkel Gerard, den ich immer noch ab und zu im Amsterdamer Schachcafé De Laurierboom treffe, hatte ein schönes Schachspiel und, was mich als Teenager noch mehr faszinierte, viele Bücher über Schach. Er begann, uns von seinem Helden Bobby Fischer zu erzählen, und ich hörte mit offenem Mund zu.
Schon bald spielten Gino und ich regelmäßig und ahmten sogar die »Weltmeisterschaftskämpfe« nach, von denen wir gehört hatten: Wir spielten eine Partie pro Tag, immer Weiß und Schwarz abwechselnd, und füllten damit locker zwei Wochen Schulferien aus, in denen wir um den Titel des Champions unserer Straße rangen. Im September 1990 traten wir dem örtlichen Verein De Eenhoorn (Das Einhorn) bei, wo ich einige meiner besten Freunde kennenlernte. Wir spielen auch heute noch für diesen Verein.
Das allererste Schachbuch, das ich von vorn bis hinten gelesen habe, war Schach: Das Handbuch für Anfänger und Könner von Theo Schuster aus dem Jahr 1986, ein allgemeiner Überblick über die Geschichte des Spiels, seine Regeln, die großen Spieler der Vergangenheit und ihre besten Partien. Es enthielt eine Geschichte, die immer noch meine Lieblingsschachanekdote aller Zeiten ist, nämlich darüber, dass die Drohung stärker ist als die tatsächliche Ausführung, eines der bekanntesten Theoreme im Schach.
Aaron Nimzowitsch, ein Weltklassespieler in den 1920er-Jahren, verabscheute angeblich den Tabakrauch zu einer Zeit, in der es erlaubt und üblich war, bei Turnieren zu rauchen. Vor Beginn einer Partie hatte Nimzowitschs Gegner mit ihm vereinbart, nicht zu rauchen, doch kurz nach Beginn zog er eine Zigarre aus seiner Tasche, gefolgt von einer Schachtel Streichhölzer. Nimzowitsch ging wütend zum Schiedsrichter, um sich zu beschweren, nur wies dieser darauf hin, dass sein Gegner doch gar nicht zu rauchen begonnen hatte. »Aber er droht zu rauchen«, sagte Nimzowitsch, »und jeder Schachspieler weiß, dass die Drohung stärker ist als die Ausführung.«
Schusters Buch zeigte mir, dass sich hinter dem »einfachen« Brettspiel eine größere Welt verbirgt. Es hat ein so faszinierendes kulturelles Erbe, dass ich mehr darüber wissen wollte. Ich entdeckte, dass Schach dem Spiel in Hermann Hesses Roman Das Glasperlenspiel von 1943 sehr ähnlich ist: eine intellektuelle Begegnung, die Elemente aus Mathematik, Psychologie, Kunst, Sport und sogar Musik enthält. Im Laufe der Geschichte diente es als Metapher für den Krieg, die geistige Schlacht, den strategischen Kampf und sogar für die Beschreibung unserer gesamten Gesellschaft. In seiner symbolischen Vielfalt ist Schach das reichhaltigste Spiel von allen.
Das Schachspiel hat eine über 1500 Jahre lange Geschichte, und es war schon immer »populär« im alten lateinischen Sinne des Wortes: weitverbreitet in der Öffentlichkeit. Aber es war mehr als das, und das ist der Teil, der schwer zu beschreiben ist. Es scheint, dass Schach wie keinem anderen Spiel eine gewisse Magie anhaftet, etwas, das man genießen kann, aber auch etwas, das Achtung oder Ehrfurcht erregt und mit Respekt behandelt werden sollte. Es ist kein Zufall, dass die größten Persönlichkeiten ihrer Zeit oft mit dem Spiel in Verbindung gebracht wurden: von Napoleon, der 1809 gegen den Mechanischen Türken spielte, bis hin zu Elon Musk, der sich 2022 in den Carlsen-Niemann-Skandal einmischte.
Im Februar 2006 begann ich meinen ersten Schachblog, und im Jahr darauf kündigte ich meinen Vollzeitjob, der mir ein gutes und stabiles Einkommen beschert hatte. Ich wollte sehen, ob ich meine Website ChessVibes in ein erfolgreiches Unternehmen verwandeln konnte. Ich gab mir ein Jahr Zeit, um zu sehen, wohin die Reise gehen würde, und sagte mir, dass ich immer noch auf den Arbeitsmarkt zurückkehren könnte, sollten die Dinge nicht wie gewünscht klappen.
In den achtzehn Jahren, die seitdem vergangen sind, habe ich meine Entscheidung kein einziges Mal bereut. Das Schachspiel hat mich in wunderschöne und weit entfernte Ecken der Welt gebracht. Ich habe faszinierende Menschen und begeisterte Fans kennengelernt, nur hatte ich dabei immer das Gefühl, dass Schach das Potenzial besaß, größer zu werden, vergleichbar etwa dem, was beim Poker passiert ist.
In der jüngeren Vergangenheit hat das Schachspiel verschiedene Höhepunkte seiner Popularität erlebt. Das erste Mal war zur Zeit des Weltmeisterschaftskampfes zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski 1972 in Reykjavík, mitten im Kalten Krieg. In Zeitungen auf der ganzen Welt wurde tagtäglich darüber berichtet, Fischer wurde ein Star, Hunderttausende verfielen dem Spiel, und überall waren die Schachsets ausverkauft. Es ist kein Zufall, dass Island, wo die WM stattfand, heute die höchste Anzahl von Großmeistern pro Kopf hat: 16 GMs bei einer Bevölkerung von 375 000.
Nach den spannenden Kämpfen zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow in den 1980er-Jahren begeisterte sich die Öffentlichkeit auch für die Erfolgsgeschichte von Judit Polgár und ihren Schwestern. Ein nächster Höhepunkt war jedoch das Match zwischen Kasparow und Deep Blue im Jahr 1997, das immer noch als Wendepunkt in der Geschichte des Schachs gilt, denn hier wurde ein Computer zu stark für einen Menschen. (Tatsächlich dauerte es etwas länger, bis Computer echte Unbesiegbarkeit erreichten.)
In den folgenden Jahrzehnten zog Magnus Carlsen die meiste Aufmerksamkeit auf sich, da er seine bemerkenswerte Dominanz auf dem Schachbrett mit der eines begeisterten Sportfans, eines Models und sogar einer Figur in Die Simpsons und Donald Duck verband. Es war jedoch eine andere junge Dame, die den dritten großen Höhepunkt in der weltweiten Schachpopularität auslöste. Beth Harmon, die Hauptfigur der Netflix-Miniserie The Queen’s Gambit (dt. Titel Das Damengambit), die im Oktober 2020 erstmals ausgestrahlt wurde und auf dem Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983 basiert.
Während ich diese Zeilen schreibe, ist Chess.com doppelt so schnell gewachsen wie zu Zeiten von Das Damengambit – was darauf hindeutet, dass Schach noch nie so beliebt war wie im Jahr 2024. Heute scheint es nicht den einen Grund für diesen Popularitätsanstieg zu geben, sondern gleich mehrere, die zu berücksichtigen wären. Vielleicht war es dieses Mal kein Hype, und Schach ist endlich eine echte Mainstream-Aktivität geworden. Wie gerne würde ich das glauben.
Das Schachspiel hat in den letzten Jahrzehnten einen bemerkenswerten Wandel erlebt, der hauptsächlich durch den Computer und das Internet beeinflusst wurde. Heute können sich weder Schachamateure noch Großmeister eine Welt ohne einen Computer vorstellen, mit dem sie ihre Entscheidungen analysieren, sich auf ihre Partien vorbereiten oder online spielen können. Gleichzeitig hat das Internet mehr neue Fans für das Spiel gewonnen als je zuvor, und Schach ist zu einem beliebten E-Sport geworden. Der Kanal von Chess.com war im Jahr 2023 mit über 11 Millionen Zuschauerstunden der meistgesehene englischsprachige Twitch-Kanal (und der fünfte Kanal insgesamt). Das verleiht dem alten Brettspiel eine ganz neue Dimension und ist nichts weniger als eine digitale Revolution – und damit eine Geschichte, die es verdient, erzählt zu werden.
