Sommernachtsklänge - Inga Lindström - E-Book
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Sommernachtsklänge E-Book

Inga Lindström

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Beschreibung

Große Gefühle vor großartiger Kulisse.

Viele von uns kennen und lieben die zauberhafte Landschaft im hohen Norden. In diesem eBook sind drei neue romantische Liebesgeschichten aus Schweden versammelt, die Sie in das Land der Mitternachtssonne, dessen einzigartige Schärenlandschaft und wunderschöne Hauptstadt Stockholm entführen.

Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:

- Die Frau am Leuchtturm.

- Wolken über Sommerholm.

- Emma Svensson und die Liebe.

Mit vielen typisch schwedischen Rezepten zum Nachkochen.

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

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EPUB

Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Die Frau am Leuchtturm

Wolken über Sommarholm

Emma Svensson und die Liebe

Rezepte

Über das Buch

Große Gefühle vor großartiger Kulisse. Viele von uns kennen und lieben die zauberhafte Landschaft im hohen Norden. In diesem eBook sind drei neue romantische Liebesgeschichten aus Schweden versammelt, die Sie in das Land der Mitternachtssonne, dessen einzigartige Schärenlandschaft und wunderschöne Hauptstadt Stockholm entführen.

Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:

– Die Frau am Leuchtturm.

– Wolken über Sommerholm.

– Emma Svensson und die Liebe

Mit vielen typisch schwedischen Rezepten zum Nachkochen.

Über die Autorin

Inga Lindström ist das Pseudonym einer erfolgreichen Drehbuchautorin. Sie ist verheiratet mit einem Bildhauer und Mutter einer Tochter. Sie pendelt zwischen Großstadt und Land. Nachdem sie Jura und Anglistik studiert und einige Jahre als Journalistin gearbeitet hatte, wandte sie sich dem Theater zu. Sie arbeitete bald auch als Dramaturgin für verschiedene Fernsehproduktionsgesellschaften. Und fing schließlich an, selbst Drehbücher zu schreiben.

Inga Lindström

SOMMER-NACHTS-KLÄNGE

Liebesgeschichtenaus Schweden

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2007/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelabbildung: Dressler, Hauke/LOOK

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Mongkol Rujitham | Mikael Broms

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN: 978-3-7325-5122-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

DIE FRAUAM LEUCHTTURM

Wie eine Glocke hing die Sommerhitze bereits am frühen Morgen über Stockholm. Ein tiefblauer Himmel spannte sich über die Stadt. Es war einer jener Sommertage, der gute Laune erzeugt, und die spiegelte sich auch in Victorias Miene wieder, als sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Sie liebte die Strecke am Saltsjön entlang, der Verbindung zwischen der Stadt und dem großen Meer. Eine der großen Fähren zog gemächlich vorbei, als Victoria das moderne Bürohaus erreichte. Sie schloss ihr Fahrrad ab und nahm die Post aus dem Briefkasten, bevor sie das Gebäude betrat.

Nils Atelier befand sich in der ersten Etage und war über eine Wendeltreppe zu erreichen. Victoria hörte das Telefon bereits klingeln, als sie noch auf dem Weg nach oben war.

Nils stand an der Glasfront, die eine gesamte Wand des Ateliers einnahm. Das Panorama, das sich vor ihm ausbreitete, war faszinierend. Er blickte über den Saltsjön bis nach Djugårdsstaden mit der kleinen, vorgelagerten Insel Beckholmen. Doch seine ganze Haltung drückte gereizte Ungeduld aus. Er wandte sich nicht einmal um, als er mit einer Hand an die Scheibe gelehnt sagte: »Kann mal jemand rangehen?«

Victoria legte die Post auf den Schreibtisch und hob den Hörer an ihr Ohr. »Atelier Nils Schalin, Victoria Savander am Apparat.«

»Hej, Frau Tommasson«, grüßte sie gleich darauf und wandte sich halb zu Nils um, der immer noch nach draußen starrte. Auch jetzt drehte er sich nicht um, sondern machte mit einer kleinen Geste deutlich, dass er nicht zu sprechen sei.

Victoria reagierte sofort: »Tut mir leid, Frau Tommasson, Nils ist nicht da, aber ich werde es ihm ausrichten.« Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, begann sie die Post durchzusehen.

»Die Tommasson will wissen, wann ich abgebe, stimmt’s?« Nils löste sich von der Fensterscheibe. Victoria nahm kaum Notiz vom ihm, während sie konzentriert die Post sortierte. Die meisten Umschläge legte sie zur Seite, einen aber öffnete sie gleich.

»Ich kann ihr keinen definitiven Abgabetermin nennen«, fuhr Nils mit gereizter Stimme fort. »Wie soll ich frei denken, wenn alle so an mir herumzerren? Ich kann so nicht arbeiten.«

»Okay«, erwiderte Victoria mit einem Lächeln, »ich setze einen Brief auf, in dem du das deiner Verlegerin mitteilst.«

»Ja, mach das. Sie wird mich dafür hassen«, sagte er, »aber das ist mir auch egal.« Er ließ sich in den schwarzen Ledersessel fallen, der zwischen seinem eigenen und Victorias Schreibtisch stand.

Nils hatte den Raum ganz nach seinen Vorstellungen einrichten lassen. Modern, mit einigen maritimen Elementen. Victoria amüsierte sich oft darüber, dass er Besucher ganz gerne in dem Glauben ließ, er hätte die Segelschiffe im Modelmaßstab selbst gebaut. Sie wusste, dass er dazu niemals die Geduld aufgebracht hätte. Ebenso wenig benutzte Nils das Ergometer mitten im Raum, mit dem er eine nicht vorhandene Sportlichkeit vortäuschte.

Vor der Glasfront erstreckte sich eine großzügige Terrasse, die über eine Treppe auch von der Straße aus zu erreichen war. Wie immer bei schönem Wetter stand die Tür auch heute weit offen.

Nils wirkte deprimiert und müde. Victoria wusste, dass er sie in solchen Momenten ganz besonders brauchte. »Ich mache jetzt erst einmal Kaffee«, sagte sie. »Danach lese ich, was du heute Nacht geschrieben hast. Du kannst doch inzwischen einen Spaziergang machen, und später überlegen wir ö«

»Lass uns wegfahren!« Nils hatte ihr überhaupt nicht zugehört. Er griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich auf seinen Schoß.

»Was hältst du von Südfrankreich?«, fuhr er fort. »Saint Tropez? François vermietet uns sicher seine Villa. Zwei oder drei Wochen. Das wird uns gut tun.« Er küsste ihre Nasenspitze und berührte mit seinen Lippen fast ihren Mund, als er murmelte: »Die Düfte der Provence, der Wein, das Salz auf deiner Haut ö« Er lächelte zum ersten Mal, seit sie ins Atelier gekommen war, erleichtert, so als würde ihn schon die Vorstellung eines Urlaubs mit ihr von einem ungeheuren Druck befreien.

»Wie klingt das für dich?«, wollte er wissen.

»Fantastisch«, erwiderte sie, »und du meinst es wirklich ernst, ja?« Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht.

»Schau mir in die Augen, mein Herz, was siehst du da?«

Sie zuckte leicht mit den Schultern, woraufhin Nils lachend ausrief: »Einen Flieger, und den nehmen wir.«

»Wir waren so lange nicht mehr für uns allein.« Victoria legte beide Arme um seinen Hals und küsste ihn.

»Hallo!«, auf der Treppe waren Schritte zu hören. Kurz darauf tauchte Ebba auf. Victoria erhob sich schnell, nur eine Sekunde später und Ebba hätte sie auf Nils Schoß erwischt.

