Schatten über Colonia – Ermittlungen am Rand des Römischen Reichs - Axel Melzener - E-Book
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Schatten über Colonia – Ermittlungen am Rand des Römischen Reichs E-Book

Axel Melzener

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Beschreibung

Sie lieben das Leben in ihrer Stadt. Doch es ist in Gefahr. Der erste Fall für Lucretia Veturius und Quintus Tibur. Köln im Jahr 87 nach Christus: Die Colonia ist eine weltoffene Stadt. Hier leben Menschen verschiedener Kulturen zusammen, arbeiten, feiern und lieben. Auch mit den germanischen Völkern jenseits des Rheins herrscht Frieden. Doch seit einiger Zeit gibt es Überfälle auf Landvillen. Freie Germanen sind am Werk! Durch einen Zufall wird der junge Anwalt Quintus Tibur in die Ereignisse verwickelt. Als Sohn einer Germanin und eines römischen Soldaten steht er zwischen den Welten. Auch die junge Römerin Lucretia sucht nach ihrem Weg und will Aufklärung. Noch ahnt keiner von beiden, dass ihre Stadt sie gemeinsam brauchen wird. Eintauchen in die spannende Vergangenheit: So unterhaltsam, frisch und modern haben wir die Römerzeit noch nicht erlebt.

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Seitenzahl: 668

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Axel Melzener | Julia Nika Neviandt

Schatten über Colonia

Ermittlungen am Rand des Römischen Reichs

 

 

Über dieses Buch

 

 

Frühling in Colonia: Die Menschen sind stolz auf ihre Stadt, man nennt sie das Rom des Nordens. Der Handel blüht, es herrscht Frieden. Die Colonia zieht Menschen aus allen Teilen der Welt an, die hier ihr Glück suchen.

Auch Quintus Tibur ist vor einigen Jahren aus seinem germanischen Heimatdorf hergekommen. Als Anwalt macht er sich langsam einen Namen; seine Frau Pola ist eine populäre Schauspielerin. Im Prätorium hört Quintus zum ersten Mal von den germanischen Überfällen auf Landgüter außerhalb der Stadt.

Die junge Lucretia Veturius stammt aus einer wohlhabenden römischen Familie. Nur zu heiraten, wie es die Gesellschaft und ihre Mutter für sie vorgesehen haben, ist ihr zu wenig. Sie interessiert sich für Politik und besucht öffentliche Verhandlungen bei Gericht. Dort begegnet sie Quintus. Noch weiß sie nicht, dass sie bald selbst von den Überfällen betroffen sein wird.

Quintus und Lucretia stoßen auf verwirrende Spuren. Um Antworten zu finden, reisen sie ins freie Germanien jenseits des Rheins. Dem ungleichen Duo wird klar: Die Gefahr nimmt zu und ihre Heimat ist bedroht.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Sie haben spannende Unterhaltung auf den Bildschirm gebracht, jetzt kommt ihr erstes Romanprojekt: Axel Melzener und Julia Nika Neviandt wurden beide im Gebiet des Germanenstammes der Sugambrer geboren, dem heutigen Bergischen Land, und leben mittlerweile in Colonia. Sie arbeiten seit Jahren als Drehbuch-Duo zusammen; Axel verfasst zudem Sachbücher zu Filmthemen, und Julia ist als Schauspielerin tätig. Auf ausgedehnten Recherchetouren sind sie auf römischen Spuren im In- und Ausland gewandelt und haben die mitunter überraschenden Erkenntnisse für sich zu einem Bild zusammengesetzt – dem einer Gesellschaft der Gegensätze, so fremd und doch so vertraut, deren Schicksal heute relevanter scheint denn je. Mit »Schatten über Colonia« möchten sie die römische Zeit von ihrem angestaubten Image befreien und sie Leserinnen und Lesern zugänglich machen. 

Inhalt

[Widmung]

Inhaltshinweise

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

Glossar

Stämme

Götter & Mythen

Geographisches

Empfehlungen

Für unsere Familien.

Mit besonderem Dank an Opa Bumm.

Inhaltshinweise

»Schatten über Colonia« ist ein Werk schriftstellerischer Imagination, die Handlung und die meisten Figuren des Romans sind fiktional. Das Autorenduo hat sich an historischen Daten, Fakten, Umständen und Konzepten orientiert; der Wissensstand zur Epoche und die Perspektiven auf die Zeit entwickeln sich stetig.

Im Roman werden einige zeitübliche diskriminierende Begriffe und Konzepte verwendet.

Hinweis zu den Dialogen

Das Lateinische kennt nur die Du-Form; wie nahe sich Menschen standen oder in welchem Rang zueinander, drückten sie im Gespräch durch die Verwendung von Namen, Attributen oder Titeln aus. Dies wurde im Roman in der Kommunikation der römischen und romanisierten Figuren nachempfunden.

Glossar

Am Ende des Buchs finden sich Überblicke und Erklärungen zu lateinischen und germanischen Begriffen sowie zu Orten, Stämmen und der Götterwelt.

1

Salvia Salina Mercatus schlug die Augen auf und starrte in undurchdringliche Finsternis. Es war tief in der Nacht, und ein Geräusch hatte sie geweckt. Sie horchte. Nichts. Kein Mucks. Ihr Landhaus nahe der Colonia Agrippina lag in völliger Stille.

Erleichtert atmete Salvia aus. Es musste wohl wieder einmal ihr eigenes Schnarchen gewesen sein, das sie hatte aufschrecken lassen. Es war mit den Jahren immer lauter geworden, ihr Schlaf hingegen immer leichter, so dass sie sich immer häufiger selbst um ihre Nachtruhe brachte.

Die Gutsbesitzerin zog die Wolldecke, die etwas verrutscht war, wieder bis an ihre Nasenspitze und wälzte sich seufzend auf die Seite. Wenn doch bloß ihr Gaius noch bei ihr wäre! Doch der war schon vor Jahren in die elysischen Gefilde entschwunden und hatte sie als Witwe zurückgelassen.

Gerade als ihr die Augen wieder zufielen, hörte sie ein Klirren. Laut und deutlich. Das kam nicht aus einem Traum, der sich im Halbschlaf in die Wirklichkeit drängte, sondern tatsächlich aus ihrem eigenen Haus. Mit einem Schlag war Salvia hellwach und setzte sich in ihrem Bett auf.

Plötzlich ein Schrei. Von einer Frau. Einer ihrer Sklavinnen. Hastige, stolpernde Schritte … dann langsame, schwere. Ein Scharren, dann ein Rumpeln, so als würde Mobiliar verrückt. Ein weiterer Schrei drang an Salvias Ohr, durchdringend, fast wie ein Schlachtruf. Er erinnerte an das Heulen eines Wolfes. Salvia hielt den Atem an. Was war hier los?

»Die Germanen! Die Germanen sind hier!«, hörte sie eine zitternde Männerstimme auf Latein mit dakischem Akzent rufen. Es war ihr Koch.

»Hilfe!«, ertönte der Schrei einer jungen Frau von weiter her.

Plötzlich waren aus allen Richtungen Schritte zu hören. Unruhe erfasste das eben noch friedliche Haus. Von überall schienen nun unheimliche Wolfsstimmen zu kommen. Salvia vernahm ein weiteres Klirren, tief und dumpf, so als sei ein großes Tongefäß auf dem Boden zerborsten.

Die Germanen … Sie war wie gelähmt. In den letzten Wochen sollte es schon mehrere Überfälle dieser Art in der Umgebung gegeben haben. Aber womit hatte sie, die fromme, brave Salvia Salina Mercatus, die Götter gegen sich aufgebracht, dass ausgerechnet ihr Landsitz von diesen plündernden Wilden heimgesucht wurde?

Sie bezwang ihre aufsteigende Panik und schlug die Decke zurück. Barfuß schlich sie über den kalten, im Schachbrettmuster verlegten Fliesenboden zu dem dicken Vorhang, der ihr Schlafgemach vom Rest des Hauses trennte. Vorsichtig schob sie den Stoff einen Spaltbreit zur Seite und lugte in den hinteren Korridor des Hauptgebäudes. Er wurde von einer einzelnen Öllampe schwach erhellt, die an einer Kette von der Decke baumelte und nachts brannte, damit man den Weg zur Latrine finden konnte. Eines der sündhaft teuren Glasfenster war eingeschlagen worden, Scherben bedeckten den Boden. Waren diese Barbaren so ins Haus gelangt?

Eine jugendliche Sklavin kam mit angstverzerrtem Gesicht den Korridor entlanggerannt und hielt genau auf das Schlafgemach zu. Salvia machte einen Schritt zurück. Die Sklavin erschrak, als sie den Vorhang beiseitezog und ihre Domina hellwach vor ihr stand.

»Herrin! Hier sind Räuber!«, keuchte sie, nachdem sie sich gefangen hatte. »Wir müssen weg.«

Sie schaute nach links den Korridor hinab und bemerkte etwas, das ihre Herrin noch nicht sehen konnte. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, und sie rannte davon, bevor Salvia überhaupt reagieren konnte. Schwere Schritte näherten sich, und das Wolfsgeheul, von einer tiefen Männerstimme erzeugt, klang nun ganz nah. Salvia stellten sich die Nackenhaare auf. Sie wusste, dass es zu spät war, um zu fliehen. In ihren jungen Jahren hatte sie nicht nur die Bacchanalien durchtanzen können, sondern wäre auch leicht jedem Verfolger davongesprungen, doch heute … Sie verfluchte ihre altersmüden Beine. Sie sah sich um. Ihr Schlafgemach war klein, kaum neun mal neun Fuß groß, und hatte kein Fenster, damit es im Winter leichter zu heizen war. Sie saß in der Falle.

