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Drei emotionale Liebesgeschichten aus dem Land der Sehnsucht
Für viele von uns ist Schweden das Land der Träume: am Ufer eines Sees sitzen, die überwältigende Schönheit der Natur betrachten und die Ruhe genießen. Mit den romantischen Erzählungen von Inga Lindström begeben wir uns in dieses wunderschöne Land im hohen Norden und teilen Liebe und Leid mit den freundlichen Menschen dort.
Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:
- Sommertage am Liljasee
- Die Pferde von Katarinaberg
- Vickerby für immer
Mit vielen schwedischen Rezepten zum Nachkochen.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Sommertage am Liljasee
Die Pferde von Katarinaberg
Vickerby für immer
Rezepte
Für viele von uns ist Schweden das Land der Träume: am Ufer eines Sees sitzen, die überwältigende Schönheit der Natur betrachten und die Ruhe genießen. Mit den romantischen Erzählungen von Inga Lindström begeben wir uns in dieses wunderschöne Land im hohen Norden und teilen Liebe und Leid mit den freundlichen Menschen dort.
Dieses eBook enthält die folgenden gefühlvollen Liebesromane:
– Sommertage am Liljasee– Die Pferde von Katarinaberg– Vickerby für immer
Mit vielen schwedischen Rezepten zum Nachkochen.
Inga Lindström ist das Pseudonym einer erfolgreichen Drehbuchautorin. Sie ist verheiratet mit einem Bildhauer und Mutter einer Tochter. Sie pendelt zwischen Großstadt und Land. Nachdem sie Jura und Anglistik studiert und einige Jahre als Journalistin gearbeitet hatte, wandte sie sich dem Theater zu. Sie arbeitete bald auch als Dramaturgin für verschiedene Fernsehproduktionsgesellschaften. Und fing schließlich an, selbst Drehbücher zu schreiben.
Inga Lindström
WIEDER-SEHEN IMSEHNSUCHTS-LAND
Liebesgeschichtenaus Schweden
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
© 2011/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelillustration: © Friedberg - Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Mongkol Rujitham
Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4649-7
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Um diese Zeit war es noch ruhig in dem kleinen Käseladen in Gamla Stan, der Altstadt Stockholms. Zeit für die beiden Frauen, um ein Schwätzchen zu halten.
»Wie lange bleibt Lina eigentlich am Liljasee?«
Hanna hatte gerade damit begonnen, die Scheibe der Ladentheke abzuwischen. Jetzt hielt sie kurz inne. »Sie kommt heute Abend zurück. Am Samstag ist ihr Abiturball.« Hanna seufzte theatralisch auf. »Und dann verschwindet sie aus meinem Leben.«
Svea schaute sie erstaunt an. »Was soll das denn? Ich dachte, du freust dich für sie. Für deine Tochter fängt das Leben an, die ganze Welt steht ihr offen.«
»Ja, und meines hört damit auf«, sagte Hanna prompt. Sie war selbst erstaunt, wie enttäuscht ihre Stimme klang. Gleich drauf schüttelte sie den Kopf. »Nein, ich meine das nicht so«, behauptete sie, obwohl es sehr gut das wiedergab, was sie im Augenblick empfand. Sie hob den Blick und versuchte Svea begreiflich zu machen, was in ihr vorging.
»Es ist irgendwie so ein komisches Gefühl, dass sie mich jetzt nicht mehr braucht.«
»Das wäre ja auch noch schöner.« Svea schüttelte verständnislos den Kopf.
Hanna nahm es ihr nicht übel. Svea hatte selbst keine Kinder und konnte einfach nicht nachvollziehen, was in ihr vorging.
»Jetzt hör auf zu jammern«, ermahnte Svea sie, dabei lag in ihren Augen aber ein schalkhaftes Schmunzeln. »Freu dich lieber, dass du eine so tolle Tochter hast, um die du dir keine Sorgen machen musst. Sie wird ihren Weg schon gehen.«
Hanna nickte und ging in die Hocke, um den unteren Teil der Scheibe zu putzen. Ähnliche Gespräche hatten sie in letzter Zeit häufig geführt. Ja, Lina würde ihren Weg gehen, und eigentlich hatte Svea ja auch recht. Es war gut und richtig, dass ihre Tochter ihr eigenes Leben leben würde, aber das Gefühl der Verlassenheit, dass sie bei diesem Gedanken erfasste, ließ sich auch mit aller Vernunft nicht verdrängen.
Jemand betrat den Laden, aber Hanna war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie es nicht mitbekam. Erst Sveas Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit.
»Hej, guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«
»Es kommt darauf an«, antwortete eine angenehme Männerstimme. »Sind Sie die Besitzerin des Ladens?«
Hanna richtete sich auf. »Ich bin die Besitzerin.« Als sie sich umwandte, stockte ihr für einen Augenblick der Atem. Dieser Mann sah gut aus, mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen. Er war ein ganzes Stück größer als sie selbst. »Mein Name ist Hanna Andersson«, sagte sie schließlich.
Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. Hanna ergriff sie automatisch.
»Ich bin Per Nordenfeldt«, stellte er sich vor. »Ich komme aus Kungsholt, das liegt am ...«
»Liljasee! Das kenne ich!« Hannas Gesicht strahlte auf. »Meine Tochter macht da gerade ihre Abiturfahrt. Sie hat mich angerufen und so davon geschwärmt, wie schön es da ist.«
Oh, mein Gott, Hanna, schoss es ihr durch den Kopf. Gleich erzählst du diesem Fremden noch, wie sehr dir davor graust, dass deine Tochter demnächst zu Hause auszieht. Dabei signalisierte dieses blaue Augenpaar, das unverwandt auf sie gerichtet war, ehrliches Interesse. Sie räusperte sich, nahm einen geschäftsmäßigen Ton an und entzog ihm endlich ihre Hand, die er immer noch in der seinen hielt.
»Was kann ich für Sie tun?«
Der Mann wirkte einen Augenblick verwirrt, bevor er zur Sache kam. »Ähm ... Ich betreibe einen Bauernhof und stelle unter anderem Elchkäse her.«
Hanna war begeistert. »Ach wirklich? Ich suche schon lange jemanden, der Elchkäse macht«, sagte sie. »Immer mehr Kunden fragen danach.«
»Da bin ich«, lachte er, bevor er zu einer Erklärung ansetzte. »Ich bin öfter in der Stadt, um Restaurants mit meinen Produkten zu beliefern. Beim letzten Mal ist mir Ihr Laden aufgefallen und da dachte ich, ich frage einfach mal nach.«
Hanna nickte eifrig. »Ja, natürlich! Elchkäse ist zwar teuer, aber ...«
Per Nordenfeldt fiel ihr ins Wort: »... er ist auch was ganz Besonderes.« Er zögerte kurz: »Wenn ich das nächste Mal nach Stockholm komme, bringe ich Ihnen ein paar Kostproben mit, ist das okay für Sie?«
»Ja klar, ich freue mich«, sagte Hanna eilig. Himmel, was redete sie denn da? Es war ein ganz normales Gespräch zwischen einem potentiellen Lieferanten und einer Kundin. Kein Grund, sich derart verwirrt zu fühlen. Es war aber so, und das machte sie erst recht nervös.
»Gut, ich bin dann in vier Wochen wieder hier.« Winzige Fältchen zeichneten ein feines Gitternetz um seine Augen, wenn er lächelte. »Ich bin mir sicher, Sie werden begeistert sein.« Sein Blick war immer noch unverwandt auf Hanna gerichtet. Wieder reichte er ihr die Hand. »Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Hanna.« An der Tür wandte er sich noch einmal um, lächelte ihr zu und ging hinaus.
Die beiden Frauen blickten ihm nach, bevor Svea die Stille mit einem tiefen Seufzer unterbrach: »Und so einer versteckt sich auf dem Land.«
»Was?« Hanna wandte sich um. Der kurze Besuch Per Nordenfeldts wirkte in ihr auf eine Art und Weise nach, die sie selbst erstaunte.
»Das ist doch eine Schande, so wie der aussieht«, sagte Svea.