»Hej, Papa!« Ebba tätschelte ihrem Vater die Schulter, bevor sie Victoria umarmte.

»Kaffee?« Victoria kämpfte immer noch mit ihrer Verlegenheit und dem schlechten Gewissen und hoffte nur, dass man es ihr nicht anmerkte. So lange sie mit Nils alleine war, konnte sie den Gedanken daran verdrängen, dass er nicht nur verheiratet, sondern auch der Vater ihrer besten Freundin war. Doch wann immer Ebba anwesend war, wurde ihr klar, auf was sie sich da eingelassen hatte.

Ebba schien wie immer nichts zu bemerken. »Ich muss in die Uni. Pathologie fängt gleich an. Ich wollte dich nur fragen, ob du Lust hast, heute Abend mit mir ins Kino zu gehen.«

»Ich kann nicht.« Kurz schaute sie zu Nils hinüber, der inzwischen hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und sich scheinbar ganz in die Unterlagen vertieft hatte, die vor ihm lagen.

»Ich fahre für ein paar Tage weg.« Victoria bemühte sich, ihrer Stimme einen unbefangenen Klang zu geben. »Besser gesagt, für zwei bis drei Wochen.«

»Was!« Ebba war sichtlich begeistert. Sie drehte sich zu Nils um. »Du lässt deine Sklavin tatsächlich Urlaub machen. Solltest du deine menschliche Seite entdeckt haben?«

Nils stand auf. Amüsiert schaute er Ebba über den Rand seiner Brille hinweg an. »Sklavin? Ich höre wohl nicht recht. Victoria hat ein wunderbares Leben hier bei mir.«

Ebba winkte lachend ab. »Wie auch immer. Ich muss jetzt wirklich los.« Sie umarmte Victoria noch einmal. »Ich wünsche dir ganz viel Spaß. Wo fährst du überhaupt hin?«, fragte sie schon halb im Gehen. Eine Antwort wartete sie erst gar nicht ab. »Schreib mir auf jeden Fall eine Karte«, rief sie Victoria zu.

Weg war sie und hinterließ nach ihrem stürmischen Auftritt eine beinahe bedrückende Stille. Nils und Victoria schauten sich an.

»Worauf wartest du denn noch«, sagte er. »Geh und buche den nächsten Flieger. Ich muss kurz noch in die Bibliothek. Wir treffen uns am Flughafen.«

*

Ein Manager mit Aktentasche und gestresster Miene hastete in der Abflughalle an ihr vorbei. Eine Gruppe Studenten mit Rucksäcken hatte es bedeutend weniger eilig. Sie lachten und plauderten miteinander, als sie an Victoria vorbeischlenderten. Eine junge Mutter schob einen Trolley vor sich her, auf dem ein riesiger Koffer stand. Die beiden Kinder, die darauf thronten, stritten miteinander.

Victoria nahm das alles nur undeutlich wahr, ihre Gedanken waren bei Nils. Sie war pünktlich in Arlanda eingetroffen, und wenn Nils jetzt nicht bald kam ö

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Auf dem Display war Nils Name zu lesen. »Nils! Steckst du im Stau?«

»Tut mir leid, mein Herz, ich bin zu Hause.«

»Bitte, Nils, tu mir das nicht an.«

»Es tut mir so leid«, versicherte Nils noch einmal, »aber Amelia hat ohne mein Wissen diesem Essen beim englischen Botschafter zugesagt. Du verstehst doch, dass ich sie da nicht alleine hingehen lassen kann.«

Victoria bemühte sich, ganz ruhig und sachlich zu antworten. »Natürlich kannst du sie nicht alleine dahin gehen lassen. Gut, dann bringe ich die Tickets zurück, und wir sehen uns morgen früh im Büro.«

»Bitte, Victoria, ich bin genau so enttäuscht wie du. Wir holen das nach. Ich verspreche es dir.«

»Ich bin nicht enttäuscht. Ich habe nur den Fehler gemacht, zu glauben, dass es diesmal klappt.« Sie klappte ihr Handy zu. Sie stand noch eine ganze Zeit in der Abflughalle und starrte vor sich hin, doch schließlich gab sie sich einen Ruck und ging wie betäubt zum Ausgang.

*

Victoria öffnete die Beifahrertür. »Nygatan zwölf«, sagte sie. Bevor sie einsteigen konnte, wurde auf der anderen Seite des Taxis die hintere Tür aufgerissen.

»Gamla Stan!« Die Stimme, seine hastigen Bewegungen, seine Miene, alles an dem Mann verriet, dass er es eilig hatte.

»Moment mal, das ist mein Taxi«, sagte Victoria empört.

Der attraktive, hochgewachsene Mann war bereits dabei, in den Wagen einzusteigen. Mitten in der Bewegung hielt er inne und schaute Victoria über das Dach des Taxis hinweg verblüfft an. »Wie bitte?«

»Ich habe gesagt, dass das mein Taxi ist«, wiederholte Victoria. Der Taxifahrer war inzwischen ausgestiegen, schaute unschlüssig zwischen den beiden hin und her. Victoria drückte dem Fahrer einfach ihre Reisetasche in die Hand und setzte sich in den Wagen. Schließlich standen genug andere Taxen in der Reihe hinter ihr. Sie wollte die Wagentür zuschlagen, wurde jedoch sofort daran gehindert. Der Mann hatte das Fahrzeug umrundet und hielt die Wagentür fest.

»Entschuldigung, ich bin so in Eile. Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen.«

»Sie müssen eben ein anderes Taxi nehmen«, sagte Victoria. Für heute hatten sich bereits genug Männer bei ihr entschuldigt. Sie wollte einfach nur noch nach Hause.

»Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen«, wiederholte der Mann prompt. »Gute Fahrt.«

»Danke«, erwiderte Victoria knapp und wandte sich dem Taxifahrer zu, der gerade wieder hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte. »Können wir endlich?«

Der Fahrer nickte und startete den Wagen. Als Victoria den Kopf wieder zur Seite wandte, sah sie den schlanken Mann mit den blonden Haaren immer noch neben dem Wagen stehen. Unverwandt schaute er sie an, doch Victoria erwiderte nur kurz seinen Blick. Dass er ihr lange nachschaute, bevor er in das nächste wartende Taxi stieg, bekam sie nicht mehr mit.

*

Victoria wohnte in der Gamla Stan, der Altstadt Stockholms. Langsam fuhr der Taxifahrer durch die schmalen Straßen und bog in die Nygatan ein. Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor einem der prächtigen alten Häuser mit den spitzen Giebeln. Üppig wucherten weiße Geranien in den Kübeln rechts und links neben der Haustür. Victoria war zu Hause.

Sie stellte die Reisetasche neben sich ab und kramte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel. Als sie ihn ins Schloss stecken wollte, fiel er ihr aus der Hand. Sie bückte sich, um danach zu suchen.

»Suchen Sie das hier?« Eine Hand griff an ihr vorbei in einen der Blumenkübel und förderte den Schlüssel zutage. Victoria schaute auf, geradewegs in das Gesicht des Mannes, der ihr auf dem Flughafen das Taxi vor der Nase wegschnappen wollte.

»Verfolgen Sie mich etwa?« Sie riss ihm den Schlüssel aus der Hand.