Das ganze Haus war nun erfüllt von Geschrei und Gerumpel. Umgestoßene Möbel krachten zu Boden, der Inhalt von Kisten und Truhen prasselte auf Fliesen.

Salvia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Die Schritte im Korridor kamen näher. Eine Waffe, dachte sie, ich brauche eine Waffe. Ihre Augen tasteten die Umgebung ab. Der mannshohe bronzene Kerzenständer neben dem Bett – viel zu schwer. Nein, es hatte keinen Zweck. Verstecken! Sie musste sich verstecken. Panisch blickte sie sich um. Ihr Schlafgemach war karg eingerichtet. Bis auf das schmale Bett mit der blättergefüllten Matratze, den kleinen Tisch, den Korbstuhl und eine große Kleidertruhe war der Raum leer. Die Truhe! Ja! Salvia eilte auf sie zu. Ihre Sklaven hatten gestern Wäsche gewaschen, die noch zum Trocknen im Garten hing. Die mächtige Truhe aus Pinienholz, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, musste also leer sein. Salvia klappte den Deckel hoch und tatsächlich, es war gerade genug Platz darin, dass sie sich hineinzwängen konnte. Vor Angst keuchend kletterte sie in die Kiste. Sie zog den Deckel über sich zu – gerade noch rechtzeitig, denn genau in dem Moment wurde der Vorhang zur Seite gerissen und jemand polterte in ihr Cubiculum. Salvia hoffte, dass der Einbrecher sie nicht gesehen hatte. Sie hielt den Atem an. Darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, schob sie ihren Kopf zum Schlüsselloch der Truhe.

Durch die Öffnung erspähte sie den breitschultrigen Mann, der in den Raum getreten war und sich umsah. Salvia konnte ihn im schwachen Licht, das vom Korridor ins Schlafgemach fiel, nicht richtig sehen, aber zumindest erkennen, dass er lange Hosen trug. Unüblich bei den Römern, doch bei den Germanen Sitte. Ihr Koch hatte recht: Germanen! Der Mann trug ein Fell um die Schultern, was seiner Erscheinung etwas Animalisches verlieh. Am erschreckendsten war jedoch sein Gesicht, das einer dämonischen Fratze glich. Es war mit roter Farbe bemalt, darauf weiße und schwarze Kringel. Salvia fiel es immer schwerer zu atmen. Es war warm in der Truhe, Schweiß rann ihr von der Stirn. Sie wollte sich gar nicht ausdenken, was dieser Wilde mit ihr machen würde, wenn er sie fände.

Der Eindringling verschwand aus ihrem Sichtfeld. Salvia hörte, wie ihr Bett durchwühlt, ihr Korbstuhl umgestoßen, ihr tönerner Trinkbecher zertrümmert wurde. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen. Jetzt hörte sie weitere Schritte, ihr Blick wanderte zurück in Richtung Vorhang. Ein zweiter Mann erschien, größer als der erste, aber ähnlich gewandet. Sein Gesicht war blau bemalt, mit gelben Strichen auf Stirn und Wangen, die an Narben erinnerten. Um seinen Hals hing eine prächtige Perlenkette, die einen merkwürdigen Kontrast zu seiner sonstigen Erscheinung bildete. Salvia erkannte den Schmuck, er gehörte ihr. Der Kerl hatte die Kette wohl nebenan im Ankleidezimmer gefunden. Dazu hielt er bronzene Teller und silberne Kelche in den Händen – das beste Geschirr des Hauses – und schien sichtlich erfreut über seine Beute. Nun fiel sein Blick auf die Truhe und er kam schnurstracks auf sie zu. Seine massige Statur schob sich vor das Schlüsselloch und nahm Salvia die Sicht. Sie unterdrückte einen Schrei, hielt die Luft an und kniff die Augen zusammen. Jeden Augenblick würde der Deckel über ihr hochgerissen und ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. Dann wäre sie zumindest wieder mit ihrem Gaius vereint.

Doch die Sekunden verstrichen und es geschah … nichts. Sie blinzelte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und lugte wieder durch das Schlüsselloch. Jetzt sah sie, wie der rot bemalte Mann dem blau bemalten etwas ins Ohr flüsterte. Der schaute noch einmal zur Truhe hinüber, nickte, und beide verließen eilig das Schlafgemach. Ihre Schritte entfernten sich. Und auch das tierische Geheul, das die Eindringlinge von sich gegeben hatten, war immer leiser geworden. Im Haus schien wieder Ruhe eingekehrt zu sein.

Doch Salvia wagte es nicht, sich zu rühren. Sie wartete. Minuten, die ihr vorkamen wie eine Ewigkeit. Die Zeit schien stillzustehen. Gerade als sie sich sicher war, dass die Luft nun wirklich rein wäre, wurde mit einem Ruck der Deckel über ihr hochgerissen. Salvia schrie auf, alles schien verloren – doch dann blickte sie in das gutmütige Gesicht ihres Kochs.

»Herrin, hier bist du!«, entfuhr es ihm erleichtert.

Nachdem Salvia den Schock überwunden und durchgeschnauft hatte, ergriff sie seine Hand und kletterte ungelenk aus ihrem Versteck. Sie war froh, dass der Mann, der ihr seit mehr als zehn Jahren diente, unbeschadet war.

»Sind sie weg?«, wisperte sie, und der Koch nickte. An den Gerüchten über die Germanenüberfälle war also tatsächlich etwas dran, dachte sie, während ihr Puls langsam auf eine normale Frequenz zurückfiel und sie tief die saubere, kühle Nachtluft einatmete. Sie hatte Glück im Unglück gehabt, sie war körperlich unversehrt geblieben. Und wie es aussah, galt das auch für ihre Sklaven. Salvia fiel ein Stein vom Herzen. Goldene Ohrringe, Ketten und Juwelen waren ohne weiteres ersetzbar, aber die Sklaven, die für sie wie Familie waren, nicht. Sie würde Minerva im Kapitolstempel der nahen Colonia zum Dank ein Opfer darbringen. Ein Lamm. Mindestens eins.

2

In der zweiten Etage des lauten Mietshauses in einer Insula am westlichen Stadtrand saß Quintus Tibur beim Frühstück. Er hatte die Nacht durchgearbeitet und gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verronnen war. Noch mühte sich draußen die Sonne den Himmel hinauf, so dass er die kleine tönerne Öllampe, die vor ihm auf dem grob gezimmerten Holztisch stand, weiter brennen ließ. Vor einem der beiden unverglasten Wohnzimmerfenster sah er Schwalben vorbeifliegen. Jetzt ließ die aufgehende Sonne den gegenüberliegenden Wohnblock in warmem Licht erstrahlen, und von der nahen Hauptstraße hallte das Klappern der Händlerkarren herüber.

Gedankenverloren tunkte Quintus ein Stückchen Fladenbrot vom Vortag in ein Schälchen mit Olivenöl, um es aufzuweichen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt seiner Schreibtafel, die er in der linken Hand hielt, zwei zusammengebundene hölzerne Brettchen, die beide mit einer dicken schwarzen Schicht Wachs überzogen waren. Quintus’ Blick glitt prüfend über die in kleiner Schrift eingeritzten Notizen und Zahlen. Gute Vorbereitung war aus seiner Sicht das A und O. Auch wenn es kein großer Fall war, der ihn an diesem Morgen erwartete – die Regelung einer Erbangelegenheit unter mehreren zerstrittenen Parteien. Kompliziert und arbeitsintensiv, doch keiner, mit dem man glänzen konnte. Aber er zahlte die Miete.

Quintus steckte sich das Brotstück, das sich mittlerweile wie ein Schwamm mit Öl vollgesaugt hatte, in den Mund, ohne es anzuschauen, und verzog das Gesicht. Das Öl schmeckte bitter. Es war nicht von bester Qualität, eher hätte es in die Lampe gehört. Die Flamme des Öllämpchens war kleiner geworden, aber es war mittlerweile auch so hell genug, dass Quintus lesen konnte.

Er fuhr sich durch das kurz geschnittene blonde Haar und überlegte, wie er vor den Geschworenen argumentieren würde, um sie auf seine Seite zu ziehen, damit seiner Mandantin ein möglichst großer Teil des Erbes zugesprochen würde. Er hatte ein Gespür dafür, was bei seinen Zuhörern ankam. Quintus war einer der wenigen Rechtsanwälte, die im römischen Germanien praktizierten – und wahrscheinlich der Einzige von ihnen, der germanischer Herkunft war. Das war jedoch nicht unbedingt ein Nachteil. Dass er nicht nur akzentfrei Latein beherrschte – das Resultat langer, harter Übung –, sondern auch seine germanische Muttersprache samt einiger Dialekte trotz langer Abwesenheit von der Heimat noch fließend sprach, kam ihm immer wieder zugute. Er hatte seinen Kollegen, die fast alle aus Italien stammten und nur den Lebenshorizont eines römischen Patriziers oder Equiten kannten, damit einiges voraus.

Quintus blickte auf, weil die Flamme am Docht des Öllämpchens zu zucken begann. Sie ließ seinen Schatten an der weiß getünchten, schmucklosen Wand zittern. Vorsichtig kippte er den Rest des Olivenöls, den er nicht essen mochte, durch das Füllloch der Lampe, worauf eine große Flamme aufloderte.

Da schwang mit einem energischen Ruck die Wohnungstür auf.

»Erwischt!«, rief eine Frauenstimme.

