Schärenglück - Inga Lindström - E-Book
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Schärenglück E-Book

Inga Lindström

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Beschreibung

Drei romantische Liebesgeschichten aus dem Land der Sehnsucht

Dort, wo die Sonne im Sommer nicht ganz untergeht, liegt Schweden. Einzigartige Natur, spektakuläre Landschaften und liebenswerte Menschen machen das Land im hohen Norden zu einem Land der Sehnsucht. Hier spielen die drei wunderschönen Liebesgeschichten von Inga Lindström - allesamt verfilmt vom ZDF und lang erwartet von der großen Fangemeinde.

Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:

- Im Sommerhaus

- Sprung ins Glück

- Der Weg zu dir

Mit vielen schwedischen Rezepten zum Nachkochen.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

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EPUB

Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Im Sommerhaus

Sprung ins Glück

Der Weg zu dir

Rezepte

Über das Buch

Dort, wo die Sonne im Sommer nicht ganz untergeht, liegt Schweden. Einzigartige Natur, spektakuläre Landschaften und liebenswerte Menschen machen das Land im hohen Norden zu einem Land der Sehnsucht. Hier spielen die drei wunderschönen Liebesgeschichten von Inga Lindström – allesamt verfilmt vom ZDF und lang erwartet von der großen Fangemeinde.

Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:

– Im Sommerhaus– Sprung ins Glück– Der Weg zu dir

Mit vielen schwedischen Rezepten zum Nachkochen.

Über die Autorin

Inga Lindström ist das Pseudonym einer erfolgreichen Drehbuchautorin. Sie ist verheiratet mit einem Bildhauer und Mutter einer Tochter. Sie pendelt zwischen Großstadt und Land. Nachdem sie Jura und Anglistik studiert und einige Jahre als Journalistin gearbeitet hatte, wandte sie sich dem Theater zu. Sie arbeitete bald auch als Dramaturgin für verschiedene Fernsehproduktionsgesellschaften. Und fing schließlich an, selbst Drehbücher zu schreiben.

Inga Lindström

SCHÄREN-GLÜCK

Liebesgeschichtenaus Schweden

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2010/2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTitelillustration: shutterstock/Conny Sjostrom

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Bildagentur Zoonar GmbH

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-4648-0

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

IM SOMMERHAUS

Christina war stolz. Am liebsten wäre sie wie ein kleines Mädchen laut jubelnd über die Djurgardsbron gehüpft, auch wenn das nicht so ganz zu ihrer Aufmachung passte. Das lindgrüne Kostüm wirkte elegant. Die blonden Haare hatte sie zum Knoten aufgesteckt. Sie konnte es kaum erwarten, ihrem Vater und Torsten die erfreuliche Nachricht zu überbringen, obwohl die beiden wahrscheinlich mit keinem anderen Ergebnis rechneten.

Was wäre eigentlich, wenn sie jetzt ihr Scheitern erklären müsste? Wenn sie die Erwartungen nicht erfüllte, die an sie gestellt wurden?

Christina verwarf diese Überlegungen schnell. Der Tag war viel zu schön, um ihn sich mit solchen Hirngespinsten zu verderben. Ein winziger Stachel aber blieb, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.

Inzwischen hatte Christina das Ende der Brücke erreicht und bog in den Strandvägen ein. Die Prachtstraße Stockholms mit den herrlichen Gründerzeithäusern und den mondänen Geschäften. Die teuerste Adresse Stockholms. Am Nybroplan, einem kleinen Fährhafen, stieg sie in ein Taxiboot. Entspannt lehnte sie sich gegen die Reling, als das Boot ablegte. Der Wind spielte in ihrem Haar.

Christina liebte Stockholm und fand ihre Stadt aus jeder Perspektive schön. Ganz besonders bezauberte sie aber immer wieder das Panorama vom Wasser aus. Die grandiosen Fassaden aus einer vergangenen Epoche, die Brücken, die sich in weitem Bogen über das Wasser spannten und die Stadtteile miteinander verbanden. An den Ufern rechts und links schaukelten Segelboote neben den großen Ausflugsdampfern und eleganten Jachten auf dem Wasser.

Sonnenstrahlen tanzten auf der Wasseroberfläche. Es war ein Bild, das Christina immer wieder mit ihrer Jugend und Kindheit verband. Heiße Sommer, glitzerndes Wasser …

Für Christinas Geschmack war die Fahrt viel zu schnell vorbei. Das Restaurant besaß eine eigene Anlegestelle unterhalb der Terrasse, auf der Gäste essen und dabei über das Wasser schauen konnten. Henner Lund und Torsten Rosmark aber hatten sich einen Platz im Innern gesucht. Torsten hielt sich nur selten im Freien auf, für ihn wurden selbst die Sommer in der Stadt bisweilen zur Qual.

Beide Männer standen auf, als Christina zu ihnen an den Tisch trat und grüßte. »Hej.«

Henner Lund begrüßte seine Tochter mit einem liebevollen Kuss.

»Ihr könnt euch gratulieren«, sagte Christina stolz. »Vor euch steht eure neue Partnerin, die als Zweitbeste das Examen abgeschlossen hat!«

»Herzlichen Glückwunsch, mein Kind, und willkommen in unserer Kanzlei. Wir wussten, dass wir mit dir einen guten Fang machen. Nicht wahr, Torsten?«

Torsten zauberte einen riesigen Blumenstrauß hinter seinem Rücken hervor. »Tja, das wusste ich schon lange. Du bist großartig, Christina.« Zärtlich küsste er sie auf den Mund.

Christina bedankte sich. »Ohne euch hätte ich das alles nicht geschafft. Ich kann es kaum erwarten, mit der Arbeit anzufangen.« Sie setzte sich. Torsten nahm neben ihr Platz. Auch Henner Lund setzte sich wieder hin. Bedauernd schaute er seine Tochter an.

»Wir können es auch nicht erwarten. Allerdings hat es eine kleine Panne gegeben. Die Möbel für dein Büro sind noch nicht da und das Telefon ist auch noch nicht angeschlossen.«

Christina zuckte mit den Schultern. »Das ist doch kein Problem. Ich ziehe solange zu Torsten ins Büro.«

Henner war damit nicht einverstanden. »Ehrlich gesagt habe ich gedacht, du könntest mir einen kleinen Gefallen tun. Du weißt doch, dass ich das Sommerhaus auflösen will.«

Das Sommerhaus! Sofort waren da die Erinnerungen an heiße Sommertage am See, die dichten Wälder am Ufer. Im Nachhinein kam es ihr so vor, als würde sich das ganze Glück ihrer Kindheit allein auf diese Sommerwochen konzentrieren. Aber so war es nicht. Ihre Kindheit war insgesamt sehr glücklich gewesen, aber die Sommerwochen am See hatte sie immer besonders intensiv empfunden, weil ihre Mutter ihr in diesen Zeiten besonders nahe gewesen war.

Henner Lund unterbrach ihre gedankliche Reise in die Vergangenheit. »Ich muss zu einem Klienten nach Malmö. Seine Frau macht Schwierigkeiten. Kurz und gut, ich wollte dich bitten, das Haus aufzulösen. Es ist nicht viel zu tun. Nur die persönlichen Dinge einpacken und eine Inventarliste anfertigen. Ich habe dem Makler gesagt, dass er ab nächste Woche Interessenten durch das Haus führen kann. Also …«

»Also«, fiel Christina ihrem Vater mit gespielt ernster Miene ins Wort. »Eigentlich wollte ich ja meine eigene Wohnung ausmisten und alles wegwerfen, was mich an das Studium erinnert. Aber …« Christina machte eine kurze Pause, ihr Gesicht verzog sich plötzlich zu einem Lächeln. »Aber wenn du mich so lieb bittest, Papa, mache ich das natürlich.« Christina wurde nachdenklich. »Ich verstehe gar nicht, warum wir das Haus nicht schon längst verkauft haben. Seit Mamas Tod waren wir doch gar nicht mehr da.«

Eigentlich musste Henner darauf nicht antworten. Christina kannte den Grund und sie ahnte, dass es ihrem Vater nicht nur um den Klienten in Malmö ging. Ebenso wie sie selbst hatte er das Sommerhaus seit dem Tod der Mutter nicht mehr betreten. Sie hatte selbst ein wenig Angst vor den Gespenstern der Vergangenheit, denen sie in Stockholm erfolgreich entkommen konnte. In Sandviken würde das unmöglich sein. Aber sie war ja nicht allein. »Du kommst doch mit?« Bittend schaute sie Torsten an.