»Nur wenn Sie Victoria Savander sind«, lachte er. »Allerdings wären das dann doch wohl zu viele Zufälle auf einmal. Ich bin auf der Suche nach einer Victoria Savander. Sie soll hier in der Nygatan Nummer drei wohnen. Sie kennen sie nicht zufällig?«

Misstrauisch schaute Victoria ihn an. »Was wollen Sie von mir?«

Seine Augen leuchteten erfreut auf. »Sie sind das tatsächlich? Victoria Savander, geboren am 14. April 1981?«

Victoria nickte automatisch, was ihr sofort darauf schon wieder leid tat. Sie hatte genug von diesem Tag, wollte nur noch in ihre Wohnung, nichts mehr hören und nichts mehr sehen. Aber wenn sie ehrlich war, war sie natürlich auch neugierig, warum dieser Fremde ausgerechnet sie suchte.

»Kommen Sie, wir müssen sofort zum Flughafen«, sagte er. Er drehte sich um zu dem Taxifahrer, der gerade wieder abfahren wollte. »Warten Sie, wir fahren mit.«

Nirgendwo würde sie mit diesem Mann hinfahren! »Was ist los mit Ihnen?«, fragte Victoria kopfschüttelnd. »Sind Sie vielleicht der Psychiatrie entsprungen.«

Er nahm es ihr nicht übel, sondern lachte. »Sie haben Recht, so muss es wirken. Also, mein Name ist Kristoffer Lund, ich bin Anwalt in Eggesund und habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

*

Eigentlich konnte sie es immer noch nicht fassen, dass sie sich darauf eingelassen hatte, und doch saß sie nun neben ihm in dem kleinen Wasserflugzeug.

»Hannes Linnarson?«, sagte sie nachdenklich. »Sind Sie sich ganz sicher, dass es sich da nicht um einen Irrtum handelt? Ich kenne keinen Hannes Linnarson und wüsste nicht, wieso er mir etwas vererben sollte.«

»Wieso weiß ich auch nicht«, erwiderte Kristoffer. »Aber dass er Ihnen etwas vererbt hat, habe ich schwarz auf weiß.«

»Warum haben Sie mir mein Erbe nicht einfach mitgebracht?«

»Ich habe keine Ahnung, wie ich das hätte anstellen sollen«, grinste Kristoffer.

»Wenn es ein Pferd oder eine alte Katze ist, können wir auch gleich wieder umdrehen«, sagte Victoria, die ihm so doch noch einen Hinweis auf das ominöse Erbe entlocken wollte. »Ich habe keine Zeit für Haustiere.«

Kristoffer schaute kurz zu ihr hinüber, lachte ihr zu. Victoria mochte dieses freche, jungenhafte Lächeln, den offenen Blick seiner blauen Augen. Eine befriedigende Antwort auf ihre Frage erhielt sie allerdings nicht. »Lassen Sie sich doch einfach überraschen«, meinte Kristoffer.

»Wieso eigentlich nicht«, sagte Victoria leise. »Der Tag ist ohnehin verdorben. Schlimmer kann es kaum noch werden.« Sie legte den Kopf gegen das kühle Glas des Seitenfensters und versuchte alle Gedanken auszuschalten, während Kristoffer die Maschine über die Schärenlandschaft steuerte. Wie hingetupft lagen die Inseln im Sund. Die Sonnenstrahlen zauberten golden schimmernde Reflexe auf die tiefblaue Wasseroberfläche.

Auf einigen Inseln konnte Victoria ganze Ansammlungen von rot gestrichenen Holzhäusern erkennen, aber auch Inseln, die völlig unbewohnt schienen. Manche waren nicht mehr als Felsbrocken, die aus dem Wasser ragten.

Kristoffer zog eine weite Kurve, dabei verlor die Maschine an Höhe und ein hübscher Leuchtturm war für einige Sekunden zu sehen.

Victoria hielt den Atem an, als sie die Wasserfläche immer näher auf sich zukommen sah. Es gab einen kurzen Ruck und das klare Wasser unter den Kufen schäumte auf, als die Maschine landete. Das Flugzeug verlor rasch an Geschwindigkeit, glitt langsam auf den Landungssteg der Insel zu.

Kristoffer stieg zuerst aus und reichte Victoria die Hand, um ihr aus der Maschine zu helfen. »Willkommen«, sagte er.

Victoria wollte etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display und seufzte, bevor sie es einschaltete und an ihr Ohr hielt. »Hallo, Nils! Ist alles in Ordnung?«

»Gar nichts ist in Ordnung«, herrschte er sie durch den Hörer hindurch an. »Ich versuche zu schreiben, aber dauernd klingelt das Telefon. Ich brauche meinen Kaffee, und die roten Stifte sind auch alle.«

Für Nils war alles wie immer. Heute Morgen noch hatte er ihr den Himmel auf Erden versprochen, und jetzt dachte er wahrscheinlich schon gar nicht mehr daran. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich dachte, du willst heute nicht mehr arbeiten. Die roten Stifte sind in der untersten Schublade links und …

»Ich will das gar nicht wissen«, unterbrach Nils sie grob. »Ich will, dass du herkommst.«

»Das geht nicht.« Sie machte eine kurze Pause. »Morgen früh bin ich wieder da.«

Victoria hörte, wie Nils am anderen Ende tief einatmete. »Was soll das heißen, es geht nicht? Du bist doch nicht alleine nach St. Tropez geflogen.«

»Vielleicht hätte ich das tun sollen.« Victoria verstummte, ließ ihn eine kurze Weile schmoren, bevor sie weiter sprach. »Mach dir keine Sorgen, ich bin noch in Schweden. In Eggesund, genau gesagt.«

»Eggesund? Wo zum Teufel ist das denn? Victoria, ist alles in Ordnung?«

War alles in Ordnung? Bei dem Chaos, das im Augenblick in ihren Gedanken herrschte, konnte sie ihm darauf keine klare Antwort geben. Kristoffer trat an sie heran und gab ihr zu verstehen, dass es von ihm aus weitergehen könne. Er hatte inzwischen ihre Reisetasche aus dem Flugzeug geholt, die jetzt eigentlich zusammen mit ihr und Nils auf dem Weg nach Saint Tropez sein sollte.

»Ich muss Schluss machen«, sagte Victoria hastig. »Bis morgen, Nils. Ach ja … viel Spaß heute Abend beim Botschafter.«

»Stress?«, wollte Kristoffer wissen.

»Nur das Übliche.« Victoria zuckte mit den Schultern und wollte das Handy wegstecken, doch Kristoffer hielt die Hand auf. »Geben Sie mir die kleine Nervensäge.«

In Gedanken war sie noch bei ihrem Telefonat mit Nils. Auf dem Flug nach Eggesund war es ihr gelungen, ein wenig abzuschalten, doch jetzt spürte sie wieder die gleiche Anspannung wie vor ein paar Stunden in Arlanda. Sie ließ es zu, dass Kristoffer ihr das Handy aus der Hand nahm und einfach ausschaltete. »Und lassen Sie es einfach aus«, sagte er, nachdem er es ihr zurückgegeben hatte. Schmunzelnd wies er auf die Landschaft. »Sonst wirkt die Magie nicht.«

Er wies mit einer Handbewegung auf den felsigen Uferweg, der in einer leichten Steigung hinaufführte. »Also dann los, auf zu Ihrem Erbe.«

»Aber wenn es ein Pferd ist …«, wandte Victoria noch einmal ein.

»… können Sie Ihr Erbe selbstverständlich ausschlagen«, lachte Kristoffer.