Quintus fuhr auf seinem Schemel herum, begriff aber sofort, dass es seine Frau war, die nach Hause gekommen war. Apollonia Tibur, öffentlich bekannt und im Theater der Stadt gefeiert als Pola, liebte große Auftritte.

»Danke, jetzt bin ich wieder wach«, grinste er.

Er betrachtete seine Frau, die, die Hände in die Hüften gestemmt, in der Mitte des Wohnzimmers wie eine Statue posierte. Ihre schlanken Arme und Beine waren perfekt proportioniert, ihre fast weiße Haut makellos. Ihr kleines, scharf geschnittenes Gesicht wurde von einer roten Lockenmähne eingerahmt. Was der Raum mit seinen niedrigen Decken und rustikalen Holzdielen an Glanz vermissen ließ, machte sie mit ihrer Erscheinung wett. Wenn sie, wie jetzt, von der Arbeit kam, strahlte sie eine besondere Energie aus. Selbstbewusst und mächtig, als habe ihr das Publikum im steinernen Halbrund mit seinen Blicken, seinen Gefühlen, seinem Klatschen eine spezielle, wenn auch nur flüchtige Kraft gespendet. Zu Hause, wo sie zur Ruhe kam, baute sich diese euphorische Energie dann langsam ab. Quintus war fasziniert davon, was die Bühne mit seiner Frau machte und wie ihre Leidenschaft für dieses schwierige Gewerbe trotz vieler Hindernisse weiter brannte.

Pola war keine unkomplizierte Frau, aber die schönste, die Quintus je gesehen hatte, und er war bis heute stolz darauf, dass sie sich von ihm hatte erobern lassen – sie, eine Adelige, Tochter eines römischen Senators, die das spießige Dasein leid gewesen war und sich einem Beruf verschrieben hatte, den die bessere Gesellschaft verachtete, von ihm, dem Bastard aus der Wildnis, der nicht richtig wusste, wohin er gehörte. Obwohl sie aus grundverschiedenen Welten kamen, hatten sie gemeinsam, dass sie Rebellen waren, Außenseiter, die die Grenzen ihrer zu klein gewordenen Territorien übertreten hatten, aber nun auch einen Preis dafür zahlen mussten. Auch nach fünf Jahren Ehe war Pola die einzige Frau, die Quintus begehrte. Und so gefiel es ihm, dass sie zu ihm kam, sich auf seinen Schoß setzte und zärtlich die Arme um seinen Hals schlang, auch wenn er eigentlich weiterarbeiten wollte.

»Enttäuschend«, flüsterte Pola.

»Was hast du denn erwartet, als du hier reingeplatzt bist?«

»Dass du mich überraschst, indem du gerade mit etwas völlig Unerwartetem beschäftigt bist.«

»Zum Beispiel?«

»Dass du dich mit einem Lustknaben vergnügst. Oder tatsächlich mal das Loch in der Decke reparierst, wie du es schon öfter versprochen hast. Damit uns die neugierige Vettel von oben nicht mehr beobachten kann.«

In der Tat waren die Etagen des Mietshauses nicht durch gemauerte Decken getrennt. Die von breiten Balken getragenen Holzdielen, die den Boden der oberen Wohnung bildeten, waren zugleich die Decke der darunterliegenden. Fiel jemandem über Quintus und Pola also ein Krug Wein herunter, so tropfte es durch die Ritzen zwischen den Brettern direkt auf ihre Möbel herab.

»Und ich alter Langweiler enttäusche dich mit Fallvorbereitungen«, sagte Quintus.

»Ach was!«, rief Pola. »Von nichts kommt nichts. Ich habe lieber einen ehrgeizigen Mann, der etwas kann, statt einen, der sich nur faul auf seinem Titel ausruht.«

Sie küssten sich leidenschaftlich. Pola kam direkt aus dem Theater, und man roch es. Quintus nahm den Schweiß an ihr wahr, der von der körperlich fordernden Darbietung herrührte, aber auch den leichten Duft von Rosen, deren Essenz die Schminke der Darsteller parfümierte. Und den Geruch von süßem Wein, dem Pola wohl nach der Aufführung zugesprochen hatte.

»Schatz, ich bin hier noch nicht ganz fertig«, erklärte Quintus und nahm die Hände vom Bauch seiner Liebsten. Aber die machte keine Anstalten, sich von seinem Schoß zu erheben. Stattdessen nahm sie spielerisch die Wachstafel, klappte sie auf und überflog die Notizen.

»Ach, es ist die Sache mit der Erbschaft? Die arme Frau, die von ihren Verwandten über den Tisch gezogen werden soll?«

Quintus nickte bejahend.

Polas Augen funkelten.

»Quintus, der Retter der Witwen und Waisen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Mein Fels der Gerechtigkeit in der Brandung aus Schmutz und Verderben.« Sie leckte mit ihrer Zungenspitze leicht über sein Ohrläppchen.

Die Berührung durchfuhr seinen Körper wie ein elektrischer Schlag.

»Was hältst du davon, wenn wir sofort ins Bett gehen?«, flüsterte Pola und blickte ihm tief in die Augen.

Hilflos sah Quintus zwischen ihr und seinen Unterlagen hin und her.

»Das … geht nicht. Mein Prozess ist der erste heute«, erklärte er.

»Ach komm, da bleibt doch noch genügend Zeit«, sagte Pola, die sich nun herausgefordert fühlte. »Du musst auch kein Vier-Gänge-Menü zaubern, es reicht ein schneller Nachtisch.«

Quintus schluckte. Ihre Ausstrahlung überwältigte ihn, aber er war in Gedanken eben schon im Gerichtssaal.

»Ich muss mir meine Kraft gut einteilen. Es tut mir leid, Liebste, ich muss wirklich los«, sagte Quintus und stand auf, was auch Pola wieder in eine aufrechte Position zwang. Sie war nicht enttäuscht, sie kannte ihn.

»Wie ist es im Theater gelaufen?«, fragte er, während er seine Wachstafeln und Schriftrollen in einem Beutel verstaute. »Hat sich das Publikum wieder etwas mit Giftmischerei gewünscht?«

Anders als bei klassischen Komödien und Tragödien mit bedeutungsschweren vorgeschriebenen Texten war beim Mimus alles improvisiert. Statt um Könige und Krieger drehten sich die Geschichten um normale Bürger. Statt Lektionen gab es Lebensnahes inklusive derbem Humor und allerlei Frivolitäten. Und statt Masken zu tragen, zeigten die Darsteller hier ihre Gesichter. Das trug nicht nur zu ihrem Wiedererkennungswert bei – Quintus musste immer schmunzeln, wenn Pola auf der Straße von einem nervösen Verehrer angesprochen wurde –, sondern bewirkte auch, dass Frauenrollen von Frauen gespielt werden durften.

Pola schüttelte den Kopf und entgegnete nachdenklich: »Die Wünsche der Zuschauer waren diesmal etwas … verstörend.«

»Dass ihr es auf offener Bühne miteinander treibt? Das fordern sie doch dauernd«, grinste Quintus.

»Nein, nein. Sie wollten, dass wir ein Verbrechen nachspielen. Einen Überfall, genauer gesagt. Germanische Räuber sollten ein Haus ausrauben, und dabei sollte es rasant zugehen. So was soll sich wohl neulich wirklich ereignet haben.«

Quintus runzelte die Stirn. Von einem derartigen Vorkommnis hatte er noch nicht gehört. »Habt ihr es hingekriegt?«, fragte er.

»Natürlich«, entgegnete Pola. »Als Hausherrin habe ich einfach die Räuber mit einer List in die Flucht geschlagen. Weil ich nicht wollte, dass sie einfach nur ein hilfloses Opfer ist. Das kam gut an, es gab viel Applaus. Die beste Vorstellung seit langem! Das haben wir noch gefeiert. Ädil Gracchus, der die Aufführung bezahlt hat, hat dem Trupp noch eine riesige Amphore Falernum spendiert.«

»Und sie hat nicht überlebt, das riecht man. Der gute Gracchus weiß, wie er sich beim Volk beliebt macht. Würde mich nicht wundern, wenn er noch einmal wiedergewählt wird«, lachte Quintus. Das Theater war ein rein privater Betrieb, sein Bau im Südwesten der Stadt war von reichen Händlern finanziert worden, die sich damit ein Denkmal gesetzt hatten. Den Spielplan bestimmten die reichen Gönner, die auch die Schauspieler für das jeweilige Stück auswählten und bezahlten. Manche der Aufführungen waren öffentlich, manche fanden nur im privaten Rahmen für Familie und Freunde statt.

»Ich hau’ mich aufs Ohr«, gähnte Pola und streckte sich. »Dir viel Glück heute. Zeig’s den gierigen Verwandten.«

Sie küsste ihn zum Abschied und verschwand im Schlafgemach. Mit zwei Fingern löschte er den Docht der Öllampe.

Er verdrängte die Gedanken an einen angeblichen Germanenüberfall und spornte sich selbst an. Du schaffst das, Quintus. Deine Argumente sind gut. Dieser Tag gehört dir.

3

Die Vögel waren aus dem Süden zurückgekehrt, und der Chor ihrer Stimmen wurde von Tag zu Tag lauter. Das allgegenwärtige Zwitschern und Zirpen war Balsam für Lucretias Seele. Auf dem Forum war endlich wieder Leben eingekehrt. Huschten die Agrippinenser im Winter nur kurz ins Herz der Stadt, wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzten, um eilig ein paar Einkäufe zu tätigen, so ging es hier nun wieder laut und lebhaft zu. Es war Ende April, und es schien, als habe Sol Invictus einen grauen Schleier nicht nur von den Dächern der Stadt, sondern auch von den Herzen ihrer Bewohner gezogen, die aus ihren kalten Wohnungen zurück auf die Straßen drängten, dorthin, wo sich das eigentliche Leben abspielte.