»Echt?«, fragte Hanna verwirrt. Gleich darauf hörte sie sich sagen: »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Ach, komm schon«, neckte Svea sie. »Wenn ich nicht wüsste, dass du bereits einen Mann hast, würde ich behaupten, du hast diesem Per Norderstedt gerade ziemlich verträumt nachgeblickt.«
Hanna blickte sie erstaunt an. »Ich bin schon seit mindestens hundert Jahren verheiratet!«, rief sie entrüstet. Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken, das Thema war beendet. Spontan fasste sie einen Entschluss. »Und wo wir gerade bei dem Thema sind, bin ich jetzt mal weg. Sten kommt in einer halben Stunde aus Oslo zurück. Ich will ihn überraschen.«
Svea ließ nicht locker. »Komm, gib es zu, dieser Per Norderstedt gefällt dir, und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen.«
Hanna brachte ein gequältes Lächeln zustande und wunderte sich selbst darüber, wieso ihr die Bemerkung ihrer Mitarbeiterin, die ihr im Laufe der Jahre zur besten Freundin geworden war, so viel Unbehagen bereitete. Natürlich stimmte es nicht, was Svea behauptete. Das war völliger Blödsinn.
»Ich hole Sten einfach nur ab«, sagte Hanna. »Wir machen uns einen schönen Tag. Es wird Zeit, dass wir mal wieder etwas gemeinsam unternehmen.«
Bevor Svea darauf antworten konnte, erkundigte Hanna sich hastig: »Ich kann dich doch alleine lassen?«
»Klar, geh nur«, winkte Svea ab. »Und genieße den Tag mit deinem Mann«, fügte sie vielsagend hinzu.
»Das werde ich«, erwiderte Hanna und merkte selbst, wie wenig begeistert das klang.
Die Centralstation, Stockholms größter Bahnhof, war nicht weit von Hannas kleinem Käseladen entfernt. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg über die Vasabron. Die Bogenbrücke überspannte den Norrström und verband Norrmalm mit der Altstadtinsel.
Als sie auf das glitzernde Wasser schaute, freute sie sich auf einmal auf den freien Tag. Sie könnte mit Sten irgendwo etwas essen und dabei mit ihm überlegen, wie sie den Tag gemeinsam gestalten konnten.
Hanna verspürte Lust auf einen unbeschwerten Tag am Wasser. Sie wollte die Sonne auf ihrer Haut fühlen, das Salz auf ihren Lippen schmecken.
Sie lachte über sich selbst, als sie die Centralstation erreichte, und verdrängte dabei den Gedanken, dass diese Sehnsucht nach Unbeschwertheit schon lange in ihr schwelte. Manchmal fühlte sie sich richtig alt und fragte sich, wo die Jahre geblieben waren. Lina war darüber erwachsen geworden, und so viele ihrer Träume und Pläne, die sie einst gemeinsam mit Sten geschmiedet hatte, waren auf der Strecke geblieben. Er hatte sie seinem beruflichen Erfolg geopfert, und sie hatte sich mit dem zufrieden gegeben, was ihr von ihrem Mann blieb.
Es musste sich etwas ändern. Für sie beide. Manchmal hatte Hanna das Gefühl, dass nicht nur ihre gemeinsamen Pläne, sondern auch ihre Liebe auf der Strecke geblieben waren. Das war ihr besonders bewusst geworden, als Sten ...
Nein, daran wollte sie nicht denken. Es war das dunkelste Kapitel ihrer Ehe gewesen, und damals hatte sie zum ersten Mal daran gedacht, sich von ihm zu trennen.
Sten arbeitete für ein internationales Pharmaunternehmen. Dessen Hauptsitz war in Stockholm, eine der Tochterfirmen, mit denen Sten eng zusammenarbeitete, lag jedoch in Oslo. Deshalb fuhr er regelmäßig dorthin. Als Hanna die riesige gewölbte Bahnhofshalle betrat und mit der Rolltreppe nach unten fuhr, war der Zug bereits eingefahren. Die ersten Reisenden stiegen aus und strebten den Treppen zu.
Hanna reckte sich. Hoffentlich hatte sie Sten nicht verpasst. Die Befürchtung war ihr gerade durch den Kopf geschossen, da sah sie ihn durch eine der offenen Zugtüren steigen. Sie winkte ihm zu, aber er sah sie nicht und nahm das Gepäck entgegen, dass ihm von innen gereicht wurde. Ein Trolley, eine Reisetasche und seine silberne Aktentasche, die inzwischen zu seiner ständigen Begleitung geworden war. Manchmal scherzte Hanna, sie würde nur auf den Tag warten, an dem er und seine Aktentasche miteinander verwuchsen.
Hanna öffnete den Mund und wollte ihn rufen, doch dann streckte Sten erneut die Arme aus. Diesmal war es kein Gepäckstück, das er aus dem Wagen hob, sondern seine Assistentin Britt. Die beiden wirkten im Moment aber eher wie ein sehr verliebtes Paar als wie Vorgesetzter und Mitarbeiterin.
Er küsste sie zärtlich. Sie schmiegte sich an ihn, hob ihr Gesicht. Zärtlich berührten seine Lippen ihren Mund.
Der Schlag traf Hanna unverhofft. Er verursachte keine Schmerzen, sondern betäubte sie innerlich vollkommen und löschte für den Augenblick jegliches Empfinden in ihr. Sie war unfähig, sich von der Stelle zu rühren oder den Blick von den beiden abzuwenden.
Sten und seine Assistentin kamen jetzt direkt auf Hanna zu, ohne sie zu bemerken. Die beiden hatten nur Augen füreinander, küssten sich immer wieder zärtlich. Plötzlich schaute Sten auf und das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch.
Britt folgte seinem Blick. Ihre Hand, die eben noch zärtlich über Stens Arm gestrichen hatte, zuckte zurück.
Hanna starrte die beiden unverwandt an. Sie registrierte jeden Blick, jede Geste und war unfähig, in irgendeiner Weise zu reagieren.
Sten stellte seine Reisetasche und den Aktenkoffer auf den Boden und trat zu ihr.
»Hanna, was machst du hier?«, fragte er erstaunt.
»Ich wollte dich überraschen, und das ist mir offensichtlich gelungen«, sagte Hanna spröde und wandte sich zum Gehen.
Sten folgte ihr, stellte sich ihr in den Weg. »Hanna, ich kann dir alles erklären.«, sagte er drängend.
»Ich wüsste nicht, was es da noch zu erklären gibt«, fuhr Hanna ihr Mann an und ging an ihm vorbei. Sten versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Es war ein toller, letzter Tag am Liljasee gewesen. Stimmengemurmel erfüllte den Bus, der die jungen Abiturienten zurück nach Stockholm bringen sollte.
Lina blätterte in ihrem Tagebuch. Es war angefüllt mit ihren Gedanken, ihren Erlebnissen und einer ganzen Menge Fotos, die ihre Stimmungen unterstrichen oder die Menschen zeigten, die ihr wichtig waren. Jetzt waren Ansichtskarten von Kungsholt dazugekommen, versehen mit originellen Texten und Zeichnungen ihrer Mitschüler. Sie alle hatten sich gegenseitig geschworen, niemals den Kontakt zueinander zu verlieren. Lina ahnte, dass es nicht so sein würde. Für sie alle standen so große Veränderungen an, dass sie im Verlauf der Zeit wahrscheinlich nicht einmal mehr aneinander denken würden.
Es war eine schöne Zeit gewesen. Sie hatte ihre Schulzeit genossen, war gut mit den Lehrern und Mitschülern zurechtgekommen, und bei aller Vorfreude auf ihr neues Leben schwang da tief in ihr auch ein bisschen Wehmut mit.
»Da, ein Elch!« Ihre Mitschülerin Karin, die auf der anderen Seite des Busses saß, sprang auf und deutete mit dem Finger an Lina vorbei aus dem Fenster.
Lina hob den Kopf und schaute hinaus wie alle anderen. Einige der Mitschüler, die ebenfalls auf der anderen Seite des Busses saßen, waren jetzt auch aufgestanden.
Zwischen den dunklen Stämmen der Fichten war zuerst nichts zu sehen. Als sie den Elch entdeckte, war der Bus auch schon vorbei. Ein kurzes Stück weiter waren aber zwei weitere Elche zu sehen. Ein Muttertier und ihr Kalb.
Schade, auch diesmal war der Bus so schnell vorbei. Dabei hätte Lina die Tiere gerne noch eine Weile beobachtet.
Die Aufregung legte sich, und die Schüler setzten sich wieder auf ihre Plätze. Es war spät geworden am vergangenen Abend, bei der ultimativ letzten Abschiedsfeier. Natürlich hatte es dabei auch tüchtig Alkohol gegeben.