Victoria war das quirlige Leben in Stockholm gewohnt. Die Menschen, den Verkehr und all die anderen Geräusche. Hier gab es keinen Straßenlärm, keine Touristen, die sich durch die Stadt schoben. Keine eiligen Stockholmer, die der Pflicht oder auch nur dem Vergnügen nachjagten. Hier rauschte das Meer, die Wellen schlugen plätschernd gegen das felsige Ufer. Ein Möwenschwarm zog über die Insel hinweg zum Meer und ließ dabei ein schrilles Kreischen hören. Sogar der Geruch war hier anders als der in der Stadt. Es roch nach Meer, nach Salz, das sie sogar auf den Lippen schmeckte.

Die Kombination von kargen Felsen und üppigem Grün faszinierte sie.

Victoria blieb stehen, schaute sich um und spürte dabei, wie sich die Spannung in ihrem Innern allmählich legte. Ganz tief atmete sie durch. Schön war es hier.

»Es wirkt also schon«, hörte sie Kristoffer neben sich sagen. Fragend schaute sie ihn an. »Was meinen Sie?«

»Die Magie unserer Gegend.« Er lachte. »Geben Sie zu, es hat Sie gepackt. Der Knoten in Ihrer Seele beginnt sich zu lösen.«

Victorias Miene verschloss sich. Sie fühlte sich ertappt, ärgerte sich über Kristoffer Lund. Was ging es ihn an, was sie tief in ihrem Innern fühlte. Unwidersprochen wollte sie seine Bemerkung nicht hinnehmen. »Knoten in meiner Seele? Sie haben zu viel Fantasie. Es war ein mieser Tag heute, und ich habe schlechte Laune. Mit meiner Seele hat das nichts zu tun.«

»Dann eben schlechte Laune.« Kristoffer hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und war jetzt dicht hinter ihr. »Aber die hält hier auch nicht lange, wie Sie schon bemerkt haben. Immerhin haben Sie gerade gelächelt. Das ist ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes Zeichen sogar.«

Victoria blieb stehen, wandte sich langsam um und schaute ihm ins Gesicht. »Wir sind übrigens da«, wechselte er unvermittelt das Thema.

»Wo sind wir?«

»Am Zielort, bei Ihrem Erbe.« Er sprang über eine vorspringende Felskante, setzte ihre Reisetasche ab und stellte sich ganz dicht hinter sie. Behutsam umfassten seine Hände ihre Schultern. Es waren ungewohnte, aber keineswegs unangenehme Gefühle, die seine Nähe in ihr auslöste. Selbst den sanften Druck seiner Hände auf ihren Schultern empfand Victoria als angenehm, obwohl sie es normalerweise hasste, von Fremden berührt zu werden. Aufmerksam blickte sie sich um, doch da war nichts als der weiße Leuchtturm, den sie bereits vom Flugzeug aus gesehen hatte, mit dem hübschen Anbau aus rot gestrichenem Holz mit weiß abgesetzten Fensterrahmen.

»Wo ist es?« Ein wenig ungeduldig war sie inzwischen schon. Lange genug hatte Kristoffer Lund sie hingehalten. Jetzt streckte er die Hand aus und deutete auf den Leuchtturm.

Victorias blickte zwischen Kristoffer und dem Leuchtturm hin und her. »Der Leuchtturm? Das ist nicht Ihr Ernst.«

Kristoffer stellte sich neben sie. Sein lausbubenhaftes Lächeln passte so gar nicht zu der formellen Ansprache. »Ich bin Anwalt und Testamentsvollstrecker von Hannes Linnarson, und ich präsentiere Ihnen, Frau Savander, hiermit offiziell das Ihnen von Herrn Linnarson zugedachte Erbe. Den Leuchtturm von Eggesund.«

Victoria war fassungslos. Kristoffer ging an ihr vorbei das letzte Stück hinauf. Er zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete damit die Tür, bevor er ihr den Schlüssel hinhielt. Sie zögerte, bis Kristoffer schließlich nach ihrer Hand griff und sie eine ganze Weile festhielt, bevor er den Schlüssel auf ihre Handfläche legte, die er dann behutsam schloss.

Kristoffer ließ sie vorgehen. Durch den schmalen Flur betrat sie eine hübsche Küche mit weißen Holzmöbeln. Alles war komplett eingerichtet und wirkte so, als wäre der Besitzer nur mal kurz außer Haus. Rotweiße Gardinen verliehen dem Raum eine anheimelnde Atmosphäre.

Victoria konnte es immer noch nicht fassen. »Sind die Leute hier denn alle verrückt? Man kann doch niemandem einen Leuchtturm vererben.«

»Ich würde mich freuen, wenn ich einen Leuchtturm erben würde«, erwiderte Kristoffer.

Im Gehen wandte Victoria sich ihm zu. »Also, ich als ganz normaler Stadtmensch, der in Stockholm lebt, wüsste nicht, was ich mit einem Leuchtturm anfangen soll.«

Victoria ging weiter in den nächsten Raum. Ein kleines Zimmer, in dem ein blaubezogenes Sofa stand, ein runder Tisch, zwei Sessel. Nicht nur in dem Regal standen Bücher, sie lagen auch auf dem Tisch und dem Fensterbrett. Ganz offensichtlich hatte dieser Hannes Linnarson zu Lebzeiten viel gelesen. Sie stellte sich ans Fenster, schaute hinaus. Von hier aus konnte sie den Weg sehen, den sie mit Kristoffer heraufgekommen war, und die See, die unentwegt gegen die Felsen schlug, in einem immerwährenden Rhythmus.

»Wieso hat dieser Linnarson das gemacht? Hat er die Augen zugemacht und blind ins Telefonbuch getippt?«

»Sagen Sie, warum genießen Sie es nicht einfach …«, Kristoffer kam näher, stellte sich neben sie, »… oder sind neugierig? So was passiert doch nicht jeden Tag. Da muss man doch …« Er hielt inne, schaute sie nachdenklich an, als versuche er, sich ein Bild von ihr zu machen. »Sehen Sie es positiv«, schloss er. Er drehte sich um und ging auf die Metalltür zu, die den Raum vom angrenzenden Leuchtturm trennte. »Also, Victoria Savander, willkommen auf ihrem Besitz.« Verschmitzt lächelte er sie an.

Langsam kam Victoria ihm nach, ließ ihre Blicke immer wieder durch den Raum schweifen. Alles, was sie bisher gesehen hatte, gefiel ihr. Es gefiel ihr so gut, dass sie sich selbst zur Vorsicht ermahnte. »Irgendein Haken muss da doch dran sein. Vermutlich ist das Haus total verschuldet oder das Dach ist baufällig …« Sie unterbrach sich, als Kristoffer die Metalltür öffnete. Sie führte geradewegs auf die Plattform, die das Leuchtfeuer des Leuchtturmes umgab. Langsam folgte sie Kristoffer, der bereits nach draußen gegangen war und ihr lächelnd entgegensah.

Wuchtige Granitfelsen, vom Frost gesprengt und von der Brandung an den Ecken rund geschliffen. Aus jeder Spalte, jeder noch so winzigen Kerbe, in der sich auch nur ein Hauch Erde befand, spross Grün hervor. Föhren bewegten sich unterhalb des Leuchtturmes sanft im Wind. Dahinter breitete sich das Meer in seiner endlosen Weite aus. Einzelne Felsenklippen ragten hervor, von beständiger, weißer Gischt umspült.

Victoria hatte das Gefühl, sie müsste nur die Arme ausbreiten, um loszufliegen, so frei und losgelöst von allem fühlte sie sich hier oben. »Wahnsinn«, sagte sie leise.

»Überraschung gelungen?« Kristoffer schien genau diese Reaktion von ihr erwartet zu haben.