Lucretia Veturius war gern Teil des Treibens. Sie hatte die letzten zwei Wochen mit Husten und Schnupfen im Bett verbracht. Ihr Vater, ein reicher Händler, war stets im Übermaß besorgt um seine Jüngste und hatte im Heiligtum des Äskulap nahe des Westtores eine kostspielige Opfergabe dargebracht. Ihre Mutter hingegen hatte versucht, sie auf weltlichere Weise mit Zwiebelsuppe und Salbeitee zu heilen – das allerdings im Übermaß –, so dass Lucretia beides niemals wieder sehen, geschweige denn schmecken mochte. Durch die Krankheit war sie etwas abgemagert und für jemanden, der einen mauretanischen Vater und eine italienische Mutter hatte, ungewohnt blass. Sie hatte auffällige große braune Augen, die wachsam die Umgebung betrachteten. Unter ihrer feinen Nase formte sich ein kleiner, voller Mund, und ihre hohen Wangenknochen waren leicht mit Sommersprossen gesprenkelt. Sie war in eine elegante fliederfarbene Palla gehüllt und trug deren Saum wie eine Kapuze über dem gewellten kastanienbraunen Haar, das sich heute etwas störrisch gab. Das hatte gleich zwei Vorteile: Es verbarg die nicht formvollendete Frisur und ließ Lucretia brav und keusch wirken, so wie man es in der konservativen römischen Oberschicht gern sah.

Rauchschwaden von Holzkohlefeuern wälzten sich durch die Luft und verteilten dabei den Geruch von gebratenem Fleisch und fremdländischen Gewürzen. An die zweihundert Stände, manche nur wackelige Holzgerüste, andere mit bunten Stoffbahnen verkleidet, standen kreuz und quer verteilt auf dem riesigen Markt- und Versammlungsplatz. Viele waren zudem mit Blumengirlanden verziert, oder das Personal trug Blüten im Haar – ein Zeichen dafür, dass die einwöchigen Festlichkeiten zu Ehren der Göttin Flora begonnen hatten, bei denen man den Frühling hochleben ließ. Auf dem Forum wurde alles feilgeboten, was das Herz begehrte. Wer spontan Olivenöl, Kosmetik oder einen Sklaven benötigte, wurde hier fündig.

»Kommt her! Schwein, frisch geschlachtet!«, pries ein gallischer Metzger mit buschigem Schnurrbart seine Waren an und schlug mit einem scharfen Beil demonstrativ das untere Stück eines Schweinehinterbeins ab, das vor ihm auf einem Hackklotz lag. »Pfötchen gefällig?«, fragte er Lucretia, als sie an ihm vorbeiging, und hielt ihr den blutigen Huf hin, wobei er das Quieken eines Ferkels imitierte. Lucretia verzog das Gesicht und lehnte kopfschüttelnd ab, der Gallier lachte dröhnend.

»Bei Alfenus gibt es die besten Austern«, sagte ihre Mutter, die an ihrer Seite schritt, und sah sich suchend um. Cäcilia Veturius war eine Frau von vierzig Jahren, die sich eine gewisse Jugendlichkeit bewahrt hatte. Sie hatte ein schmales Gesicht mit einem kleinen spitzen Kinn und einen teuren Puder aus Marmorstaub aufgelegt, der die Haut mattierte und zugleich leicht glitzern ließ. Sie trug über ihrer Tunika eine Stola in der Farbe schweren Rotweins, die von einem hauchdünnen Goldrand gesäumt war – ein Gewand, das nur Verheirateten gestattet und für Wohlhabende erschwinglich war.

Lucretia und Cäcilia drängten sich zwischen den eng stehenden Ständen durch das Gewühl.

»Frische Fisch! Direkt vom batavische Küste!«, hörten sie jemanden in schlechtem Latein rufen, irgendwo weiter vorne, und hielten auf die Stimme zu.

Ihnen folgte die zyprische Sklavin Nephele, einen Weidenkorb in der einen Hand und einen kleinen blechernen Eimer in der anderen. Ihr schulterlanges Haar war unfrisiert, und sie trug eine knöchellange beige Tunika, die in der Taille von einer alten Kordel zusammengehalten wurde.

Der Fischstand von Alfenus, einem rotwangigen Germanen mit struppigem blondem Haar, kam in Sichtweite. Nur einmal im Monat nahm er die zwei Tage dauernde Anreise vom Meer auf sich. Er hatte sich auf Muscheln, Austern und Tintenfische spezialisiert, die seine örtlichen Konkurrenten, die im Süßwasser fischten, nicht bieten konnten. Die Köstlichkeiten aus Neptuns Reich waren immer schnell vergriffen. Beruhigt stellte Lucretias Mutter im Näherkommen fest, dass sich noch einige Austern im Salzwasserbecken auf dem Tisch des Cananefaten befanden.

Doch bevor sie den Stand erreichten, schoben sich zwei ältere Damen davor. Lucretia hatte nicht viel für die beiden übrig. Es waren reiche Nachbarinnen, die sie seit ihrer Kindheit kannten und die sich anmaßten, permanent über ihr Leben zu urteilen. Als Lucretia ein kleines Mädchen gewesen war, hatten die beiden sie an die Tiere erinnert, die sie vom Marktplatz kannte. In ihrem Kopf hatten sich damals die heimlichen Spitznamen »Kuh« und »Ziege« festgesetzt, die sich bis heute gehalten hatten. Denn die eine war groß, rundlich und gutmütig, die andere klein, drahtig und störrisch.

»Die Damen Veturius!«, entfuhr es der Ziege mit theatralischer Freude.

»Salve, ihr Lieben, ich hoffe, es geht euch gut an diesem schönen Tag«, begrüßte Lucretias Mutter die beiden höflich, doch nicht überschwänglich.

Lucretia zwang sich zu einem Lächeln und neigte leicht ihr Haupt zur Begrüßung.

»Deine Tochter ist ein Juwel. Von Venus gesegnet«, machte die Kuh Lucretias Mutter ein Kompliment.

»Sie ist unser ganzer Stolz«, bestätigte diese.

Lucretia hasste es, wenn man über sie redete, als ob sie nicht dabei wäre, obwohl sie direkt danebenstand.

»Und schon achtzehn geworden, wenn ich mich nicht täusche?«, meckerte die Ziege und ließ vernehmlich den Vorwurf mitschwingen, dass Lucretia noch nicht verheiratet war. Ungewöhnlich in einer Gesellschaft, in der das Heiraten für Mädchen mit fünfzehn die Norm war. Immerhin wandten sich die älteren Damen nun direkt an sie.

»Die hellere Haut steht dir gut, Kleines. Was ist dein Geheimnis? Hast du sie mit Schwefelpaste gebleicht?«, wollte die Kuh wissen.

»Ich war krank«, sagte Lucretia trocken. »Aber was tut man nicht alles für den perfekten Teint.«

Die Größere lachte, die Kleinere konnte jedoch mit Lucretias Lakonie wenig anfangen und schaute zu ihrer Mutter hinüber, die ihrerseits einen strafenden Blick in Richtung Tochter schickte. Eine junge Frau, die noch unter der Hausgewalt des Vaters stand und damit über so gut wie keine Rechte verfügte, hatte nicht aufmüpfig zu sein. Doch Lucretia konnte das ständige Urteilen ihrer Umgebung über ihr Äußeres nicht ertragen. Gab es denn nichts anderes, worüber sich eine Frau definieren konnte? Bildung, zum Beispiel. Aber allen schien es egal zu sein, dass sie Plato zitieren konnte. Jenen Philosophen, der behauptet hatte, Liebe sei eine schwere Geisteskrankheit. Und auch den Satz des Pythagoras zu kennen, brachte einer jungen Frau wie ihr offenbar nichts. Wozu hatte sie das alles gelernt, wenn alle nur ihre Erscheinung interessierte? »Du musst ein bisschen was auf die Rippen kriegen, sonst schauen dich die Kerle nicht an«, hatte die Mutter sie erst gestern angestachelt, nicht verstehend, dass ihre Jüngste keinen Wert darauf legte, angeschaut zu werden. Im Gegenteil, kaum etwas war ihr unangenehmer, als gierige Blicke auf sich zu spüren. »Männer stellen sich laufend vor, was unter deiner Tunika ist«, hatte die Mutter ihr erklärt. Auf Lucretias sarkastische Frage, warum Frauen dann überhaupt Kleidung trügen, wo sich doch viel Geld sparen ließe, wenn man diese Angewohnheit einfach aufgäbe, war ihr keine Antwort eingefallen. Die Mater Familias war zwar energisch, aber nicht besonders schlagfertig. Meistens gab sie als Replik auf derlei Provokationen nur ein abschätziges Murmeln von sich.

»Es war schön, euch gesehen zu haben«, sagte Cäcilia, bemüht, einen Schlussstrich unter das Gespräch zu ziehen, weil sie bemerkte, dass eine Frau an Alfenus’ Stand gerade nach einer Handvoll der begehrten Austern verlangte. Doch die Nachbarinnen dachten nicht daran, sie gehen zu lassen.

»Hast du das mit den Germanen gehört?«, fragte die Ziege mit verschwörerisch gesenkter Stimme.