»Ich habe jede Menge zu tun«, lehnte Torsten sofort ab. Auch wenn Christina sich nichts anmerken ließ, schien er ihre Enttäuschung doch zu spüren. »Außerdem, mein Heuschnupfen«, fügte er entschuldigend hinzu. »Du weißt schon.«

»Du Ärmster«, bedauerte Christina ihn pflichtschuldigst. »Na gut, dann fahre ich eben allein.«

Henner wirkte erleichtert, weil seine Tochter ihm diese schwere Aufgabe abnahm. »Auf jeden Fall ist jetzt ein guter Zeitpunkt. Das Sommerhaus stoßen wir ab und ihr zieht in ein Haus in der Stadt.«

Es schien alles so einfach, und doch wussten sie beide, dass es ein schwerer Schnitt war. Es waren nicht nur ein paar persönliche Gegenstände, die Christina aussortieren sollte. Es waren Zeugen einer glücklichen Vergangenheit, die vor fünf Jahren ein jähes Ende gefunden hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen. Ihr Vater hatte sich noch tiefer in seine Arbeit gestürzt, Christina hatte ihre ganze Energie in ihr Studium gesteckt. Sie hatte keine Ahnung, was es für sie bedeuten würde, in das Sommerhaus zurückzukehren. Ihrem Vater gegenüber ließ sie sich nicht anmerken, was in ihr vorging. »Perfekt«, stimmte sie seinen Worten zu.

Wenn ihn einmal eine Melodie erfüllte, musste er sie immer wieder spielen, bis sie sich ganz von selbst weiterentwickelte. Er fühlte die Musik in sich, jede Note, jeden Akkord. Wenn er spielte, vergaß er alles. Er bemerkte nicht einmal, dass Rita in den Raum gekommen war.

Patrick Bergdahl hatte eine Atelierwohnung am Monteliusvägen gemietet. Der Ausblick über das Wasser, die Stadthalle und die Altstadt war von jedem Raum aus überwältigend. Damit ihn diese traumhafte Aussicht nicht ablenkte, schloss Patrick jedes Mal die Jalousien, bevor er sich an seinen schwarzen Flügel setzte.

Der Flügel, ein echter Bechstein, war Mittelpunkt des großen, sonst eher spartanisch eingerichteten Raumes. Eine Musikanlage und daneben ein CD-Rack, in dem sich nicht nur seine eigenen Aufnahmen befanden, sondern auch die anderer Pianisten. Ein Stück vom Flügel entfernt stand eine Liege, die eher avantgardistisch als bequem aussah. Schwarz-Weiß-Fotos und Bilder hingen an der weiß gestrichenen Wand. Die Stehlampe neben dem Flügel war eingeschaltet, obwohl draußen die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel schien. Sie tauchte den Raum in ein sanftes Dämmerlicht.

Rita kam näher, berührte ihn sanft an der Schulter. »Hej, Patrick.«

Patrick sah auf, ließ sich in seinem Spiel aber nicht stören. »Hej, Rita.« Seine Finger glitten über die Tasten. Was so leicht und mühelos aussah, war das Ergebnis täglicher, harter Arbeit. Rita wusste das. Umso mehr bewunderte sie den Mann, den sie schon seit Beginn seiner jungen Karriere managte.

»Wunderbar.« Es war ihr anzusehen, dass sie es bedauerte, sein Spiel zu unterbrechen. »Wir müssen gleich los, wenn wir den Flieger nicht verpassen wollen.«

Schon seit Wochen war der Flug nach Rom gebucht. Von dort aus wollte Patrick seine Europatournee planen. Rita hatte ein kompetentes Team zusammengestellt, allen voran Salvatore Coletti. Rita war stolz, die nächste Tour gemeinsam mit ihm organisieren zu können. Vor dem Booking, der logistischen und technischen Konzeption bis hin zur Promotion, lag aber erst einmal die Planung und dafür war dieses Mal auch Patricks Anwesenheit erforderlich. Zeitgleich mit dem Tourneebeginn erschien eine neue CD. Die Werbetrailer sollten in Rom gedreht werden, weil Patrick seine Europatournee hier begann. Salvatore Coletti hatte ein paar eigenwillige Pläne dazu entwickelt. Er wollte einen weißen Flügel am Fuß der Spanischen Treppe aufstellen lassen, gleich neben dem Brunnen von Bernini. Für einen weiteren Trailer war als Hintergrund das Kolosseum vorgesehen.

Rita war begeistert von dieser Idee. Patrick im weißen Anzug an einem weißen Flügel. Patrick selbst hasste solche Termine. Ihm ging es ausschließlich um die Musik. Alles, was drum herum passierte, interessierte ihn nicht. Frech grinste er Rita an. »Habe ich vergessen, dir zu sagen, dass ich heute nicht fliegen kann?« Er hatte es nicht vergessen. Die Änderung seiner Pläne hatte sich erst kurz vor Ritas Ankunft ergeben.

»Wie bitte? Was soll das heißen?« Rita starrte ihn entsetzt an.

»Mein Bruder hat mich angerufen. Er besteht darauf, dass ich zu seinem Geburtstag komme.« Es war Carls größter Wunsch gewesen. Kein Geschenk, nichts anderes, als endlich einmal seinen Bruder wiederzusehen, und so hatte Patrick ihm schließlich versprochen, dass er seine Abreise nach Rom verschieben würde.

Rita verschlug es nur selten die Sprache, aber diesmal hatte Patrick es geschafft. »Schau mich nicht so an«, bat er mit dem Anflug eines schlechten Gewissens. »Die Werbeaufnahmen beginnen doch erst in einer Woche.«

»Eben«, erwiderte Rita trocken.

Patrick blieb unerbittlich. »Buch mich übermorgen auf einen Flieger. Jetzt fahre ich erst einmal nach Sandviken. Ich muss dahin, das verstehst du doch.«

Rita verstand ihn überhaupt nicht, das war ihr deutlich anzusehen. Gleichzeitig lag aber auch Resignation in ihrem Blick. Sie hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass Patrick sich niemals zu etwas überreden ließ, was er partout nicht wollte. Seufzend wandte sie sich um.

»Bis übermorgen«, rief Patrick ihr nach.

Rita hob nur die Hand zu einem knappen Winken. Patrick wusste, dass sie sauer war. Aber er wusste auch, dass solche Stimmungen bei ihr nie lange anhielten. Er selbst war froh, dass er Rom noch zwei Tage hinausschieben konnte. Gleichzeitig freute er sich auf das Wiedersehen mit seinem Bruder und seiner Nichte Ella.

Es war ein großes Anwesen, das Carl und Patrick Bergdahl von ihren Eltern geerbt hatten. Die ungeteerte Straße führte direkt zum Haupthaus inmitten einer grünen Rasenfläche. Mit seinem roten Anstrich und den weißen Fensterrahmen schien es im Laufe der Jahre verwachsen mit der Landschaft. Flirrend fiel das Sonnenlicht durch das Laub der Birken und zauberte ein einzigartiges Bild von Licht und Schatten. Das Plätschern des Wassers vermischte sich mit dem Vogelgezwitscher. Direkt am See lag das Bootshaus. Mit einer hölzernen Veranda, die über dem See zu schweben schien. Eine Treppe führte geradewegs ins Wasser.

In unmittelbarer Nähe gab es nur einen Nachbarn. Das Sommerhaus der Lunds lag wenige Meter vom Anwesen der Bergdahls entfernt auf einer Anhöhe, war aber seit fünf Jahren nicht mehr bewohnt. Auch in der Zeit davor hatten sich die Besitzer nur in den Sommermonaten dort aufgehalten. Carl kannte sie nicht besonders gut. Er hatte sie mit Kaminholz und frischem Gemüse beliefert, was mehr eine nachbarschaftliche Hilfeleistung denn eine wirkliche Einnahmequelle gewesen war.