Lina machte sich nichts aus Alkohol. Sie hatte nicht viel getrunken, trotzdem war sie ziemlich müde. Aber sie wollte auf keinen Fall einschlafen, denn gleich führte die Straße am See entlang, und sie wollte noch einmal einen letzten Blick darauf werfen.
Der Wald wurde lichter, die Straße machte einen weiten Bogen, und dann war da der See. Tiefblau schimmernd breitete er sich aus. Sonnenstrahlen tanzten silbrig auf der Oberfläche. Wie kleine, weiße Dreiecke waren weitab vom Ufer Segelboote zu sehen.
Kurz darauf führte die Straße in einer Kurve ganz dicht am See vorbei. Der Busfahrer drosselte die Geschwindigkeit, und in genau diesem Augenblick ertönte ein fürchterlicher Knall. Alle schrien erschrocken auf.
Der Bus geriet ins Schlingern.
Verzweifelte Schreie erfüllten den Bus. Alle versuchten, sich irgendwo festzuhalten. Lina sah, wie eine ihrer Mitschülerinnen vom Sitz in den Gang geschleudert wurde. Lina, die sich krampfhaft an Metallstange des Sitzes vor ihr festklammerte, konnte im Innenspiegel für einen kurzen Augenblick das Gesicht des Busfahrers sehen. Sein Gesicht war verzerrt, seine Hände rissen hektisch am Lenkrad. Der Bus wurde immer schneller. Er schlingerte noch einmal heftig nach links und kippte schließlich um. Der Aufprall war laut und heftig, die Menschen wirbelten im Inneren durcheinander, Taschen flogen durch die Gegend. Als die Scheiben barsten, floss sofort ein erster Schwall Wasser in den Bus.
Lina saß wie erstarrt auf ihrem Sitz. Kein Ton kam über ihre Lippen, während alle um sie herum weiter schrien. Ihr Hände umklammerten weiter krampfhaft die Metallstange, ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie registrierte, wie der Bus tiefer sank, während im vorderen Teil immer mehr Wasser eindrang.
Plötzlich war da dieser Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Entschlossen griff er nach ihren Händen, löste sie behutsam von der Stange, dann hob er sie auf die Arme und brachte sie nach draußen.
Lina registrierte, dass viele Mitschüler bereits am Ufer standen. Der Busfahrer stand auf der Seite des Busses, die noch aus dem Wasser ragte, und nahm sie in Empfang.
Langsam ließ die Starre nach. Sie lebte, ihr war nichts passiert.
Lina bemerkte die Tränen nicht, die über ihre Wangen liefen. Der unbekannte Retter half ihr und dem Busfahrer ans Ufer, wo die anderen auf sie warteten. Alle waren klitschnass, die meisten standen unter Schock. Viele weinten, einige schienen wie erstarrt, andere wiederum fanden schnell zu Aktivität zurück. Keiner von ihnen achtete auf den Mann, der ihnen allen das Leben gerettet hatte. Er verschwand ebenso plötzlich, wie er aufgetaucht war ...
Sten kam eine halbe Stunde nach ihr in die elegante Wohnung in der Nähe des Strandvägen. Hanna stand am Fenster und schaute hinaus. Sie drehte sich nicht um, als sie hinter sich die Schritte ihres Mannes vernahm.
»Es hat keine Bedeutung«, kam Sten gleich zur Sache.
»Ach ja?«, erwiderte Hanna zynisch. »Ob Britt das auch so sieht?«
»Ich werde es sofort beenden«, versprach Sten.
Langsam wandte Hanna sich ihrem Mann zu. Sie schaute ihn an, aber Sten wich einem direkten Blickkontakt aus.
»Vielleicht würde ich es dir sogar glauben, wenn es das erste Mal gewesen wäre.«
»Jetzt hör doch auf damit«, wurde Sten laut. Wahrscheinlich fühlte er sich von ihr in die Ecke gedrängt. »Das damals war nur ein Ausrutscher.«
»Und was war es diesmal?« Hanna trat ein paar Schritte vor. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich bin. Ich habe so lange gebraucht, dir wieder zu vertrauen.«
»Und das war doch auch gut so.« Sten schaffte es sogar, zu lächeln. Er kam auf sie zu, setzte sich auf die Tischkante und griff nach ihrer Hand. »Es ist doch viele Jahre gut gegangen. Hanna, ich will dich nicht verlieren. Ich denke doch nicht im Traum daran, mit Britt ...«
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinem Redefluss. Unwillig runzelte er die Stirn. »Lass es klingeln.«
Hanna zog ihre Hand aus der seinen. Sie ignorierte seinen ärgerlichen Blick, als sie zum Telefon ging und sich meldete. Am anderen Ende war ihre Tochter. Völlig aufgelöst rief das Mädchen etwas in den Hörer. Dazwischen weinte sie. Hanna verstand nur die beiden Worte Bus und Unfall.
»Bitte, Lina, rede etwas langsamer. Was ist passiert?«
Lina schluchzte und berichtete stockend, der Bus habe einen Unfall gehabt.
»Bist du in Ordnung?« Hannas Nervosität stieg mit jedem Wort. »Und was ist mit den anderen?«
Lina versicherte, dass weder sie noch ihre Mitschülerinnen ernsthaft verletzt waren. Sie hörte auf zu weinen und fügte halbherzig hinzu, sie sei völlig in Ordnung und Hanna müsse sich keine Sorgen machen.
Natürlich machte Hanna sich Sorgen. Sie musste zu Lina, sich selbst davon überzeugen, dass ihrem Kind nichts passiert war. »Bleib, wo du bist«, sagte sie energisch. »Ich komme zu dir.« Mit diesen Worten beendete sie das Gespräch.
Sten betrachtete sie besorgt.
»Linas Bus hatte einen Unfall«, sagte Hanna nervös. »Sie sagt, ihr ist nichts passiert, aber ich fahre trotzdem zu ihr.«
»Ich komme mit«, sagte Sten spontan.
Hanna schüttelte den Kopf. »Lina klang ganz munter. Es ist nicht nötig, dass du mitkommst.« Die Wahrheit war, dass sie Sten nicht dabeihaben wollte. Sie wollte nicht neben ihm im Auto sitzen auf der Fahrt nach Kungsholt und anschließend vor Lina so tun, als wäre nichts passiert. Mit dem Wissen, dass er die letzten Tage mit Britt verbracht hatte. Nicht nur die Tage, sondern vor allem auch die Nächte.
»Es ist ganz gut, wenn wir beide Zeit zum Nachdenken haben«, sagte sie bestimmt.
Sten runzelte ärgerlich die Brauen. »Ich denke nicht daran, hier zu bleiben.«
Hanna reckte das Kinn in die Höhe. »Wo wärst du jetzt, wenn ich nicht am Bahnhof gewartet hätte?«, forderte sie ihn heraus.
Sten senkte schuldbewusst den Blick.
»Du wärst bei Britt und hättest wahrscheinlich dein Handy ausgestellt«, mutmaßte Hanna und erkannte an den Augen ihres Mannes, dass sie damit völlig richtig lag. »Du hättest von Linas Unfall also gar nichts erfahren.«
Sten erwiderte nichts und hielt sie auch nicht auf, als sie ins Schlafzimmer ging und ein paar Sachen in ihre Reisetasche packte. Es war eine spontane Idee, noch völlig unausgegoren, aber Hanna wusste, dass sie vorerst nicht in die gemeinsame Wohnung zu Sten zurückkehren würde. Sie brauchte Ruhe und Abstand, um über alles nachzudenken.
Dichter Mischwald säumte die Straße zur Linken. Die samtweiche Luft strömte durch das geöffnete Seitenfenster. Einsam gelegene Häuser, in dunklem Rot gestrichen, waren vereinzelt zu sehen. Sobald sie an einem dieser Häuser vorbeifuhr, nahm sie den Fuß vom Gas. Sie war in einem Dorf mit solchen Häusern groß geworden und hatte schon damals davon geträumt, auch als Erwachsene in so einem Haus zu leben. Umgeben von wilden Stockrosen und weißen Margeriten. Rechts von ihr lag glatt und ruhig der Liljasee.
Hanna presste die Lippen fest aufeinander, als das Handy klingelte und sie auf dem Display sah, dass der Anruf von Sten kam. Sie wollte nicht mit ihm reden, drückte ihn ohne zu zögern weg.