»Sie meint die Überfälle«, ergänzte die Kuh. »Gestern Nacht hat es wieder einen gegeben. Dieses Mal draußen bei der Mercatus. Schon der dritte diesen Monat.«

Seit Wochen wurden im Umland der Metropole Gutshöfe von einer mysteriösen berittenen Bande überfallen und ausgeplündert.

»Schlimm«, erwiderte Lucretias Mutter, obwohl sie das Thema nicht sonderlich interessierte. Vielmehr beschäftigte sie, wie beunruhigend schnell der Bestand an Austern am Fischstand zur Neige ging. Alfenus zählte zufrieden seine Denare – er hatte die richtige Marktlücke in der Colonia gefunden.

»Mein Mann hat immer davon geträumt, auf dem Land zu leben. Jupiter sei Dank konnte ich es ihm ausreden, wo man jetzt doch außerhalb der Stadt Freiwild für die Barbaren ist«, sagte die Ziege.

»Zum Glück ist die Colonia von einer hohen Holzwand umgeben, und die Tore sind gut bewacht. Hier sind wir sicher«, versuchte sich die Kuh selbst zu beruhigen.

»Weiß man denn, wer hinter diesen Überfällen steckt?«, hakte Cäcilia nach, nun doch ein wenig interessiert.

»Manche sagen, es seien Krieger aus Germania Magna. Sie sind den Tieren näher als den Menschen. Können nicht sprechen, sondern heulen sich an wie Wölfe, hat mir ein Sklave von Salvia Salina Mercatus erzählt. Die Unholde haben es wohl besonders auf Metall abgesehen, vor allem Silber und Gold, weil sie so was da drüben nicht haben«, sagte die Ziege.

Das Land rechts des großen Flusses war immer noch fest in der Hand der Einheimischen, und alle Versuche der Römer, es zu erobern, waren bisher gescheitert. Dort erstreckte sich ein einziger, gigantischer Urwald, nass und neblig, bevölkert von ungewaschenen Hünen, die unverständliche Laute von sich gaben und denen Freiheit wichtiger war als jede Segnung der Zivilisation – der Albtraum eines jeden ordnungsliebenden Römers.

»Andere behaupten, es seien Germanen aus den verbündeten Stämmen der Umgebung. Aufständische, die die Pax Romana aufkündigen wollen. Warum auch immer, ihr Leben ist doch nun um so vieles besser als das ihrer Vorfahren«, ergänzte die Kuh.

»Ich habe als frisch verheiratetes Mädchen den Bataveraufstand miterlebt, so eine Erfahrung will ich kein zweites Mal machen, bloß nicht!«, sagte die Ziege. Die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang, war echt.

Lucretia folgte dem nervösen Blick ihrer Mutter zwischen den Schultern von Kuh und Ziege hindurch und verstand. Schon wieder hatte Alfenus Kunden, die begierig die Austern begutachteten. Familie Veturius drohte leer auszugehen.

»Mutter, ich will mich nützlich machen. Lass mich die Austern kaufen. Sie sollen doch heute Abend auch mein Gastgeschenk für Claudia sein«, bot Lucretia an.

»Eine hervorragende Idee«, erwiderte die Mutter und drückte der Tochter erleichtert ein paar Sesterze in die Hand. Lucretia hatte drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen – sie bekam Austern, wirkte wie eine fügsame Tochter und konnte vor allem dem Gespräch mit den Nachbarinnen entrinnen. Ein bisschen zu schnell wandte sie sich ab. »Nephele hilft mir tragen«, ergänzte sie noch, und die Sklavin, deren Miene sich merklich aufhellte, folgte ihr eilig.

»Danke, Herrin. Ich bewundere deine Geduld«, raunte Nephele ihr erleichtert zu.

»Wenn ich jemals so werde wie die drei, töte mich bitte«, flüsterte Lucretia.

»So wirst du niemals werden, ganz sicher nicht«, entgegnete Nephele selbstsicher, und die Prognose beruhigte Lucretia. Sie lächelten sich verschwörerisch an. Nephele war nicht nur ihre Leibsklavin, sondern im Laufe der Jahre auch zu ihrer Freundin geworden.

»Was kann ich für der Dame tun?«, fragte Alfenus. Er stand mit der lateinischen Sprache auf Kriegsfuß, was Lucretia sehr charmant fand.

»Austern, bitte. Alle, die noch da sind«, antwortete sie. »Sofort, Holdeste«, freute sich der Fischhändler.

Nephele reichte ihm den mitgebrachten Eimer, und er füllte mit einer Schöpfkelle Salzwasser aus dem Becken hinein, das die Tiere benötigten, um zu überleben.

»Habt ihr schon von der Überfälle gehört?«, fragte Alfenus. Offenbar gab es heute auf dem Forum nur dieses eine Thema. »Der Politik tut viel zu wenig dagegen. Den Dekurionen geht es doch nur darum, sich selber der Taschen zu stopfen.«

»Nicht allen«, erwiderte Lucretia und verteidigte damit ihren Vater, der auch ein Ratsherr war, und zwar einer der idealistischen Sorte, »aber es ist tatsächlich beunruhigend, was man hört.«

»Was ist, wenn die Kerlen mir ausrauben? Mein Heimweg zurück an die Küste führt genau durch die betroffene Gebiet«, sagte Alfenus, während er mit einer rostigen Eisenzange eine Auster nach der anderen in Nepheles Eimer hievte.

»Ich habe gehört, sie kommen nur nachts. Beeil dich bei Tag, und sei bei Anbruch der Dunkelheit bei einem Rasthof, dann wird Merkur dafür sorgen, dass du unbehelligt bleibst«, schlug Lucretia vor.

»Eure Schönheit wird nur von eure Klugheit übertroffen«, schmeichelte der Fischhändler.

Das war ein Kompliment, das Lucretia gefiel, und mit diesem niedlichen Akzent ganz besonders. Sie lächelte und drückte dem Mann die Münzen in die Hand: »Behalte den Rest, Alfenus.«

Der Händler neigte dankbar sein Haupt und legte seine schwielige rechte Hand auf seine breite Brust.

»Endlich sind die Klatschbasen fort«, seufzte Cäcilia und rollte mit den Augen, als sie sich neben ihre Tochter drängte.

Dabei bist du doch oft die Schlimmste, dachte sich Lucretia, sprach es aber nicht aus.

»Und jetzt schnell nach Hause, Nephele muss dich noch hübsch machen für das Fest heute Abend!«

Die drei wandten sich zum Gehen. Cäcilia schritt voran, allerdings in die falsche Richtung, denn die Stadtvilla der Familie befand sich in der Nordstadt, nicht im Süden. Doch Lucretia verstand sofort, was der Umweg zu bedeuten hatte, als sie einen jungen Mann in Toga erblickte, der offenbar nicht recht wusste, wohin mit sich, und zu verbergen versuchte, dass er das Trio erwartete.

»Oh, die Familie Veturius!«, sprach der Mann Lucretias Mutter an und wahrte damit die Etikette, obwohl er zugleich die Augen kaum von Lucretia wenden konnte.

»Flavius Antonius, was für ein angenehmer Zufall!«, antwortete Cäcilia in einem leicht überdrehten Ton, der unterstrich, was Lucretia ohnehin schon ahnte – dass hier nämlich in keinster Weise der Zufall im Spiel war. »Hast du schon meine Tochter Lucretia kennengelernt?«

»Ich glaube nicht. An eine solche Schönheit würde man sich doch erinnern«, entgegnete Flavius und nickte Lucretia anerkennend zu.

Lucretia rang sich ein Lächeln ab. Ihr war klar, was hier geschah, und es würde nicht leicht werden, der Falle zu entkommen.

»Flavius entstammt der noblen Linie von Marcus Antonius, Cäsars engstem Vertrauten«, verkündete Cäcilia stolz.

»Was du nicht sagst«, erwiderte Lucretia höflich, während sie Flavius musterte.

Er war recht klein, aber von ebenmäßigem Wuchs. Seine kurz geschnittenen Haare rahmten seinen kantigen Kopf ein. Er war durchaus gut aussehend zu nennen, aber zugleich stand ihm eine Überheblichkeit ins Gesicht geschrieben, die Lucretia abstieß.

»Ich bin sicher, du und Flavius, ihr habt viel gemeinsam«, sagte Cäcilia.

»Oh, dann liebst du es also auch zu lesen?«, fragte Lucretia.

»Ähm, nein. Wenn ich ehrlich bin, finde ich Schriftrollen ziemlich langweilig«, gab Flavius zu und versuchte, sich mit einem Lachen zu retten.

»Ich auch!«, stimmte Cäcilia in sein Lachen ein, um das Eis weiter zu brechen.

Dann heirate du ihn doch, dachte Lucretia. Sie hatte ihre Mutter schon mehrmals gebeten, ihre Verkupplungsversuche einzustellen, aber Cäcilia konnte es einfach nicht bleiben lassen.

»Nun, wenigstens bist du ehrlich«, sagte Lucretia. »Womit vertreibst du dir denn gern die Zeit?«

»Als ich noch in Rom gelebt habe, habe ich leidenschaftlich die Wagenrennen im Circus verfolgt. Ich war ein Unterstützer der Roten.«

»Pferden dabei zuzuschauen, wie sie endlos im Kreis laufen, würde mich ganz traurig machen. Was ist das für ein Leben«, entgegnete Lucretia mit einem Seitenblick auf ihre Mutter.

»Leider gibt es hier in der Provinz keine Rennbahn. Die Colonia kann sich sehen lassen, sie ist viel sauberer und moderner als Rom, aber vom Unterhaltungswert nicht annähernd in derselben Liga«, schnarrte Flavius mit einer Herablassung, die Lucretias Befürchtungen bestätigte. »Ich gehe aber auch gern jagen«, fügte er schnell hinzu, um das Gespräch am Laufen zu halten.