Man sagt, dass über keine Sportart mehr Bücher geschrieben wurden als über Schach. Die überwiegende Mehrheit ist jedoch für ein schachkundiges Publikum bestimmt, das bereits weiß, wie 1.d4 f5 heißt (Holländische Verteidigung, eine Eröffnung, die ich selbst nie gespielt habe!) oder wer Wilhelm Steinitz war (der erste offizielle Weltmeister).
Was fehlt, ist ein Buch für die vielen neuen Schachfans, die das Spiel als Netflix-Zuschauer oder YouTube-Abonnenten kennengelernt haben und dringend eine gute Einführung in diesen Sport und die Welt dahinter brauchen. Ein Buch, das viele der berühmten Geschichten und Anekdoten aufgreift, die untrennbaren Verbindungen des Schachs mit der westlichen Kultur aufzeigt, über seine größten Helden spricht und die unglaubliche Geschichte der Veränderungen beschreibt, die das Schachspiel durchlaufen hat, um dorthin zu gelangen, wo es heute ist. Ich hoffe, dass ich dieses Buch geschrieben habe.
Wer sich bereits mit der Schachwelt beschäftigt hat, wird viele der Geschichten und Anekdoten wiedererkennen, aber auch für sie oder ihn gibt es noch viel zu entdecken. Und da das letzte Buch, das versucht hat, die gesamte Geschichte des Schachs abzudecken, 1985 veröffentlicht wurde, kann das vorliegende Werk vielleicht die Lücke hin zur modernen Ära schließen, indem es die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Schachs an einem Ort zusammenfasst und seine Beziehung zu Kultur und Technologie aufzeigt.
Eine bekannte Formulierung lautet, Schach sei eine Kunst, eine Wissenschaft und ein Sport. Nur ist das natürlich etwas klischeehaft und ziemlich begrenzt. Hinter diesem scheinbar einfachen Brettspiel mit 64 Feldern und 32 Figuren verbergen sich nicht nur direkte Verbindungen zu vielen weiteren Bereichen des Lebens, sondern auch eine unglaubliche Geschichte voller faszinierender Ereignisse und brillanter Persönlichkeiten. Leserinnen und Leser, die das Schachspiel noch nicht kennen und dieses Buch in Händen halten, haben eine einzigartige Welt zu entdecken, die sowohl faszinierend als auch inspirierend ist. Kommen, sehen, staunen!
»Schach ist nicht immer Konkurrenz. [ …] Ja, aber Schach kann auch etwas … Schönes sein. [ …] Es war das Brett, das mich fasziniert hat. [ …] Es ist eine ganze Welt aus nur 64 Quadraten. Ich fühle mich sicher darin. Ich kann sie kontrollieren, ich kann sie dominieren. Und es ist alles vorhersehbar. Wenn ich zu Schaden komme, liegt das ausnahmslos an mir.«
Beth Harmon, Das Damengambit, Episode 3 (2020)
Am 19. November 2022 wurde ein Bild auf Instagram rasend schnell zu einem der meistgelikten Beiträge aller Zeiten. Es war der Tag vor Beginn der Fußball-WM in Katar, und das Modehaus Louis Vuitton postete ein Foto von Lionel Messi und Cristiano Ronaldo beim Schachspielen. Das Foto, aufgenommen von der legendären Porträtfotografin Annie Leibovitz, wurde mit der Bildunterschrift »Victory is a State of Mind« (Sieg ist Einstellungssache) auf den Instagram-Kanälen von Lionel Messi, Cristiano Ronaldo und Louis Vuitton gepostet. Das Bild, das mehr als 84 Millionen Likes erhielt, zeigt die beiden Fußballstars, die einen karierten Louis-Vuitton-Koffer als Schachbrett benutzen. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Das Damengambit erlebte das Schachspiel einen neuen Auftritt in der Populärkultur, der vielleicht noch mehr Menschen erreicht hat als die unglaublich erfolgreiche Netflix-Serie.
Übrigens wurde für das Bild – komponiert aus verschiedenen Aufnahmen, da Messi und Ronaldo nicht gemeinsam im Studio waren – eine echte Schachstellung aus einer echten Partie verwendet. Der Trainer des Weltranglistenersten Magnus Carlsen, der Däne Peter Heine Nielsen, twitterte, die Stellung stamme aus einer 2017 in Norwegen gespielten Partie zwischen Carlsen und Hikaru Nakamura, den beiden größten Stars der Schachwelt. Carlsen retweetete Nielsens Botschaft mit dem witzigen Kommentar: »Die zweitgrößte Rivalität unserer Zeit imitiert die größte.«
Es wäre kaum vorstellbar gewesen, dass Messi und Ronaldo vor einem Dame- oder Kartenspiel sitzen. Und es hätte auch nicht funktioniert. Die visuellen Möglichkeiten, die Symbolik, die Tradition und die Komplexität des Schachspiels verleihen ihm Macht. Schach hat Kaiser, Könige, Maharadschas, Schahs, Zaren, Generäle und Präsidenten fasziniert. Maler, Dichter, Dramatiker, Romanautoren, Regisseure, Drehbuchautoren, Sportler und Politiker ließen sich davon inspirieren. Die Magie dieses Spiels fesselt uns seit 1500 Jahren.
Es war einmal in Indien eine kluge Königin namens Jūshīr, die mit einer Rebellion konfrontiert wurde. Sie sandte einen ihrer Söhne aus, um den Aufstand niederzuschlagen, doch einer der Rebellen tötete ihn und versetzte die Menschen des Landes in Angst und Schrecken. Aus Furcht, ihr die Todesnachricht zu überbringen, versammelten sie sich vor einem ihrer Weisen, Qaflān, und erzählten ihm, was geschehen war. Er sagte: »Gebt mir drei Tage Zeit«, und ging fort, um nachzudenken. Dann sagte Qaflān zu einem seiner Schüler: »Bringt mir einen Schreiner und Holz in zwei verschiedenen Farben, Weiß und Schwarz.« Der Schreiner fertigte auf Anweisung von Qaflān Schachfiguren an, dann sagte dieser: »Bringt mir gegerbtes Leder.« Jetzt wurde ein Schachbrett mit 64 Feldern angefertigt, und Qaflān begann, das Spiel mit einem seiner Schüler zu spielen, bis er es verstanden hatte und es beherrschte. Qaflān sagte zu seinem Schüler: »Dies ist ein Krieg ohne Verlust von Menschenleben.«
Die Menschen des Königreichs erkannten, dass sie Zeuge einer Weisheit wurden, zu der niemand sonst hätte gelangen können. Als Königin Jūshīr von der Sache erfuhr, ließ sie Qaflān rufen, damit er ihr dieses Spiel zeigte. Er kam mit seinem Schüler in den Palast, und die beiden begannen, Schach zu spielen. Der eine besiegte den anderen und sagte: »Schachmatt!«
Die Königin verstand, was damit gemeint war, und fragte Qaflān: »Ist mein Sohn getötet worden?«
»Eure Hoheit haben es ausgesprochen«, erwiderte er.
Sie sagte zu ihrem Kämmerer: »Lass die Leute herein, damit sie mir ihr Beileid aussprechen können.« Dann wandte sie sich an Qaflān und sagte zu ihm: »Du darfst um alles bitten, was du brauchst.«
Seine Antwort wird wahrscheinlich vielen Lesern bekannt vorkommen. »Eure Majestät, ich strebe nicht nach großem Reichtum oder Macht. Stattdessen bitte ich um eine einfache Belohnung: Ich möchte nur ein Weizenkorn für das erste Feld des Schachbretts, zwei Körner für das zweite Feld, vier Körner für das dritte, acht Körner für das vierte und so weiter.«
Die Königin lachte über diese Bitte, da ihr das ein geringer Lohn für sein brillantes Spiel schien, und stimmte bereitwillig zu. Ihre Berater wiesen sie jedoch bald auf die erstaunlichen Konsequenzen von Qaflāns Bitte hin. Das Schachbrett hat 64 Felder, und da sich die Anzahl der Weizenkörner für jedes Feld verdoppelt, würde die Gesamtsumme der benötigten Weizenkörner 264–1 betragen, eine Menge, die auf der ganzen Welt nicht verfügbar ist. (Einer neueren Berechnung zufolge ist dies mehr als das 1600-Fache der weltweiten Weizenproduktion.)