Es war nicht nötig, dass sie mit Sten sprach, allein sein Versuch, sie anzurufen, wühlte sie wieder auf. Hanna verpasste dadurch die richtige Abfahrt und fand sich plötzlich auf einem Weg wieder, der unmittelbar am See endete. Steinige Felsen bildeten den Uferbereich, rundherum wuchs Schilf weit in den See hinein.
Ärgerlich schlug sie auf das Lenkrad. »Ausgerechnet heute«, murmelte sie. Hanna stieg aus dem Wagen und zuckte erschrocken zusammen, als ein Hund auf den Felsen nach oben sprang und sie anbellte. Dabei wedelte er zur Begrüßung mit dem Schwanz.
Als Hanna einen Schritt weiter nach vorn trat, entdeckte sie ein Boot am Rande des Schilfs. Ein Mann stieg soeben heraus und folgte seinem Hund über die Felsen hinauf.
»Hallo«, sagte Hanna und erwiderte das freundliche Lächeln des Mannes. Sie wusste genau, dass sie ihm noch nie zuvor begegnet war und trotzdem kam er ihr irgendwie bekannt vor.
Er grüßte freundlich zurück. »Schöner Tag heute, was?«
»Na ja. Ich habe mich leider verfahren«, sagte Hanna.
»Das kann passieren.« Er lachte. »Wo wollen Sie denn hin?«
»Ich muss dringend nach Kungsholt. Meine Tochter ist auf Klassenfahrt und hatte einen Unfall mit dem Bus.«
Der Mann nickte verständnisvoll. »Davon habe ich gehört. Aber den Schülern ist ja nichts passiert. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihrer Tochter geht es bestimmt gut.«
Hanna nickte, auch wenn seine Worte sie nicht wirklich überzeugen konnten. »Das hat sie auch gesagt, aber Mütter sind nun einmal von Natur aus überbesorgt. Auch wenn die eigene Tochter gerade das Abitur gemacht hat und eigentlich erwachsen ist.«
Der Mann verstand sofort, was sie meinte. »Ja, sie bleiben immer unsere Kinder«, sagte er. In seinen Augen lag plötzlich eine Traurigkeit, die Hanna berührte.
»Auch wenn sie aus dem Haus gehen ...«, fuhr er fort. Dabei glitt sein Blick an ihr vorbei, und Hanna hatte das Gefühl, dass er jetzt mehr zu sich selbst als zu ihr sprach. »... wenn sie nichts mehr von sich hören lassen und man sie überhaupt nicht mehr sieht, so bleiben sie doch unsere Kinder, um die man sich sorgt.« Er verstummte, starrte eine Weile vor sich hin, bis ihm plötzlich einzufallen schien, dass er nicht alleine war. Es war ihm anzusehen, dass es ihm schwerfiel, wieder zu lächeln. »Dann zeige ich Ihnen mal den Weg nach Kungsholt«, sagte er betont fröhlich.
Dank der Erklärungen des Mannes brauchte Hanna nicht lange, bis sie in den kleinen Ort einfuhr. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie mit ihrer Tochter keinen Treffpunkt verabredet hatte und überhaupt nicht wusste, wo sie Lina finden konnte. Vielleicht konnte ihr ja jemand im Dorf sagen, wo die verunglückten Abiturienten hingebracht worden waren.
Hanna brauchte nicht zu fragen. Sie folgte den Hinweisschildern zum Krankenhaus und fand sich schon bald vor einem zweistöckigen, weißen Holzbau wieder, vor dem sich eine Schar aufgeregter junger Leute aufhielt. Sie standen in Gruppen beieinander und diskutierten heftig.
Hanna stieg aus dem Wagen und schaute sich suchend um. Plötzlich stand Lina vor ihr, fiel ihr um den Hals. »Du bist wirklich gekommen. Ich habe dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist!« Auch wenn das junge Mädchen versuchte, Hanna zu beruhigen, war ihm deutlich anzusehen, dass es sich über die Ankunft der Mutter freute.
Hanna griff ihre Tochter bei der Schulter und schob sie ein Stück von sich. Prüfend musterte sie das Mädchen. »Geht es dir wirklich gut?«
»Ja.« Lina nickte. »Ich war nur in Panik, als es passierte. An dem Bus ist ein Reifen geplatzt, und dann ist er in den See gerutscht.«
»Ich mag mir das überhaupt nicht vorstellen.« Hanna schüttelte sich. In ihrer Fantasie sah sie einen Bus voller junger Menschen tief unten im See. »Das Wasser war hoffentlich nicht tief«, sagte sie.
»Der Bus ist auf die Seite gekippt und füllte sich rasend schnell mit Wasser«, sagte Lina. »Aber auf einmal war da ein Mann, der die Türen von außen geöffnet und uns rausgeholfen hat.«
»Was ist mit deinen Sachen?«, wollte Hanna wissen.
Lina erzählte ihr, dass der Bus im Laufe des Tages geborgen werden sollte und dann alle ihr Gepäck abholen konnten. Vermutlich würde alles klitschnass und die elektronischen Geräte durch das Wasser zerstört sein, aber das war im Moment zweitrangig. Für Lina, ebenso wie für ihre Mitschüler, wog in erster Linie die Tatsache, dass keinem von ihnen etwas passiert war.
Hanna war froh, ihre Tochter wohlbehalten vor sich zu haben. Lina wirkte gefasst und würde das Geschehene hoffentlich schnell verarbeiten. Hanna betrachtete ihre Tochter und fasste sich dann ein Herz: »Was hältst du davon, wenn wir noch ein paar Tage hier bleiben?«, schlug sie vor.
Lina machte große Augen. »So spontan kenne ich dich ja gar nicht. Was ist denn mit dem Laden? Und mit Papa?«
Hanna registrierte die Reihenfolge, in der Lina das aufzählte, was in Stockholm wichtig für ihre Mutter war.
»Svea kriegt das mit dem Laden schon hin«, meinte Hanna mit einer wegwerfenden Handbewegung. Der Frage nach Sten wich sie völlig aus. »Und? Was hältst du davon? Das letzte Mal Urlaub mit deiner Mama«, sagte sie betont fröhlich.
»Ach, hör auf. Das ist doch nicht das letzte Mal, nur weil ich jetzt das Abitur habe«, wiedersprach Lina, bevor sie dem Vorschlag zustimmte. »Ich würde gerne noch ein bisschen bleiben. Hier ist es wunderschön. Sollen wir Papa anrufen, damit er nachkommt?«
Diesmal konnte sie einer Antwort nicht ausweichen. Wahrscheinlich würde Sten sich sogar sofort auf den Weg machen, aber Hanna wollte ihn nicht sehen. Sie wollte ihre Tochter nicht belügen, aber noch weniger wollte sie Lina mit ihren Eheproblemen konfrontieren. »Papa ist auf Dienstreise«, behauptete sie deshalb. »Die kann er unmöglich unterbrechen«.
Es war eine Lüge, die Lina ihr sofort abnahm. Sie war es seit frühester Kindheit gewohnt, dass ihr Vater ständig auf Dienstreise war. »Okay«, sagte sie unbekümmert. »Dann machen wir zwei eben Mädelsferien. Ich weiß auch schon, wo wir anfangen, ich muss mich nur gerade noch abmelden.«
Lina führte ihre Mutter durch das Dorf. Hanna verstand sehr schnell, wieso Lina sich hier so wohlfühlte. Das kleine Dorf erinnerte sie an ihr eigenes Heimatdorf, und Lina hatte die Ferien auf dem Land bei Oma und Opa geliebt.
Zum Teil waren die schmalen Straßen zwischen den Häusern ungeteert. Die Häuser waren fast alle von Holzzäunen umgeben, hinter denen es wild und verschwenderisch blühte. Rosen in verschiedenen Rottönen, die teilweise an den Holzfassaden entlang kletterten, dazwischen Rittersporn und Schleierkraut. Vor allen Haustüren standen Blumen in bunten Töpfen. Weiße Holzbänke luden zum Sitzen ein.