Victorias Hände umklammerten das Geländer, als müsse sie sich selbst daran hindern, tatsächlich davonzufliegen. Die faszinierende Aussicht nahm sie immer noch völlig gefangen. »Irre! Verrückter Gedanke, dass der Turm mir gehören soll.« Sie wandte sich ihm zu. Da waren auf einmal so viele Fragen, auf die sie eine Antwort suchte. »Hat der alte Mann hier gewohnt? Was war er für ein Mensch? Wieso hat er ihn nicht seiner Familie vermacht?«

Das Klingeln seines Handys hinderte Kristoffer daran, auf ihre Fragen zu antworten. »Entschuldigung«, sagte er nach einem kurzen Blick auf das Display. Er wirkte mit einem Mal beunruhigt. Auch seine Stimme klang nervös, als er das Handy an sein Ohr presste. »Mona? Bleib wo du bist, ich komme so schnell ich kann.«

Er wirkte abwesend, in Gedanken bereits weit weg, als er sich wieder an Victoria wandte. »Tut mir leid, ich muss noch mal los. Wollen Sie hierbleiben?«

Victoria hatte sich ihm zugewandt, stand mit dem Rücken zum Geländer. Sie war unschlüssig, ob sie bleiben wollte, kam sich immer noch wie ein Eindringling vor.

»Keine Sorge, ich lasse Sie hier nicht verhungern«, schmunzelte Kristoffer.

Victoria wandte den Kopf, blickte noch einmal über die endlose Weite des Wassers. Als sie ihn wieder anblickte, lächelte sie. »Ich kann ja ans Festland schwimmen, wenn es mir zu lange dauert.«

»Also dann«, verabschiedete sich Kristoffer, »bis später.« Er eilte davon, und Victoria beugte sich ein wenig vor, als sie Kristoffer aus dem Turm kommen sah. Trotz seiner Eile wandte er sich noch einmal um, blieb kurz stehen und winkte ihr zu. Victoria winkte zurück, schaute ihm nach. Tief atmete sie durch und spürte mit einem Mal, dass es ihr nichts ausmachte, alleine hier zurückzubleiben.

*

»Hej, Anwalt.«

Kristoffer, der auf den Kufen seines Wasserflugzeuges stand und nach seiner Aktentasche angelte, wandte sich dem dunkelhaarigen Mann zu. »Hej, Henner.«

»Du hast sie also tatsächlich gefunden«, stellte Henner fest. Er war ein kräftiger Mann mit kantigem Gesicht, gab sich betont ruhig, doch in seinen Augen loderte es.

Kristoffer sprang von den Kufen auf den Anlegesteg. »Eine halbe Stunde im Internet und ich hatte sie. Du hast doch nicht wirklich gedacht, dass es sie nicht gibt.«

»Was weiß ich«, brummte Henner, »du hättest sie nicht suchen müssen. Du hättest dieses blöde Testament einfach verbrennen können.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst.«

»Meine ich doch. Der Turm steht mir und meiner Schwester zu, wie alles andere auch.«

Kristoffer und Henner kannten sich bereits seit ihrer Kindheit. Sie hatten zusammen die Schule besucht, und wenn ihre Wege sich später auch trennten, als Kristoffer Jura studierte und Henner bei seinem Onkel in die Lehre ging, so wussten sie doch immer noch, was sie voneinander zu halten hatten. Seit bekannt war, dass der alte Linnarson den Leuchtturm einer Fremden vererbt hatte, zeigte sich Henner allerdings von einer Seite, die Kristoffer neu war. »Das Testament deines Onkels ist eindeutig«, wiederholte er, was er Henner in den letzten Tagen schon mehrfach zu erklären versucht hatte. »Dir und deiner Schwester das Haus, Victoria Savander der Turm. Daran gibt es nichts zu rütteln.«

»So sehe ich das nicht.« Mit wenigen Schritten hatte Henner ihn eingeholt und brachte ihn dazu, stehen zu bleiben. »Er muss einen Blackout gehabt haben«, fuhr Henner fort. »Man vererbt doch nichts irgendeiner Fremden.«

Nachdenklich blickte Kristoffer ihn an. »Vielleicht war sie ihm ja gar nicht so fremd.«

»Was willst du damit sagen?«, brauste Henner auf. »Dass mein Onkel mit dieser Frau etwas hatte? Vorsicht, Kristoffer, mein Onkel war ein anständiger Mann.« Drohend hatte er die Augen zusammengekniffen. Noch beherrschte er seine Wut, doch ein falsches Wort würde genügen, und die Wut würde ihn beherrschen. Aber darauf ließ Kristoffer es erst gar nicht ankommen. »Siehst du, so sehe ich das auch. Deshalb steckt da auch nichts hinter, dass er Victoria Savander den Turm vermacht hat. Sei mir nicht böse, ich muss gehen. Bis dann.«

Henner blieb alleine auf dem Anlegesteg zurück. Er ballte die Fäuste und schaute unwillkürlich zum Turm hinüber. Erneut ballten sich seine Hände zu Fäusten, als er hoch oben auf der Plattform im Gegenlicht die Silhouette einer Frau erblickte, die jetzt beide Arme hob und sich um sich selbst drehte …

*

Victoria hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Waren erst wenige Minuten vergangen, seit Kristoffer sie alleine gelassen hatte, oder waren die zwei Stunden, von denen er gesprochen hatte, bereits vergangen?

Vielleicht verlor sich hier draußen aber auch einfach nur Raum und Zeit, blieb nichts als dieses Gefühl der Freiheit und Schwerelosigkeit zurück, dass sie hier oben vom ersten Augenblick an empfunden hatte.

Langsam ging Victoria zurück in das Turmzimmer. Aufmerksam schaute sie sich um, nahm jetzt Details wahr, die ihr vorhin noch nicht aufgefallen waren. Vor allem das Foto an der gegenüberliegenden Wand fesselte ihren Blick. Sie trat näher, nahm es vorsichtig vom Haken und hielt es in beiden Händen. Versonnen schaute sie auf das markante Männergesicht. Ob das Hannes Linnarson war? Als das Foto gemacht wurde, war er höchstens vierzig Jahre alt gewesen.

»Was haben Sie mit Hannes Linnarson zu schaffen?«

Victoria fuhr erschrocken herum. »Wer sind Sie?«

»Henner Linnarson«, gab er knapp zur Antwort und wies auf das Foto in ihren Händen. »Ich bin Hannes’ Neffe.«

»Oh, hallo!« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Ihre Freundlichkeit brachte ihn vorübergehend aus dem Konzept. Nur zögernd erwiderte er ihren Händedruck und ließ ihre Hand schnell wieder los.

»Ich wusste gar nicht, dass Herr Linnarson Verwandte hat«, sagte Victoria.

»Ach, das wussten Sie nicht? Auch nicht, dass er noch eine Nichte hat? Lena? Sie haben ihn wohl nicht sehr gut gekannt.«

Victoria schüttelte den Kopf. Obwohl sie den unterschwelligen Ärger des Mannes spürte, hatte sie keine Angst vor ihm. »Ich habe Ihren Onkel überhaupt nicht gekannt«, gestand sie wahrheitsgemäß und brachte ihn damit erneut aus der Fassung. Sekundenlang starrte er sie sprachlos an. »Und warum hat er Ihnen dann den Turm vererbt?«, wollte er schließlich wissen.