Die Legende von den Weizenkörnern und dem Schachbrett, die im Mathematikunterricht immer noch als warnendes Beispiel für die Macht des exponentiellen Wachstums dient, existiert in verschiedenen Formen. In einer geht es um Reiskörner und den indischen Gott Krishna, während in der berühmtesten Version der Geschichte der brahmanische Mathematiker Sissa das Schachspiel erfindet, um seinem König eine Lektion in Demut zu erteilen. Wie im Spiel ist dessen Schicksal eng mit dem schwächsten seiner Untertanen verknüpft, und als König ist er zwar die mächtigste Figur, nur braucht er dennoch alle anderen Figuren zu seinem Schutz.
Die Version, die ich oben gewählt habe, ist die älteste, die »bis in die Zeit vor Mohammed zurückreicht«, wie H. J. R. Murray, ein renommierter und unglaublich gelehrter Schachhistoriker, in seinem 1913 veröffentlichten Monumentalwerk A History of Chess behauptet. Die Legende wurde von Ibn Wāḍiḥ al-Ya ֜qūbī erzählt, einem muslimischen Beamten und Universalgelehrten aus dem 9. Jahrhundert, dessen Werke mit die frühesten erhaltenen historischen und geografischen Schriften in der arabischen Literatur darstellen. Interessanterweise bezieht sich al-Ya ֜qūbī auf eine Königin (Jūshīr) anstelle eines Königs, und seine Geschichte deutet darauf hin, dass Schach bereits im Moment seiner Erfindung als Metapher verwendet wurde. Von Anfang an war Schach also mehr als nur Schach.
Ob diese Geschichte wirklich stimmt, muss vermutlich nicht ernsthaft diskutiert werden. Allerdings sind sich die Schachhistoriker weitgehend einig, dass das Spiel seinen Ursprung in Indien hat. Ursprünglich ist es aus einem anderen Brettspiel namens Chaturanga hervorgegangen, das um das 6. Jahrhundert n. Chr. erstmals im Gupta-Reich auftauchte. Xiangqi (chinesisches Schach), Janggi (koreanisches Schach), Shōgi (japanisches Schach), Sittuyin (burmesisches Schach) und Makruk (thailändisches Schach) haben vermutlich alle das Chaturanga als gemeinsamen Vorläufer.
Das Sanskrit-Wort Chaturanga bedeutet »mit vier Gliedern/Teilen« – von »chatur« (vier) und »anga« (Teile) – und bezieht sich auf die vier Abteilungen einer Armee: Elefanten, Streitwagen, Kavallerie und Infanterie. Das Spiel wurde auf einem acht mal acht, also 64 Felder umfassenden Brett gespielt, die alle dieselbe Farbe hatten. Die Spielfiguren ähnelten denen des Schachspiels: Es gab einen König, einen Ferz (ein Berater des Königs), einen Streitwagen (Turm), einen Elefanten (eine frühe Form des Läufers), ein Pferd (Springer) und einen Fußsoldaten (Bauer). Es handelt sich eindeutig um ein Brettspiel, das den Kampf zwischen zwei altindischen Armeen nachahmt. (Man beachte, dass einige Sprachen auch mehr als eintausend Jahre später für bestimmte Figuren noch dieselben Wörter verwenden. So heißt etwa der Läufer im Russischen cлoн, was Elefant bedeutet.)
Noch im 6. Jahrhundert verbreitete sich das Schachspiel vermutlich auch in Asien und Persien (dem heutigen Iran). Wie es dazu kam, zeigt eine andere Legende, die als Geburtsort des Spiels Indien angibt. Sie wurde im Schāhnāme (Buch der Könige) erzählt, das vom persischen Dichter Firdausī verfasst und um das Jahr 1010 fertiggestellt wurde.
Eines Tages traf eine reich ausgestattete Gesandtschaft des Radschas von Indien am Hof von König Chosrau Anuschirwan ein, dem sassanidischen Großkönig, der Persien von 531 bis 579 regierte. Unter den vielen Schätzen, die sie mitbrachten, befand sich ein wunderschönes kariertes Brett. Eine auf Seide verfasste Botschaft beschrieb dieses Brett und die Art der dazugehörigen Spielsteine und merkte an, dass der Radscha gern die geforderten Steuern zahlen würde, wenn jemand herausfinden könnte, wie dieses Spiel zu spielen sei. Nach einem Tag und einer Nacht des Studiums gab Chosraus Minister Burzoe zum Entsetzen der indischen Gesandten eine vollständige Beschreibung der Schachregeln. Zu allem Überfluss erfand er auch noch das Spiel Nard (eine frühe Form des Backgammon) und schickte dem indischen König eine ähnliche Herausforderung, die dessen Berater aber nicht lösen konnten. 2 : 0 für die Perser.
Nach der muslimischen Eroberung Persiens in der Mitte des 7. Jahrhunderts lernten die Araber das Schachspiel kennen, das jetzt den Namen Schatrandsch trug. Es wurde immer beliebter und verbreitete sich in der gesamten arabisch-muslimischen Welt. Im 9. oder 10. Jahrhundert war Schach im gesamten arabischen Raum bekannt, von Indien bis nach Spanien. Es wurden die ersten Bücher darüber verfasst, die weitere Legenden, Gedichte und Sinnsprüche enthielten. Ein Beispiel umschreibt die Trunkenheit: »Er kam auf dem Weg eines Turms und ging auf dem Weg eines Springers.« Die reichhaltige arabische Schachliteratur beschrieb darüber hinaus Verbindungen zur Mathematik, zum logischen Denken sowie sogar zur Erotik und enthielt gleichzeitig Unterweisungen im Spiel.
Außerdem wurden die Mansuben eingeführt: Schachrätsel aus Endspielstellungen mit genau definierten Aufgaben, z. B. in soundso viel Zügen ein erzwungenes Schachmatt zu finden. Ein berühmtes Rätsel ist das Matt von Dilaram, das angeblich aus einer Schachpartie eines Adligen namens Murwardi stammt. In finanzieller Not hatte er seine schöne Frau Dilaram auf eine Partie verwettet, die er dank ihr dann schließlich gewann. Als die Stellung des Rätsels auftauchte, war sie diejenige, die es löste, indem sie zu ihrem Mann sagte: »Opfere deine beiden Türme und nicht mich.«
Arabische Spieler brachten das Schachspiel über die Iberische Halbinsel und das Byzantinische Reich nach Europa, wahrscheinlich im 10. Jahrhundert. Es verbreitete sich auch in Nordeuropa, oft entlang der Routen siegreicher Armeen. Als die Normannen England eroberten, kam das Schachspiel mit ihnen.
Einer der frühesten Hinweise auf das europäische Schachspiel ist ein berühmter Brief des Kardinalbischofs Petrus Damiani aus dem Jahr 1061 an Papst Alexander II. und den Erzdiakon Hildebrand (den späteren Papst Gregor VII.). In diesem Brief behauptete Damiani, einige Geistliche hätten gesündigt, indem sie sich an bestimmten Freizeitbeschäftigungen, darunter Schach, beteiligten. Der Bischof von Florenz verteidigte sich, indem er darauf hinwies, dass Schach im Gegensatz zu anderen Spielen, bei denen es eher um Glück geht, ein Geschicklichkeitsspiel sei.
Bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts verbot die Kirche regelmäßig das Schachspiel (was auch seine Beliebtheit beweist), da sie nicht klar zwischen Schach und Würfelspielen unterschied. Das wird verständlicher, wenn man bedenkt, dass Schach in jenen Jahren oft tatsächlich mit Würfeln gespielt wurde, wobei die Zahlen anzeigten, welche Figur gespielt werden musste. Doch irgendwann änderte sich die Haltung der Kirche. Murray schrieb: »Um 1250 begann das frühe Vorurteil der Kirche gegen das Schachspiel angesichts der königlichen und adligen Förderung zu schwinden, und die Mönchsorden nahmen es als willkommene Erleichterung des eintönigen Klosterlebens an, während sich die Kenntnis des Schachspiels von den Insassen der Burgen und Klöster zu den wohlhabenderen Bürgern und Kaufleuten der Städte hinunter verbreitete.« Die Versuche, das Spiel auszurotten, scheiterten also kläglich – Schach war einfach nicht zu stoppen.