An einer Wegkreuzung stand ein fahrbarer Eisstand. Lina suchte die Sorten für sich und ihre Mutter aus und wartete, bis Hanna probiert hatte. Erwartungsvoll schaute sie Hanna an. »Schmeckt das nicht wunderbar? Ich habe fast mein ganzes Geld bei Bertil gelassen.«
Schleckermäulchen, so hatte Sten ihre gemeinsame Tochter früher immer genannt. Ihre Vorliebe für Süßigkeiten, insbesondere für Eis, hatte Lina bis heute beibehalten. Es war ihr glücklicherweise nicht anzusehen. Ein schlankes, hübsches Mädchen, mit langen, blonden Haaren.
Hanna musste allerdings zugeben, dass dieses Eis wirklich ganz hervorragend schmeckte. Fragend wandte sie sich an den Eisverkäufer. »Wissen Sie, wo ich hier ein Ferienhaus mieten kann? So was Romantisches, direkt am Wasser, das wäre schön.«
»Das ist überhaupt kein Problem.« Bertil wies in die schmale Gasse hinter sich. »Wenn Sie dadurch gehen, kommen Sie in die Frederiksgatan. Gehen Sie in das Fischlokal. Greta Hamsun wird Ihnen bestimmt weiterhelfen.«
Hanna bedankte sich und schlenderte langsam mit ihrer Tochter durch die ungewöhnliche Straße. Die Gasse war teilweise von Häusern überbaut worden und wirkte wie eine Schlucht. Allmählich gelang es ihr, die unerfreuliche Szene vom Vormittag zu verdrängen. So etwas wie Urlaubsstimmung machte sich in ihr breit.
Die Frederiksgatan war offensichtlich die Hauptstraße von Kungsholt und führte zu dem Hauptplatz des Dorfes, um den sich Wohnhäuser und Geschäfte gruppierten. Lina erklärte ihrer Mutter, dass hier freitags ein Markt stattfand, auf die Bauern aus der Umgebung ihre Produkte verkauften.
Fast alle Geschäfte des Dorfes befanden sich an der Frederiksgatan. Ein kleiner Lebensmittelladen lag direkt neben der Bäckerei, aus der es verführerisch nach frisch Gebackenem duftete.
Das Fischrestaurant gefiel Hanna auf Anhieb. Sie nahm sich vor, mit Lina in den nächsten Tagen dort zu essen. Im Augenblick war es ruhig. Der Mittagsbetrieb war bereits vorbei, und für den Abendbetrieb war es noch zu früh. Glücklicherweise war Greta Hamsun da und hatte sogar ein freies Ferienhaus am See.
Greta brachte Mutter und Tochter gleich dorthin, damit sie es sich anschauen konnten. »Das ist das schönste Ferienhaus hier in der Gegend«, sagte sie stolz.
Hanna war von Anfang an fasziniert. Dieses zauberhafte weiße Haus mit den hellen Sprossenfenstern und dem halbrunden Erker gefiel ihr ausgesprochen gut. Es lag auf einer kleinen Anhöhe, nur durch eine Wiese vom See getrennt. Sie war berührt von dieser traumhaft schönen Landschaft, von der Stille, die nur vom Plätschern des Wassers und dem Gezwitscher der Vögel unterbrochen wurde. Hier würde sie zur Ruhe kommen und hier würde sie Entscheidungen treffen können, die vor ihrer Rückkehr nach Stockholm anstanden.
In einem kleinen Schuppen standen zwei Fahrräder, die sie während ihres Aufenthalts benutzen durften. Am See gab es sogar ein richtiges Bootshaus mit einem quadratischen Badesteg, der auf der Wasserfläche zu schwimmen schien.
Auch Lina schien das Haus zu gefallen. »Es ist perfekt«, rief sie aus.
Greta lächelte geschmeichelt. »Es ist komplett eingerichtet«, sagte sie. »Sogar die Küche. Wenn Sie keine Lust zum Kochen haben, können Sie natürlich auch zu mir ins Restaurant kommen«, schmunzelte sie. »Ich habe übrigens einen ganz wundervollen Koch. Ohne ihn hätte ich mich wahrscheinlich überhaupt nicht getraut, das Lokal zu pachten.«
Hanna hörte interessiert zu.
»Eigentlich war ich Bankkauffrau in Malmö«, erzählte Greta weiter, »aber die Bank habe ich noch kein einziges Mal vermisst.«
»Sie haben alles aufgegeben und sich einfach so ins kalte Wasser gestürzt?«, fragte Hanna bewundernd.
Greta zögerte einen Augenblick. »Ich wollte nicht mehr in der gleichen Stadt leben, wie mein Ex und seine neue Freundin.«
Greta wirkte in diesem Moment sehr traurig. Wenn sie wüsste, wie gut ich sie verstehen kann, schoss es Hanna durch den Kopf. Sie sah Sten vor sich, wie er Britt aus dem Zug hob und sie zärtlich küsste.
Greta schien die Erinnerung schnell abzuschütteln. »Als ich die Annonce in der Zeitung las, dass in Kungsholt ein Fischlokal zu vermieten war, bin ich gleich hergefahren. Ich habe mich sofort in den Ort verliebt, und mit dem Besitzer komme ich auch gut klar.« Sie lächelte versonnen. »Ja, und jetzt bin ich schon etwas länger als ein Jahr hier.«
Auch Lina hatte aufmerksam zugehört. »Ist es Ihnen hier auf dem Land nicht zu langweilig?«, fragte sie erstaunt. »So wahnsinnig viel los ist hier ja nicht.«
Greta lächelte geheimnisvoll. »Ist es nicht egal, wo man ist, sondern viel entscheidender, mit wem man da ist?«
Hanna spürte ein Ziehen in der Brust. Es war offensichtlich, dass Greta sich verliebt hatte. Wehmütig stellte sie fest, dass sie selbst beinahe vergessen hatte, wie das war. Ihre Liebe zu Sten hatte bereits vor langer Zeit einen Knacks erhalten, als sie zum ersten Mal feststellte, dass er nicht treu war. Vor allem Lina zuliebe hatte sie ihre Ehe damals nicht aufgegeben. Es hatte lange gedauert, bis sie ihm wieder vertraut hatte. Hanna hatte keine Ahnung, wie sie mit seinem erneuten Vertrauensbruch umgehen sollte. Dieses Mal aber war es nicht nur seine Affäre mit Britt, die ihr zu schaffen machte, sondern vor allem ihre eigenen Gefühle.
Als sie damals hinter seinen Seitensprung gekommen war, hatte sie nächtelang geweint und sich tagsüber vor Lina nur mühsam zusammenreißen können.
Lina war damals zwölf Jahr alt gewesen. Ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen, das die Spannungen zu Hause trotz aller Bemühungen der Eltern bemerkte. Wegen Lina hatte Hanna sich schließlich für den Neuanfang mit Sten entschieden. Sie hatten sich in den vergangenen Jahren arrangiert, ihr Leben miteinander wieder eingerichtet.
Ein Leben, das wurde ihr jetzt klar, in dem es keine Höhen und keine Tiefen mehr gab, bis zu dem Moment, als sie ihn zusammen mit Britt gesehen hatte.
Hanna spürte plötzlich, dass Lina sie aufmerksam beobachtete. Sie musste sich zusammenreißen, damit ihre Tochter nichts bemerkte. Sie selbst würde Lina niemals sagen, was passiert war. Lina liebte ihren Vater, und Hanna wollte das Bild, das ihre Tochter von Sten hatte, nicht zerstören. Lina hatte mit den Problemen zwischen ihr und Sten nichts zu tun.
Hanna zwang sich zu einem Lächeln und legte einen Arm um ihre Schulter, während sie Greta ins Haus folgten.
Das Innere des Hauses hielt, was das Äußere versprach. Helle Räume, vorwiegend in Weiß gehalten. Gleich rechts neben dem Eingang führte eine Treppe in die obere Etage. Greta zeigte ihnen aber erst einmal die Räume im Erdgeschoss.
Von hier aus gelangte man, ebenso wie durch den Flur, in die Küche. Im Wohnzimmer führte eine breite, gläserne Doppeltür in den halbrunden Erker, den Hanna bereits von außen bewundert hatte. Es war ein Wintergarten, der als Esszimmer genutzt wurde. Das ganze Halbrund des Raumes wurde von hellen Sprossenfenstern eingenommen, mit einem berauschenden Blick auf den See.
Greta kam nur kurz mit ins Haus und verabschiedete sich gleich darauf wegen eines wichtigen Termins. Sie überließ es Mutter und Tochter, das Haus alleine zu erkunden.