»Was Männer daran finden, hilflosen Tieren nachzustellen, werde ich wohl nie verstehen«, seufzte Lucretia und fing sich dafür einen mahnenden Blick ihrer Mutter ein.

»Nun, wir sind letzte Woche einem Bären nachgestiegen, und er war sehr wohl in der Lage, sich zu verteidigen«, entgegnete Flavius und bemühte sich, höflich zu bleiben.

»Und wovon lebst du?«, fragte Lucretia forsch.

Diese Frage irritierte Flavius. Er blickte drein, als hätte er nicht damit gerechnet, dass sie jemals gestellt werden könnte.

»Aber verehrte Lucretia, wir sind Patrizier.«

Natürlich. Und Adelige arbeiteten nicht. Das war unter ihrer Würde. »Dann lebst du also vom Geld anderer?«, fragte sie. Cäcilias Augen weiteten sich. Ihre Jüngste war auf Konfrontationskurs, das konnte übel enden.

Flavius Antonius sah die Mutter irritiert an.

»Ich … borge mir hin und wieder welches«, gab er zu, und seine Selbstsicherheit begann zu bröckeln, was Lucretia mit Genugtuung wahrnahm. Nephele, die, von Flavius völlig unbeachtet, hinter ihr stand, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Das klingt so, als glaubtest du, dass das Anhäufen von Schulden ein löbliches Ziel im Leben sei«, reizte Lucretia ihn weiter.

Cäcilia schnappte nach Luft. Das Verhalten ihrer Tochter war impertinent.

»Was verstehst du denn schon davon?«, fragte Flavius mit zorniger Stimme. »Du bist eine Frau!«

Diese Aussage versetzte Lucretia einen Stich. Wenn er glaubte, sie damit in die Schranken gewiesen zu haben, hatte er sich getäuscht.

»Deine Existenz scheint sich nicht sehr von der eines Sklaven zu unterscheiden, nur dass du Gläubiger statt eines Herrn hast.« Sofort bereute Lucretia die Worte, die aus ihrem Mund gekommen waren. Sie hatte den Gipfel der Unhöflichkeit erklommen. Das war beschämend, gab ihr aber zugleich auch ein unerwartet befreiendes Gefühl.

Nephele musste wieder ein Lachen unterdrücken, doch als Lucretias Vertraute hatte sie Übung darin.

»Aufhören!«, zischte Cäcilia ihrer Jüngsten fast tonlos zu.

»Ich, äh, ich …«, stammelte Flavius, der nun vollends aus dem Konzept gekommen war. »Ich muss dich bitten, das zurückzunehmen!«

»Es tut mir leid, aber ich habe leider keine Zeit, dieses interessante Gespräch weiter zu vertiefen«, verkündete Lucretia, die genug von der Unterhaltung hatte, und wandte sich mit einer energischen Drehung ab. »Ich habe Vater versprochen, ihn von der Kurie abzuholen, und als brave Tochter pflege ich, zuverlässig zu sein.«

Mit diesen Worten entschwand sie in Richtung Prätorium. Während Nephele wieder angestrengt ein Grinsen unterdrückte, blickten Flavius und Cäcilia ihr konsterniert hinterher.

»Ach je, meine arme Lucretia ist ganz durcheinander, gar nicht … sie selbst«, versuchte ihre Mutter, die Situation zu retten, »weil … also, diese furchtbaren Germanenüberfälle machen ihr wirklich große, große Angst.«

Flavius kniff die Augen zusammen. Er wirkte wenig überzeugt, doch sagte höflich: »In der Tat furchtbar. Aber nicht überraschend. Ich wusste schon immer, dass diesen Wilden nicht zu trauen ist.« Mit diesen Worten ließ er Cäcilia stehen.

4

Gespannt wartete Lucretia auf den Ausgang der Erbstreitigkeit. Sie hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sie wegen ihres Vaters zum Prätorium müsse, und doch hatte sie nicht ganz die Wahrheit gesagt. Denn was sie an dem gewaltigen Gebäude im Osten des Stadtkerns wirklich reizte, war der Gerichtssaal. Sooft sie konnte, stahl sie sich von den Marktgängen mit ihrer Mutter davon, um den Verhandlungen beizuwohnen, die dort täglich abgehalten wurden. Andere gingen lieber ins Theater, um sich unterhalten zu lassen, aber das gefiel Lucretia nicht, es war ihr viel zu künstlich. Im Gerichtssaal hingegen war das Drama echt. Hier wurde über wirkliche Verbrechen geredet, mit Menschen, die tatsächlich Schlimmes getan oder erlitten hatten. Die Prozesse waren für die Öffentlichkeit zugänglich, und das große Tor zum Gerichtssaal stand immer offen, wenn getagt wurde. Auf den Rängen pflegten sich dann Männer und Frauen, ja ganze Familien zu tummeln. Bis zum Ende der Ratssitzung schien es noch zu dauern, und Lucretia war in die laufende Verhandlung gehuscht.

Der junge Anwalt hatte gerade sein mitreißendes Schlussplädoyer beendet, und vorn im Saal wertete nun Richter Orata die Stimmen der siebzehn Geschworenen aus. Lucretia hatte Quintus Tibur schon mehrmals hier erlebt, er war ihr auch aufgefallen, weil er der einzige germanischstämmige Advokat war. In dieser Position gab der große Mann mit den blauen Augen ein ungewöhnliches Bild ab. Neben seiner Schlagfertigkeit mochte sie besonders, dass er seine Reden, die bei vielen seiner Kollegen manchmal etwas zu pathetisch ausfielen, gern mit etwas Humor würzte. Jetzt saß er neben seiner Mandantin, einer zierlichen Frau um die fünfzig, und redete beruhigend auf sie ein.

Der Anwalt der Gegenseite, Denter Aquilius Varro, ein kleiner, rundlicher Mann Ende dreißig mit Glatze, saß mit betont gleichgültiger Miene neben seinem Mandanten, doch die Finger seiner rechten Hand, die ohne Unterlass mit einem Schreibgriffel spielten, verrieten seine Nervosität.

»Ruhe bitte!«, hallte die Stimme des Richters Sergius Orata durch den Saal, die Zuschauer wurden still, und auch Lucretias Augen richteten sich auf ihn. Sein buschiger brauner Bart und die fast schulterlangen und etwas wirren Haare, in die sich erste graue Strähnen mischten, ließen ihn älter aussehen, als er wahrscheinlich war. Dieses als ungepflegt geltende Auftreten war ungewöhnlich, fast provokant, und erinnerte an das eines griechischen Philosophen.

Beide Anwälte blickten auf. Durch die großen trüben Butzenscheiben in der oberen Hälfte der Mauern fiel weiches Licht in die zwanzig Fuß hohe Gerichtshalle und ließ Quintus Tiburs helles Haar erstrahlen.

»Wir haben ein Urteil erreicht«, verkündete Orata.

 

Wenig später verließ Quintus durch das gewaltige Eingangsportal das Prätorium und trat hinaus in die Arkaden, die die gesamte Front des Rathauses säumten. Die orangefarben gestrichene Decke wölbte sich hoch über ihm wie ein glühender Himmel, und die gewaltigen, fünfzehn Fuß hohen Säulen, von denen es mehr als sechzig brauchte, um das Vordach zu tragen, warfen im Licht der Morgensonne breite Schatten auf den Boden, der mit einem Schachbrettmuster verziert war. Da es Händlern und Prostituierten untersagt war, hier ihren Tätigkeiten nachzugehen, war der Säulengang leer und wirkte dadurch umso größer. Quintus lehnte sich an eine der Säulen und schaute auf die Straße, wo Passanten vorbeizogen. Die Anspannung, die er jedes Mal während einer Verhandlung spürte, baute sich langsam ab und machte einer wohligen Zufriedenheit Platz. Er hatte seiner Mandantin versprochen, dass alles gut werden würde – und so war es auch gekommen. Er hatte ihr zu ihrem Recht verholfen. Zum Erbe, das ihr zustand. Für Momente wie diesen lebte er. Und speziell dieser wurde ihm zusätzlich dadurch versüßt, dass er sich auch noch ein sehr ansehnliches Honorar erarbeitete.

Am Prätorium herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Das riesige Gebäude erinnerte an einen Palast. Nach dem letzten Ausbau vor ein paar Jahren war es jetzt fünfhundert Fuß lang und ebenso breit und damit so groß wie mehrere Häuserblocks. Es war der größte Steinbau nördlich der Alpen, geschaffen, um zu beeindrucken. So etwas hätte auch in Rom stehen können. Aber die Größe war tatsächlich notwendig, denn neben dem Gerichtssaal und der Kurie, der Versammlungshalle des Stadtrates im Nordflügel, beherbergte das Rathaus noch zahlreiche Amtsstuben, die sich über zwei Obergeschosse verteilten. Bürger, die offizielle Dokumente benötigten oder Rechtsstreitigkeiten beilegen wollten, nahmen oft eine Tagesreise und mehr auf sich, um über die gut ausgebauten Straßen aus dem ganzen Umland hierhin zu kommen.