Carl konnte nicht verstehen, dass die Leute ein so schönes Haus leer stehen ließen. Er selbst liebte dieses Fleckchen Erde und konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Er hatte selbst während des Studiums in Stockholm gelebt und sich dort nicht unwohl gefühlt. Für ihn hatte aber da schon immer festgestanden, dass er nach Hause zurückkehren würde.

Carl hatte seinen Bruder und dessen Ansichten nie verstehen können. Sandviken enge ihn ein, hatte Patrick behauptet, und es raube ihm die Luft zum Atmen. Nur ungern hatte Carl seinen Bruder damals ziehen lassen, ihm aber widerspruchslos seinen Anteil am Erbe ausbezahlt.

Heute war er stolz auf die Erfolge Patricks. Wenigstens bei einem von ihnen hatte sich die musikalische Begabung der Mutter durchgesetzt. Er selbst kam mehr nach dem Vater und war eher an technischen Dingen interessiert.

Seit fast zehn Jahren war sein Bruder jetzt nicht mehr in Sandviken gewesen. Es war ein trauriger Anlass gewesen, der ihn damals hierher geführt hatte. Der Schmerz saß nicht mehr ganz so tief in ihm, doch Carl spürte immer noch einen dumpfen Druck in seiner Herzgegend, wenn er an Brittas Beerdigung dachte. Von heute auf morgen war seine kleine, heile Welt damals zusammengebrochen, als die beiden Polizeibeamten vor der Tür standen und ihm mitteilten, dass seine Frau von einem Lastwagen erfasst worden war. Sie hatte auf ihrem Fahrrad keine Chance gehabt, war auf der Stelle tot gewesen.

Carl hatte zuerst nicht gewusst, wie er ohne Britta weiterleben sollte. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen. Mehrfach hatte er mit dem Gedanken gespielt, ihr zu folgen. Aber einen solchen Gedanken auch zu Ende zu bringen, dazu fehlte ihm dann letztlich doch der Mut. Vielleicht lag es aber auch an der Verantwortung. Britta hätte von ihm erwartet, dass er sich mit aller Kraft um die gemeinsame Tochter Ella kümmerte.

Damals war es nicht leicht gewesen. Das vierjährige Mädchen vermisste die Mutter ebenso schmerzhaft wie Carl seine Frau, und das Kind konnte nicht verstehen, wieso sie nicht wiederkam.

Im Laufe der Jahre war die Beziehung zwischen Vater und Tochter sehr innig geworden. Sie war ein so süßes, kleines Mädchen gewesen und er ihr großer Held. Ihr Papa, davon war Ella überzeugt gewesen, konnte einfach alles. Hin und wieder traf Carl seinen Bruder in Stockholm. Ella hatte nie Lust gehabt, den Vater zu begleiten. Viel lieber blieb sie bei Malin, deren Eltern im nahe gelegenen Dorf einen kleinen Laden besaßen. Malins Tochter Sirka war nur wenige Monate älter als Ella und die beiden Mädchen spielten gerne miteinander.

Mit Beginn der Pubertät hatte Ella sich allmählich von Carl entfernt. Es lag sicher auch daran, dass Carl so gar nichts von Tommy hielt. Tommy war die erste große Liebe der Vierzehnjährigen. Er war gerade volljährig geworden, doch es war nicht nur der Altersunterschied, der Carl störte. Im Dorf wurde gemunkelt, dass Tommy in illegale Geschäfte verwickelt sei. Carl machte sich große Sorgen um seine Tochter.

Es war so weit alles fertig. Torte und Kekse standen bereit, der Tisch war mit frischen Blumen geschmückt. Eigentlich wollte Carl nur noch das Zimmer seines Bruders vorbereiten und dort ein Bild aufhängen. Den Hammer hielt er bereits in der Hand, als ihn lautes Lachen zum See lockte.

Seine Miene verfinsterte sich, als sich sein Verdacht bestätigte. Er trat ganz dicht an das Geländer der Veranda vor dem Bootshaus und blickte hinüber zu seiner Tochter, die sich im Wasser eng an Tommy schmiegte und sich von ihm küssen ließ.

»Ella!« Es klang wie ein Befehl, seine Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton.

Ella ließ Tommy sofort los und kam zum Bootshaus geschwommen. Tommy folgte ihr langsam.

Erleichtert stellte Carl fest, dass seine Tochter wenigstens ihren Bikini trug. Er hatte schon befürchtet …

Ella griff nach den Badetüchern, die über dem Geländer hingen. Eines reichte sie an Tommy weiter, der nach ihr aus dem Wasser kletterte. Das andere drückte sie an sich. Sie lief auf ihren Vater zu und küsste ihn. Vielsagend schaute sie auf den Hammer in Carls Hand. »Du arbeitest an deinem Geburtstag? Das sollst du doch nicht. Komm, ich zeig dir dein Geschenk.«

Es war offensichtlich, dass sie Carl von Tommy ablenken wollte. Ella fasste Carls Arm und zog ihren Vater ein wenig zur Seite. Carl wehrte sich gegen den Griff seiner Tochter. Es war ihm egal, dass Tommy ihn hörte. »Ich will nicht, dass du dich mit ihm triffst.«

»Tu ich doch gar nicht«, behauptete Ella. »Wir waren doch nur schwimmen.«

»Ella, ich meine es ernst. Tommy ist nichts für dich. Er ist ein Taugenichts.« Jetzt sprach Carl extra laut. Er wollte sogar, dass Tommy ihn hörte. Zufrieden registrierte er, dass der Junge das Weite suchte.

Ella hüllte sich in das Badetuch ein. Carl ärgerte sich, als er bemerkte, dass sie Tommy besänftigend hinterherlächelte und den Jungen vor ihm in Schutz nahm. »Ach, Papa, du kennst ihn doch gar nicht. Bitte nicht streiten, es ist doch so ein schöner Tag.« Ella neigte den Kopf ein wenig zu Seite, schaute lächelnd zu ihm.

Ganz so wie ihre Mutter, schoss es Carl durch den Kopf. Wenn Britta ihn so angeschaut hatte, konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen oder ihr gar böse sein.

»Willst du gar nicht wissen, was ich dir schenke?«, lockte Ella und gab gleich darauf die Antwort. »Eine Runde Wasserski fahren. Danach gehen wir ins Sandviks.«

Wenn Ella es wollte, konnte sie ihn um den Finger wickeln. Carl konnte nicht anders, er musste einfach lächeln. Dieses raffinierte kleine Biest. Carl war nicht nur ein leidenschaftlicher Wasserskifahrer, er liebte vor allem die Fischspezialitäten im Sandviks. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Ich habe keine Zeit. Patrick kommt bald und es gibt vorher noch eine Menge zu erledigen.«

Ella griff nach der Hand ihres Vaters. »Jetzt komm schon. Ich helfe dir danach auch.«

Carl ließ sich nicht länger bitten. Außerdem konnte Ella sich nicht mit diesem Tommy herumtreiben, wenn er mit ihr zusammen war.

Christina hatte das Verdeck ihres kleinen Wagens, ein Geschenk ihres Vaters zum bestandenen Abitur, hinuntergelassen. Sie genoss den Fahrtwind, der ihr blondes Haar zerzauste. Das klare Licht, das die Landschaft zum Leuchten brachte und die Konturen verwischte. Die Straße wand sich durch Felder und blühende Wiesen. Hin und wieder passierte sie rote Holzhäuser inmitten eines bunten Blütenreigens.

Birken säumten die Straße, dazwischen glitzerte das Wasser des Båven. Der See verzweigte sich weit ins Södermanland und umschloss viele kleine Inseln. Der schnellste Weg nach Sandviken war mit der Fähre quer über den See.