Eingerichtet war das Haus mit gemütlichen Möbeln. Auf den Bodendielen lagen flauschige Teppiche. Lina war ganz begeistert von dem Schaukelstuhl vor dem offenen Kamin.
»Fandest du Schaukelstühle vor kurzem nicht total altmodisch?« Hanna schmunzelte.
Lina fläzte sich bereits in den Stuhl, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie schaukelte hin und her. »Ach, das war vor meinem Abitur«, sagte sie.
Hanna betrachtete ihre Tochter amüsiert. Seit Lina das Abitur bestanden hatte, schien sie sich sehr erwachsen zu fühlen. Ihre Zeiteinteilung war neuerdings vor dem Abitur oder nach dem Abitur.
»Ich finde es schön, dass wir hier sind«, sagte Lina schließlich. »Wir machen uns jetzt ein paar richtig faule Tage. Außerdem habe ich hier noch etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Aha.« Hanna schaute ihre Tochter fragend an. »Was denn?«
Linas Gesicht wurde ernst. »Ich hab dir doch von dem Mann erzählt, der uns aus dem Bus geholfen hat. Ich würde mich gerne bei ihm bedanken.«
Hanna nickte nachdenklich. Auch sie schuldete ihm ihren Dank und konnte ihrer Tochter nur zustimmen. »Dann sollten wir heute noch zu ihm gehen«, schlug sie vor.
Lina schüttelte den Kopf. »Das ist leider nicht so einfach. Hier kennt ihn nämlich keiner.«
Hanna kam nicht zu einer Antwort, weil in diesem Moment ihr Handy klingelte. Auf dem Display sah sie, dass es wieder Sten war. Sie konnte ihn schlecht wegdrücken, jetzt, wo ihre Tochter dabei war.
»Hallo Sten.« Sie bemerkte selbst, wie förmlich ihr Ton war. Sie konnte einfach nicht anders. Es war ihr unmöglich, in diesem Moment besonders freundlich oder sogar herzlich zu ihm zu sein. Sie registrierte Linas aufmerksamen Blick und wandte ihr den Rücken zu. Ihre Tochter sollte ihr nicht auch noch ins Gesicht schauen können, sie war nicht sicher, ob sie ihre Mimik unter Kontrolle halten konnte. Aber vermutlich war ihre Stimme schon verräterisch genug.
Sten erkundigte sich zuerst nach Lina. Hanna versicherte ihm kühl, dass alles in Ordnung sei.
»Wir haben übrigens noch beschlossen, ein paar Tage hier zu bleiben«, teilte sie ihrem Mann mit.
Sten schluckte schwer am anderen Ende. Sekundenlang blieb es still, bevor er darum bat, mit Lina zu sprechen.
Hanna reichte ihr das Handy. »Papa will dich sprechen.« Dann wandte sie sich wieder um und setzte sich.
»Ach, Paps«, hörte Hanna ihre Tochter antworten. »Jetzt mach dir mal keine Sorgen, es ist wirklich nichts passiert. Mama und ich haben ein wunderschönes Ferienhaus am See gemietet. Kannst du nicht auch kommen?«
Hanna schoss hoch und streckte die Hand nach dem Handy aus. »Ich will ihn noch einmal kurz sprechen«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. Überrumpelt reichte Lina ihr das Handy.
»Hallo, ich bin es noch einmal«, sagte Hanna und war sich bewusst, dass ihre Tochter sie jetzt noch aufmerksamer als zuvor beobachtete.
Hanna atmete tief durch, und mobilisierte all ihre Kräfte für ein Lächeln. Es war ihr wichtig wegen Lina. Was Sten dachte, war ihr völlig egal.
»Ich habe Lina gesagt, wie wichtig deine Dienstreise ist und du einfach nicht kommen kannst.«
»Verstehe«, erwiderte Sten gedehnt. »Du willst mich nicht sehen. Okay, dann nimm dir die Zeit, die du brauchst.«
Hanna hätte am liebsten in den Hörer geschrien, wie sehr ihr sein gönnerhafter Ton auf die Nerven ging. Er hatte ganz sicher nicht vergessen, weshalb sie nicht nach Hause zurückkehren wollte. Trotzdem klang er so, als müsste sie ihm für sein großzügiges Zugeständnis auch noch dankbar sein.
»Gib mir Lina noch einmal, ich werde es ihr erklären«, sagte er. »In deinem Sinne«, fügte er beschwichtigend hinzu.
Hanna biss die Zähne zusammen. Sie gab ihrer Tochter das Handy zurück. »Papa noch einmal«, sagte sie und ging dann schnell hinaus in die Küche. Ihre Wut war in diesem Moment grenzenlos, brannte in ihrem Magen. Sie wollte nicht zuhören, wie Lina mit ihrem geliebten Vater sprach. Sie würde ihrer Tochter bloß den Hörer aus der Hand reißen und explodieren. Schade, dass ihr all diese Worte, die ihr jetzt durch den Kopf gingen, nicht schon in Stockholm eingefallen waren. Am besten in dem Moment, als sie Sten und Britt auf dem Bahnsteig entdeckt hatte.
Seit einiger Zeit war die Hütte am See sein Zuhause. Niemand wusste, dass er hier lebte, außer dieser Greta aus dem Fischlokal, die ihm das Haus vermietet hatte. Greta hielt ihn für einen Naturbeobachter und Angler, der hier den Sommer verbrachte.
Der Mann steuerte das Boot an den Landungssteg. Hier fühlte er sich sicher. Seit er angekommen war, hatte sich noch kein Mensch hierher verirrt. Niemand, der ihn fragte, was er hier zu suchen hatte.
Der Mann stieg aus dem Boot und vertäute es. Im Boot lag das Fernglas, das er immer mitnahm. Jetzt richtete er es auf die Elchfarm auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.
Das behäbige, rot gestrichene Gebäude mit den weißen Fensterrahmen wirkte wie verwachsen mit der Landschaft. Das flirrende Laub der Birken, die überall auf dem Grundstück wuchsen, verwischte die strengen Linien des kastenförmigen, zweistöckigen Gebäudes.
Langsam wandte der Mann den Kopf nach rechts. Aus der Entfernung wirkten die Fenster der Farm dunkel und leblos. Er konnte nicht sehen, was sich hinter den Scheiben abspielte.
Sein Blick glitt noch weiter nach rechts, vorbei an dem Gebäude, an Bäumen und Sträuchern. Er hielt erst inne, als er durch das Fernglas hindurch einen Mann entdeckte.
Per zersägte einen Ast, den er zwischen zwei Holzböcke gelegt hatte. Jetzt richtete er sich auf und wischte sich mit der Hand über die Stirn.
Langsam ließ der Mann das Fernglas sinken, ohne den Blick von der Farm gegenüber zu nehmen. Sein Gesicht zeigte keine Regung. Schließlich bückte er sich, nahm die Fische aus dem Boot, die er geangelt hatte, und rief seinen Hund.
»Komm, Pelle!«
Mit schweren Schritten stapfte er zur Hütte.
Lina brannte darauf, ihrer Mutter die Gegend zu zeigen. Ganz oben auf Linas Besichtigungstour stand natürlich die Unfallstelle. Sie nutzten dazu die Fahrräder und wollten anschließend noch schwimmen gehen. Unter ihrer Kleidung trugen sie bereits Badesachen.
Jetzt sprang Lina vom Fahrrad. »Genau hier sind wir in den See gerutscht.«
Hanna war ebenfalls vom Rad gestiegen und schaute sich um. Die Schilderung des Unfalls war schon schlimm gewesen, aber jetzt hier zu stehen und sich das alles vorzustellen war entsetzlich.
Die Stelle am See war abgesichert. Bremsspuren waren auf der Straße zu sehen, schwarze Gummiteile, die von dem geplatzten Reifen stammten, lagen noch verstreut am Straßenrand. An der Seeseite fiel die Böschung mehrere Meter steil ab.
Hanna lief ein Schauder über den Rücken, als sie hinunterschaute. Ihr wurde erst jetzt so richtig bewusst, wie viel Glück die jungen Leute gehabt hatten.
»Das sieht ja furchtbar aus«, stieß Hanna hervor.
Bisher hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihre Tochter den Unfall nicht nur physisch, sondern auch psychisch gut überstanden hatte. Hier am Ort des Geschehens zeigte sich, wie sehr sie der Unfall mitgenommen hatte.