Im Laufe von nur zwei Jahrhunderten wurde das Schachspiel zu einem festen Bestandteil des europäischen Adels und des höfischen Lebens. Könige, Priester, Ritter und andere Mitglieder des Feudaladels spielten gerne. In seinem einflussreichen Werk Disciplina Clericalis aus dem 12. Jahrhundert zählte der spanische Arzt, Astronom und Schriftsteller Petrus Alfonsi das Spiel zu den sieben Fertigkeiten, die ein guter Ritter beherrschen muss: Reiten, Schwimmen, Bogenschießen, Boxen, Falkenjagd, Verse schreiben und Schach. Der Ruhm des Spiels wuchs schnell, wie die zahllosen Erwähnungen in der Literatur ab dem 13. Jahrhundert zeigen. Ich zitiere noch einmal Murray: »In der zweiten Hälfte des Mittelalters und insbesondere vom 13. bis zum 15. Jahrhundert erlangte das Schachspiel in Westeuropa eine Popularität, die später nie wieder erreicht oder gar übertroffen wurde.« Nun ja, das Buch, das Sie gerade lesen, wird das etwas anders darstellen …
Ein historisch wichtiges Werk ist das Libro de los Juegos (Buch der Spiele), das 1283 von König Alfons X. von Kastilien und León in Auftrag gegeben wurde. Dieses atemberaubend schöne Manuskript, das in der Bibliothek des Klosters El Escorial bei Madrid aufbewahrt wird, besteht aus 97 Pergamentblättern, von denen viele mit wunderschönen Farbillustrationen versehen sind, und enthält mehr als einhundert Schachrätsel, die der Leser lösen soll und die größtenteils aus früheren arabischen Quellen stammen (darunter das »Matt der Dilaram«; vgl. Anhang). Die Rätsel werden durchweg auf einem Schachbrett in der Mitte der Illustration dargestellt, wobei sowohl männliche als auch weibliche Spieler links und rechts auf das Brett schauen. Dieses wichtige Buch befasst sich mit Schach und anderen Spielen wie Würfeln und einer frühen Form von Backgammon, stellt aber fest: »Da Schach das edelste Spiel ist, das im Vergleich zu allen anderen Spielen die meiste Geschicklichkeit erfordert, werden wir es als Erstes behandeln.« Aufgrund seiner Komplexität und seiner Ähnlichkeit mit der mittelalterlichen Kultur entwickelte sich Schach schnell zum beliebtesten Spiel.
Eine Namensänderung für einige Figuren trug dazu bei, dass das Schachspiel noch populärer wurde. Während der König im Chaturanga den arabischen Ferz an seiner Seite hatte, wurde diese Figur im westlichen Schach durch eine Königin, die Dame, ersetzt. Auch andere Figuren wurden verwestlicht: Das Pferd wurde in einigen Sprachen zum Springer oder Ritter, aus dem Streitwagen wurde ein Turm oder eine Burg und aus dem Elefanten ein Läufer, Narr oder Bischof. Wir hatten nun Figuren, die den gesellschaftlichen Rollen in Europa entsprachen.
Als sich das Schachspiel von Indien nach Persien, ins arabische Reich und ins mittelalterliche Europa ausbreitete, blieb die Spielweise im Wesentlichen gleich. Es gab einige kleinere Änderungen, wie z. B. die Einfärbung der 64 Quadrate, um ein kariertes Spielfeld zu erhalten. Außerdem durften die Bauern beim ersten Zug gleich zwei Felder vorrücken, um das Spiel zu beschleunigen.
Mehrere Versionen des Spiels wurden in verschiedenen Regionen, auch innerhalb Europas, gespielt, wobei die Regeln oft von Gebiet zu Gebiet variierten. In den folgenden Jahrhunderten erfuhr das Schachspiel allmählich bedeutende Veränderungen und erreichte eine mehr oder weniger einheitliche Form, die auf dem ganzen Kontinent gespielt wurde – so wie wir es heute spielen.
Zwei Änderungen betrafen die Bewegung des Läufers und des Königs. Anstatt nur zwei Felder diagonal zu springen, konnte der Läufer nun auf jedes Feld einer Diagonale ziehen. Der König konnte sich in Sicherheit bringen, indem er eine gemeinsame Bewegung mit einem der Türme machte, die sogenannte Rochade. Eine wirklich bahnbrechende Änderung gegen Ende des 15. Jahrhunderts betraf jedoch die Dame. Wie der arabische Ferz konnte sie bisher bei jedem Zug immer nur ein diagonales Feld weit gehen, womit sie die schwächste Figur auf dem Brett war. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts konnte sie dann jedoch so weit ziehen, wie sie wollte, und dabei wahlweise geraden Linien oder Diagonalen folgen. Im sogenannten modernen Schach war sie mächtiger geworden als jede andere Figur auf dem Brett. Wie es dazu kam, ist umstritten.
Eine inzwischen widerlegte Theorie besagte, dass die neuerdings mächtige Schachdame von Jeanne d’Arc inspiriert wurde, dem Bauernmädchen, das behauptete, göttliche Visionen empfangen zu haben, während es Frankreich im Hundertjährigen Krieg 1429 bei Orleans half, England zu besiegen. Die meisten Schachhistoriker sind sich jedoch einig, dass die Änderung der Schachkönigin höchstwahrscheinlich durch die Macht einer tatsächlichen Königin inspiriert wurde: Königin Isabella I., die von 1474 bis zu ihrem Tod im Jahr 1504 über Kastilien und León herrschte. Passenderweise galt sie als mächtiger als ihr Ehemann Ferdinand.
Das erste aufgezeichnete Turnier, das wahrscheinlich nach den neuen Regeln gespielt wurde, fand 1467 in Heidelberg statt. Schach wurde im Spätmittelalter in vielen deutschen Städten gespielt, und in Heidelberg gab es bereits einen Schachverein. Er wurde von Pfalzgraf Friedrich I. gesponsert, und zu den Bedingungen gehörten Unterkunft und Preise für die Sieger. Das Schachspiel hatte auch eine sportliche Note, genau wie damals das Dichten und Fechten.
Die neuen Regeln machten Schach schneller, komplexer und ziemlich knifflig. Dennoch nahm die Popularität des Spiels in den folgenden Jahrhunderten kaum ab, so der Historiker Richard Eales in seinem 1985 erschienenen Buch Chess – The History of a Game: »Vergleicht man die in spätmittelalterlichen Handschriften und gedruckten Büchern erhaltene schachtechnische Literatur mit derjenigen in Handschriften und gedruckten Büchern des 16. und 17. Jahrhunderts oder vergleicht man die beiläufigen Hinweise auf das Spiel in Testamenten, Bestandslisten, Briefen und allgemeiner Literatur für die beiden Zeiträume, so deutet nichts auf einen messbaren Rückgang seiner Popularität hin.«
Dies erklärt sich zum Teil dadurch, dass sich auch der soziale Status des Schachspiels kaum verändert hat. Es blieb eine angesehene Beschäftigung in den oberen Schichten (während es auch in den unteren Schichten durchaus bekannt war) und genoss hohes Ansehen, nicht zuletzt aufgrund seiner langen Geschichte und vieler Interpretationen und Analogien, auf die wir im nächsten Kapitel etwas näher eingehen werden.
Im 18. Jahrhundert konkurrierte Schach mit verschiedenen Kartenspielen, insbesondere mit dem modischen Whist. Dennoch wuchs die Zahl der schachspielenden Menschen ständig. Wie Eales erläuterte, gab es einen Aufschwung des allgemeinen Wohlstands, sodass mehr Menschen Zeit und Geld für Freizeitaktivitäten aufbringen konnten. Mit wirtschaftlicher Terminologie ausgedrückt, nahm das Marktvolumen immer mehr zu. Schach zu spielen wurde zu einer Frage des Geschmacks, was eine neue Phase für das Spiel und den Umgang damit einleitete.