»Ich weiß es nicht. Ich dachte erst, es handle sich um eine Verwechslung, aber der Anwalt sagt, das sei ausgeschlossen.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie nickend hinzufügte: »Ich finde es auch komisch.«

Henner stemmte die Hände in die Hüften, zog die Augenbrauen zusammen. Ihre Worte schienen seinen Ärger ein wenig besänftigt zu haben, doch sein Misstrauen ihr gegenüber war geblieben. »Jedenfalls steht Ihnen dieses Erbe nicht zu«, sagte er streng. »Sie sollten es einfach nicht annehmen.«

»Ihr Onkel hat vielleicht …«, begann Victoria in dem Versuch eine Erklärung für das Verhalten Hannes Linnarsons zu finden.

Henner ließ sich auf das Sofa fallen. »Mein Onkel war ein einfacher Mann. Automechaniker wie ich. Irgendwann hat er sich diesen alten Leuchtturm gekauft. Als Lesestube hat er immer gesagt.«

Ein Lächeln glitt über Victorias Gesicht, als sie zum Regal mit den Büchern hinüberschaute. »Ein schöner Ort zum Lesen.« Nur zu gut konnte sie es sich vorstellen, am Fenster zu sitzen, in einem guten Buch zu schmökern und auf das Meer zu schauen, wann immer sie den Kopf hob. Es gab also offensichtlich Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Hannes Linnarson.

»Keine Ahnung«, schüttelte Henner Linnarson den Kopf. »Ich lese nicht viel. Meine Onkel, ja. Und meine Schwester. Sie hat eine Buchhandlung.«

Als hätte er bereits zu viel von sich preisgegeben, stand er plötzlich auf. Der Tonfall seiner Stimme veränderte sich, wurde wieder hart und unversöhnlich. »Wie auch immer, ich werde gegen das Testament Einspruch einlegen. Der Turm steht mir und meiner Schwester zu. Den einzigen Verwandten von Hannes Linnarson.« Er wollte das Zimmer verlassen, doch Victorias Stimme hielt ihn zurück: »Kristoffer Lund sieht das aber anders.«

Henner wandte sich noch einmal um. »Was wollen Sie denn mit einem Turm? Von dem Sie noch nicht einmal wissen, wieso Sie ihn besitzen.«

Er sprach genau das aus, was Victoria gerade erst selbst gedacht und empfunden hatte. Trotzdem verteidigte sie ihr Erbe mit einem Mal. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu. »Aber irgendetwas muss sich Ihr Onkel doch gedacht haben, als er ihn mir vererbt hat. Oder?«

Er hatte ihr aufmerksam zugehört, doch er blieb unnachgiebig, bereits im Gehen sagte er: »Das ist mir egal. Ich werde alles tun, damit Sie den Turm nicht bekommen. Egal, was Kristoffer dazu sagt.«

Victoria schaute ihm nach und wunderte sich, dass die innere Ruhe, die sie hier gefunden hatte, trotz dieses wenig erfreulichen Gespräches nicht gewichen war. Kristoffer hatte Recht gehabt, diese Gegend besaß eine ganz eigene Magie.

Oder war das alles nur ein Traum, aus dem sie jeden Moment erwachen würde? Sie folgte Henner Linnarson nach unten, der noch einmal zu ihr hinüberschaute, bevor er in sein Motorboot sprang.

Victoria ging langsam hinunter zur Anlegestelle und schaute dem davonfahrenden Boot nach, empfand dabei sogar so etwas wie Verständnis für Henner Linnarson. Dann wandte sie sich um, schaute zum Turm.

Es war immer noch unfassbar, aber allmählich konnte sie Freude über diese unerwartete Erbschaft empfinden. Sie lächelte, zog ihr Handy aus der Tasche. Sie musste unbedingt jemandem erzählen, was ihr widerfahren war.

Victoria wählte Nils Nummer, lauschte ungeduldig dem Freizeichen, bis er sich endlich meldete. »Hej, Nils, ich bin es. Weißt du, was mir gerade passiert ist?«

»Ich bin jetzt gerade beim Essen. Können wir später noch einmal telefonieren?« Seine kühle Antwort ernüchterte sie. »Danke!«, fügte er noch hinzu und beendete das Gespräch einfach.

Nils hatte nur wenige Sekunden benötigt, um ihre Freude erneut zu zerstören und sie zum zweiten Mal an diesem Tag zu enttäuschen. »Dann eben nicht«, murmelte Victoria und ging zurück zum Turm.

*

»Entschuldigt«, sagte Nils im gleichen Moment, »der Verlag nervt schon wieder.« Er hatte sich mit seiner Frau und seiner Tochter zum Mittagessen verabredet. Sie saßen auf der vorgelagerten Terrasse des Restaurants direkt am Nybroviken. Die vorbeifahrenden Ausflugsschiffe waren an diesem Tag ebenso gut besucht wie die Restaurantterrasse.

Nils schaltete das Handy aus. Liebevoll lächelte er seine Frau an. »Jetzt sag mir, was wünschst du dir zum Geburtstag?« Nils schlug die Speisekarte auf.

Amelia lehnte sich entspannt zurück. »Ehrlich gesagt würde es mir reichen, wenn du ein bisschen mehr Zeit für mich hättest. So wie heute. Solche unerwarteten Vergnügen mit dir und Ebba liebe ich sehr.«

Nils Miene blieb ausdruckslos. Er schaute in die Speisekarte, als er seiner Frau antwortete. »Und ich liebe deine Bescheidenheit, Amelia.« Über den Rand der Speisekarte hinweg schaute er seine Frau nun an. »Übrigens, das bisschen Zeit schenke ich dir gerne.«

»Von wegen, Papa«, mischte sich Ebba lachend in die Unterhaltung der Eltern ein. »Das könnte dir so passen.« Fröhlich zwinkerte sie ihrer Mutter zu. »Wünsch dir was Tolles, Mama. Etwas, was du dir immer schon gewünscht hast. Lass ihn nicht so einfach davonkommen.«

Nachdenklich betrachtete Amelia ihren Mann. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Ebba hat Recht. Du hast mich wirklich vernachlässigt in den letzten Jahren. Ich glaube, es würde uns gut tun, wenn wir einmal im Jahr zusammen eine Reise machen.«

»Bravo, Mama!« Ebba war begeistert.

»Verreisen mit dir? Amelia, immer wieder gern.« Nils lachte gekünstelt auf. »Aber du weißt, ich bin ein Sklave meines Berufes, und ob ich mir …«

»Herr Schalin!« Eine junge Frau stand plötzlich neben Nils. »Wie toll, dass ich Sie hier treffe. Isa Magnus vom Magazin. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Ihr nächstes Buch, wovon wird das handeln?«

»Wir möchten jetzt nicht gestört werden«, erwiderte Nils. Im Grunde kam ihm diese Störung jedoch gerade recht, musste er doch nicht länger nach fadenscheinigen Gründen suchen, weshalb er den Wunsch seiner Frau nicht erfüllen konnte.

»Natürlich«, Isa Magnus zeigte sich verständnisvoll, »könnte ich dann bitte einen Termin bei Ihnen haben?«

»Rufen Sie meine Sekretärin an. Morgen im Büro«, erwiderte Nils, der allmählich ungeduldig wurde, woraufhin die Journalistin sich für die Störung entschuldigte und sich sofort verabschiedete.