Quintus störte das Treiben nicht, im Gegenteil, er empfand es als belebend. Er beobachtete einen schmächtigen Schreiber, der keuchend eine Holzkiste schleppte, in der unbeschriebene Papyrusrollen ordentlich gestapelt waren – die Bürokratie brauchte Nachschub. Ohne Papyrus lief im Imperium nichts. Als der Mann durch das Eingangsportal im Gebäude verschwunden war, wagten sich zwei sichtlich angeheiterte Halbstarke hinter einer Säule hervor und stürzten zur nächstgelegenen Wand. Mit zwei Stücken Holzkohle schmierten sie mit schnellen Bewegungen einen großen Phallus auf den bis dahin makellosen Putz und rannten dann kichernd davon. Quintus sah sich nicht genötigt einzuschreiten, er grinste in sich hinein. Sollten sie doch ihren Spaß haben, vor allem während der Floralien. Jugendlichen Übermut sollte man nicht ausbremsen, sondern nutzen, fand er, denn das unvermeidliche Phlegma erwachsener Vernunft würde sich noch früh genug einstellen. Für einen Moment schloss er die Augen und genoss die Sonnenstrahlen. Sie waren intensiv genug, um sie nach ein paar Augenblicken auf der Haut zu spüren, aber nicht so stechend und unerbittlich, wie es schon in ein paar Wochen der Fall sein würde. Für ihn war jetzt die schönste Zeit des Jahres, weil Temperaturen herrschten, bei denen es sich gut denken ließ. Wenn er fror oder schwitzte, konnte er sich kaum konzentrieren, was jedoch für seinen Beruf von größter Wichtigkeit war. Der Frühling tarierte die Dinge aus wie Justitias Waagschalen, das gefiel ihm. Nur während der kurzen Zeit, in der Tage und Nächte etwa gleich lang waren, kam ihm die Welt so vor, als sei sie im Gleichgewicht.

In gewisser Weise war sein ganzes Leben auf Balance ausgerichtet. Schon als Kind hatte Quintus lieber Streit geschlichtet, als ihn zu suchen. Lautem Gebrüll, Raufereien und erst recht der Jagd war er immer abgeneigt gewesen. Er half den Kleineren gegen die Größeren und war mildtätig gegenüber den Ärmeren. In den Augen der meisten Gleichaltrigen des germanischen Dorfs, in dem er geboren war, hatte ihn das zum Schwächling gemacht, auch wenn er mit zwölf Jahren schon einen guten Kopf größer gewesen war als die meisten von ihnen. Ein echter Usipeter übergab sich nicht, wenn er zusah, wie ein totes Reh ausgeweidet wurde und die Innereien auf den Boden platschten, sondern schluckte seinen Ekel herunter und freute sich auf die köstliche Mahlzeit, die das Tier aus Wodans Gehölz abgeben würde. Ein echter Usipeter akzeptierte auch das Urteil der Götter über einen mutmaßlichen Verbrecher, wenn er in ein Fass eingesperrt in einen wilden Fluss voller Stromschnellen geworfen wurde, dabei auf einen Felsen prallte und starb – hätte er die Fahrt überlebt, wäre er unschuldig gewesen.

Quintus hatte nie verstanden, was das mit Gerechtigkeit zu tun haben sollte, und war froh, nun an einem Ort zu leben, an dem in Rechtsfragen anders vorgegangen wurde. Als er so vor dem Prätorium in der Sonne stand, konnte er nicht ahnen, dass sich gerade eine Bedrohung zusammenbraute, die dieses Rechtssystem an seine Grenzen bringen und die Stadt in ihren Grundfesten erschüttern würde.

5

Lucretia hatte die Gerichtsverhandlung genossen. Ihre kleinen Abstecher in diese Welt waren für sie das Salz in der Suppe des Lebens, ganz besonders, wenn sie heimlich geschahen. Nun wartete sie in der mächtigen Vorhalle des Prätoriums auf ihren Vater. Die Sitzung dauerte viel länger als geplant, und Lucretia fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Alles spielte sich hinter einem schweren Doppeltor links des Eingangs ab. Das dicke Eichenholz dämpfte die Stimmen der Männer dahinter so, dass Lucretia nicht verstehen konnte, worüber gesprochen wurde, aber es schien laut zuzugehen, und eine lebhafte Debatte war zu erahnen.

Die Vorhalle war würfelförmig, dreißig Fuß lang und breit und ebenso hoch. Der Boden war mit teurem, grau-weiß geädertem Marmor aus Carrara ausgelegt – für die größte römische Stadt nördlich der Alpen war das Beste, was die Steinbrüche des Reiches zu bieten hatten, gerade gut genug. Im Zentrum war nur eine Fläche von etwa sechs Quadratfuß ausgespart, die ein Mosaik ausfüllte, das den goldenen römischen Adler mit einem Bündel von Jupiters Blitzen in den Krallen auf scharlachrotem Grund darstellte. Jeder, der die Halle durchquerte, musste über dieses Symbol der Macht laufen, wollte er nicht absichtlich einen Umweg gehen. Die Decke war orangefarben gestrichen wie die des Säulengangs vor dem Gebäude. Das Tor auf der rechten Seite des Eingangs führte in den Gerichtssaal, und über eine große Öffnung ihm gegenüber, die von einem Rundbogen überspannt war, gelangte man tiefer in den weitläufigen Gebäudekomplex hinein.

Die Halle war ehrfurchtgebietend. Lucretia, die oft hier war, erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie das Rathaus zum ersten Mal betreten hatte. Vor allem durch die hohe Decke kam man sich klein und unbedeutend vor. Das war beabsichtigt. Nichts war größer als Rom, nichts bedeutender als seine Macht, und das wollte man auch – und gerade – den Bewohnern der eroberten Gebiete deutlich vor Augen führen. Als Aushängeschild der römischen Kultur und Zivilisation konnte auch die Colonia Claudia Ara Agrippinensium nicht hell genug strahlen.

Die eigentliche Attraktion der Eingangshalle war das Wandgemälde, das die römischen Götter abbildete und in das die Aussparungen für die Durchgänge geschickt integriert waren. Diana, Göttin der Jagd, spannte ihren Bogen und schien leicht am Betrachter vorbeizuzielen. Bacchus lag in einer Grotte, mit Weinlaub bekränzt und sich an Trauben labend, den Blick auf einige schlanke, nur als Silhouetten angedeutete Nymphen an einer kleinen Quelle gerichtet. Weiter oben schwebte Götterbote Merkur, nur mit geflügeltem Helm und Schuhen bekleidet, durch die Wolken. Auch die Gottheiten der Einheimischen hatte man nicht vergessen: Den Platz über dem Eingang zum Gerichtssaal, flankiert von Juno und Minerva, gehörte einem Bildnis der Matronae. Lucretia betrachtete das Trio der keltischen Fruchtbarkeitsgöttinnen. Die drei waren in lange Gewänder gehüllt und fielen durch ihren markanten Kopfschmuck auf, große kreisrunde Hauben, die ein typisches Element der hier üblichen Frauentracht waren. Dieser Kult war nur in der Colonia und in der näheren Umgebung verbreitet, im Rest des Reiches war er gänzlich unbekannt. Ihm hier einen solch prominenten Platz einzuräumen, sollte den Unterworfenen das Gefühl geben, dass auch ihre Traditionen und Überzeugungen einen Wert hatten. Die Colonia war nun mal germanischen Ursprungs.

Die Ubier, welche die Matronen über alle Maßen verehrten, hatten die Siedlung gegründet, aus der die spätere Stadt entstanden war, und die Römer zollten dieser Tatsache auf eben jene Weise Respekt. Am größten aber war Jupiter dargestellt, er thronte mit grauem Bart und finsterem Blick über allen anderen, ein Bündel leuchtender Blitze in der ausgestreckten Faust haltend.

Endlich schwangen die schweren Eichentüren quietschend auf. Zwei Wachen mit Speeren und ovalen blauen Schilden traten heraus und bezogen zu beiden Seiten Posten. Die Ratssitzung war beendet, und der Ordo Decurionum strömte aus dem Nordflügel in die Vorhalle. Lucretia trat ein wenig zur Seite, um den meist älteren Herren in den weißen Togen Platz zu machen. Aufgeregte Stimmen schallten durch die bisher ruhige Halle. Lucretia sah etliche nachdenkliche Gesichter, aber die Mehrheit der Stadträte schien erfreut, fast euphorisch. Manche lachten und schlugen einander auf die Schultern. Es musste gute Nachrichten gegeben haben, aber zugleich lag eine gewisse Anspannung in der Luft.

Endlich entdeckte sie in der Menge ihren Vater, der mit zwei anderen Dekurionen diskutierte. Als er seine Tochter erblickte, verabschiedete er sich sofort von ihnen und kam strahlend auf sie zu. Die beiden umarmten einander herzlich.

»Was ist passiert? Alle sind so unruhig«, fragte Lucretia.

»Es wird sich viel verändern, Kind«, antwortete Magnus Veturius. »Ich habe die Neuigkeiten selbst noch nicht ganz verdaut.«

Hinter ihm rief einer der Ratsherren laut: »Das ist ein großer Tag, lasst uns feiern!«, was Applaus hervorrief.

»Du suchst aber auch immer einen Grund zum Saufen, Lucius!«, frotzelte ein anderer, und Gelächter brandete auf.

Die Einzigen, die nicht mit einstimmten und schnell zum Ausgang strebten, waren einige Vertreter des Militärs. Sie waren an ihren blank polierten, bronzenen Brustharnischen zu erkennen, an denen bunte Umhänge befestigt waren, die über ihre Rücken fielen. Grimmig dreinblickend setzten sie im Hinausgehen ihre mit Federn geschmückten Prunkhelme auf.

»Raus mit der Sprache, Vater. Was ist los?«, hakte Lucretia nach. Ihre Neugier war geweckt.