Christina hatte Glück. Die Fähre hatte eben erst angelegt, als sie den Fährhafen erreichte. Sie ließ sich mit ihrem Wagen einweisen und stieg dann aus, um auf das Oberdeck zu gehen. Sie lehnte sich gegen die Reling, spürte ihren eigenen Gefühlen nach. Seit gestern hatte sie vor allem Angst davor gehabt, dass es schmerzhafte Erinnerungen sein würden, die sie auf der Fahrt und besonders in Sandviken heimsuchten. Im Augenblick aber empfand sie vor allem eine Art heiterer Ferienstimmung. Sie würde zwei bis drei Tage im Sommerhaus bleiben. Mehr Zeit benötigte sie nicht, um eine Inventarliste anzufertigen und die persönlichen Gegenstände in Kartons zu verpacken. Außerdem freute sie sich auf ein Wiedersehen mit ihrer besten Freundin.

Mit einem Mal fiel Christina ein, dass Astrid nichts von ihrem Kommen wusste. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche und suchte im Display nach Astrids Nummer. Auch wenn sie in den vergangenen Jahren nicht mehr nach Sandviken gefahren war, war der Kontakt zwischen ihr und Astrid bestehen geblieben. Die Freundin meldete sich bereits nach dem zweiten Klingelzeichen.

»Hej, Astrid, hier ist Christina.«

»Wie schön, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir?«

»Mir geht es richtig gut und du wirst es nicht glauben, aber ich bin gerade auf dem Weg nach Sandviken.«

Astrids Begeisterungsschrei ließ Christina erschrocken zusammenzucken. Mit schmerzverzerrter Miene nahm sie das Handy für einen Augenblick von ihrem Ohr. Dabei fiel ihr zum ersten Mal der große, dunkelhaarige Mann auf, der sie neugierig zu mustern schien. Nie zuvor hatte ihr jemand so intensiv in die Augen gesehen. Zudem hatte Christina das Gefühl, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte.

Plötzlich lächelte er und die Spannung, die fühlbar zwischen ihnen gestanden hatte, ließ nach. Dieser Mann hatte sie so abgelenkt, dass Christina nicht mitbekommen hatte, was Astrid am anderen Ende der Leitung sagte.

»Ich dachte mir, wenn du Lust hast, können wir uns sehen«, sagte sie selbst in den Hörer. Natürlich wollte sie Astrid sehen, aber jetzt sprach sie einfach nur, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Dabei nestelte sie an ihrer Tasche und zog einen Seidenschal hervor, den sie immer bei sich trug. Ein leichter Windstoß ergriff den Schal und hätte ihn sicher über die Reling geweht, wenn der Fremde nicht herbeigeeilt wäre, um ihn zu ergreifen.

»Bitte.« Er hielt ihr den Schal hin.

Christina räusperte sich. »Du, Astrid«, sagte sie hastig, »ich rufe dich an, sobald ich im Haus bin.« Sie beendete das Telefonat und griff nach dem Schal. Ihre blauen Augen blitzten übermütig auf. »Danke schön, das ist mein Lieblingsschal. Ohne Ihren Einsatz wäre ich wahrscheinlich über Bord gesprungen.«

»Ein sehr schönes Tuch«, nickte der Mann und schaute ihr dabei weiterhin unverwandt in die Augen. Er kam ihr bekannt vor und gleichzeitig war Christina sich sicher, dass sie ihm noch nie vorher begegnet war.

»Ich habe es in Paris gekauft, als Geschenk zum Abitur. Seitdem ist es so eine Art Glücksbringer.«

»Denken Sie, es bringt Ihnen heute auch Glück?«

Christina spürte den schnellen Schlag ihres Herzens. Das war doch verrückt, dass ein Mann, dem sie gerade erst begegnet war, sie derart aus der Fassung brachte. Dennoch konnte sie nicht anders, als ihm geheimnisvoll zuzulächeln. »Wer weiß…«

Sie bedauerte fast, dass die Fähre in diesem Moment anlegte. Christina verabschiedete sich und ging zur Treppe, die zum Autodeck führte. Bevor sie hinunterstieg, wandte sie sich noch einmal zu ihm um. Er stand immer noch an der gleichen Stelle und schaute ihr nach. Sekundenlang verfingen sich ihre Blicke ineinander. Christina lächelte und wandte sich endgültig zum Gehen.

Das weiße Motorboot schoss über das grün und blau schimmernde Wasser. Ella lenkte es sehr geschickt. Ihr Vater hatte ihr das Motorbootfahren ziemlich früh beigebracht. Immer wieder schaute sie sich nach ihrem Vater um, der hinter ihr auf seinen Wasserskiern weite Bögen zog.

»Alles okay, Papa?«, rief Ella ihm zu.

»Hervorragend«, rief Carl gegen den Fahrtwind. Er löste eine Hand vom Griff der Wasserskileine und stieß eine Faust gegen den Himmel. »Yeah«, brachte er seine Freude an der rasanten Fahrt lautstark zum Ausdruck.

Ella strahlte. Sie hatte doch gewusst, dass sie ihrem Vater mit dieser Fahrt eine große Freude bereiten würde. Ihre eigene Freude wich im nächsten Moment einem jähen Schrecken. Sie hatte sich nach ihrem Vater umgewandt und damit das Motorboot nicht sofort gesehen, das in rasender Fahrt um eine winzige, bewaldete Insel herumgeschossen kam. Ella gelang es nur mit Mühe, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Ungerührt fuhr der andere Fahrer weiter.

Ella wandte sich um. Ihr Vater war nicht mehr zu sehen. Ella schrie erschrocken auf. Sie drosselte die Geschwindigkeit, wendete das Boot und fuhr langsam zurück.

Carl trieb rücklings mit geschlossenen Augen auf dem Wasser, bewegte sich nicht.

»Papa!«, schrie sie auf. Ella starrte auf den reglosen Körper ihres Vaters. Er bewegte sich immer noch nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Papa! Was ist mit dir?«

Carl antwortete nicht.

Sie hatte das Seidentuch aus Paris so um ihren Kopf drapiert, dass ihr der Fahrtwind die Haare nicht mehr ins Gesicht wehen konnte.

Christina musste nicht einmal überlegen, ob sie noch auf der richtigen Straße war. Es kam ihr vor wie eine Fahrt in die Vergangenheit. Alles war so vertraut und doch war es ganz anders als beim letzten Mal. Damals hatte die Mutter neben ihr gesessen. Schwach und schon gezeichnet von der Krankheit, aber gleichzeitig mit diesem unbändigen Lebenswillen, der erst in den letzten Wochen unmittelbar vor ihrem Tod gebrochen wurde.

Die Erinnerung tat weh. Christina konnte sich an jedes Wort erinnern, das sie damals mit der Mutter gewechselt hatte. An das stille Glück in den Augen der Mutter, als sie an der Wiese des alten Johan vorbeifuhren. Damals wie heute blühten zwischen den hohen Grashalmen weiße Margariten und blaue Kornblumen. Am Ende der Wiese führte ein schmaler Weg von der Straße ab. Der kleine Wagen rumpelte über die Spurrillen des harten Lehmbodens. Langsam fuhr Christina weiter, ihre Gedanken verweilten weiter in der Vergangenheit.

Es war damals der Wunsch ihrer Mutter gewesen, noch einmal nach Sandviken zu fahren und dort den Sommer zu verbringen. Weder Christina und schon gar nicht ihr Vater waren davon sonderlich begeistert gewesen. Beiden wäre es lieber gewesen, Anna Lund wäre in Stockholm, in der Nähe der Universitätsklinik geblieben. Die Vorstellung, dass sich der Zustand der Mutter in Sandviken rapide verschlechtern könnte, hatte Christina auf der ganzen Fahrt begleitet. Ihr Vater hatte nicht von Beginn an mitkommen können. Henner Lund hatte noch zwei wichtige Gerichtstermine wahrnehmen müssen und erst zwei Tage später nachkommen können.

Vor diesen beiden Tagen, die sie alleine mit der kranken Mutter im Sommerhaus verbringen musste, hatte Christina besondere Angst gehabt. Selbst Annas behandelnde Ärzte hatten davon abgeraten, weil die Strapazen der Fahrt zu viel für sie sein könnten. Christian wäre völlig auf sich allein gestellt gewesen, wenn der Mutter ausgerechnet in diesen zwei Tagen etwas passiert wäre.

Anna hatte alle Einwände beiseitegewischt. Der Wunsch, noch einmal nach Sandviken zu fahren, war so stark in ihr, dass schließlich auch Henner und Christina nachgegeben hatten.