»Als der Bus ins Rutschen kam ... als das ganze Wasser auf mich zukam ... da wusste ich überhaupt nicht, was ich machen soll. Ich dachte, das war es.«
»Ich mag mir das überhaupt nicht vorstellen«, sagte Hanna erstickt. »Wenn dir etwas passiert wäre ...« Liebevoll streichelte sie über den Rücken ihrer Tochter.
»Mir ist ja nichts passiert.« Lina nahm die Hand ihrer Mutter und drückte einen Kuss darauf. »Mir ist nur bewusst geworden, wie kostbar das Leben ist.«
Lina legte den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter. Beide schwiegen sekundenlang, schauten auf den See.
»Ich will keinen Augenblick von meinen Leben verplempern«, sagte Lina nach einer Weile leise. »Es könnte von einer Sekunde auf die andere vorbei sein.«
Sie hob den Kopf und trat einen Schritt näher an die Böschung. Gedankenverloren blickte sie nach unten. »Wenn ich nur wüsste, wo dieser Mann hergekommen ist. Meinst du, der hatte ein Boot?«
»Wie sah dein Retter denn aus?«, fragte Hanna.
Lina schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Alle hatten Angst und schrien durcheinander. Dann war ich auf einmal am Ufer, und als ich mich bedanken wollte, da war der Mann weg.«
Hanna schwante, dass die Suche nicht ganz leicht werden würde. Sie forderte ihre Tochter auf, weiterzufahren. Dieser Ort bedrückte sie und erzeugte in ihrer Fantasie Bilder, die sie nicht sehen wollte.
Linas nächstes Ziel war ein eingezäuntes Grundstück. Hinter dem dünnen, hohen Maschendrahtzaun weideten zahlreiche Elche unterschiedlicher Altersklassen. Zwischen den freien Weideflächen und den bewaldeten Stellen schlängelte sich ein Bach, der sich an einer Stelle verbreiterte und mit seiner flachen Uferfläche eine hervorragende Trinkstelle für die Tiere bot. Das hölzerne Viehgatter war verriegelt, um Unbefugte am Betreten des Grundstücks zu hindern.
Lina ließ ihr Fahrrad fallen und lehnte sich über das Gatter. »Mama, schau, da sind die Elche!« In ihrer freudigen Aufregung wirkte Lina nicht wie eine Abiturientin, sondern wie ein kleines Kind.
Hanna stellte ihr Fahrrad ab und trat zu ihrer Tochter. Sie musste an den Mann denken, der ihr den Elchkäse verkaufen wollte. Ob das hier seine Elche waren?
Die Tiere waren Menschen offensichtlich gewohnt. Ein Elchbulle mit ausgeprägtem Kinnbart und Schaufelgeweih stapfte ganz dicht hinter dem Gatter an ihnen vorbei. Ein wenig abseits davon stand eine Elchkuh mit ihren beiden Kälbern am Bach.
»Sind das nicht wunderschöne Tiere«, sagte Lina leise. »So mächtig und majestätisch. Ich habe mir immer schon einen Babyelch gewünscht.«
Hanna lachte. »Ich kann mich erinnern. Wir haben dir zu deinem siebten Geburtstag einen Stoffelch geschenkt, und du warst so sauer, weil es kein echter war.«
»Na, so was«, sagte plötzlich jemand hinter ihnen.
Hanna und Lina drehten sich um. Es war verrückt, aber Hannas Herz klopfte plötzlich ein paar Takte schneller, als sie den Mann erkannte, an den sie eben noch gedacht hatte. »Hallo«, sagte sie befangen.
»Hallo«, gab Per den Gruß zurück. Kurz streifte sein Blick Lina, bevor er wieder an Hanna hängen blieb. Kleine Fältchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln, als er sie strahlend anlachte. Seine Augen waren tiefblau, sein blondes Haar zurückgekämmt. »Ich habe mir fast gedacht, dass das Ihre Farm ist«, sagte Hanna befangen. »Hej.« Lina streckte Per die Hand entgegen. »Ach, das ist übrigens meine Tochter Lina«, sagte Hanna. Per erwiderte den Händedruck des Mädchens. »Hej.«
»Sie kennen meine Mutter?«
»Ja«, sagte er und Hanna hatte plötzlich das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Dabei klang Linas Frage völlig unbefangen und ohne jeden Hintergedanken. Wahrscheinlich war es das dumme Gerede von Svea, das jetzt noch in ihr nachwirkte. Vielleicht lag es aber auch an ihren Problemen mit Sten, von denen Lina möglicherweise etwas ahnte, ohne die wahren Hintergründe zu kennen.
»Herr Nordenfeldt macht Elchkäse, und den könnte ich verkaufen.« Zum Glück schien niemand zu bemerken, dass sie im Augenblick ziemlich verwirrt war.
»Elchkäse?«, sagte Lina anerkennend. »Das ist ja was ganz Exklusives und auf jeden Fall ziemlich teuer. Sie müssen Millionär sein.«
Per lachte laut auf. »Das wäre schön, aber die Elchzucht ist mehr eine Liebhaberei. Mein Hauptgeschäft sind Obst und Gemüse.«
Ein lautes Geschrei war zu hören, das zweifellos nicht von den Elchen stammte. »Und wer ruft da nach Ihnen?«, fragte Hanna überrascht. Seine Augen blitzten schalkhaft auf. »Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Per ging voran über grasbewachsene Wege zwischen den Gemüsefeldern. Stiegen mit Gemüse waren übereinandergestapelt. Das Rot der Tomaten leuchtete besonders hervor.
Stallungen waren zu sehen, ebenso rot gestrichen wie das Farmhaus, das zwischen den mächtigen Stämmen von Eichenbäumen zu sehen war.
Ganz nah beim Farmhaus lag eine kleine Weide. Per öffnete das Tor und ließ die beiden Frauen herein. Ein kleiner, weißer Esel kam neugierig näher.
»Das ist Findus«, grinste Per. »Ich habe ihn mit der Flasche aufgezogen, weil seine Mutter bei der Geburt gestorben ist.«
»Ist der süß«, rief Lina aus und umschlang mit beiden Armen den Hals des Esels. »Ab sofort kannst du das Elchbaby vergessen, Mama. Ich wünsche mir jetzt einen kleinen Esel.« Hingerissen folgte sie dem kleinen Esel ein paar Schritte auf die Weide.
»Das ist ja ein toller Zufall, dass Sie ausgerechnet hier sind.« Per schien sich ehrlich zu freuen. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass wir uns so schnell wiedersehen.«
Was für eine Formulierung, schoss es Hanna durch den Kopf und musste wieder an das denken, was Svea ihr unterstellt hatte. Gewiss, Per Norderstedt sah gut aus. Anders als Sten, der ebenfalls ein sehr attraktiver Mann war. Sten wirkte smart und manchmal aalglatt, trug ausschließlich elegante Designeranzüge. Er würde über Per Norderstedts Aufmachung die Nase rümpfen. Jeans, ein einfaches Shirt und eine Baumwolljacke. Was Per Norderstedts Attraktivität ausmachte, waren seine blauen Augen. Die kleinen Fältchen, die sich in seinen Augenwinkeln abzeichneten, wenn er lachte. Ebenso wie Sten war er groß und schlank. Aber Sten war eher als hager zu bezeichnen, während Per sehnig und stark wirkte.
Hanna wurde mit einem Mal bewusst, dass sie den Mann schon eine ganze Weile anstarrte, während ihr diese Vergleiche durch den Kopf gingen. Was mochte er nur von ihr denken.
»Ich bin wegen diesem Busunfall hier«, sagte sie hastig. »Sie haben doch sicher davon gehört.«
Per nickte.
»Ich habe mir einfach Sorgen um meine Tochter gemacht«, sagte Hanna.
Für Per schien das einleuchtend zu sein. Er fragte nicht weiter nach, sondern bot ihr und auch Lina Kaffee an.
»Nein«, sagte Hanna, während Lina gleichzeitig ausrief: »Ja, gerne«. Sie stand immer noch bei dem kleinen Esel und streichelte ihn.
»Wir können doch nicht einfach so hier reinplatzen«, wehrte Hanna ab. »Sie haben sicher genug zu tun.«
Per hatte sich bereits in Richtung Farmhaus in Bewegung gesetzt. Jetzt wandte er sich noch einmal um. »Als einsamer Bauer freue ich mich über jeden Besuch«, behauptete er, obwohl er so einsam gar nicht sein konnte. Hanna konnte einige Arbeiter sehen, die alle sehr beschäftigt wirkten.