Sie schoben sich ein paar Fuß vor, um Platz für die nachrückenden Dekurionen zu machen, und blieben mitten auf dem Adlermosaik stehen. Lucretias Vater Magnus Veturius stammte aus der Provinz Mauretania Tingitana und war an der nordwestlichsten Spitze Afrikas nahe der kleinen Stadt Septem Fratres aufgewachsen, unweit der Säulen des Herkules, die die Grenze von Mittelmeer und dem endlosen Oceanus markierten. Er war Anfang fünfzig, wirkte aber jünger, und in seinem kurz geschorenen pechschwarzen Schopf fand sich kaum ein graues Haar. Seine Haut war dunkler als die aller anderen im Rat, doch man war den Anblick von Menschen verschiedenster Herkunft in der Colonia gewohnt, da Männer aus allen Winkeln des Imperiums in der Armee dienten. Auch Magnus hatte es auf diese Weise nach Germanien verschlagen. Zwei Jahrzehnte lang hatte er für Rom gekämpft und beim Bau von Straßen und Wasserleitungen mitgewirkt. Die vielen Narben an seinem Körper zeugten von den geschlagenen Schlachten, und zwei Finger seiner linken Hand waren kurz vor Ende seiner Dienstzeit auf einem Schlachtfeld beim zerstörten Kastell Vetera geblieben, wo sich seine Legion den aufständischen Batavern entgegengestellt hatte. Magnus Veturius verbarg diese Verwundung nicht. Jeder sollte ihm seine Vergangenheit als Soldat ansehen. Nach seiner Pensionierung hatte er eine beeindruckende Karriere hingelegt, die ihn bis ins höchste Gremium der Stadt befördert hatte.

»Wie du weißt, gehört das Germanien links des Rhenus offiziell zu Gallien«, hob ihr Vater an, nachdem er kurz Luft geholt hatte. »Zumindest hat es das bis vor ein paar Stunden. Denn Kaiser Domitian hat die Einrichtung zweier neuer, eigenständiger germanischer Provinzen angeordnet. Germania Superior weiter südlich mit der Hauptstadt Mogontiacum, und Germania Inferior …«

»… mit unserer Colonia als Hauptstadt?«, spekulierte Lucretia. Nun verstand sie die gute Laune der Würdenträger, von denen viele noch eifrig diskutierend in der Eingangshalle verblieben waren. Die Grenzstadt hatte aufgrund ihrer Größe und Lage schon zuvor eine große strategische und damit politische Bedeutung gehabt, aber eine Aufwertung zur Provinzhauptstadt bedeutete einen enormen Prestigegewinn. Sie würde damit in einer Reihe mit altehrwürdigen Städten wie Alexandria, Karthago und Athen stehen.

»Die Offiziere, die ich eben gesehen habe, wirkten allerdings weniger begeistert«, schob Lucretia nach.

»Das hast du gut beobachtet«, sagte Magnus und lächelte. Er war stolz darauf, wie politisch interessiert seine Jüngste war – anders als ihre große Schwester Claudia, der selten mehr durch den Kopf ging als Mode und Gastmahle. »Durch die Umstrukturierung verliert das Militär hier etwas an Einfluss«, setzte er seine Erklärung fort.

»Weiß man schon, wer unser erster Statthalter sein wird?«, wollte Lucretia wissen.

»Ja. Sein Name ist Lappius – Aulus Bucius Lappius. Er stammt aus einem altehrwürdigen römischen Geschlecht und ist Senator, wie schon sein Vater vor ihm, der sehr angesehen war. Man sagt, Lappius sei einer mit einem eigenen Kopf, eigenen Ideen«, erklärte Magnus nachdenklich. »Allerdings ist er noch ziemlich jung und verdankt seinen schnellen Aufstieg wohl einer persönlichen Freundschaft mit dem Kaiser. Das ist alles, was wir über ihn in Erfahrung bringen konnten, und ich fürchte, das meiste davon ist nur Gerücht.«

»Und wann nimmt der große Unbekannte seinen neuen Posten ein?«

»Sehr bald. Am letzten Tag der Floralien«, antwortete ihr Vater mit leichter Verwunderung. Das Ausmaß und die Schnelligkeit dieser Umwälzung schien er in diesem Moment erst richtig zu begreifen.

»Das ist ja schon in fünf Tagen«, rechnete Lucretia nach.

Das war in der Tat viel Neues auf einmal, und die Hektik, die sich zunehmend in die Freude des Kollegiums gemischt hatte, war nun umso verständlicher – galt es doch, schnell einen würdigen Empfang für den hohen Herrn aus Rom zu organisieren.

»Lasst mich endlich los, ihr Verrückten!«, brüllte da jemand mit germanischem Akzent aus voller Kehle, und seine tiefe Stimme hallte von den Wänden wider.

»Klappe halten!«, erwiderte eine zweite Männerstimme in etwas besserem Latein nur wenig leiser.

Die Halle hatte sich inzwischen weiter geleert, und die letzten verbliebenen Mitglieder des Kollegiums drehten sich neugierig um. Lucretia folgte ihren Blicken und erblickte vier Männer in einfachen Tuniken, wahrscheinlich Handwerker oder Bauern, die gemeinsam einen fünften Burschen in die Halle schleppten. Einen Germanen, der sich nach Kräften wehrte.

»Ihr habt den Falschen, ihr Idioten!«, fluchte der blonde Mann und versuchte, um sich zu treten, doch die zwei Männer vorn hatten seine Beine fest im Griff, während die zwei hinteren ihn an den Armen hielten.

»Ich werde meiner Freiheit beraubt, steht nicht blöd rum und glotzt!«, fauchte der Germane, als er die entgeisterten Gesichter der Anwesenden sah. Aber keiner der Ratsherren schritt ein, niemand wusste ja, worum es hier ging.

»Beraubt, ha! Der Räuber hier bist du!«, grunzte der verschwitzte Mann, der seinen rechten Arm umklammerte.

Auch Lucretia und ihr Vater gesellten sich zur Traube von Gaffern, die sich schnell um die merkwürdigen Besucher geschart hatte.

»Wo geht’s hier zum Gerichtssaal?«, blaffte der kräftige Mann, der den rechten Unterschenkel des Germanen fest unter seine Achsel geklemmt hielt.

»Dort entlang!«, sagte Lucretias Vater höflich und deutete auf das offen stehende Tor unter dem Matronenbild.

»Ihr macht einen großen Fehler. Einen großen Fehler!«, wütete der Blonde, der es als gewaltige Demütigung empfinden musste, wie ein Sack Rüben einfach weggeschleppt zu werden.

»Lasst ihn los«, war jetzt eine ruhige, entschiedene Stimme zu hören.

Es war die von Quintus, der sich einen Weg durch die Menge der Schaulustigen bahnte.

Lucretia sah den Mann in der beigen Toga, der Schriftrollen unter dem Arm trug, nun zum ersten Mal aus nächster Nähe und war erstaunt, wie groß er war.

»Wenn wir ihn loslassen, rennt er doch weg«, erklärte derjenige, der das linke Bein des Blonden festhielt.

»Er muss verurteilt werden für seine Untaten«, fügte einer seiner Mitstreiter hinzu.

Offenbar wurden die Mitglieder der Kurie hier Zeugen einer Festnahme. Dem widerspenstigen Germanen wurde ein Verbrechen vorgeworfen, und die Männer wollten ihn vor Gericht stellen. Ein solcher Vorgang war nicht ungewöhnlich. Denn einen Polizeiapparat, der rund um die Uhr Verbrecher jagte, gab es nicht, und das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung unterlag den Stadtwachen und der Feuerwehr, wobei die Kompetenzen allerdings nicht klar geregelt waren. Wer jemanden eines Verbrechens überführen wollte, musste das also auf eigene Faust tun – und wer diese Person vor Gericht stellen wollte, hatte sich auch selbst darum zu kümmern, dass sie dort erschien.

Quintus betrachtete den Verschleppten und hatte Mitleid mit ihm. »Lasst uns in Ruhe darüber reden«, schlug er vor. »Euer Gefangener ist sicher ein Ehrenmann und wird nicht feige davonrennen.«

Die vier Männer zögerten kurz, stellten den Blonden dann aber doch auf die Füße und traten ein paar Schritte zurück. Der Germane zog sein weites moosgrünes Wollhemd zurecht und fuhr sich durch seine gepflegten, aber nun zerzausten schulterlangen Haare, um sie zu glätten. Überhaupt war er keine wilde Erscheinung, seine Kleidung war sauber, und er trug kniehohe Stiefel aus Wildleder, wie sie bei den Brukterern beliebt waren.

»Wie heißt du?«, verlangte Quintus zu wissen.

»Fridolf«, sagte der Blonde mürrisch. Dass er keinen latinisierten Namen hatte, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass er kein römischer Staatsbürger war. »Ich habe nichts Unrechtes getan!«

Der letzte Satz löste abschätziges Murren bei den vier Männern aus, die ihn hergeschafft hatten.

»Und ob! Deshalb haben wir ihn ja festgenommen«, sagte der, der den rechten Arm des Gefangenen gehalten hatte.

»Solange ihr keine Klage eingereicht habt und es keine entsprechende richterliche Genehmigung gibt, habt ihr dazu keine Befugnis – so handelt es sich um eine Entführung«, rutschte es Lucretia heraus.

Mit einem Mal herrschte Stille, und alle sahen sie verblüfft an. Dass die junge Frau, die brav neben ihrem Vater stand, plötzlich das Wort ergriff und dazu noch Fundiertes zu sagen hatte, war höchst irritierend. Auch Quintus, dem Lucretia bisher gar nicht aufgefallen war, war überrascht.