Christina erreichte die schmale Holzbrücke, die über eine Verzweigungen des Båven führte. Hier hielt sie an, schaute über das Wasser. Genau an dieser Stelle hatte Anna sie auch damals gebeten anzuhalten. Schweigend hatte Anna die Landschaft in sich aufgenommen, den Anblick des Sees, den sie so sehr geliebt hatte.

Anna Lund war hier zu Hause gewesen, bevor sie Henner kennenlernte und sich in ihn verliebte. Das Sommerhaus war ihr Elternhaus gewesen. Es lag nicht direkt in der kleinen Stadt, sondern etwa zwei Kilometer davon entfernt am See.

Heute fragte sich Christina, ob die Mutter damals bereits geahnt hatte, dass es ihr letzter Besuch in Sandviken sein würde und dass ihr danach gerade noch zwei Monate blieben.

Der Schmerz um den Verlust der Mutter holte sie ein. Mit einer solchen Heftigkeit, dass sie es kaum ertragen konnte. Hastig startete Christina den Wagen und verdrängte die Tränen, die ungeweint in ihren Augen brannten und ihren Blick verschleierten. Als sie weiterfuhr, schob sie jeden weiteren Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Darin war sie geübt, das beherrschte sie perfekt.

Es war nicht mehr weit bis zum Haus, nur noch eine kleine Anhöhe hinauf, und da lag es vor ihr, das Sommerhaus ihrer Familie. Der gelbe Anstrich leuchtete in der Sonne. Die Überdachung des Eingangs war gleichzeitig der Balkon der ersten Etage. Ebenso das Dach des Wintergartens auf der Rückseite des Hauses. Fensterrahmen und Balken waren in einem zarten Graublau abgesetzt.

Christina parkte ihren Wagen neben dem Eingang und stieg aus. Unschlüssig verharrte sie, nahm das Tuch von ihrem Kopf und schaute an der Fassade hoch. Sie hatte plötzlich nicht den Mut, das Haus zu betreten. Fürchtete sich davor, dass die Erinnerungen sie erneut mit voller Wucht überfielen.

Astrid hatte schon immer die Gabe besessen, im richtigen Augenblick aufzutauchen. Sie bog um die Ecke, einen riesigen Strauß Wiesenblumen in den Armen. »Hej!«

Christinas Augen leuchteten auf. »Hej!« Sie eilte der Freundin entgegen und umarmte sie. Die beiden hatten sich so lange nicht mehr gesehen und betrachteten sich jetzt aufmerksam.

»Das ist ja eine Überraschung.« Christina war so froh, die Freundin zu sehen: »Ich dachte, du hättest Unterricht.« Astrid war in Sandviken aufgewachsen und gleich nach dem Studium dorthin zurückgekehrt, um hier als Lehrerin zu arbeiten.

»Nein, zum Glück nicht.« Astrid drückte ihr den Blumenstrauß in die Arme, betrachtete Christina noch einmal von Kopf bis Fuß. »Mein Gott, wie gut du aussiehst.«

»Du aber auch«, gab Christina das Kompliment zurück. Die Freundin hatte sich tatsächlich kaum verändert, wirkte höchstens ein wenig fraulicher und reifer. Aber sie war hübsch, mit ihren langen, rötlich schimmernden Haaren. Ihre Augen funkelten noch genauso unternehmungslustig wie früher. Aber wichtiger als all das war für Christina, dass sich die alte Vertrautheit zwischen ihr und der Freundin sofort wieder einstellte. Es war, als wäre sie nie weg gewesen. So war es auch früher jeden Sommer gewesen, wenn sie aus Stockholm nach Sandviken kam und die Freundin ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen hatte.

»Ich habe zur Feier des Tages Champagner aufgemacht.« Astrid legte einen Arm um Christinas Schulter und zog sie mit sich. Christina musste nicht fragen, wo Astrid hinwollte. Es war Tradition, dass sie ihr Wiedersehen auf der Veranda feierten. Früher mit Apfelsaft, seit sie erwachsen waren mit Champagner.

Es tat Christina nach der schmerzhaften Rückschau auf der Herfahrt gut festzustellen, dass es auch schöne Erinnerungen gab. Sie lehnte sich an das Geländer der Veranda und atmete die frische Luft tief ein. Hinter sich vernahm sie das Plätschern des Sees, wenn die Wellen leise ans grasbewachsene Ufer schlugen. Vögel zwitscherten in den hohen Bäumen neben dem Haus.

Astrid füllte zwei Gläser mit Champagner. Eines reichte sie Christina, das andere behielt sie selbst in der Hand, während sie sich neben der Freundin an das Geländer lehnte.

Christina registrierte, dass die Freundin bereits beneidenswert braun war, während sie selbst daneben wahrscheinlich wie ein Milchbrötchen wirkte. Sie war in diesem Jahr kaum an die frische Luft gekommen, sie hatte sich auf ihre Abschlussprüfung vorbereitet und ihre wenige freie Zeit mit Torsten verbracht. Der wiederum hielt sich nur ungern im Freien auf. Wegen seines Heuschnupfens, wie er immer wieder gern betonte.

Astrid prostete Christina zu. »Auf einen herrlichen Sommer. Ich freue mich so sehr, dich wieder hier zu haben. Wie lange warst du nicht da?«

Christina musste nicht überlegen. »Fünf Jahre«, erwiderte sie spontan.

Astrid schaute sie von der Seite an. »Hast du das Haus denn nicht vermisst? Und die Sommer hier?«

Es war das erste Mal, dass Christina der Freundin gegenüber nicht vollständig ehrlich war. Aber nicht einmal mit Astrid mochte sie darüber reden, warum sie in den letzten Jahren nicht mehr hierhergekommen war. »Ich habe nicht so darüber nachgedacht«, behauptete sie. »Es war so viel los in meinem Leben, dass ich gar keine Zeit hatte, das Haus so richtig zu vermissen. Na ja, dich habe ich natürlich schon vermisst.« Christinas Blick verlor sich in weiter Ferne. »Es gibt so viele aufregende Orte auf dieser Welt …«

Astrid hatte sie aufmerksam beobachtet. »Du bist überhaupt nicht zurückgekommen, nicht wahr?«, stellte sie fest.

Christina schüttelte den Kopf. »Mein Vater will das Haus verkaufen. Ich bin eigentlich nur hier, um es aufzulösen. Ich habe gestern mein letztes Examen in Jura bestanden und in ein paar Tagen fange ich bei meinem Vater in der Kanzlei an.«

Astrid sagte nichts mehr zu diesem Thema, fragte auch nicht weiter. Sie hob lediglich ihr Glas. »Na, dann auf dein Examen.«

»Ja, auf mein bestandenes Examen.« Christina trank einen Schluck, bevor sie sich umwandte und zum See hinunterschaute. »Sag mal, wo ist eigentlich das Boot?«

Mit dem Boot waren sie und Astrid immer gemeinsam auf den See hinausgerudert. Dort draußen hatten sie alles miteinander besprochen, was sie bewegte. Egal, ob es Probleme in der Schule gewesen waren oder die erste große Liebe.

Astrid fasste nach Christinas Hand. »Komm, ich zeige es dir.«

»Ist es immer noch an der gleichen Stelle?«

»Ja«, sagte Astrid. Offensichtlich hatte sie mit einem Mal auch große Lust, auf den See hinauszurudern. Christina verdrängte jeden Gedanken daran, dass sie damit den Moment, an dem sie das Sommerhaus das erste Mal betrat, nur weiter hinauszögerte.

Es war gut gewesen, dass Astrid in der ersten Stunde bei ihr gewesen war. Die Unbekümmertheit der Freundin hatte sich auf Christina übertragen. Jetzt war sie bereit, das Sommerhaus zu betreten.

Astrid schien zu spüren, dass Christina diesen Moment, an dem sie das Haus nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder betrat, für sich alleine brauchte. Sie verabschiedete sich von Christina vor der Tür und versprach, sich später noch einmal zu melden.