Das Schachspiel fand mehr Anklang als je zuvor und nahm organisiertere Formen an. So wurde es beispielsweise zunehmend zu einem Zeitvertreib, der in Kaffeehäusern gepflegt wurde. In London gab es das Old Slaughter’s Coffee House in der St Martin’s Lane, das 1692 eröffnet wurde und von Architekten, Malern, Dichtern und Politikern besucht wurde. Noch berühmter war das Café de la Régence in Paris. Das 1681 eröffnete Café empfing eine Vielzahl von Intellektuellen und viele berühmte Schachmeister, darunter den besten Spieler seiner Zeit, François-André Danican Philidor (1726–1795). Im Régence traf Philidor Voltaire und Robespierre und spielte Schach mit Rousseau. Das Kaffeehausschach führte dann Ende des 18. Jahrhunderts zur Gründung der ersten Gentlemen’s Chess Clubs in London und Paris. Im frühen 19. Jahrhundert entstanden dann auch Schachklubs in Ländern wie Deutschland, der Schweiz und den Vereinigten Staaten.
Während das Schachspiel Bedeutung gewann, wurde es auch zu einem Männerspiel. Frauen besuchten selten die Kaffeehäuser und wurden oft nicht in die Schachklubs gelassen. Schach wurde auch immer mehr zu einer ernsthaften Freizeitbeschäftigung (einige begannen sogar, es als Sport zu betrachten), was die Diskriminierung von Frauen weiter vorantrieb. Auch die Industriegesellschaft spielte zweifellos eine Rolle. Während sich die Männer von der bezahlten Arbeit im Haushalt in die Fabrik verlagerten, blieben die Frauen im privaten Bereich. Die beiden Geschlechter lebten stärker voneinander getrennt, und den Frauen blieb nicht viel Zeit für Freizeitaktivitäten zu Hause.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch die ersten großen Schachwettbewerbe organisiert, die das Ansehen des Spiels erhöhten. Die größten Meister trugen oft Matches gegeneinander aus (Serien von mehreren Partien zwischen zwei Gegnern), wie zum Beispiel der Franzose Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais und der Ire Alexander McDonnell oder der Engländer Howard Staunton und der Franzose Pierre de Saint-Amant – Wettkämpfe, über die weithin berichtet wurde und die Schachfreunde in ganz Europa aufmerksam verfolgten. Staunton war auch der Hauptorganisator des ersten großen internationalen Schachturniers, das 1851 in London stattfand.
Das zunehmende Interesse am Schachspiel spiegelte sich in der wachsenden Zahl der veröffentlichten Bücher zum Thema sowie der ersten Zeitungskolumne (im Liverpool Mercury, 1813) und dann Zeitschrift (Le Palamède, 1836) wider. Es wurden auch erste Versuche unternommen, das Wissen über Schacheröffnungen systematisch zu erfassen, zum Beispiel in Aaron Alexandres Encyclopédie des échecs aus dem Jahr 1837. In vielen Ländern, vor allem in England und Deutschland, fanden nun regelmäßig Schachturniere statt.
Gleichzeitig wurde das Spiel allgemein besser organisiert und reguliert, da offizielle Verbände gegründet wurden, so wie bei Sportarten wie Fußball, Leichtathletik und Kricket. Die erste anerkannte Schachweltmeisterschaft wurde 1886 in verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten ausgetragen: Wilhelm Steinitz besiegte hierbei Johannes Zukertort und errang den ersten Weltmeistertitel im Schach.
Mit diesem Zweikampf begann eine lange und wunderbare Tradition, die bis heute andauert: eine wachsende Liste legendärer Weltmeisterschaftskämpfe, Wettbewerbe zwischen zwei Spielern um den höchsten Thron und ewigen Ruhm. Das Match zwischen Fischer und Spasski, 1972 vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ausgetragen, ist wohl das berühmteste. Jeder Mensch, der sich mit dem Spiel ernsthaft beschäftigt, weiß, dass die Tradition viel weiter zurückreicht, und kann alle Weltmeister nennen (womöglich gar in der richtigen Reihenfolge). Ich liste sie hier gemeinsam mit den Jahren auf, in denen sie den Titel jeweils innehatten:
Wilhelm Steinitz (1886–1894)
Emanuel Lasker (1894–1921)
José Raúl Capablanca (1921–1927)
Alexander Aljechin (1927–1935, 1937-†1946)
Max Euwe (1935–1937)
Michail Botwinnik (1948–1957, 1958–1960, 1961–1963)
Wassili Smyslow (1957–1958)
Michail Tal (1960–1961)
Tigran Petrosjan (1963–1969)
Boris Spasski (1969–1972)
Bobby Fischer (1972–1975)
Anatoli Karpow (1975–1985)
Garri Kasparow (1985–2000)
Wladimir Kramnik (2000–2007)
Viswanathan Anand (2007–2013)
Magnus Carlsen (2013–2023)
Ding Liren (2023–)
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Parallel zu den Olympischen Spielen 1924 in Paris veranstaltete der französische Schachverband ein internationales Mannschaftsturnier mit 54 Spielern aus 18 Ländern. Am 20. Juli, dem Tag der letzten Runde, gründeten 15 Teilnehmer den internationalen Schachverband mit der französischen Bezeichnung Fédération Internationale des Échecs (FIDE). Er begann mit der Organisation offizieller Schacholympiaden nach dem Vorbild der Olympischen Spiele und wurde ab 1948 zum offiziellen Ausrichter dieser Weltmeisterschaften mit einer eigenen Kategorie für Frauen. Die Weltmeisterinnen sind:
Vera Menchik (1927-†1944)
Ljudmila Rudenko (1950–1953)
Jelisaweta Bykowa (1953–1956, 1958–1962)
Olga Rubzowa (1956–1958)
Nona Gaprindaschwili (1962–1978)
Maia Tschiburdanidse (1978–1991)
Xie Jun (1991–1996, 1999–2001)
Zsuzsa Polgár (1996–1999)
Zhu Chen (2001–2004)
Antoaneta Stefanowa (2004–2006)
Xu Yuhua (2006–2008)
Alexandra Kostenjuk (2008–2010)
Hou Yifan (2010–2012, 2013–2015, 2016–2017)
Anna Uschenina (2012–2013)
Marija Musytschuk (2015–2016)
Tan Zhongyi (2017–2018)
Ju Wenjun (2018-)
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Von all diesen Spielerinnen und Spielern ging immer eine besondere Aura aus, wenn sie in einen Spielsaal kamen: Ein Weltmeister hat das Gebäude betreten. Sie sind das Schachäquivalent zu den antiken Bewohnern des Olymps, und es ist nur natürlich, dass Sie viele dieser Namen im vorliegenden Buch finden werden.
Phoebe und Joey spielen eine schnelle Schachpartie. Während sie mit der einen Hand ihre Figuren bewegen, schlagen sie mit der anderen Hand auf eine Schachuhr. Es wird schnell klar, dass sie keine Ahnung haben, was sie da eigentlich tun.
Joey sagt: »Wir sollten mal lernen, wie man das richtig spielt.«
Phoebe antwortet: »Wieso denn? Ich finde unsere Spielweise gut. Oh!«
Sie bewegt eine Figur und überspringt mehrere von Joeys Figuren, als würden die beiden Dame spielen. Sie nimmt eine der gegnerischen Figuren weg und ruft triumphierend: »Schach!«
Joey schaut beeindruckt und sagt: »Das war aber clever!«
Friends wurde zwischen 1994 und 2004 auf NBC ausgestrahlt, aber auch zwei Jahrzehnte später wird die Serie noch immer weltweit über Wiederholungen und Streamingdienste gesehen. In einer der beliebtesten Comedyserien aller Zeiten hatte Schach mehrere Auftritte, am prominentesten in Folge 20 der siebten Staffel, »The One With Rachel’s Big Kiss«. Eine tiefgehende Analyse ist nicht nötig, um zu verstehen, dass Schach als kompliziertes Spiel dargestellt wurde, während Phoebe und Joey nicht gerade für ihre intellektuellen Fähigkeiten bekannt waren.