»Schauen Sie sich ruhig um«, bot Per an, »oder setzen Sie sich da hinten hin. Ich bin gleich wieder da.«
Im Laufschritt erreichte Per das Haus. Der Duft von Erdbeeren schlug ihm bereits entgegen, bevor er die Küche erreichte.
Die Küche des Farmhauses beherbergte eine Mischung aus Altem und Modernem. Rechts befand sich die alte Feuerstelle, die aber nicht mehr zum Kochen benutzt wurde. Nur im Winter wurde hier ein Feuer entfacht, um den Raum zusätzlich zu wärmen. Neben dem Herd stand ein großer Einbauschrank.
Auf der gegenüberliegenden Wand gab es eine moderne Küchenzeile. Eine Frau stand an dem großen Küchentisch inmitten des Raumes und füllte Gläser mit frisch gekochter Erdbeermarmelade. Einige Gläser davon würden in der farmeigenen Speisekammer landen, die anderen wurden verkauft.
»Hej, Ulrika. Gibt es noch Kaffee?« Während Per fragte, holte er bereits Tassen und Untertassen aus dem Wandschrank.
Ulrika wies auf die Kaffeemaschine. »Ich habe gerade welchen gemacht.«
»Ich habe nämlich gerade Besuch. Eine Kundin mit ihrer Tochter.« Pers Blick fiel auf den Obstkuchen, den Ulrika heute gebacken hatte. Ein Traum aus sahniger Creme und verschiedenen frischen Früchten. Er nahm ein Messer von der Anrichte. »Können wir auch etwas von dem Kuchen haben?«
»Finger weg«, sagte Ulrika streng. »Der Kuchen ist für Greta. Ich habe ihr versprochen, dass ich ihn heute noch bringe.« Fragend schaute sie Per an. »Was ist das für eine Kundin?«
»Sie hat einen Käseladen in Stockholm, und ihre Tochter war in dem Bus, der in den See gerutscht ist.« Per hatte den Blick auf den Kuchen gerichtet. »Ach, komm, sei nicht so gemein«, bat er. »Nur drei Stück.«
»Und was ist mit Greta?«, wandte Ulrika ein. »Sie rechnet mit dem Kuchen.«
Per hob drei Finger, schaute sie bittend an.
»Also gut, wenn es dem Geschäft dient«, gab Ulrika endlich nach und nahm ihm das Messer aus der Hand. »Aber wehe, sie kauft nachher keinen Käse.«
Per hörte nur mit halbem Ohr hin. Sein Blick wanderte aus dem Küchenfenster. Hanna hatte sich mit dem Rücken zu ihm auf eine der Bänke gesetzt. Sie hatte die Arme nach beiden Seiten auf der Rückenlehne ausgestreckt und ließ den Kopf entspannt nach hinten fallen. Ihre Haltung wirkte entspannt. Es freute ihn, dass sie sich auf seiner Farm wohl zu fühlen schien.
Plötzlich bemerkte er, dass Ulrika ihn prüfend musterte. Sie hatte ebenfalls aus dem Fenster gesehen, und jetzt lag etwas in ihrem Blick, dass er nicht deuten konnte. Er machte eine Handbewegung über den Kuchen, bevor er auf das Messer in ihrer Hand zeigte. »Schnitt«, forderte er sie kurz und unmissverständlich auf.
Ulrikas Miene war missbilligend. Schweigend schnitt sie drei Stücke von dem Kuchen ab.
Hanna nahm die Arme von der Rückenlehne und setzte sich wieder aufrecht hin. Tief seufzte sie auf. »Von so was habe ich als Kind immer geträumt. So wollte ich leben, wenn ich erwachsen bin. Auf einem Bauernhof mit vielen Blumen, Tieren und einem Haufen Kinder.«
Die weißen Bänke gruppierten sich um einen ebenfalls weißen Tisch. Die Sitzgruppe stand mitten auf der Rasenfläche hinter dem Haus, umgeben von Kübeln mit blühenden Sommerblumen. Eine niedrige Ligusterhecke trennte den Rasen vom Uferbereich, unterbrochen durch einen Weg, der zum See führte. Ein Rosenbogen rahmte den Weg in Höhe der Hecke ein.
Lina hatte sich zu ihr an den Tisch gesetzt, gefolgt von Findus. Der kleine Esel nutzte es weidlich aus, dass er von dem Teenager so viele Streicheleinheiten bekam.
»Dann hast du dich in Papa verliebt, und der Traum war aus«, stellte Lina fest.
»Papa hätten keine zehn Pferde aufs Land gebracht«, sagte Hanna. »Der ist durch und durch ein Stadtmensch.« Hanna ließ ihren Blick bis zum See schweifen. Auch wenn sie über Sten sprachen, so war er und das, was sie heute Morgen erlebt hatte, doch weit entfernt von ihr. Vor allem innerlich.
»Bereust du es, dass du nie einen Bauern, sondern nur einen Pharmavertreter geheiratet hast?« Erst als Lina diese Frage stellte, bemerkte Hanna, dass ihre Tochter sie prüfend musterte.
»Ach was.« Hanna schüttelte den Kopf. »Träume sind das eine, Leben ist was anderes. Es war schon alles gut so.« Aber sie hatte ihre Worte unbedacht gewählt.
»War?«, hakte Lina sofort misstrauisch nach. Hanna wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Auch wenn sie selbst nichts gesagt hatte und sie ganz sicher war, dass auch Sten bei dem Telefonat mit Lina nicht über ihre Eheprobleme gesprochen hatte, so schien das Mädchen doch zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Glücklicherweise kam in genau diesem Moment Per zurück und enthob sie einer Antwort. Er stellte ein gefülltes Tablett auf den Tisch. »Kaffee und frisch gebackener Obstkuchen«, lächelte er.
»Das sieht ja wundervoll aus«, sagte Lina.
Hanna war froh, dass ihre Tochter sich so schnell ablenken ließ. Sie musste in nächster Zeit einfach vorsichtiger sein.
Lina probierte ein Stück von dem Kuchen auf ihrem Teller. »Ich werde nachher beim Schwimmen untergehen wie eine Bleikugel«, prophezeite sie.
»Sie wollen schwimmen gehen?«, fragte Per. »Da kann ich Ihnen eine gute Stelle zeigen.« Er schenkte ihr Kaffee ein und sagte anschließend: »Ich freue mich, dass Sie da sind.«
Hanna bemerkte, dass Lina plötzlich sehr aufmerksam wurde, und das Lächeln auf ihrem Gesicht schwand.
»Ich freue mich auch«, erwiderte sie betont beiläufig und erkundigte sich anschließend ausführlich nach seinem Elchkäse, um diesem Treffen einen geschäftsmäßigen Anstrich zu geben.
Nachdem sie ihren Kuchen gegessen und den Kaffee getrunken hatte, drängte Hanna zum Aufbruch. Ein wenig befürchtete sie, dass Per sie und Lina zum Schwimmen begleiten wollte. Es wäre nicht gut. Nicht für Lina und schon gar nicht für sie selbst ...
Per kam überhaupt nicht auf die Idee, ihnen einen solchen Vorschlag zu unterbreiten. Er erklärte lediglich den Weg zu einer besonders schönen Badestelle.
Der Weg führte durch ein Birkenwäldchen. Da, wo die Sonne durch das Laub drang, zauberte sie ein verwobenes Muster auf den unbefestigten Weg. Die Blätter flirrten im leichten Sommerwind. Das Plätschern des Sees war schon zu hören, bevor sie das Ufer erreichten.
Per hatte nicht zu viel versprochen. Glatt und ruhig lag der See vor ihnen, mit einem flachen Uferbereich, der nur allmählich tiefer wurde. Lina blieb zögernd am Ufer stehen. In ihrer Miene lag Angst. Hanna ahnte, dass ihre Tochter in diesem Moment wieder an den Unfall dachte, an das Wasser, das den Bus füllte und das sie in diesem Moment zum ersten Mal als bedrohlich empfunden hatte. Sie wusste, wie wichtig es war, dass Lina diese schrecklichen Bilder verarbeitete, und beobachtete ihre Tochter genau. Erleichtert sah sie, wie Lina nach einer ganzen Weile vorsichtig den ersten Fuß ins Wasser steckte.