Mit Astrids Blumenstrauß in der Hand verharrte Christina ein paar Sekunden vor der Tür, bis sie allen Mut zusammennahm und sie öffnete. Die dumpfe Luft eines Hauses, das schon lange nicht mehr bewohnt war, schlug ihr entgegen. Es war eben etwas anderes, wenn Menschen in einem Haus lebten oder der Nachbar Carl Bergdahl regelmäßig nach dem Rechten schaute.

Langsam betrat sie die Diele. Die Türen zu den angrenzenden Räumen standen offen. Früher war es ein gemütliches, wohnliches Haus gewesen. Weiße Wände, die den richtigen Kontrast zu den Antiquitäten und dem pastellfarben bezogenen Sofa bildeten. Ergänzt durch geschmackvolle Bilder, die Anna Lund selbst gemalt hatte.

Die schönen alten Möbel, mit denen Anna Lund das Haus eingerichtet hatte, waren fast alle mit weißen Tüchern abgedeckt, um sie vor Staub zu schützen. Als wäre das Haus mit Mama gestorben und mit Leichentüchern bedeckt, schoss es Christina durch den Kopf. Dazu passte die Kühle im Innern des Hauses, die in krassem Gegensatz zu der sommerlichen Wärme draußen stand.

Vom Wohnzimmer aus ging es in den Wintergarten. Die gläserne Tür war geschlossen. Christina riss sie weit auf und verharrte auf der Schwelle. In diesem Raum war alles unverändert, ganz so, wie sie das Haus vor fünf Jahren verlassen hatten. Die Staffelei der Mutter stand neben dem Tisch, darauf das Bild, das sie damals begonnen hatte. Sie hatte immer nur wenige Minuten an der Staffelei stehen können, doch diese Minuten waren ihr so wichtig gewesen.

Die breiten Fenster gaben den Blick auf die Wiese frei bis hinunter zum See. Wenn Christina die Augen schloss, konnte sie sich fast einbilden, die Zeit wäre stehen geblieben. Sie hörte sogar das Schaben des Pinsels über die Leinwand. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie voll konzentriert vor der Leinwand stand. Ihre Zungenspitze hatte sich dabei immer ein wenig zwischen ihre Lippen geschoben.

Henner Lund und Christina hatten die Mutter oft bei ihrer Arbeit beobachtet und irgendwann laut lachen müssen. Anna Lund war dann jedes Mal fuchsteufelswild geworden. Sie hatte es gehasst, in ihrer Konzentration gestört zu werden. Ihre Wut hatte jedoch nie lange angehalten. Nach ein paar Minuten war auch sie meist in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Das Lachen fehlte diesem Haus. Es war so still, das schien die Kälte noch zu verstärken.

Christina durchquerte das Wohnzimmer und legte den Blumenstrauß auf eines der abgedeckten Möbelstücke. Sie ging zum Fenster und riss es weit auf. Warme Luft strömte ihr entgegen. Das Gezwitscher der Vögel war jetzt wieder zu hören, das leise Plätschern des Sees. Sofort fühlte sie sich besser, bis ihr Blick auf das Foto fiel, das auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster stand, eines der wenigen Möbelstücke, die nicht abgedeckt waren. Sie selbst war auf dem Bild zu sehen, zusammen mit ihren Eltern. Es war in dem Sommer gemacht worden, bevor ihre Mutter schwer erkrankte. Sie lachten alle drei in die Kamera. Das Foto war Zeugnis einer Zeit, die sie nie wieder zurückholen konnte.

Christina konnte den Gedanken kaum ertragen. Fest presste sie das Foto an ihre Brust. Das Schicksal hatte ihr gezeigt, wie vergänglich alles sein konnte.

Hastig stellte sie das Foto weg. Sie musste die Geister der Vergangenheit vertreiben, wenn sie die nächsten Tage hier überstehen wollte.

Christina reagierte wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, die Trauer könnte zu sehr Besitz von ihr ergreifen. Beschäftigung war für sie nun einmal ein probates Mittel, um sich abzulenken. Sie brauchte Kartons, um alle privaten Sachen einzupacken, die für ihren Vater und sie selbst einen Erinnerungswert darstellten. Bestimmt gab es auch einige Dinge, die sie wegwerfen konnte. Die Einrichtung sollte zusammen mit dem Haus verkauft werden.

Zuerst aber brauchte sie Kaminholz, um die Kälte des Hauses zu vertreiben.

Das Geschenk für Carl hatte er bereits vor drei Monaten aus Südamerika mitgebracht. Eine Spezialität aus Peru, eine mit Ornamenten reich verzierte Kalebasse. Erst unterwegs war Patrick eingefallen, dass er auch für Ella eine Kleinigkeit mitbringen könnte. Er glaubte jedenfalls, dass sich das für einen Onkel gehörte. Deshalb machte er erst einmal in Sandviken Halt. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung, was einem Mädchen in Ellas Alter gefiel. Vierzehn war sie jetzt und damit wahrscheinlich zu alt für eine Puppe oder anderes Spielzeug.

Er wusste nicht einmal, wie Ella heute aussah. Das letzte Mal hatte er sie auf der Beerdigung ihrer Mutter gesehen. Damals war sie ein stilles kleines Mädchen mit roten Haaren und einem Gesicht voller Sommersprossen gewesen, das sich schutzsuchend an den Vater geschmiegt hatte.

Patrick entschied sich schließlich für Süßigkeiten und hoffte, dass Ella Schokolade mochte.

Patrick hatte das Verdeck seines Sportwagens vor der Fahrt geöffnet. Nirgendwo sonst war die Luft so klar, nahm er die Umgebung so sehr mit allen Sinnen auf. Es berührte ihn eigentümlich, heute nach Hause zu kommen, auch wenn es nur ein kurzer Besuch sein würde. Komisch, dass er mit dem Begriff Zuhause immer noch Sandviken verband. Eigentlich war doch Stockholm sein Zuhause. Er hatte es sich selbst ausgesucht, dort zu leben.

Nachdenklich legte er den Rest der Strecke zurück, bis er endlich vor seinem Elternhaus parkte. Alles war so still hier, so friedlich.

Eigentlich zu still dafür, dass sein Bruder heute Geburtstag feiern wollte. Patrick nahm die Pakete an sich und stieg aus dem Wagen. »Carl!«, rief er laut und wartete einen Moment, doch alles blieb still. Ob sie im Haus waren und ihn nicht hörten? Patrick stieg die drei Stufen zur Haustür hoch und klopfte an. Niemand öffnete. Als er die Klinke hinunterdrückte, stellte er fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Patrick betrat das Haus. »Carl? Ella? Wo seid ihr?«

Es war offensichtlich niemand zu Hause und jetzt klingelte auch noch das Telefon.

Patrick zögerte keine Sekunde. Er eilte an den Apparat und meldete sich: »Hallo?«.

»Hallo, hier ist Christina Lund.«

Patrick lächelte, als er die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm. Sie kam ihm bekannt vor, ohne dass er sie sofort zuordnen konnte.

»Ich wollte fragen, ob Sie ein bisschen Kaminholz für mich haben, Carl. Ich bleibe zwar nur ein paar Tage, aber …«

»Tut mir leid, hier ist nicht Carl«, unterbrach er sie. »Ich bin sein Bruder Patrick. Carl ist leider nicht da.«

»Oh, Entschuldigung. Können Sie ihm vielleicht ausrichten, dass er mich zurückrufen soll? Mein Name ist Christina Lund. Sagen Sie ihm bitte, dass ich im Sommerhaus bin. Er hat die Telefonnummer.«

»Ich werde es ausrichten«, versprach Patrick. »Allerdings kann ich Ihnen nicht sagen, wann er kommt.«

»Kein Problem, Herr …?« Sie hielt wartend inne.

»Bergdahl. Patrick Bergdahl. Kein Problem, Frau Lund. Auf Wiedersehen.«

Auch sie verabschiedete sich und Patrick hörte, wie sie die Verbindung beendete. Er selbst hielt den Hörer noch in der Hand, starrte sinnend darauf. Während des Gesprächs hatte er plötzlich ein Gesicht vor Augen gehabt, dem er die bekannte Stimme zuordnete. »Das war doch …«, murmelte er.