Ebba schaute ihren Vater verblüfft an. »Ich dachte, Vicky macht Urlaub.«

»Dachte ich auch«, erwiderte Nils kurz angebunden, »aber sie hat es sich wohl anders überlegt.«

»Aber sie hat sich doch so darauf gefreut.« Ebba schaute ihren Vater strafend an. Obwohl sie die genauen Zusammenhänge nicht kannte, schien sie Nils dafür verantwortlich zu machen, dass die Urlaubspläne ihrer besten Freundin geplatzt waren. Nils jedenfalls fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Entschuldige bitte, Kleines«, jetzt nahm er zu einem autoritären Ton Zuflucht, »wir wollen jetzt nicht literarisch werden.« Er wandte sich Amelia zu und machte so auf seine Art deutlich, dass das Thema für ihn abgeschlossen war. »Was möchtest du essen, Liebes? Ich hätte Lust auf Hummer.«

Unwillig schaute Ebba ihren Vater an. Sie öffnete bereits den Mund, um noch etwas zu sagen, doch da fiel ihr Blick auf ihre Mutter, die diesen Tag sichtlich genoss. Also beschloss Ebba das Thema ruhen zu lassen und versenkte sich in die Speisekarte.

*

Die Straße führte geradewegs auf den Marktplatz, um den sich die Gründerzeithäuser gruppierten. Kristoffer parkte das sportliche Cabrio vor dem Haus mit den blauen Markisen über den Fenstern. Hier befand sich seine Anwaltskanzlei, die er von seinem inzwischen verstorbenen Vater übernommen hatte.

Die alte Frau Mertensen hob grüßend den Stock, als sie an seinem Wagen vorbeikam. Auf der anderen Seite schob Monica den Kinderwagen mit dem erst wenige Wochen alten Björn vor sich her. Auch sie winkte ihm fröhlich zu. Kristoffer grüßte zurück, bevor er die Türe zum Haus öffnete.

Grit, seine Sekretärin, blickte auf, als er das Büro betrat. Die Kanzlei war noch ganz im Stil seines Vaters eingerichtet mit Holzmöbel in einem dunklen, warmen Ton. Die schweren Holzregale an den Wänden waren mit juristischen Fachbüchern gefüllt.

»Hej, Grit«, grüßte Kristoffer. »War etwas Besonderes?«

»Ach, nur das Übliche.« Grit hatte sich zwar Notizen gemacht, aber die brauchte sie nicht, als sie Kristoffer Bericht erstattete. »Herr Pettersson wollte wissen, ob Sie ihn vor dem Gerichtstermin noch einmal sehen müssen, und Irene Hansson hat nächste Woche einen Termin.«

Während er ihr zuhörte, nahm Kristoffer sich eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein.

»Wie war es in Stockholm?« Das interessierte Grit im Augenblick weitaus mehr als das alltägliche Geschehen in der Anwaltspraxis. »Haben Sie sie gefunden?«

»Klar«, erwiderte Kristoffer, als hätte für ihn nie ein Zweifel daran bestanden, dass er Victoria Savander finden würde. »Und ich habe sie gleich mitgebracht. Sie ist gerade beim Leuchtturm.«

»Und?« Grit konnte ihre Neugierde jetzt nicht mehr im Zaum halten. »Wie ist sie denn so, und was sagt sie zu ihrem Erbe?«

»Sehr sympathisch.« Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Anwalts. »Ein wenig gestresst vielleicht, aber das ist auch kein Wunder bei ihrem Job.«

»Assistentin von Nils Schalin.« Die sonst so nüchterne Anwaltssekretärin wirkte mit einem Mal verträumt wie ein Teenager. »Ich vermute, da lässt man sich gerne ein wenig stressen«, fuhr sie fort. »Das ist bestimmt ein interessanter Job. Allein, dass man seine Bücher als Erster zu lesen bekommt. Oder sie irgendwie im Entstehen begleiten darf. Stell ich mir toll vor.« Sie schaute den Anwalt an. »Richtig spannend«, fügte sie voller Begeisterung hinzu.

Kristoffer schmunzelte. »Soll das heißen, dass es Ihnen bei mir zu langweilig ist? Mit dem ersten Schreiberling, der hier hereinkommt, wären Sie wahrscheinlich auf und davon.«

»Nicht mit dem Erstbesten«, stellte Grit amüsiert richtig. »Aber Nils Schalin …« Ihr Blick verlor sich in weiter Ferne. Tief seufzte sie auf, bevor sie weitersprach: »… der wäre schon eine Sünde wert.« Als sie bemerkte, dass Kristoffer sie grinsend beobachtete, fügte sie hastig hinzu: »Allein, weil er so tolle Bücher schreibt.«

»Verstehe«, nickte Kristoffer trocken. »Mehr aus intellektuellem Interesse.«

»Ganz genau«, lachte Grit, wurde aber gleich darauf abgelenkt, weil die Tür zu ihrem Vorzimmer aufgerissen wurde. »Hej, Henner.«

»Hej, Grit«, grüßte Henner Linnarson zurück und wandte sich gleich darauf Kristoffer zu. »Gut, dass du da bist. Ich habe mich erkundigt. Wenn ich nachweisen kann, dass Onkel Hannes nicht bei klarem Verstand war, als er das Testament aufsetzte, kann ich es anfechten und habe gute Chancen zu gewinnen.« Er schaute Kristoffer an, als würde er ausgerechnet von ihm Zustimmung, vielleicht sogar Beistand erwarten.

Doch Kristoffer blickte ihn ernst an. »Hannes war bei klarem Verstand. Das weißt du genau.«

»Gar nichts weiß ich«, schüttelte Henner den Kopf. »Nur dass er so etwas nie gemacht hätte, wenn er nicht völlig umnachtet gewesen wäre.«

»Wie sprichst du denn von deinem Onkel«, mischte sich Grit ein, offenbar schockiert von Henners Verhalten. »Er war doch nicht verrückt.«

»Du hast leicht reden, es geht ja auch nicht um deine Kohle«, brauste Henner auf. Seine dunklen Augen glühten regelrecht. Nur mit Mühe gelang es ihm die Fassung wiederzugewinnen. »Wie auch immer«, er wandte sich erneut an Kristoffer, »sag dieser Frau, dass sie am besten auf ihr Erbe verzichtet. Bis dann.«

»Irgendwie kann ich ihn ja verstehen«, meinte Grit.

»Ich ja auch«, stimmte Kristoffer ihr zu. »Trotzdem ist sie die Erbin, und Hannes hat sich sicher etwas dabei gedacht, als er ihr den Turm vererbte.«

*

Zuerst war es ihr unangenehm gewesen, die Schränke zu öffnen. Aber dann hatte sie sich immer wieder gesagt, dass es sich um ihr offiziell bestätigtes Eigentum handelte. Sie hatte es sich in einem der weißen Gartenstühle gemütlich gemacht, die auf der kleinen ebenen Fläche neben dem Leuchtturm standen, welche Hannes Linnarson offensichtlich als Terrasse gedient hatte. Die Zutaten für die Tasse mit dampfendem Tee, der vor ihr auf dem Tisch stand, hatte sie in einem der Schränke in der Küche gefunden.

»Victoria«, hörte sie Kristoffer Lund rufen, als er um den Turm herum auf sie zukam, einen Picknickkorb in der Hand. Lächelnd blickte er auf die Tasse, dann musterte er sie, wie sie mit angezogenen Beinen dasaß. »Das sieht ja so aus, als würden Sie sich schon ganz zu Hause fühlen.«

»Ehrlich gesagt, wenn ich ein Boot gehabt hätte, wäre ich schon wieder weg. Dieser Neffe von Hannes Linnarson war da, und der ist richtig wütend auf mich.«

In der letzten Stunde hatte sie den unerfreulichen Besuch Henner Linnarsons in Gedanken immer wieder Revue passieren lassen. Sie konnte seinen Ärger durchaus nachvollziehen, aber schließlich konnte sie ja nichts dafür, dass sein Onkel ihr den Turm vermacht hatte.