Jerry Seinfeld hingegen, die Titelfigur der anderen, enorm populären Sitcom der Neunzigerjahre, war ziemlich schlau. In Folge neun der dritten Staffel mit dem Titel »The Nose Job« beschreibt er eine Frau, die er datet: »Isabel ist im Grunde genommen die schlimmste Frau, die ich jemals in meinem ganzen Leben kennengelernt habe. Es hat mich bisher kopfmäßig noch niemand so abgestoßen und körperlich gleichzeitig so angezogen wie dieses Weib. Es ist, als ob mein Gehirn und mein Penis gegeneinander Schach spielen.« Am Ende der Folge sehen wir ein reales Schachspiel zwischen zwei Jerry Seinfelds (mithilfe von Spezialeffekten), wobei einer als sein Penis und einer als sein Gehirn agiert. Letzterer gewinnt, während Ersterer über mangelnde Energie klagt.3
In der gleichen Serie ist Seinfelds Freund George Costanza, nun ja, der weniger clevere Typ. Zu Beginn von »Die Verlobung«, der ersten Folge der siebten Staffel, spielt George mit seiner Freundin Alice Schach. Die erste Szene zeigt ein Schachbrett. George macht einen Zug mit einer schwarzen Figur, lehnt sich zufrieden zurück und sagt: »So, jetzt kannst du nirgendwo mehr hin. Ich sag dir, was du falsch gemacht hast: Du bist mit deiner Dame zu früh rausgekommen. Meinst du, sie ist eine von den Feministinnen, die es zu Hause nicht aushalten? Nein, die Dame ist altmodisch, sie ist gern zu Hause, kocht, und ihr liegt daran, dass sich ihr Ehemann so richtig wohlfühlt.« Mit ernster Miene zieht Alice eine Figur und sagt: »Schachmatt.« George studiert die Stellung genau und sagt: »Ich glaube, wir zwei sollten uns nicht mehr treffen.«4
Von The Big Bang Theory und Frasier bis hin zu Cheers und Die Simpsons tauchen Schachszenen in vielen beliebten Serien auf – in Staffel 28 von Die Simpsons hat sogar kein Geringerer als Magnus Carlsen einen Gastauftritt. Heutzutage ist es fast unmöglich, eine Fernsehserie zu sehen, ohne irgendwann einmal auf Schach zu stoßen. Das passiert so häufig, dass wir in meinem Haushalt die Angewohnheit entwickelt haben, »Kein Entkommen!« zu sagen, wenn wir auf der Couch sitzen und eine Erwähnung von Schach entdecken.
Mein Freund und Chess.com-Kollege Mike Klein hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: »Im Jahr 2008 wollte ich für die amerikanische Zeitschrift Chess Life was über Schachreferenzen in der Popkultur schreiben – Filme, Lieder, Werbung und dergleichen. Aber ich merkte bald, dass es für etwas in Magazinlänge viel zu viele waren. Also wechselte ich den Kurs. Ich beschloss, ein Jahr lang alle Schachreferenzen in der Popkultur aufzuzeichnen, die ich zufällig entdeckte. Wenn ich fernsah und in einem Werbespot ein Schachbrett vorkam, holte ich Papier und Stift hervor und schrieb es auf. Nach etwa vier Wochen habe ich aufgegeben. Selbst wenn ich nicht nach dem Spiel suchte, überschwemmten mich die vielen Erwähnungen.«
Eine extrem binge-watch-taugliche Netflix-Serie aus dem Jahr 2020 war anders, denn Schach spielte in jeder Folge eine wichtige Rolle. Sie behandelte das Spiel der Könige auf wunderbare Weise und bewirkte einen unglaublichen Anstieg der Popularität von Schach, diesmal auch bei Mädchen und Frauen. Sie wissen wahrscheinlich schon, wovon ich spreche.
Die Netflix-Miniserie Das Damengambit wurde am 23. Oktober 2020 erstmals ausgestrahlt. Es war natürlich hilfreich, dass sie mitten in der Covid-19-Pandemie anlief. Nur vier Wochen später hatten 62 Millionen Haushalte die Serie gesehen, die in 92 Ländern die Top Ten erreichte und in 63 Ländern auf Platz eins stand. Es dauerte weniger als einen Monat, bis Das Damengambit die meistgesehene Serie auf Netflix wurde. Der Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983, auf dem die Serie basiert, stand 37 Jahre nach seiner Veröffentlichung auf der Bestsellerliste der New York Times. Die Google-Suche »How to play chess« erreichte einen Neunjahreshöchststand. Die Verkaufszahlen von Schachbrettern und -figuren stiegen um mehr als 1000 Prozent, und die Mitgliedschaften bei Chess.com gingen durch die Decke. Die Serie löste einen unglaublichen Schachboom aus. In diesem Sinne war Das Damengambit der einflussreichste Auftritt des Schachs in der Popkultur überhaupt, was die Attraktivität dieses Sports betrifft.
Die Miniserie, benannt nach einer beliebten Schacheröffnung, folgt dem Leben von Beth Harmon (als Kind gespielt von Isla Johnston und als Erwachsene von Anya Taylor-Joy), die in jungen Jahren ein außerordentliches Talent für Schach entdeckt. Sie wächst im Waisenhaus auf, wo sie eine Abhängigkeit von Beruhigungsmitteln entwickelt und ihre Schachfähigkeiten durch hingebungsvolles Training verfeinert. Als Erwachsene tritt Beth dann in die wettbewerbsorientierte Welt des Schachs ein und muss sich Herausforderungen und Triumphen stellen, während sie mit ihren persönlichen Dämonen kämpft. Das ist alles sehr faszinierend, aber warum ein derart überwältigender Erfolg?
Vielleicht geht es in der Serie gar nicht so sehr um Schach. Als ich den Drehbuchautor Scott Frank im Oktober 2020 für Chess.com interviewte, sagte er mir: »Es geht um ein Kind, das beim Aufwachsen von seinem großen Talent gestört wird. Es ist sehr schwierig, ein normales Leben zu führen, wenn man so eine außergewöhnliche Begabung hat, also handelt diese Geschichte viel mehr von ihren Dämonen als von ihrer Schachbesessenheit. Eigentlich muss man nichts über Schach wissen.«
Frank, der zufällig Mitglied bei Chess.com ist und regelmäßig auf der Seite spielt, sorgte dafür, dass die Figur der Beth Harmon keine weitere problembeladene Seele nach Schema F ist. Er wurde von einem berühmten Schachspieler unterstützt. »Garri Kasparow und ich führten viele Gespräche darüber, und ich wollte nicht allein darauf herumreiten. Es geht vor allem um Genialität im Allgemeinen und darum, wie belastend sie sein kann. Das Besondere an Beth Harmon ist, dass sie sowohl die Protagonistin als auch die Antagonistin ihrer eigenen Geschichte ist.«
Tim Rice, der Mann hinter Musicals wie Jesus Christ Superstar und Evita sowie den Disney-Produktionen Aladdin und Der König der Löwen, sagte mir in einem Videocall im Mai 2023 über die Serie: »Sie hat deutlich gemacht, dass Menschen, die Schach spielen, nicht alle Spinner oder Automaten sind, sondern ganz normale Menschen wie du und ich.«
Ich persönlich finde Das Damengambit großartig, weil alle wichtigen Einzelaspekte großartig sind. Die Geschichte ist fesselnd: Sie kombiniert eine charakterorientierte Erzählung mit Schachpartien, bei denen viel auf dem Spiel steht und die ein Gefühl von Spannung und Intrigen erzeugen.5 Die Hauptfigur ist nicht nur eine erfrischende Wahl als weiblicher Star in einem von Männern dominierten Teilbereich, sondern auch eine komplexe und sympathische Protagonistin, die von Taylor-Joy wunderbar gespielt wird. Darüber hinaus trugen die hervorragende filmische Darstellung der tatsächlichen Schachpartien, das detailgetreue Setting der Serie in den 1960er-Jahren und die schönen Kostüme (einschließlich der vielen schachbezogenen Kleidungsstücke, die die Hauptfigur trägt) zum visuellen Reiz bei. Teile der Handlung, die in Mexico City, Paris oder Moskau spielen, wurden in Berlin gefilmt, und eine deutsche Großmeisterin, Filiz Osmanodja, führte als Hand-Double die Züge aus.