Patrick legte den Hörer zurück und wanderte langsam durch den Raum, der sich seit seiner Kindheit kaum verändert hatte. Alles wirkte heimelig, verstärkte bei ihm das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Auch wenn er dieses Gefühl eigentlich nicht zulassen wollte. Er lebte in Stockholm, aber da hatte er eigentlich auch nur seine Wohnung. Ansonsten sah er sich als Kosmopolit, dessen Bestimmung es war, durch die Welt zu reisen und die Menschen mit seiner Musik zu erfreuen. Begriffe wie Gemütlichkeit in Verbindung mit einem Heim, und dann auch noch irgendwo in der tiefsten Provinz, waren viel zu spießig und passten einfach nicht zu ihm.

So ganz gelang es ihm jedoch nicht, sich des Zaubers zu erwehren, den sein Elternhaus auf ihn ausübte. Die Ruhe hier übertrug sich auf ihn. Jeder Winkel war vollgestopft mit schönen Erinnerungen an eine glückliche Kindheit. Carl hatte nur wenig verändert, aber offensichtlich großen Wert darauf gelegt, das Haus mitsamt seiner Einrichtung zu pflegen. Der Tisch vor der Essecke war offensichtlich eigens für ihn gedeckt worden. Auf einer großen Torte prangte der Schriftzug »Herzlich willkommen«.

Patrick nahm einen Keks aus der Schale daneben und ging zur Haustür. Vielleicht war sein Bruder ja auf dem Campingplatz, der etwa einen halben Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt lag.

Eigentlich war Carl Ingenieur, doch nach Brittas frühem Tod hatte er zu Hause bleiben und sich um Ella kümmern müssen. Das große Grundstück am See, das ebenfalls zum Anwesen der Bergdahls gehörte, war ideal für einen Campingplatz. Inzwischen gab es dort zudem eine Reihe von Ferienhäusern, die auch im Winter bewohnt werden konnten. Carl verdiente an den Touristen so gut, dass nicht nur er und Ella davon leben konnten, sondern auch das Verwalterehepaar, das direkt am Campingplatz wohnte.

Als Patrick die Haustür aufstieß, kam gerade ein junges Mädchen die Treppe hoch.

»Ella?«, fragte Patrick, dabei war er sich eigentlich sicher, dass seine Nichte vor ihm stand. Ein wenig haftete ihr noch von der Kindlichkeit an, die er von der vierjährigen Ella in Erinnerung hatte. Das Gesicht war erwachsener, aber immer noch kindlich gerundet. Unverkennbar waren die Sommersprossen. Das Mädchen reagierte kaum auf ihn. Sie wirkte bedrückt.

»Erkennst du mich nicht?« Patrick schaute ihr prüfend ins Gesicht. Allmählich wurde ihm klar, dass etwas nicht stimmte. »Ella, was ist denn los? Ist etwas passiert?«

»Papa hatte einen Unfall«, stieß sie tonlos hervor. »Er ist im Krankenhaus.«

Patrick war erschrocken. »Ist er schwer verletzt?«

»Irgendwas am Kopf. Sie müssen ihn vielleicht operieren.« Tränen liefen über ihre Wangen. »Das ist alles meine Schuld. Ich habe das andere Boot nicht rechtzeitig gesehen.«

Patrick legte einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens. »Jetzt beruhige dich erst mal«, sagte er, obwohl er selbst zutiefst beunruhigt war. »Es wird schon nicht so schlimm sein.«

Hoffentlich, dachte er selbst. Hoffentlich ist es wirklich nicht so schlimm. Sein Bruder war immer so stark und kraftvoll gewesen, Patrick konnte ihn sich nicht vorstellen, dass er schwer verletzt im Krankenhaus lag.

»Ich soll noch ein paar Sachen holen. Waschzeug und so«, stammelte Ella. Sie war offensichtlich völlig fertig.

»Ich mach das für dich«, versprach Patrick. Er hatte das Gefühl, noch etwas Tröstendes sagen zu müssen. Wenn er sich im Umgang mit dem jungen Mädchen nur nicht so schrecklich unbeholfen fühlen würde! Er reichte ihr die Packung mit den Süßigkeiten. »Schau mal, ich hab dir was mitgebracht.«

Idiot, schalt er sich gleich darauf selbst. Als ob seine Nichte in ihrer derartigen Verfassung mit ein paar Süßigkeiten getröstet werden könnte. Ella registrierte nicht einmal, dass er ihr das Päckchen in die Hand gedrückt hatte. Ihr Blick wirkte abwesend, sie war in Gedanken immer noch bei dem Vater. »Er hat sich so auf seinen Geburtstag gefreut und ich hätte ihn beinahe umgebracht.«

Patrick verzichtete auf einen weiteren Versuch, seine Nichte zu trösten, und wandte sich lieber praktischen Dingen zu. »Wo ist sein Waschzeug?«

»Dahinten«, erwiderte Ella mit einer vagen Handbewegung. Patrick erkannte, dass sie im Augenblick außerstande war, ihm zu helfen. Also machte er sich selbst auf die Suche nach allem, was sein Bruder möglicherweise im Krankenhaus benötigte. Dabei versuchte er vergeblich, sich einzureden, dass die Verletzungen seines Bruders schon nicht so schlimm sein würden. Doch die Angst davor, dass es doch anders war, ließ ihn nicht los.

Auch Christina hielt den Hörer noch eine ganze Weile in der Hand, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. »Patrick Bergdahl«, sagte sie laut und überlegte, wo sie diesen Namen schon einmal gehört hatte. Außerdem war ihr die Stimme des Mannes seltsam bekannt vorgekommen. Unwillkürlich hatte sie an den Mann auf der Fähre denken müssen.

Unsinn, sie schüttelte den Kopf. Das wäre dann doch ein zu großer Zufall, dass dieser Mann ausgerechnet Carls Bruder sein sollte. Es gab ihr aber zu denken, dass sie immer noch an den Mann auf der Fähre denken musste. Dass selbst die Klangfärbung einer männlichen Stimme den Gedanken an ihn heraufbeschwor.

Christina gestand sich selbst ein, dass dieser Mann sie beeindruckt hatte. Mehr als es je zuvor einem Mann in so kurzer Zeit gelungen war.

Das ist die Umgebung hier, sagte sie sich gleich darauf selbst. Ich bin hier nicht mehr ich selbst. Grund genug, mich mit der Arbeit zu beeilen, damit ich so schnell wie möglich wieder nach Stockholm zurückfahren und mich auf mein neues, aufregendes Leben vorbereiten kann. Ein toller Job in der Kanzlei meines Vaters, zusammen mit ihm und dem Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will. Ja, so würde ihr Leben aussehen. So und nicht anders wollte sie es.

Christina ignorierte das aufkeimende Gefühl der Unzufriedenheit. Sie hatte allen Grund, zufrieden und glücklich zu sein.

Während ihre Gedanken in eine Richtung wanderten, die ihr überhaupt nicht gefiel, begann Christina damit, die weißen Bezüge von den Möbeln zu ziehen. Wenn der Makler in ein paar Tagen mit den ersten Interessenten erschien, sollten sie gleich die besondere Atmosphäre des Hauses spüren.

Christina wollte gerade den letzten Bezug abziehen, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Und dann kaufen sie das Haus. Sie richtete sich auf. Genau so war es gedacht, und doch flößte auch dieser Gedanke ihr nur Unbehagen ein.

Dieses Haus gegen ein tolles Haus in Stockholm, sagte sie sich selbst. Es half nichts, Christina fühlte sich dadurch kein bisschen besser.

Ich muss hier raus, beschloss sie spontan. Am besten nutze ich gleich die Gelegenheit, um in Sandviken ein paar Lebensmittel einzukaufen.

Beinahe fluchtartig verließ Christina das Haus. Auf dem Weg in das Dorf ließ ihre Nervosität ein wenig nach. Die quälenden Zweifel allerdings blieben. Wieso begann sie auf einmal damit, alles in Frage zu stellen? Selbst den Verkauf des Hauses, den sie doch anfangs begrüßt hatte.