Kristoffer hatte sie aufmerksam beobachtet. Er schien zu spüren, was in ihr vorging. »Henner wird sich schon wieder beruhigen.« Gleich darauf wechselte er das Thema. »Wann haben Sie denn zum letzten Mal etwas gegessen? Zum Frühstück?« Er nahm zwei Weingläser aus dem Korb, stellte sie auf den Tisch. Daneben stellte er weitere Leckereien, die sich in dem Korb befanden. Duftenden Schinken, frisches Brot. Eine Platte mit Braten. Alles appetitlich angerichtet. In einer kleinen Schüssel waren frische Erdbeeren.

»Haben Sie mein Magenknurren bis zum Festland gehört?« Lächelnd schaute Victoria ihm zu. Er war so wohltuend unkompliziert. So ganz anderes als dieser Henner Linnarson und, dieser Vergleich drängte sich ihr automatisch auf, auch ganz anders als Nils.

»Sieht lecker aus.« Sie blickte auf die Delikatessen, die er ausgepackt hatte. »Lassen Sie uns essen, und danach fliegen Sie mich bitte zurück.«

Sie schauten sich an, beide griffen sie gleichzeitig nach den Erdbeeren. Ihre Finger berührten sich und mit einem Mal gewann die Stimmung, die eben noch so heiter gewesen war, einen unverkennbaren Ernst. Keiner der beiden zog seine Hand zurück und Kristoffer schaute Victoria lange an. »Sind Sie sicher? Sie wollen das alles verlassen, ohne hier eine einzige Nacht verbracht zu haben?«

Victoria hielt seinem Blick stand. »Ja, ja, ich weiß«, lächelte sie. »Die Nächte hier sind noch magischer.«

»In der Tat.« Kristoffer schaute ihr tief in die Augen. »Die Nächte hier sind … unvergleichlich.« Jetzt erst zog er seine Hand zurück und steckte sich eine der Erdbeeren in den Mund. Beide jedoch konnten die Blicke nicht voneinander lösen. Victoria lächelte vorsichtig. »Klingt verheißungsvoll«, sagte sie leise. »Aber ich muss zurück, ich habe schließlich einen Job.«

So als hätte sie es geahnt, klingelte in diesem Augenblick ihr Handy, und Nils Name leuchtete auf dem Display auf.

»Ich konnte nicht anders«, sagte Victoria zu Kristoffer. »Ich habe es wieder eingeschaltet.« Sie schaltete das Handy ein und meldete sich.

»Hej, Nils, du bist es.« Sie stand auf und ging in den Turm. Sie wusste selbst nicht, warum es ihr mit einem Mal unangenehm war, vor Kristoffer mit Nils zu reden. »Ja, es ist etwas ziemlich Verrücktes passiert«, sagte sie und berichtete Nils von ihrem Erbe.

»Du hast was geerbt?«, kam es ungläubig und gleichzeitig amüsiert zurück. »Wiederhole das noch einmal, Victoria. Kein Mensch vererbt einem anderen einfach so einen Leuchtturm.«

»Ich finde es ja auch komisch.« Victoria hatte inzwischen die Plattform des Leuchtturmes erreicht und ging am Geländer entlang. Besitzerstolz lag in ihrer Stimme, als sie weitersprach. »Aber es ist nun einmal so. Ich bin die Besitzerin des Leuchtturmes von Eggesund.«

Doch Nils ging gar nicht weiter auf dieses Thema ein. Für ihn war nur eines wichtig: »Wie auch immer, du hast dort nichts verloren. Ohne dich fällt mir nichts mehr ein.«

»Du musst dich nur ein bisschen anstrengen und nicht immer schon nach einer Viertelstunde weglaufen. Wo bist du denn gerade? Bestimmt nicht an deinem Schreibtisch.«

Victoria hatte längst an den Hintergrundgeräuschen erkannt, dass Nils sich nicht in seinem Atelier aufhielt. Immerhin klang seine Stimme jetzt ein wenig schuldbewusst. »Ich habe heute gerade mal einen halben Satz geschrieben.«

»Na bitte«, sagte Victoria zufrieden. »Das ist doch gut.«

»Ja, aber den habe ich eine Stunde später wieder weggeschmissen. Sieh zu, dass du diesem Eggesund den Rücken zudrehst«, verlangte er jetzt nachdrücklich. »Du hast dort nichts verloren.«

»Ach, woher willst du das wissen?« Trotz regte sich mit einem Mal in ihr.

»Stell nicht so törichte Fragen«, erwiderte er. »Du gehörst an meine Seite.«

Victoria hielt inne, schaute auf das Wasser. Die Möwen, die sich mit ausgebreiteten Schwingen vom Wind tragen ließen, bis sie beinahe die Wasserfläche berührten, und dann wieder nach oben flatterten, um dieses Spiel von neuem zu beginnen. Sie atmete tief durch und sprach aus, was sie bisher noch nie zu sagen gewagt hatte: »An deiner Seite ist immer noch deine Frau. Ich stehe irgendwo in der zweiten Reihe.«

»So ein Unsinn«, reagierte Nils ziemlich ungehalten. »Was ist eigentlich los mit dir?«

Wie sollte sie ihm etwas erklären, was sie selbst noch nicht so ganz verstand. Kristoffer hatte Recht gehabt, diese Umgebung hier besaß eine ganz eigene Magie, der Victoria sich immer weniger entziehen konnte. Nils musste es einfach selbst erleben. »Weiß du was«, sagte sie aus diesen Gedanken heraus. »Komm doch einfach her. Wir könnten hier übernachten und …«

»Victoria, ich brauche dich hier«, fiel Nils ihr ins Wort. »Ich will, dass du auf der Stelle zurückkommst.« Sein bestimmter Ton duldete keinen Widerspruch. Victoria hatte allerdings auch nicht die Absicht, noch länger mit ihm zu diskutieren. In diesem Moment hatte sie einen Entschluss gefasst, von dem sie sich auf keinen Fall mehr abbringen lassen wollte. Von Nils nicht und von niemand anderem.

»Nils …!« Sie streckte die Hand, in der sie das Handy hielt, weit von sich. »Nils …! Hallo …! Ich versteh dich so schlecht.«

»Victoria …!«, hörte sie ihn rufen. »Victoria …?« Sie rief ihrerseits noch mehrmals laut »Hallo«, bevor sie das Handy ausschaltete. Als sie sich umwandte, stand Kristoffer hinter ihr. Sie lächelte ihm zu und sagte: »Ich habe es mir überlegt. Ich bleibe.«

Seine Augen leuchteten auf. »Sehr gut! Wunderbar! Dann rufe ich gleich im Hotel an oder reserviere ein Zimmer.«

Victoria schüttelte den Kopf. »Ich schlafe hier.«

Sekundenlang starrte er sie an. Ungläubig und auch ein wenig fassungslos. »Im Turm?«

Victoria sagte nichts, schaute ihn nur an mit ihren schönen, großen Augen. Ihr Lächeln allerdings verriet ihm, dass sie fest entschlossen war. »Okay«, meinte er gedehnt, »warum nicht? Das hätte ich jetzt so nicht von Ihnen erwartet.«

»Kann es sein, dass Sie Vorurteile haben, Herr Anwalt?«, zog Victoria ihn auf. Übermut blitzte in ihren Augen auf. »Es soll auch Stadtmenschen geben, die einen gewissen Sinn für Romantik und Abenteuer haben.« Sie wandte sich um, lehnte sich gegen das Geländer und fühlte in sich mit einem Mal so eine tiefe Ruhe und Gelassenheit, dass sie genau wusste, es war die richtige Entscheidung, hierzubleiben. Zumindest diese eine Nacht.



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