Das Damengambit gewann zahlreiche Preise, darunter einen Golden Globe für Beste Miniserie und einen Golden Globe für Taylor-Joy, die sich 2021 gegen Cate Blanchett und Nicole Kidman durchsetzte. Taylor-Joy hat sich sogar selbst dem Schachboom angeschlossen. Als sie nach dem Gewinn ihres Golden Globe gefragt wurde, ob sie für den Rest ihres Lebens genug Schach gespielt habe, antwortete sie: »Oh Gott, das könnte ich nie sagen. Ich liebe Schach! Ich musste mir für die Filme, die ich gemacht habe, neue Fähigkeiten aneignen, also freue ich mich auf eine Auszeit, in der ich mich wieder dem Schach widmen kann.«
Alfons X., Papst Leo XIII., Iwan der Schreckliche, König Edward I., Benjamin Franklin, Thomas Jefferson, Napoleon, Karl Marx, Wladimir Lenin, Ernesto »Che« Guevara, Fidel Castro, Jimmy Carter – sie alle spielten gerne Schach. Ja, ich springe in die Welt der Politik und damit einen Bereich, in dem die Allgegenwart des Schachs extrem spürbar ist.
Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, war auch einer der ersten Politiker, die über Schach schrieben. In seinem kurzen Aufsatz aus dem Jahr 1786 mit dem Titel »Die Sittlichkeit des Schachspiels« stellte er fest, dass Schach mehr als nur ein müßiger Zeitvertreib sei: »Mehrere sehr wertvolle Eigenschaften des Geistes, die im Laufe des menschlichen Lebens nützlich sind, sollen durch das Schachspiel erworben oder gestärkt werden, sodass sie zu Gewohnheiten werden, die bei jeder Gelegenheit einsatzbereit sind.«
In einem Fall nutzte Franklin das Schachspiel als Vorwand für seine politischen Machenschaften. Im Dezember 1774, in der Zeit der Rebellion der Kolonialisten, die bald die amerikanische Revolution auslösen sollte, traf er sich mehrmals mit Caroline Howe, der Schwester von Admiral Richard Howe und General William Howe. Die beiden Brüder wurden während des amerikanischen Revolutionskriegs Befehlshaber der britischen See- und Landstreitkräfte, aber zu dieser Zeit sympathisierten beide noch ein bisschen mit der amerikanischen Sache. Franklin spielte mit Mrs Howe Schach, hatte dabei aber auch Gelegenheit, sich mit ihrem Bruder Richard zu treffen und einen möglichen Ausgleich zwischen dem Kontinentalkongress und den dreizehn Kolonien zu erörtern.
Franklin war ein Schachfanatiker, aber der größte Liebhaber des Spiels, den es unter den Politikern gab, war Che Guevara. Als kleiner Junge nahm ihn sein Vater 1939 mit zur Schacholympiade in Buenos Aires, wo Che den großen Capablanca sah, begann, sich für Kuba zu interessieren, und vom Schachfieber erfasst wurde. Später nannte er das Schachspiel »mi segunda novia« (meine zweite Freundin). Che und Fidel Castro spielten Schach, um sich die Zeit zu vertreiben, während sie in Mexiko inhaftiert waren, und nach der Revolution begann Che in seiner Funktion als Industrieminister, das Schachspiel zu fördern. Er sorgte dafür, dass Kuba bei der Schacholympiade 1960 in Leipzig vertreten war, und rief ein örtliches Mannschaftsturnier ins Leben.
Guevaras bedeutendstes Vermächtnis für das Schachspiel war die Gründung des jährlichen Capablanca-Gedächtnisturniers in Havanna, das noch heute stattfindet. In den ersten Jahren nahmen viele starke sowjetische und europäische Großmeister daran teil, da das Preisgeld höher war als bei den meisten anderen Turnieren. Hier war vermutlich hilfreich, dass Che sowohl Industrieminister als auch Direktor der Nationalbank war. Beim Eröffnungsturnier 1962 im Hotel Habana Libre waren er und Castro täglich zu Gast, und beide nahmen an Simultanpartien gegen Großmeister aus dem Ausland teil. Bei dieser alten Tradition spielt ein starker Spieler gegen mehrere Amateurspieler gleichzeitig. Während der Experte um die Bretter herumgeht, macht der Gegner seinen jeweiligen Zug, wenn der Experte an seinem Brett ankommt.
Che hatte einen nachhaltigen Einfluss auf das Schachspiel in Kuba. Jahrzehntelang war es das stärkste lateinamerikanische Land im Schach, erst kürzlich sind Brasilien und Peru zu ernsthaften Konkurrenten geworden. Als ich Kuba im Februar 2016 besuchte, war die Liebe zum Schach noch immer erkennbar. Ich war überrascht, einen der führenden Schachklubs, die Academia de Ajedrez, mitten in Santiago de Cuba vorzufinden, in einem Gebäude direkt neben der Kathedrale und dem Parque Céspedes. Und natürlich habe ich gegen einige der vielen Straßenspieler gespielt und mich dabei einer starken Konkurrenz gestellt. Wie man schon lange zu sagen pflegt, ist in Russland jeder Taxifahrer ein guter Schachspieler. In Kuba gilt das vermutlich für jeden Fahrer eines Oldtimers.
Einer der Teilnehmer am Capablanca-Gedächtnisturnier 1965 war der 22-jährige Bobby Fischer. Der spätere Weltmeister spielte jedoch, ohne tatsächlich vor Ort zu sein. Wegen der angespannten diplomatischen Beziehungen zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten durfte Fischer nicht dorthin reisen, aber die Organisatoren fanden eine Lösung: Er spielte vom Marshall Chess Club in New York aus, wobei seine Züge per Telex nach Havanna übermittelt wurden. Sowohl Fischer als auch seine Gegner in Kuba saßen einem leeren Stuhl gegenüber und empfingen die Gegenzüge von den Schiedsrichtern. Als Castro die bemerkenswerte Konstruktion angeblich als »Propagandasieg für Kuba« bezeichnete, schickte Fischer ein Telegramm, in dem er den kubanischen Staatschef aufforderte, ihn nicht länger für politische Zwecke zu missbrauchen. In seiner Antwort leugnete Castro, diese Äußerung je getätigt zu haben, und stellte Fischers Mut infrage, woraufhin dieser beschloss, weitere Störungen zu vermeiden und einfach das Turnier zu spielen.
Nachdem sich Fischer für die Schach-WM 1972 qualifiziert hatte, schrieb Präsident Nixon ihm in einem Brief, das Land stehe geschlossen hinter ihm. Doch das Match gegen den amtierenden Weltmeister Boris Spasski, der die Sowjetunion vertrat, hätte fast nicht stattgefunden. Ein starrköpfiger Fischer akzeptierte weder die ursprünglichen Bedingungen noch den Austragungsort (Reykjavík in Island) und beschwerte sich auch anderweitig, vor allem über die finanziellen Vereinbarungen. Bei der Eröffnungsfeier am Samstag, dem 1. Juli, gab es in der ersten Reihe einen leeren Platz, da Fischer noch nicht in Reykjavík eingetroffen war. Zwei Dinge bewegten Fischer dazu, doch noch zu spielen. Erstens spendete James Slater, ein erfolgreicher britischer Investmentbanker und Schachliebhaber, 125 000 Dollar und verdoppelte dadurch das Preisgeld auf 250 000 Dollar. Zweitens erhielt Fischer einen mittlerweile legendären Telefonanruf.
Als er am Montag, dem 3. Juli, den Hörer abnahm, war kein Geringerer als Henry Kissinger am Apparat, Nixons Sicherheitsberater und künftiger US-Außenminister. Kissinger soll das Gespräch angeblich mit dem Satz begonnen haben: »Dies ist der schlechteste Schachspieler der Welt, der den besten Schachspieler der Welt anruft.« Er wies darauf hin, dass die Begegnung für das Prestige der Vereinigten Staaten extrem wichtig sei und Fischer deshalb unbedingt spielen solle. An diesem Abend bestieg Fischer schließlich ein Flugzeug nach Reykjavík.