In der Kleinstadt hatte sie keine Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Nichts hatte sich verändert. Schon gar nicht die rot und gelb gestrichenen Holzhäuser, die einen lebhaften Kontrast zu den blühenden Sträuchern in den Vorgärten bildeten. Es gab nur wenige Geschäfte auf der breiten Hauptstraße, die direkt zum Krankenhaus führte. Christina betrat das Geschäft, in dem sie schon früher immer ihre Lebensmittel eingekauft hatten. Früher hatte das Ehepaar Frödin den Laden geführt. Jetzt hatte ihre Tochter Malin das Geschäft übernommen. Sie erkannte Christina sofort und freute sich sehr, sie zu sehen.

Der Einkauf dauerte bedeutend länger, als es für ein Brot, ein paar Eier und ein paar andere Kleinigkeiten erforderlich gewesen wäre. Christina war es egal. Sie hatte es nicht eilig, ins Sommerhaus zurückzukehren.

Als sie aus dem Geschäft kam, sah sie ein paar Meter weiter einen Eiswagen, an dem ein junges Mädchen bediente. Genau das richtige Sommerwetter für ein Eis.

»Hej, bist du nicht Christina Lund?«, begrüßte sie das Mädchen, als Christina zu ihr an den Stand trat.

Christina grüßte zurück. »Ja, ich bin Christina Lund. Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, wer du bist.«

»Ich bin Sirka, Malins Tochter. Ich helfe ihr manchmal aus.«

»Sirka? Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, warst du noch ein Kind.« Christina betrachtete das Mädchen erstaunt. »Wie alt bist du jetzt?«

»Vierzehn«, gab das Mädchen bereitwillig Antwort.

»Vierzehn«, echote Christina. Es hatten sich also doch ein paar Dinge in Sandviken verändert. »Wie die Zeit vergeht. Gibst du mir bitte ein Schokoeis?«

Sirka nahm eine der Waffeln aus dem Ständer und füllte sie mit Schokoladeneis. »Wie geht es dir so?«, plauderte sie dabei weiter. »Bist du den ganzen Sommer über hier?«

Christina schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch nicht genau. Nicht länger als zwei oder drei Tage. Trotzdem habe ich zu viel eingekauft. Ich habe sogar Kaminholz bei Carl bestellt.«

Die Miene des Mädchens wurde schlagartig ernst. »Hast du denn nicht gehört, dass Carl einen schweren Unfall hatte? Er liegt im Krankenhaus.«

Christina war erschrocken. »Das ist ja schrecklich. Wie geht es ihm denn?«

»Scheint schlimm zu sein. Seine Tochter Ella ist ganz außer sich. Anscheinend wissen die Ärzte nicht, ob er überleben wird.«

Christina war völlig geschockt. Sie musste an das Telefonat denken, an Carls Bruder, der eben offensichtlich auch noch keine Ahnung gehabt hatte. Ob er inzwischen wusste, was mit Carl passiert war?

Gedankenverloren verabschiedete sie sich von Sirka. Sie mochte noch nicht zurück ins Sommerhaus fahren, wo Arbeit und vor allem Erinnerungen auf sie warteten. Langsam schlenderte sie die Hauptstraße hinunter bis zur Fußgängerzone und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut.

Patrick musste sich bemühen, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Sein Bruder sah elend aus. Er wies auf das Paket, das er auf das Nachtschränkchen neben dem Krankenbett seines Bruders gelegt hatte. »Da suche ich in der ganzen Welt nach einem passenden Geschenk für dich und du hast anscheinend gar kein Interesse daran.«

Carl bemühte sich nicht mal um ein Lächeln. Sein schmerzverzerrtes Gesicht jagte Patrick Angst ein. »Alles in Ordnung? Soll ich die Schwester rufen?«

Carl winkte müde ab. »Es sind nur diese verdammten Kopfschmerzen.«

»Ich wünschte, ich könnte etwas für dich tun.«

»Ella!«, stieß Carl hervor. »Sie sollte jetzt besser nicht allein sein. Sie macht sich bestimmt große Vorwürfe. Kannst du ein paar Tage bei ihr bleiben?«

Die Bitte seines Bruders erschreckte ihn beinahe ebenso wie die Nachricht von dessen Unfall. Er hatte keine Ahnung, wie er mit einem vierzehnjährigen Teenager umgehen musste, und noch weniger verspürte er Lust, das herauszufinden. »Ich? Ich muss morgen nach Rom. Außerdem kenne ich Ella doch überhaupt nicht, und sie kennt mich auch nicht.«

Die Sorge um Ella schien Carl ebenso zuzusetzen wie die Kopfschmerzen. Er schloss gequält die Augen. »Patrick, bitte.«

Patrick schämte sich plötzlich. Da lag sein Bruder schwer verletzt vor ihm und er versagte ihm die drängendste Bitte. »Klar, kein Problem«, versprach er hastig. »Ich passe auf sie auf.«

Carl atmete sichtbar erleichtert auf. Sein Zustand schien sich aber eher noch zu verschlechtern. Er wirkte grau, atmete schwer. »Kannst du bitte die Schwester rufen?«

Diesmal kam Patrick dem Wunsch seines Bruders sofort nach. Die Krankenschwester schickte ihn nach Hause. Carl brauchte jetzt absolute Ruhe.

Beunruhigt verließ Patrick das Krankenhaus. Niemand hatte ihm etwas Konkretes sagen können. Man müsse abwarten, lautete die allgemein gehaltene Antwort.

»Guck mal, ist das nicht Patrick Bergdahl?!«

Die aufgeregte Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ausgerechnet jetzt erkannten ihn seine Fans. Immer mehr strömten herbei, umringten ihn.

»Herr Bergdahl, ich bin ein großer Fan.«

»Ihre letzte CD war wirklich toll.«

»Kann ich ein Autogramm haben? Ich habe alle Ihre CDs.«

»Wann wird Ihre nächste CD erscheinen?«

Patrick bemühte sich, gelassen und freundlich zu bleiben. Noch nie war es ihm so schwergefallen wie heute.

Eben noch hatte sie an ihn gedacht und sich gefragt, ob die Stimme Patrick Bergdahls nicht doch zu dem Gesicht des Mannes gehörte, dem sie heute Morgen auf der Fähre begegnet war. Und jetzt sah sie ihn hier mitten auf der Straße, umringt von überwiegend weiblichen Passanten, die Autogramme von ihm forderten. Sie hörte, wie die Frauen ihn mit seinem Namen ansprachen. Er war also wirklich Carls Bruder, und plötzlich wusste Christina auch, wieso er ihr auf der Fähre so bekannt vorgekommen war. Sie hatte seinen Namen tatsächlich schon gehört und einmal auch in der Presse etwas über ihn gelesen. Patrick Bergdahl, der bekannte Pianist. Im Moment sah er rührend hilflos aus. Christina drängte sich bis zu ihm durch.

»Hej! Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?«

Patrick wirkte erleichtert und schob sich sofort an ihre Seite. »Gern«, nickte er und folgte ihr zu ihrem Wagen. Ein Stück wurden sie noch von seinen Fans verfolgt, doch als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm, blieben sie zurück.

Patrick atmete erleichtert auf. »Danke, Sie haben mich wirklich gerettet.«

»Ich war Ihnen ja auch noch etwas schuldig«, spielte Christina auf ihr Kennenlernen am Morgen an.

Patrick lehnte sich zurück. »Ich liebe meine Fans, aber manchmal habe ich einfach keinen Nerv.«

»Ich glaube, ich habe ein wenig auf der Leitung gestanden.« Christina lächelte ihm schuldbewusst von der Seite zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Sie sind Patrick Bergdahl, der Pianist. Das ist mir jetzt aber peinlich, dass ich Sie nicht sofort erkannt habe.«

»Kein Problem«, winkte Patrick ab. »Ich kriege nicht gleich eine Krise, wenn mich mal jemand nicht erkennt.« Er schaute sie an, grinste ein wenig, doch gleich darauf wurde seine Miene ernst. »Ich habe übrigens schlechte Nachrichten für Sie«, wechselte er das Thema. »Das mit dem Kaminholz wird wohl nichts. Mein Bruder hatte einen Unfall.«

»Ich habe schon davon gehört.« Christina nickte mitfühlend. »Wie geht es ihm?«