In seinem 2012 erschienenen Buch China. Zwischen Tradition und Herausforderung kehrte Kissinger zum Schachspiel zurück, als er die Unterschiede zwischen westlichen und chinesischen politischen Strategien mit den Brettspielen Schach und Go (in China auch Weiqi genannt) verglich. Go wurde vor etwa 2500 Jahren in China erfunden und ist nicht nur älter als Schach, sondern auch viel komplexer. Die Spieler haben jeweils 180 Steine, die sie abwechselnd auf einen der 361 Schnittpunkte der Spielfeldlinien (eines Gitters aus 19 × 19 Feldern) setzen. Die so platzierten Steine bewegen sich nicht mehr, können aber geschlagen werden, wenn sie von gegnerischen Steinen umgeben sind. Kissinger schrieb: »Wenn es im Schach um die Entscheidungsschlacht geht, dann geht es im Weiqi um einen langen Feldzug. Der Schachspieler strebt den totalen Sieg an. Dem Weiqi-Spieler geht es um den relativen Gewinn. Im Schach haben beide Spieler immer die gleichen Voraussetzungen; alle Figuren sind von Anfang an im Spiel. Der Weiqi-Spieler dagegen muss nicht nur die Steine auf dem Brett beachten, sondern auch berücksichtigen, welche Verstärkungen sein Gegner noch ins Feld führen kann.«6
Der Austragungsort des Duells zwischen Fischer und Spasski lag bemerkenswerterweise genau zwischen den USA und der Sowjetunion. Das Match fand auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges statt und konnte leicht als symbolischer Kampf zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten gesehen werden. Schlachteten die Medien diesen Umstand damals gnadenlos aus, sollten wir das alles im Nachhinein doch eher mit Vorsicht genießen. Spasski war im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen kein überzeugter sowjetischer Patriot, während Fischers sprunghaftes und manchmal schlicht unangenehmes Verhalten ihn auch nicht gerade zum perfekten Repräsentanten seines Landes machte. Abgesehen davon waren auf höchster diplomatischer Ebene weder die USA noch die UdSSR auf eine militärische Auseinandersetzung erpicht – das Match war also für beide eine bessere, weil friedlichere Möglichkeit, den Streit auszutragen, so wie das bereits der weise Qaflān im alten Indien vorgeschlagen hatte.
Über die Politik sind einige Begriffe der Schachterminologie in unsere Sprache gelangt. Zu den gebräuchlichsten gehören: einen Feind »in Schach halten«; eine unbedeutende Person oder Sache, die als bloßer »Bauer« in einem größeren Spiel beschrieben wird; und eine politische »Pattsituation«. Aber es gibt noch mehr.
Dan Pfeiffer, ein ehemaliger Berater von Präsident Barack Obama, sagte vor der ersten Debatte der republikanischen Präsidentschaftskandidaten 2016: »Die besten Politiker spielen Schach, aber die meisten Kandidaten spielen Dame. Ein Schachspieler weiß, dass man für den Sieg bereit sein muss, eine oder zwei Figuren aufzugeben … aber wenn Jeb Bush den ›Trumpnado‹ überleben und der Kandidat werden will, der er sein muss, sollte er ein wenig Schach spielen, Iowa verlassen und so schnell wie möglich nach New Hampshire fahren.«
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, aber mir gefällt besonders der folgende Satz der Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aus Myanmar, kurz nachdem ihre Partei Nationale Liga für Demokratie die Wahlen 2015 gewonnen hatte: »Wenn man den demokratischen Prozess als ein Schachspiel betrachtet, muss man viele, viele Züge machen, bevor man ein Matt erreicht. Und nur weil man das in drei Zügen nicht geschafft hat, heißt das noch lange nicht, dass es eine Pattsituation ist. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Nicht-Schachmatt und einem Patt. Genau das ist der demokratische Prozess.«
Ein Politiker, der nicht in einem Satz mit Schach genannt werden sollte – zumindest, was Garri Kasparow betrifft –, ist Wladimir Putin. Kasparow, als Schachspieler seit 2005 im Ruhestand, ist ein erbitterter Gegner des russischen Staatschefs. In einem Interview mit dem Spiegel erklärte er 2015: »Putin ist ja eher ein Pokerspieler. Beim Pokern kann man, anders als im Schach, eine schwache eigene Hand sehr gut durch Bluffen kompensieren. Im Schach gibt es feste Regeln, und keiner weiß, wie das Spiel ausgeht. In Putins Reich ist es derzeit gerade andersherum.«7
Die russische Politik ist seit Langem eng mit dem Schachspiel verwoben. Es sei darauf hingewiesen, dass Schach im Kaiserreich Russland (das Teile des heutigen Polens und der baltischen Länder umfasste), aus dem große Namen wie Michail Tschigorin, Alexander Aljechin, Aaron Nimzowitsch und Akiba Rubinstein stammten, bereits recht beliebt war. Nach der Revolution von 1917 entwickelte sich das Spiel zu einem Propagandamittel für die Bolschewiki, deren Führer Wladimir Lenin, Leo Trotzki und Nikolai Krylenko allesamt Schachspieler waren. In den Jahren 1935 und 1936 wurden in Moskau luxuriöse Turniere veranstaltet, um der Welt zu zeigen, dass in der Sowjetunion Großmeister wie Könige behandelt wurden. Als die UdSSR 1945 in einem Rundfunkmatch die USA mit großem Vorsprung schlug, gratulierte Stalin seiner Mannschaft. Der sowjetische Staat förderte die Schachausbildung nachdrücklich, um die besten Spieler der Welt hervorzubringen und damit die Intelligenz und das hohe Niveau des sowjetischen Volkes zu demonstrieren.
Zwischen 1995 und 2018 wurde der Internationale Schachverband (FIDE) von dem exzentrischen russischen Oligarchen Kirsan Iljumschinow geleitet, der von 1993 bis 2010 auch Präsident der Republik Kalmückien in der Russischen Föderation war. Die Schachwelt kennt ihn vor allem wegen seiner freundschaftlichen Beziehungen zu fragwürdigen Staatschefs wie Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi und Bashar al-Assad, seiner Behauptung, von Außerirdischen entführt worden zu sein, und der angeblichen Verwicklung seiner Regierung in die Ermordung einer Journalistin im Jahr 1998, obwohl es keine Beweise für seine Beteiligung gab.
Arkadi Dworkowitsch, ein ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und ehemaliger Assistent des Präsidenten der Russischen Föderation, wurde 2018 Iljumschinows Nachfolger. Vor allem in den Augen der westlichen Schachverbände wurde Dworkowitschs Präsidentschaft problematisch, als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte. Dennoch wurde er im August 2022 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Im Dezember 2023 stimmte die FIDE für die Abschaffung der Begrenzung auf zwei Amtszeiten für ihre Präsidentschaft, eine »Good Governance«-Maßnahme, die Dworkowitsch selbst eingeführt hatte, nachdem er sie während seiner Kampagne 2018 angekündigt hatte. Nach dieser bemerkenswerten 180-Grad-Wende ist nicht zu erwarten, dass der starke Einfluss Russlands (des Kremls?) auf die Schachwelt bald enden wird.
In einem Puma-Werbevideo aus dem Dezember 2023 sprechen Magnus Carlsen und der Fußballtrainer Pep Guardiola über die Ähnlichkeiten zwischen Schach und Fußball. Carlsen vertritt die Ansicht, die Spiele seien vergleichbar: »Ich denke, sowohl beim Schach als auch beim Fußball ist es wichtig, die Mitte zu kontrollieren, das ist die eine Sache. Wenn man die Mitte kontrolliert, kontrolliert man das Spielfeld oder das Brett. Eine andere Sache ist, dass man beim Schach oft auf einer Seite angreift, den Gegner zur Überlastung zwingt und dann umschaltet, um auf der anderen Seite einen Raumvorteil zu haben. Das ist bemerkenswert ähnlich.«
Guardiola teilt das Interesse am Schach mit seinen Trainerkollegen Quique Setién und Felix Magath sowie mit ehemaligen und derzeit aktiven Spielern wie Harry Kane, Dani Olmo, Christian Pulisic und Mo Salah. Zu den Schachfans aus anderen Sportarten gehören Steve Davis (Snooker), Boris Becker, Daniil Medwedew, Andrei Rubljow, Carlos Alcaraz (Tennis), Jaylen Brown, Kareem Abdul-Jabbar, Klay Thompson (Basketball), Charles Leclerc, Carlos Sainz, Mick Schumacher (Formel 1), John Urschel, Chidobe Awuzie (American Football) und Ravichandran Ashwin (Kricket). Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Sportart mit der wahrscheinlich größten Anzahl von Schachbegeisterten dem Schach am meisten ähnelt: Boxen.